Sonntag, 17. Dezember 2006

Wo Himmel und Erde zusammenfinden


































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































Durch Kultur und Wildnis in Spiti und den angrenzenden Gebieten

Der Bundesstaat Himachal Pradesh hat seinen Platz im extremen Nordwesten der Indischen Union, nur noch das angrenzende Jammu and Kashmir erstreckt sich noch weiter nach Norden. In südlicher Nachbarschaft befinden sich die Bundesstaaten Uttaranchal, Uttar Pradesh, Haryana und Punjab, östlich und westlich ist Himachal Pradesh eingekeilt zwischen (chinesisch) Tibet und Pakistan. Wie Jammu und Kaschmir, so ist auch Himachal Pradesh ein reiner Bergstaat. Sowohl die landschaftlichen, als auch die kulturellen Aspekte weisen eine eindrucksvolle Vielfalt auf. Von Süden her wälzen sich ausgedehnten Wellungen der von üppig grünem Urwald überzogenen Himalaya-Vorberge auf das eigentliche Hochgebirge zu, wobei deren Höhen nach Norden hin mehr und mehr ansteigen. Was die Niederschläge betrifft, ist das Land zweigeteilt. Die Gebiete im Westen und Süden liegen im vollen Wirkungsbereich des Monsun. Eisige Gebirgsketten mit bis weit über 6000 Metern Höhe riegeln hingegen die nördlichen und östlichen Regionen ungewöhnlich strikt vom Einfluss des Tropenregens ab und schaffen dort trocken-karge, ockerfarbene Gebirgswüsten, vergleichbar mit denen Ladakhs (Jammu and Kashmir), Mustangs, Dolpos ( beides Nepal), oder der großen tibetischen Hochebene. Identisch mit der geographischen, und ebenso strikt, wie diese, verläuft die ethnisch-kulturelle Grenze zwischen der hinduistischen Bevölkerung der Monsungebiete und den buddhistisch-tibetischen Volksgruppen in den winterkalten Trockengebieten.

Der Landesteil Spiti schließt Himachal Pradesh nach Osten hin zur Landesgrenze zu (dem chinesisch annektierten) Tibet ab und befindet sich komplett im Monsunschatten. Kahle, schuttige Berge mit, in Relation zu deren Höhe, verhältnismäßig bescheidenen Vergletscherungen bieten auf ihren auslaufenden Hängen und in den ihnen zu Füßen liegenden Tälern nur karge Steppenbotanik. Nur die bewohnten Talschaften zeigen – zumindest zur Erntezeit – mit gold-gelb leuchtenden Weizenfeldern und dem satten Grün von Erbsen- und Maiskulturen recht gut bestelltes Agrarland. Dieses Wachstum ermöglicht das ausgetüftelte Bewässerungssystem der Bewohner, welche das Naß der Gletscherbäche und die Wasser aus der Schneeschmelze über weitverzweigte Bewässerungsgräben auf ihre Anbauterrassen leiten. Die dürftigen Regenfälle spielen bei der Fruchtbarmachung der Böden keine Rolle. Das Spiti-Tal und seine darüber liegenden Dörfer zeichnen sich durch extrem hohe Lagen aus. Die tiefsten Siedlungen befinden sich etwa auf 3500 Metern, die höchsten in Höhen bis über 4600 Metern. Letztere gelten als die höchstgelegenen Dörfer Südasiens. Kulturell stehen Spiti und seine Bewohner in der tibetisch-buddhistischen Tradition. Die Sprache, von den Einheimischen Fremden gegenüber als "Spiti-Language" bezeichnet, ist ein tibetischer Dialekt.


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Als ich das Flughafengebäude verlasse, ist es Viertel vor fünf in der Früh. Das Pre-payed-Ambassador-Taxi braust mit mir durch die Finsternis, Endstation Kashmir-Interstate-Busterminal. Mein Plan ist es, mir im Laufe des Tages einen Platz in einem der spätnachmittags startenden Übernachtbusse nach Manali zu reservieren. Mein Gepäck will ich im Cloak-room (Gepäckaufbewahrung) des Busbahnhofs zurücklassen und den Tag mit Herumstreifen durch Delhi zubringen. Wie stets, wenn man in einer südasiatischen Metropole eintrifft, empfängt mich auch diesmal wieder das blühende Chaos, diesmal allerdings in schlafender Weise. Die Böden und Bänke des Busbahnhofs sind proppenvoll übersät mit herumliegenden Leibern. Manche liegen auf ausgebreiteten Tüchern, eventuell in Decken gepackt, andere wiederum kauern nur so auf dem nackten Boden, in ihre armseligen Lumpen gewickelt. Das Schlafen auf der Straße oder an sonstigen öffentlichen Orten muss in Indien nicht zwangsläufig mit Armut und Elend einhergehen. So beobachte ich beispielsweise auch drei junge Männer, wie sie sich vom Boden erheben, ihre gut geschnittenen Frisuren zurechtkämmen, die Zähne mit Mineralwasser putzen, ein wenig Katzenwäsche betreiben, einer von ihnen kramt seine Brille hervor, und schließlich machen sich die Drei, mit Aktenköfferchen in den Händen, lauthals lachend und sich unterhaltend, von dannen. So, wie sie nun aussehen, könnten sie jederzeit ihren Platz im Büro in einem der gläsernen Hochhaustürme des Geschäftsviertels von Neu-Delhi einnehmen. Wer jemals mit der südasiatischen Prozedur des morgendlichen Reinigens Bekanntschaft geschlossen hat, der kann sich vorstellen, wie das klingt, wenn nach und nach hunderte von Menschen sich erheben, lautstark ihre Nasen ausputzen, und den tief im Rachen steckenden Schleim in geräuschvoller Weise in den Mund hinaufbefördern, wobei dieser bei der anschließenden Entsorgung stets auf dem Boden landet.

Der Monsun hat Delhi offensichtlich noch nicht verlassen, im oberen Stockwerk des riesigen Gebäudes tropft es unablässig durch die Decke, riesengroße Wasserpfützen zeugen von deren Dichtigkeit. Die Luft ist stickig und feucht, und als langsam der Tag anbricht, gelingt es der Sonne lange Zeit nicht, die zähe Nebelglocke zu durchdringen. Ich finde auf Anhieb den im Reiseführer erwähnten Cloak-room nicht und ziehe mich zunächst mit einer Flasche Wasser und meinem Rucksack ins obere Stockwerk zurück. Die ersten Schlepper sind mir bereits auf den Fersen. Jetzt heißt es, einen wissenden Eindruck zu simulieren, denn jeder suchende oder hilflose Blick eines westlichen Touristen ruft in Indien stets einen oder mehrere "hilfsbereite" Schlitzohren auf den Plan, vielleicht einer der vor dem Busbahnhof wartenden Motorrikscha-Walas (Fahrer), die ahnungslosen Touristen locker das zehnfache des Normalpreises abknöpfen, ein emsiger Hotelschlepper, oder ein gewiefter Vermittler, der die Busfahrkarte nach Manali gleich doppelt so teuer werden lässt. Nicht selten erscheinen all diese Berufsgruppen in einer Person. Ich komme dennoch nicht umhin, mir die in einem entlegenen Winkel des Busterminals versteckte Gepäckabgabe von einem Helfer zeigen zu lassen, den ich dann mit einem Trinkgeld entlohne. Seinen Vorschlag, mir eine Fahrt im "Super-Luxus-Bus" nach Manali zu vermitteln, kann ich mit Müh´ und Not ausschlagen.

Die Anzahl der im Busbahnhof vorhandenen Schalter ist verwirrend, fast alle haben zudem um diese frühe Morgenstunde noch geschlossen. Ich verliere die Geduld und lasse mich von einem Rikscha-Fahrer zum India-Gate in Neu-Delhi kutschieren. Dummerweise habe ich den Reiseführer im Rucksack gelassen und meine mich nur zu erinnern, daß dort irgendwo die vielerwähnten (von mir allerdings nie gefundenen) Volvo-Aircondition-Busse nach Manali starten. Nun, ich finde mich an der Rezeption eines Mittelklassehotels wieder, wo mir verklickert wird, daß die Fahrkarten auf der Rückseite des Gebäudes in einem Büro verkauft werden. Dieses habe aber wahrscheinlich noch geschlossen. Die Gebäuderückseite ist für mich nicht zugänglich, die Straße ist abgesperrt, ein bewaffneter Polizist weist mich zurück. Ich verspüre keine weitere Lust mehr, hier noch länger nach einer Fahrkarte zu recherchieren, halte eine Rikscha an und lasse mich zurück zum Kashmir-Gate bringen. Dort finde ich – nun doch mit Unterstützung eines "Helfers" – das Büro von "Harison´s Travel", dessen Standort sich außerhalb des Gebäudes, wenn man dieses durch´s obere Stockwerk verlässt, befindet, und erhalte dort eine Fahrkarte für 550 Rupien, was in etwa 10 Euro entspricht. Der Preis ist vollkommen o.k., da ich verhindern kann, dass der Schlepper zusammen mit mir das Büro betritt. Ich entlohne diesen separat.

Zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten Delhis gehört das Rote Fort (Lal Qila). Bei unserem letztjährigen Aufenthalt war uns dessen Besichtigung entgangen, was ich bei dieser Gelegenheit nachholen will. Bedauerlicherweise ist dieses Paradestück einer morgenländischen Herrscherresidenz im Laufe seiner Geschichte nahezu komplett ausgeplündert worden. So landete der Pfauenthron im persischen Teheran, dort wurde er zum Sinnbild einer ganzen Herrscherdynastie. Der Letzte im Reigen war übrigens Schah Reza Pahlevi. Im Inneren des Lal Qila finde ich auch gleichzeitig eine wohltuende Pause vom hektischen Delhi, welches mit einem Jetlag, noch nicht eingetretener kultureller Akklimatisation, drückender Hitze und dem Fehlen eines Hotelzimmers für den Rückzug nur schwer zu ertragen ist. Mit Muße schaue ich mir die eindrucksvollen, aber kahlgefegten Gebäudekomplexe an, dann und wann finde ich ein schattiges Plätzchen zum niedersitzen. Zwischendurch gebe ich "Interviews" an englisch lernende Schüler, beobachte die vielen anderen Besucher, in- und ausländische Touristen, und verfolge das Treiben von Streifenhörnchen und frechen Affen. Als ich einem der Rhesusmakaken für ein Foto zu nahe trete, bleckt dieser unmissverständlich sein Respekt einflößendes Gebiss, und ich nehme rasch Abstand.

Ich komme bei meiner Stadtwanderung am mit goldenen Kuppeln überdachten Sikh-Tempel (Gurudhwara) vorbei. Schon das Treiben um die heilige Stätte herum erscheint mir äußerst interessant. So stehen dort mit Speeren bewaffnete, langbärtige Tempelwächter am Eingangsportal, um deren Häupter farbenprächtige Turbane gewickelt sind. Es ist, wie in den meisten Gurudhwaras, möglich, sich von einem Führer den Tempel zeigen zu lassen, wobei einem die Grundzüge der Sikh-Religion erklärt werden, außerdem wird der Gast stets zu einer kostenlosen Speisung im Tempel eingeladen. Beim Betreten des Schreins sind die Schuhe auszuziehen und der Kopf zu bedecken, außerdem sind kurze Hosen und bloße Arme und Schultern nicht erwünscht. Mir dröhnt der Kopf von der Hitze und der schlaflosen Nacht, ich fühle mich einfach noch nicht in der Stimmung für diesen Besuch, weshalb ich mir diesen für meine Rückkehr am Ende der Reise vorbehalten will.

Nachdem ich den Rest des Tages kreuz und quer durch Old Delhi gestreunt bin, finde ich mich schließlich um 16.30 Uhr, wie vereinbart, am Büro von Harison´s Travel ein. Ganz in der Nähe befindet sich die Stelle, wo der Bus die wartenden Fahrgäste aufnimmt. Mit mir warten weitere Touristen, aber auch Einheimische. Eine Bettlerin kommt vorbei – oder ist es eine weibliche Saddhu? Der Unterschied ist manchmal fließend, für Außenstehende oft nur schwer unterscheidbar. Sie hat ihr Gesicht schwarz angemalt, und hält sich eine blutrote Zunge vor den Mund. An ihren Fesseln trägt sie klingende Glöckchen, die im gleichmäßigen Rhythmus ihres Ganges läuten. Immer wieder bleibt sie vor einem der zahlreichen Händler, die sich in den Gassen verteilen, stehen, und stampft wild auf, so daß die Gleichmäßigkeit der läutenden Glöckchen hörbar durch ein schnell hintereinander erfolgtes Läuten unterbrochen wird. Die Einen lassen ihr etwas Geld zukommen, andere wiederum ignorieren sie. Sie stellt in ihrem Aufzug die blutrünstige Göttin Kali (auch Durga genannt) dar, zu deren Befriedigung in früheren Zeiten sogar Menschenopfer dargebracht wurden. So hat die Erscheinung dieser Frau auch durchaus etwas Unheimliches.

Zu meinem Erstaunen ist der Reisebus tatsächlich mit Schlafliegen ausgestattet. Diese sind für einen kleinen Aufpreis zu bekommen, zur Zeit meiner Buchung war allerdings keine Liege mehr frei, weshalb ich nun mit einem Sitzplatz vorlieb nehmen muss, was an und für sich schon kein allzu bequemes Reisen verheißt. Der "Super-Luxus-Bus" entspricht wieder mal der indischen Ausführung, zu meinem Pech okkupiere ich noch einen Sitzplatz neben einer der Eisenleitern, die als Aufstiegshilfe zu einer der oben installierten Liegen dient. Ich bin somit eingezwängt und in Gefahr, bei den vielen Schlaglöchern auf Indiens berüchtigten Straßen mir den Arm oder den Kopf an diesem gottverfluchten Eisending anzurammen. Mike, mein australischer Sitznachbar, offenbart sich mir als Forstexperte, der seit drei Jahren seinen Beruf in Vietnam ausübt. Von ihm erfahre ich so Einiges über das Übel der aus Australien hier nach Südasien hereingetragenen Eukalyptusbäume. Gut gemeint war einst die Idee, diese unter anderem vorzüglich als Bauholz geeignete Baumart in viele Länder Süd- und Südostasiens zu importieren. Leider haben sich diese Bäume langfristig als eine Krux für diese Länder entpuppt. Der Eukalyptusbaum ist sehr genügsam und in der Lage, in wasserarmen Zeiten sich dieses notfalls sogar aus dem Grundwasser heraus zu besorgen, was eine gefährliche Absenkung des Grundwasserpegels zur Folge hat. Durch seine große Wiederstandsfähigkeit verdrängt er zudem mehr und mehr die einheimischen Pflanzen und Bäume, indem er diesen die notwendigen Wasservorräte praktisch wegstiehlt. Dieser ganze Vorgang ist ein warnendes Beispiel dafür, wie sensibel und wohlüberlegt Entwicklungshilfe angegangen werden muss, und wie schnell dabei gravierende und folgenschwere Fehler begangen werden können.

Wie so oft auf Übernacht-Busfahrten, gelingt es mir während der mir unendlich vorkommenden Dunkelheit so gut wie gar nicht, ein Auge zuzukriegen. Bei den Zwischenstopps an den Dhabas (einfache indische Restaurants oder Essensstände) werden schmackhafte Dhal Bhats (Linsen mit Reis, mit unterschiedlichen Gemüsen und Gewürzen angereichert) offeriert, und kurzweilige Smalltalks mit meinen Mitreisenden sorgen für Unterhaltung. Als der Tag anbricht, und wir uns schon in der opulenten Vorhimalaya-Szenerie des Kullu-Tals befinden, übermannt mich die Müdigkeit, und anstatt die durch üppige Subtropenvegetation und das wilde Schluchtenbett des Beas-River geprägte Landschaft und die exotischen Ortschaften mit ihrem bunten Treiben in den Gassen aus dem Busfenster heraus zu bestaunen, sackt mein Bewußtsein ständig in komaähnliche Dämmerzustände ab. Einmal erwache ich, und das Chaos ist perfekt. Ganz nach indischer Verkehrsmentalität sind von zwei Seiten her Fahrzeuge in die viel zu schmale Durchgangsstraße einer Ortschaft eingefahren, es scheint weder ein Vor noch ein Zurück zu geben. Es wird herumgestikuliert, geschimpft, der Bus bald vorwärts, bald rückwärts gelotst, ein Hin und Her mit ständig aufbrüllendem Motor, begleitet von der schrillen Trillerpfeife des Fahrlotsen. Auch der Lastwagen, der nur wenige Zentimeter neben unserem Bus sein Durchkommen sucht, zieht ein ähnliches Prozedere durch. Der Abstand zwischen Hauswand und der Karosserie des Busses erscheint kaum noch zwei Finger breit, die direkt am Fenster Sitzenden werden aufgefordert, ihre Köpfe in Sicherheit zu bringen, falls durch ein Anstreifen an der Wand die Scheiben zerbersten. Eine gute Stunde vergeht, bis es endlich gelingt, den Bus aus diesem Spektakel herauszumanövrieren.

Man kann sich über die chaotischen Zustände auf Indiens Straßen auslassen, wie man will. Im Endeffekt muss man dennoch zugestehen, dass es eigentlich immer funktioniert und Unfälle seltener zu beobachten sind, als bei uns in Europa. Wenn man die Art und Weise des indischen Autofahrens lange genug beobachtet, so kommt man zu dem Schluss, dass das Ganze in Wirklichkeit weit weniger chaotisch ist, wie es zunächst scheint, und dass alles nur einfach anders funktioniert. Auf den Straßen Himachal Pradeshs und Kaschmirs ist mir übrigens aufgefallen, dass dort fast ausschließlich LKW´s, Busse, oder Jeeps, aber nur ganz wenige sonstige PKWs unterwegs sind.

Ankunft in Manali gegen 12.30 Uhr, also um einige Stunden später, als mir in Harison´s Travel versprochen ward, aber so sind die Dinge eben in Indien! Unter den am Busbahnhof wartenden Schleppern erkenne ich die "Schmeißfliege" vom vergangenen Jahr wieder. Ich mache mich schleunigst zusammen mit Mike vom Acker. Mike´s Kollege ist im "Hill Queen" abgestiegen, welches günstig in "Model Town", dem umtriebigen Viertel, in welchem sich auch der Basar der Stadt befindet, gelegen ist. Gegen 200 Rupien für die Nacht quartiere ich mich dort ein. Mike zieht weiter, da sein Kumpel offensichtlich das Hotel gewechselt hat. Im nächsten Internet-Shop will er abchecken, wohin und weshalb dieser sich verkrümelt hat. Mein Zimmer ist ziemlich muffig und beileibe nicht das Sauberste, aber für die eine Nacht, die ich in Manali zubringen werde, erscheint es mir völlig ausreichend, zumal mein Schlafsack mir über die Bedenken bezüglich sauberer Bettwäsche hinweghilft.

Manali – endlich Entspannung! Hier in diesem bei Indern als Flitterwochen- und Winterurlaubsdomizil, bei Hippies als Haschparadies und bei Bergfexen als Dreh- und Angelpunkt für Trekkingtouren und Expeditionen populären Urlaubsort nehme ich sozusagen die Spur vom vergangenen Jahr wieder auf und beabsichtige praktisch die Fortsetzung der damaligen Trekkingreise durch Zanskar/Ladakh. Nur soll das Ziel diesmal nicht mehr das weiter im Norden gelegenen Ladakh (Jammu and Kashmir) sein, sondern die östlichste Provinz von Himachal Pradesh – Spiti. Wie eingangs erwähnt, lassen sich im Hinblick auf Spiti einige Parallelen bezüglich Kultur und Landschaft zu Ladakh ziehen. Spiti jedoch blieb lange Zeit durch die politisch prekäre Nähe zur chinesischen (tibetischen) Grenze dem Zugang durch Touristen verschlossen. Erst 1993 wurde es möglich, dorthin zu reisen. Andererseits ist die Erschließung dieser Provinz durch Straßen und somit auch die Versorgung mit Gütern von außerhalb wesentlich fortgeschrittener, als in den meisten Gebieten Ladakhs, insbesondere Zanskars.

Der Tempel oberhalb des Busbahnhofs ist an und für sich nichts Besonderes, dennoch interessieren mich die Vorgänge dort. Zu bestimmten Zeiten nach Sonnenuntergang hält hier ein Pujari (Priester) täglich eine Zeremonie ab. Die buddhistischen Pujas (religiöse Zeremonien) haben auf mich eine beruhigende, friedliche Wirkung. Die Feier am Hindu-Tempel erscheint mir hingegen eher beunruhigend, ja beinahe schon beängstigend. In wildem Rhythmus werden Glocken geläutet, dazu erschallt Getrommel. Viel Räucherwerk, Farbe und Gewedel begleiten die Feier, an der, neben dem Pujari, zunächst zwei weitere Personen beteiligt sind. Ich beobachte viele Passanten, die im Vorbeigehen mit gefalteten Händen dem Gott huldigen. Erst zu einem späteren Zeitpunkt kommt Ruhe in das Zeremoniell. Dann sitzen die drei Beteiligten beieinander, einen dezenten Gesang anstimmend, der vom Pujari auf einem Harmonium begleitet wird, dem die Töne mittels eines Blasebalges entlockt werden. Schließlich kommen noch ein vierter und ein fünfter Mann dazu, die Teilnahme erscheint mir recht formlos zu funktionieren. Auffallend ist, daß die letzte Person kein gebürtiger Hindu ist, sondern eindeutig tibetischer Herkunft.

Beim Durchstreifen der Basargassen wiederfährt mir noch eine überraschende Begegnung. Ein Mann kommt mir entgegen, und mein Gehirn registriert sogleich, dass ich ihn kenne. Er ist bereits an mir vorbeigegangen, da fällt bei mir endgültig der Groschen: es war der Belgier, den ich vor etwa 2 ½ Jahren bei meiner Tour über den Paso de las Nubes in Patagonien kennengelernt habe. Doch als ich mich nach ihm umdrehe, um ihn anzusprechen, ist er bereits im Gewühl der Menge verschwunden.

Als ich morgens zum Frühstück Malai Kofta bestelle, entgeht mir nicht, dass sich die Angestellten hinter meinem Rücken über mich lustig machen. Kann sein, dass diese Bestellung zur Frühstückszeit ungewöhnlich ist. Wie dem auch sei, viele junge Inder haben die Angewohnheit, in pubertärer Manier gerne über ihre Mitmenschen zu lachen, ganz besonders über westliche Ausländer, die nach ihrer Auffassung auch ständig komische Sachen machen. Man sollte das nicht allzu ernst nehmen, und entweder darüber hinwegsehen, oder mit ruhig etwas verschlagen daherkommendem Humor kontern, was einem am ehesten Respekt bei solchen Burschen einbringt. Heute ist mein erster Trekkingtag, und er soll direkt hier in Manali beginnen. Im Unterschied zur letztjährigen Zanskar-Durchquerung soll die Tour diesmal nicht an einem Stück stattfinden, sondern gelegentlich unterbrochen werden, wobei ich mit dem Bus stets wieder zu neuen Einstiegen fahren werde. Die Pausen, die dabei zwischendurch entstehen, sollen mir noch wohlbekommen, denn diesmal will ich mein gesamtes Gepäck von Anfang bis zum Ende selbst tragen. Das ist für mich eigentlich nichts Neues, da ich diese Art des autarken Trekkings schließlich auch in den Alpen, Pyrenäen, Karpaten oder in anderen Gebirgen praktiziere und praktiziert habe. Der Knackpunkt ist hier die große Höhe, in der ich mich ständig aufhalten werde.

Mit 1950 Metern Seehöhe ist Manali allerdings noch weit entfernt von den Hochlagen des Spititals und dessen Umgebung. Ich werde mich also in den kommenden drei Tagen zunächst noch "hocharbeiten" müssen. Uli Friebel, Autor des für meine Planung zugrunde liegenden Trekkingführers "Trekking in Himachal Pradesh" hatte mich noch vorgewarnt, die Tour über den Hampta-Paß ernst zu nehmen, und zwar sowohl bezüglich der dort häufig zu erwartenden Wetterkapriolen, als auch hinsichtlich der mühevollen Anstiege, insbesondere in der ersten Etappe. Der verhältnismäßig tief gelegene Ausgangspunkt bringt es nämlich mit sich, daß es tagsüber verdammt heiß wird, zudem paart sich die Hitze mit der drückenden Luftfeuchtigkeit des Nachmonsuns.

Ich verlasse Manali über die Beas-Brücke und folge zunächst eine gute Stunde lang der Left-Bank-Road, die über Nagar nach Kullu führt. Ich finde den von Ulli Friebel beschriebenen Pfad nicht, oder bin mir zumindest nicht sicher darüber. Alternativ führt eine Schotterpiste den Berg hinauf, die laut Schild am Allain Barrage – Staudammprojekt ihr Ende finden soll. Erfreulicherweise ist es nicht nötig, dem Straßenverlauf zu folgen, denn es führen Short-Cuts (Abkürzungspfade) durch die üppig grün wuchernde Kulturlandschaft. Die Short-Cuts können allerdings nicht über die ständige Nähe der Straße, die auch wiederholt gekreuzt wird, hinwegtäuschen, denn schon allein das Geschepper der dort herunterdonnernden Lastwagen raubt einem die Illusion, entfernt von Zivilisation zu wandeln. Prini heißt das erste Dorf, welches ich passiere. Der obere Ortsteil entzückt mich mit den dort sich verteilenden, teils uralten und wunderschönen Pahari- (Bergbewohner)Häusern. Auch bei der Architektur des Dorftempels, dessen Erbauung aber neueren Datums sein muss, ist man diesem Stil treu geblieben, welcher in gewisser Hinsicht der bei uns verbreiteten Fachwerkbauweise ähnelt. Überhalb von Prini habe ich bereits eine Höhe erreicht, die prächtige Ausblicke hinab ins Kullu-Tal ermöglicht, in dem sich Manali mit dem nahen Badekurort Vashisht und weitere Dörfer im hier recht ausladenden Talbecken verteilen. Die angeschneite Bergkette im Hintergrund heißt Shitidar.

In einer Straßenkurve treffe ich auf einen ungewöhnlich gut ausgetretenen Pfad, der von der Straße weg führt. Hier beginnt endlich ein richtiger Bergpfad, der mich weit weg von der Straße in die Wildnis hineinführt, denke ich. Ich gelange auch zunächst an einen idyllisch gelegenen Bauernhof. Mit seinen schiefergedeckten Dächern, den dicken, alten Holzbalken in den Außenwänden, den wuchtigen hölzernen Türportalen, dem prächtigen Rundum - Holzbalkon und dieser typischen, skurril erscheinenden Bauform, bei welcher der untere Gebäudeteil räumlich kleiner ist, als den Überbau, ist dieser Hof ein Musterbeispiel eines Pahari – Bauernhauses. Zwei Männer, ein älterer und ein jüngerer, und eine ältere Frau sind zugegen. Ich befrage sie nach meinem nächsten Ziel, dem Dorf Hampta. Das alte Weib scheint mir reichlich aufgeregt, sie fuchtelt mit ihren verrunzelten Händen vor meinem Gesicht herum, als wolle sie mich verhexen. Die beiden Männer wirken weniger feindlich, aber auch wenig interessiert, und ich erhalte keine vernünftige Information über den Weiterweg. Die Alte will mich, wie´s mir scheint, ganz offenbar loswerden. Mir fällt dabei ein, daß es nicht allzu weit von hier, im Bereich des größten und bekanntesten Nebentals des Kullu – Valley, dem Parvati-Tal, Dörfer geben soll, in denen noch ganz strikte Traditionen herrschen. Die dort lebenden strengsittigen Brahmanen verbieten jedem Fremden, nicht nur Personen, sondern auch die ihnen gehörenden Gebäude zu berühren. Diese Dörfer sind nur nach Aufforderung durch deren Einwohner zu betreten, Verstöße gegen die Sitten werden mit einer Geldbuße geahndet, welche von den Bewohnern wiederum in ein Tieropfer investiert wird, um somit die Schande vor den Göttern reinzuwaschen. Vielleicht ist diese alte Frau noch in dieser Tradition verpflichtet.

Ich finde jedenfalls einen Trampelpfad, der mich zur Straße zurückbringt, wobei ich beim Durchsteigen des Hanges und Queren einer Bachrinne mit einem Schwall Wasser gesegnet werde. Die Ortschaft Hampta soll angeblich ein tibetisches Flüchtlingsdorf sein. Ich finde allerdings eine Zeltstadt vor, die eher einem provisorischen Flüchtlingscamp in einem Krisengebiet ähnelt. Ich weiß, dass es sich bei den tibetischen Flüchtlingsdörfern in Indien oft um relativ wohlhabende Siedlungen handelt, ihre Bewohner leben normalerweise bereits in der zweiten oder gar dritten Generation dort. Das tibetische Dorf existiert dann auch tatsächlich. Gerade mal etwa zehn Häuser im Tibet - Stil stehen hier gegen wohl 40 bis 50 Zelte. In der Zeltstadt hausen provisorisch die Straßen- und Staudammarbeiter, in seltenen Fällen von ihren Familien begleitet. Auffallend bei den Häusern von Hampta ist, dass deren Architektur mit den Häusern in Spiti und Ladakh zwar übereinstimmt. Man hat hier jedoch selbstverständlich das vor Ort vorhandene Baumaterial verwendet, was die Erscheinungsform der Behausungen hinsichtlich der Farbe (anderes Holz, anderes Gestein) von denen in den vom Monsun abgeschirmten Trockengebieten unterscheidet. Sie sind zudem auch nicht weiß verputzt.

Ich finde vor dem sich ankündigenden Regen Obdach in einem Teastall. Teastalls (auch Teashop) sind einer einfachen Straßendhaba ähnliche, mit Zeltplanen überspannte und Teppichen ausgelegte Stützpunkte, in denen man in erster Linie Chai (Tee) bekommt, aber auch eventuell Kleinigkeiten zu essen, allerdings meist nur Kekse. In diesem Falle gibt es auch Maggi – Nudelsnacks, von denen ich mir einen aufkochen lasse. Zum Nachmittag hin waren mehr und mehr Monsunwolken aufgezogen, die nun bedrohlich grau und düster über dem Lager hängen. Kaum habe ich es mir in dem schlichten, aber durchaus gemütlichen Teastall bequem gemacht, da spritzt es auch schon aus den Wolken herab. Zu Beginn des Septembers ist in dieser Gegend durchaus noch mit den letzten Monsunschauern, die mitunter auch recht heftig ausfallen können, zu rechnen. Zwischen Monsun und Wintereinbruch bleibt dann nur noch ein sehr kurzes Zeitfenster von wenigen Wochen. In manchen Jahren kann die Überschreitung des Hampta – Passes bereits Mitte September schon durch ergiebige Neuschneefälle und winterliche Stürme vereitelt werden.

Ich führe ein wenig Konversation mit ein paar anwesenden Arbeitern, die anschließend darauf bestehen, mir ihr Zelt zu zeigen, in dem sie gemeinsam hausen. Keiner von ihnen stammt aus der unmittelbaren Umgebung, sie alle haben ihre Familien weit zurückgelassen. Oft mehrere Tagesfahrten von ihrer eigentlichen Heimat entfernt, müssen sie eben dorthin gehen, wo es Arbeit gibt. Der Regenschauer war nur von kurzer Dauer, ich setze meinen Weg fort. Nun direkt der Straße folgend, erreiche ich bald schon deren Ende, wo einmal der Staudamm die Wasser des Prini Nalla zur Erzeugung von elektrischer Energie ansammeln soll. Auch hier treffe ich wiederum auf eine kleine Zeltstadt. Ich höre eine Trillerpfeife und ahne es schon . . . "Blast!" höre ich da jemanden rufen, ich werde unter ein schützendes Wellblechdach gewunken, wo fast zwei Dutzend Personen bereits Unterschlupf gefunden haben. Da knallt es auch schon ohrenbetäubend. Ich musste bereits vergangenes Jahr kurz vor Dhundi, auf dem Weg zum Beas Kund, zum gleichen Anlass, wie jetzt, in Deckung gehen. Der Straßenbau wird im meist schwierigen Gelände der unwegsamen Bergregionen des Himalaya üblicherweise durch Sprengungen vorangetrieben. Wenn man also auf einer solchen Piste unterwegs ist und etwa das hektische Schrillen einer aufdringliche Trillerpfeife vernehmen bzw. Warnrufe von anwesenden Personen hören sollte, dann bitte unbedingt beherzigen!

Hier, am Ort der Detonation, habe ich endgültig das Ende der Straße erreicht. Jetzt heißt es nur noch, den richtigen Pfad für den Weiterweg zu finden. Entgegen der Wegbeschreibung wechsle ich das Ufer bereits jetzt, da mir die mächtigen, umgestürzten Baumstämme, die sich quer über die reißenden Fluten des Prini Nalla gelegt haben, günstig für einen Uferwechsel erscheinen. Nachdem ich pfadlos ein Stück weit flussaufwärts geschritten bin, muß ich allerdings bald erkennen, dass die Fortsetzung des Weges durch einen unpassierbaren Felsriegel vereitelt wird. Ich treffe zwei Gaddhis (Viehhirten), die mir bestätigen, dass es hier nicht weitergeht. Also wiederum zurück über die glitschigen Baumstämme. Drüben finde ich dann prompt einen gut ausgetretenen Pfad, der mich bald schon aus dem Wald heraus auf großzügige Viehweiden führt, herrliche Felsklippen und steile Grashänge säumen das Tal hüben wie drüben. Ab und an entdecke ich ein paar Zelte und treffe auch auf deren Besitzer, den Gaddhis. Das Ufer wird dann mittels einer zwar durchgebrochenen, aber immer noch zweckerfüllenden Brücke gewechselt. Das Weidegebiet, auf dem ich mich hier befinde, trägt den Namen Chikka. Als ich den von Ulli Friebel empfohlenen Zeltplatz auf ca. 3000 Metern Höhe erreiche, dämmert es bereits. Ich baue mein Zelt schließlich im Schein der Stirnlampe auf. Da ich mit meinem neuen Einmannzelt noch nicht so erfahren bin, dauert die Sache länger, als mir lieb ist. Ein verdammt harter Tag liegt hinter mir, und mir ist eigentlich nur noch nach Essen, Trinken, und Schlafen. Zu allem Übel hat sich die Erkältung, die ich mir wohl bereits durch die Aircondition im Flugzeug zugezogen habe, verstärkt. Das verdammte Überzelt will nicht passen, und ich fluche, wie ein Bürstenbinder. Eigentlich schade, in einer so traumhaften Nacht, in der eine hellgelbe Vollmondscheibe das unter mir liegende Hochtal romantisch ausleuchtet und die schäumenden Fluten des Prini Nalla direkt unterhalb meines Biwakplatzes durch ein enges Schluchtenbett tosen. Das Flussbett lässt sich im Mondschein mit den Augen wie ein langes Silberband talabwärts verfolgen. Endlich steht mein Zelt, und ich krieche unverzüglich in den Schlafsack, wo ich noch hastig ein paar mit Marmelade bestrichene Toastbrote verschlinge. Die Bilanz des heutigen Tages fällt für mich durchaus positiv aus. Auch wenn das anfängliche Vorbeistapfen an Hotels aller Klassen, Läden, Häusern und Werkstätten vielleicht nichts allzu Aufregendes hatte, so führte diese Etappe nach und nach aus dem urbanen Bereich zunächst über ländliche Weiler und Dörfer bis hinauf in die pure Wildnis der Berge, wo man nur noch Gaddhis (Hirten) oder die eine oder andere rückkehrende Begleitmannschaft von Trekkinggruppen trifft. Die kleinen Gespräche mit den Straßenarbeitern (nicht nur die im Teashop Anwesenden) waren gelegentlich recht aufschlussreich.

Die heutige Etappe ist mit etwa 3 ½ Stunden effektiver Gehzeit und nicht allzu großem Höhengewinn verhältnismäßig einfach, und ich bin gottfroh drum! Ich scheine heute in ein biologische Tief abgerutscht zu sein, der Rucksack erscheint mir doppelt so schwer, Erkältung und mangelnde Akklimatisation setzen mir gehörig zu. Ich unterbreche die Wanderung ständig mit langen Pausen. Vor mich hindösend und mit halbgeschlossenen Augen in die herrliche Berglandschaft hineinblinzelnd, fällt mir der anschließende Wiederaufbruch jedesmal um so schwerer. Die erste Unterbrechung erfolgt bereits wenige Minuten nach dem Verlassen meines Lagerplatzes, als ich das Zelt eines Tea-Shops passiere, wo der Eigentümer und ein anwesender Gast mich mit einladender Geste zu sich winken. So komme ich also zu ein paar Gläsern warmem Tees und ein wenig netter Tratscherei. Der Gast ist ein Trekking- Guide, der mit seinen Packpferden nach Manali zurückkehrt. Er hat eine Gruppe über den Hampta-Paß zum Chander-Tal (Tal = See) geführt. Somit erfahre ich gleich, daß die Verhältnisse oben am Hampta-Paß bislang immer noch unproblematisch sind. Ich trinke meinen Tee mit Verstand, denn die Beiden erklären mir, dass das hier der letzte Versorgungspunkt diesseits des Passes ist. Ich bin diesmal aus verschiedenen Gründen ohne Kocher unterwegs, somit wird dieser Tee die letzte warme Gabe an meinen Magen sein, bis zu meinem voraussichtlichen Eintreffen Übermorgen Nachmittag in Chattru. Kurz hinter dem Tea-Stall tausche ich meine Wanderschuhe mit den Badelatschen, denn eine größere Bachdurchquerung ist zu bewerkstelligen. Ich befinde mich nun im Weidegebiet Joaré. Bereits am oberen Ende von Chikka, wo das Tal sich zusehends verengt, ragt der erste Gletschergipfel in den Himmel hinauf.

Das nächste Lager heißt Balúgerá ("Platz des Bären") und befindet sich auf 3750 m Höhe am oberen Ende einer fantastischen Schwemmebene, durch deren grausandigen Morast ich zuvor zu waten habe. Ich komme am Nachmittag am Lagerplatz an. Nachdem ich mein Zelt aufgebaut und etwas gegessen habe, ist es mir sehr danach, mich unverzüglich in den Schlafsack zu verkriechen, denn ich fühle mich hundeelend. Die Erkältung plagt mich und mein Schädel dröhnt. Ich muss mich aber zusammenreißen und unbedingt wegen der Akklimatisation noch ein Stück weit aufsteigen. Bei Nächtigungen in der Akklimatisationsphase ab 3000 bis 3500 Metern gilt die Regel "Hoch gehen – tief schlafen", um einem eventuellen Ausbruch der Höhenkrankheit während der Nacht vorzubeugen. Gut 150 Höhenmeter lege ich über den steilen Schutt der oberhalb des Lagerplatzes ansteigenden Endmoräne zurück. Herrlich sind die Rückblicke ins Tal, über die urzeitlich anmutende Schwemmebene hinweg bis hinunter zur zwischen Felsen eingezwängten Talverengung. Weit im Hintergrund erheben sich Berge, von denen der Eine oder Andere eine schneeweiße Eismütze trägt. Wieder zurück im Lager, lege ich mich am noch hellen Spätnachmittag bereits in die Falle, verarzte mich selbst mit einer Aspirin und denke mit Grauen an die morgen bevorstehende Passüberschreitung.

Nach dem Aufwachen ist mir zwar nicht gerade nach Bäume Ausreißen, dennoch geht es mir etwas besser, als gestern. Die Nachttemperaturen waren zwar frischer, als in der vorhergehenden Nacht, erschienen mir aber immer noch gut erträglich. Eine hohe Luftfeuchtigkeit hat die Außenplane meines Zelts beidseitig völlig genässt. Nebelschwaden schweben frühmorgens noch über dem Tal, hinter einer grauen Felsmauer lugt eindrucksvoll eine stolze Schneekuppe hervor. Praktisch in alle Richtungen bieten sich Blickfänge auf hochalpine Szenerie: angeschneite Felsbarrieren, ein mit einer kecken Felsnadel besetzter Gletscherberg, sowie weitere vergletscherte Berggestalten. Wäre da nicht die Vegetation, welche sich insbesondere durch die auf den Weidegründen von Chikka und Joaré gedeihenden Baum- und Straucharten von denen unserer Breiten erheblich unterscheidet, könnte man glatt meinen, man befände sich irgendwo inmitten der Schweizer Alpen.

Die Überschreitung des Hampta-Passes hat durchaus hochalpine Qualitäten. Ein ortsunkundiger Alleingänger darf sich glücklich schätzen, unterwegs von dichtem Nebel oder gar von Gewitter- oder Schneestürmen verschont zu bleiben. Ist der Pfad anfangs noch recht gut zu finden, verliert er sich gegen Schluss hin in weglosem Blockwerk. Im Aufstieg imponiert, neben den kühnen Gipfeln und dem Panorama hinunter ins zurückliegende Tal, die Nahsicht auf einen riesigen, von Spalten durchfurchten Gletscher. Es gehören übrigens ein guter Schuss Glück und ein früher Aufbruch dazu, will man den Hampta – Pass und seine imposante Kulisse um diese Jahreszeit ohne die alles zuschwabbelnden Monsunwolken erleben. Zudem kann der Nebel, wenn er zu dicht ist, Orientierungsprobleme aufwerfen. Besonders wichtig erscheint es mir, dass die Abstiegsroute mit dem Auge erkennbar bleibt, da jenseits des Passes auch Absturzgelände lauert. Dieses Ungemach bleibt mir glücklicherweise erspart, stattdessen labe ich mich an einer fantastischen Aussicht. Wie bereits erwähnt, hatte die Landschaft auf der dem Kullu-Tal zugewandten Seite des Passes in vieler Hinsicht Ähnlichkeit mit den hochalpinen Regionen der Alpen, auf der gegenüberliegenden Seite hingegen entfaltet sich vor mir ein Landschaftsbild, welches sich von den Alpen grundlegend unterscheidet und für die Trockengebiete des Himalaya bezeichnend ist. Auch der Hampta-Jot outet sich somit als scharfe Klimascheide, denn das völlig unbewohnte, langgezogene, schon recht karg erscheinende Hochtal zu meinen Füssen, die grauen, trostlosen Schutthänge der steil aufsteigenden Gletscherriesen, sowie das Fehlen sämtlicher Baumarten zeichnen das Bild einer klassischen im Monsunschatten subsistierenden Bergwelt. Hier drängen sich mir Vergleiche auf zu den Urlandschaften von Ladakh und Mustang. Allerdings ist es hier noch nicht gar so trocken und wüstenhaft wie etwa im Gebiet um die Ladakh-Hauptstadt Leh, und auch die schneeweißen Gletschergewänder der sich hier emporreckenden Berge sind hier noch wesentlich opulenter, als jene der tiefer in die Bergwüste hineinversetzten Gipfel. An dieser aus Fünf- und Sechstausender-Gipfeln bestehenden natürlichen Mauer bleibt der Großteil des von Süden anrückenden Monsungewölks hängen und schneit sich mit aller Regelmäßigkeit dort ab. So überragt ein besonders auffälliger, und durch seine sowohl pompöse, als auch schnittige Figur ungemein beeindruckend in Erscheinung tretender Gletscherriese den atemberaubenden Talabschluss. Sein nach unten hin völlig mit Schutt bedeckter Gletscher schiebt sich tief ins Tal hinein. Bei diesem Respekt einflößenden 6000-er handelt es sich entweder um den White Sail, oder um den Deo Tibba.

Mit der Passüberschreitung wechsle ich auch die Provinz. Ich verlasse jetzt den Kullu-Distrikt, vor mir erstreckt sich Lahoul, ein riesiges Berggebiet von herber Prägung und nahezu vollkommener Einsamkeit. Es fällt mir jetzt nicht schwer, mir einzubilden, ich wäre der einzige Mensch auf hunderten von Quadratkilometern, doch da entdecke ich, ganz winzig, unter mir im Talgrund, nicht weit von den Gestaden des von milchig-trüben Schmelzwassern durchflossenen Chatru Nalla, ein Zeltlager. Je mehr ich mich im Abstieg über den schmalen Bergpfad dem Talboden nähere, desto einleuchtender erscheint mir, dass es sich bei den dort unten Lagernden nicht etwa um eine Trekking-Gesellschaft handelt, sondern eher um eine Bergsteigerexpedition, die sich vermutlich an einem der umliegenden, allesamt sehr anspruchsvoll erscheinenden, Fünf- oder Sechstausendern versuchen will. Dies schließe ich aus der Größe der Zelte und aus der Tatsache, dass beim Zeltplatz eine Volleyball-Leine gespannt ist. Somit scheint ein längerer Aufenthalt an diesem Ort geplant, also ein typisches Basislager für eine Expedition. Derartige Unternehmungen nehmen ja meist mehrere Wochen in Anspruch, wobei ständig zwischen Basislager und den verschiedenen Hochcamps hin- und hergependelt wird. Da der Besuch des Lagers für mich ein Umweg wäre, lasse ich es hinter mir und marschiere das langgestreckte Tal hinab, direkt auf dessen schmalen, scharf eingeschnittenen Ausgang zu. Dort erwartet mich quasi die Schlüsselstelle der Etappe, da dort schmale Felsbänder oberhalb glatter, schräger Platten zu überwinden sind. Unter den Sohlen toben dabei die steil herabstürzenden Wassermassen des Chatru-Flusses. An und für sich sind diese Passagen für einen geübten Berggänger wenig problematisch. Mit dem großen Rucksack im Rücken ist es dennoch empfehlenswert, konzentriert und sicher zu Werke zu gehen. Auf keinen Fall sollte man aber auf den Maultierpfad ausweichen, bei dem man sich zwar das exponierte Wegstück ausspart, dafür aber ein zweimaliges Queren des gefährlichen Chatru-Nalla erforderlich ist.

Nun öffnet sich mir der Blick hinunter in ein neues Tal, das noch größer ist, als jenes des Chatru. Es ist das Tal des Chander-River. Oberhalb des Flusses zieht sich die hellgelbe Spur einer sich an beiden Enden in der Unendlichkeit der tibetischen Gebirgswüste verlierenden Piste. Diese ist Teil der Verbindung zwischen Manali bzw. Keylong und Kaza, dem Hauptort Spitis. Nördlich von Manali führt eine geteerte Straße über den Rohtang La (3978 m) hinab nach Lahoul. Ab dem Wegekreuz Gramphu beginnt eine ungeteerte Piste, die durch´s Chander-Valley hindurch hinauf auf den 4551 Meter hohen Kunzom La klettert, von welchem aus die Fahrt schließlich ins Spiti-Tal hinunterführt. Durch einen steilen Bergwiesenhang steige ich hinunter bis ans Ufer des Chander, wo ich dem Pfad am Fluss entlang folge. An einer Stahlbrücke stoße ich auf besagte Piste, und gelange gleichzeitig auch ans andere Ufer. Beiderseits der Brücke gruppieren sich etwas mehr als ein halbes Dutzend Dhabas. Dieser Stützpunkt heißt Chattru (3360 m) und ist eine von drei Raststationen entlang der Strecke zwischen Gramphu/Lahoul und Losar in Spiti. Richtige Dörfer gibt es unterwegs keine. Solche für uns Europäer ungewöhnliche, und sicher auch abenteuerlich erscheinende Stützpunkte trifft man häufig auf Himalaya-Reisen. Sie dienen LKW – Fahrern, Jeeps und Bussen als Haltepunkte für Essenspausen, und für Reisende, die auf der Suche nach einem Verkehrsmittel sind, als Vermittlungs- und Zustiegsmöglichkeit. Des weiteren sind immer ein paar abgewetzte Betten zur Nächtigung vorhanden, und auch technische Defekte an den Fahrzeugen werden hier so gut als möglich behoben.

Ich entscheide mich aus dem Bauch heraus für die erste Dhaba jenseits der Brücke. Zuallererst lasse ich mir – neben dem obligatorischen Chai (Schwarztee mit Milch ist Standard, wer keine Milch wünscht, sollte "Black Tea" bestellen)- eine Riesenportion Dhal Bhat kredenzen. Danach fühle ich mich schon wesentlich wohler. Der Schnupftabak des Dhaba – Wirtes befreit zwar eine zeitlang meine Nase, treibt mir aber auch einen Schwall Tränen in die Augen. Auf Anfrage weist mir der Wirt einen Zeltplatz zu, und zwar hinter der Dhaba, direkt überhalb des Chander-Ufers – einfach traumhaft! Überhaupt habe ich Chattru auf Anhieb in mein Herz geschlossen. Die dramatische Position inmitten dieser von Gletscherriesen überragten Halbwüste, und die verwegene Atmosphäre eines staubigen Basic-Motels suggerieren einem das Gefühl, als Glücksritter oder Weltenbummler irgendwo am Ende der Welt angekommen zu sein, wobei Letzteres in gewisser Hinsicht auch zutreffen mag. Die Wirtsfamilie ist übrigens tibetischer Herkunft, sie haben ihren Wohnort im Winter aber in Bhuntar, am Eingang zu Parvati-Tal. So gegen Ende des Monats dürfte für sie die Saison gelaufen sein, dann werden sie Chattru verlassen, bevor der Schnee des hier langen und harten Winters die dann verwaist zurückgelassenen Steinmauern der Dhaba unter sich begräbt. Ein kleines Bächlein plätschert durch die Zeltwiese und ergießt sich über die Uferböschung in den Chander-River. Sein Wasser ist trinkbar, und die Stelle oberhalb der Böschung dient mir zudem als Waschplatz. Als ich es mir überm Flussufer, mit einem guten Buch bei der Seite, gemütlich mache, verlieren sich meine Blicke in den rasch vorbeifließenden Fluten. Ich gerate in eine träumerische Nachdenklichkeit, vergleichbar mit dem nächtlichen Sitzen am Lagerfeuer, wenn einen das formenreiche Spiel der Flammen zu hypnotisieren scheint und die Gedanken zum Fließen bringt.

Zur Frühstückszeit kehren zwei holländische Mountainbiker in der Dhaba ein, mit denen ich ins Gespräch komme. Sie sind in Shimla gestartet und haben sich Leh, den Hauptort von Ladakh, zu ihrem Ziel gesetzt. Sie rechnen mit einer Gesamtreisezeit von etwas über vierzehn Tagen. Die Strecke führt fast ausnahmslos über Schotterpisten und verläuft in großen Höhen, wobei zudem mehrere bis über 5000 Meter hohe Pässe zu überwinden sind. Ein solches Unternehmen eignet sich nur für bestens durchtrainierte Personen mit eisernem Willen, die allerdings für ihre Mühen auf dem Weg mit einer Fülle von kulturellen und landschaftlichen Eindrücken belohnt werden, die ihresgleichen suchen. Mountainbiken im Himalaya erfreut sich übrigens zunehmender Beliebtheit. So ist die Fahrt von Manali nach Leh (ca. 10 Tage für gut Trainierte) fast schon zum Klassiker geworden. Wenn man, wie die beiden Holländer, bereits in Shimla startet und somit Kinnaur (durch das Tal des Sutlej-River) und Spiti noch mitnimmt, wird neben den zusätzlichen körperlichen Strapazen noch ein Behördengang nötig, nämlich die Beantragung einer sogenannten Inner-Line-Permit, da der Zugang von Süden ins Spiti-Tal nahe an die politisch sensible Grenze zu Chinesisch-Tibet heranführt. Die Erdrutschpassage hinter Rekong Peo ist zudem legendär.

Schlag 9.30 Uhr trifft der Bus ein, eine derartige Pünktlichkeit hätte ich hier nicht erwartet und ist auch sicher nicht alltäglich, da Pannen, Erdrutsche vor allem in der Monsunzeit oder sonstiges Ungemach den Fahrplan jederzeit beeinträchtigen können. Ich verabschiede mich von der Wirtsfamilie und besteige mit meinem schweren Rucksack den "Local Bus". Erfreulicherweise ist dieser nicht allzu voll, es sind noch genügend Sitzplätze frei, sogar einen Fensterplatz kann ich ergattern. Das Fahrzeug holpert durch eine ursprüngliche und wilde Landschaft, zwei weitere Versorgungspunkte –Chhota Dhara und Batal – liegen an der Strecke. In Batal machen wir unseren "Lunch-Stop", bevor sich der Bus die vielen, vielen Serpentinen zum Kunzom La (4551 m) hinaufwindet. Auf der Passhöhe befindet sich ein Schrein, welcher der Göttin Kunzom Lhamo geweiht ist. Die im Wind flatternden Gebetsfahnen signalisieren zwar schon den Einflussbereich des tibetischen Buddhismus, dennoch wird dieser Ort, wie auch viele andere Heiligtümer im buddhistischen Himalaya, gleichermaßen von den Hindus verehrt. Rings um das "Sanctuary" führt der Fahrweg, der vom Bus, wie es sich geziemt, von links nach rechts umrundet wird, ehe wir zu einer kleinen Pause aussteigen. Ich umschreite einmal zu Fuß das Heiligtum, und da ich das schnellen Schrittes tue, bekomme ich sofort die Kurzatmigkeit in dieser großen Höhe zu spüren. Das Heiligtum und die dahinter aufragenden Gletscherriesen bieten eine berauschende Kulisse.

Jetzt endlich geht die Fahrt hinab nach Spiti, dem Hochtal, welchem das Hauptaugenmerk meiner diesjährigen Reise gelten soll. "Most welcome to Spiti", mit diesem Spruch, welcher auf einem über die Straße gespannten Torbogen prangt, werden wir im Dorf Losar (4000 m) empfangen. Es besteht Meldepflicht in der dortigen Polizeistation, was problemlos und freundlich von den ansonsten einem eher langweiligen Dienstdasein unterworfenen Beamten bewerkstelligt wird. Losar mit seinen im Wind wogenden, goldleuchtenden Weizenfeldern, den schnuckeligen Tibeterhäusern und den ringsum aufragenden, ockergelben Felsbergen hat schon was, und der erste ausländische Reisegast, ein älterer Italiener aus Turin, gleichfalls ein begeisterter Bergfreund, wie ich, beschließt spontan, unseren Bus zu verlassen und zunächst einmal hier zu verweilen.

Wir anderen steigen wieder ein und erfreuen uns an der zwar rütteligen, aber beeindruckenden Fahrt durch den nördlichen Abschnitt des Spiti – Tals bis in den Hauptort Kaza. Ab Losar trägt die Straße einen Teerbelag, was das Reisen zwar schneller, aber, bedingt durch die unzähligen Schlaglöcher, keineswegs komfortabler macht. Wir umrunden ein paar dramatische Schluchteneinschnitte, wobei sich durch das Busfenster hindurch schauererregende Tiefblicke hinab in die tosenden Fluten der wasserreichen Nebenbäche des Spiti-Rivers bieten. Letzterer wälzt sich durch ein breites Kiesbett, in welchem er sich in viele Nebenarme aufgabelt. An manchen Abschnitten wird er auch in eine enge Schlucht hineingepresst, wie das beispielsweise zwischen Losar und Kiato der Fall ist. Was bereits in den Dörfern, welche direkt hier im Spiti-Tal gelegen sind, auffällt, bestätigt sich besonders in Kaza: neben den überwiegend traditionellen tibetischen Häusern sieht man auch viele moderne Gebäude. Meist handelt es sich um öffentliche Einrichtungen, die Regierung scheint doch etwas Geld in diese abgelegene Region zu investieren. Leider sind die Schul- und Krankenhäuser, Kasernen oder Polizeistationen mit ihren grünfarbenen Wellblechdächern nicht sonderlich ansehnlich, aber Fortschritt und Veränderung bleiben eben auch hier in Spiti nicht aus. Außerdem lebt in Kaza eine gemischte Bevölkerung, d.h., die Spiti-Tibeter sind zwar immer noch in der Mehrzahl, aber im Ort leben auch viele Menschen aus anderen Teilen Indiens, überwiegend Hindus, aber auch Sikhs und Moslems. Dass sich in Spiti aber immer noch jede Menge Ursprüngliches bewahrt hat, das soll ich in den kommenden Tagen bei meiner Trekkingtour durch die hochgelegenen Dörfer der Left-Bank erleben. Die Adresse vom Milarepa-Guesthouse habe ich von Uli Friebel. Hier bin ich in einem echten Tibeter-Haus untergebracht, die Wirtsleute sind sehr freundlich, die Zimmer zwar einfach, aber blitzesauber. Geduscht wird mit kaltem Wasser, indem man sich dieses mittels einer Schöpfkanne übergießt. Mit 100 Rupien (nicht einmal 2 Euro!) ist die Unterkunft superbillig. Das Guesthouse hat kein Restaurant, was wiederum den Vorteil hat, dass man bei längerem Aufenthalt jeden Abend nach Belieben ein anderes der im Städtle zahlreich vorhandenen Dhabas und Restaurants ausprobieren kann und nicht ans Haus gebunden ist.

Mein Trekking findet diesmal nicht an einem Stück statt, sondern wird immer wieder von Busfahrten und Aufenthalten in Ortschaften unterbrochen. Die drei Tage, in welchen ich über den Hampta-Paß getrekkt bin, waren reichlich anstrengend, weshalb ich nun um so mehr die Vorzüge der Provinzhauptstadt Kaza genieße. Besonders kulinarisch lasse ich es mir gut gehen, aber auch das Schlendern durch den kleinen Bazar ist eine erholsame Tätigkeit. Kaza ist bei weitem nicht so aufdringlich, wie Manali, oder gar Delhi. Zwar ist dieser Ort seit der Öffnung 1993 längst schon vom Tourismus entdeckt, dieser hat jedoch seine Hochsaison in den Monaten Juli und August, weshalb nun nur noch wenige Gesichter westlicher Ausländer im Stadtbild erscheinen. Meine langen Haare haben mich bei der Hampta-Paß-Tour reichlich genervt. Ich beschließe einen Besuch beim örtlichen Friseur, der typischerweise in hinduistischer Hand ist. Der junge Friseur muss sein handbetriebenes Maschinchen mehrmals nachölen, um meinem Gestrüpp Herr zu werden. Anschließend erfolgt eine Kopfmassage mit wohlriechendem Massageöl. Der junge Bursche beginnt frech zu werden, klopft mir immer heftiger auf dem Kopf herum, und grinst über den Spiegel zu seinen Kollegen herüber. Ich gebiete Einhalt, und der Scherz hat sogleich ein Ende. Ja, so sind sie eben, die jungen indischen Burschen, man darf das nicht so eng sehen, und, wie gesagt, je mehr man sich selbst extravertiert und humorvoll gibt, desto mehr gewinnt man deren Anerkennung. Es ist in Indien gelegentlich kein Fehler, auch etwas autoritär aufzutreten. Man kann mit der Zeit ein Feingefühl dafür entwickeln, wann dies angebracht ist, und wann nicht. Mit zu viel "Thank you" und übertriebener Höflichkeit kann man sich gelegentlich lächerlich machen. Indien ist immer noch eine strikte Klassengesellschaft geblieben, und oft wird erwartet, dass sich der "höhere Herr", oder wer sich dafür hält, oder dafür gehalten wird, auch als ein solcher benimmt. Es gibt Europäer, die diese Zustände in Indien der englischen Kolonialzeit in die Schuhe schieben wollen, was nur bedingt stimmt. Sie sind nämlich auch dem religiös bedingten Kastensystem, oder den nicht allzu fern zurückliegenden Zeiten, als allmächtige Rajputen Teile des Landes beherrschten, zuzuschreiben.

Tabo (3400 m) heißt mein nächstes Ziel. Vor der Fahrt halte ich noch Einkehr zum Frühstück in der gegenüber dem Busbahnhof sich befindlichen Dhaba eines Tibeters. Aus einem kleinen Lautsprecher ertönen buddhistische Mantras, die Wände des düsteren Räumchens sind voller Fliegen. Dennoch ist das Essen gut und sauber. Zum Thema Fliegen will ich nochmals auf die Dhaba beim Checkpoint am Rhotang La hinweisen, wo ich mit meinem Freund Haidar vergangenes Jahr gespeist habe. Man sollte es sich in Indien abgewöhnen, vor solchen Tatsachen zu erschrecken. Viel wichtiger ist, daß der Dhaba - Wirt frische Lebensmittel verwendet und diese genügend heiß kocht, was gemäß meiner bisherigen Erfahrungen eigentlich immer der Fall ist. Die reichlich zwei Busstunden (43 Kilometer) durch hochdramatische Schluchtenlandschaft bringe ich auf der besonders unbequemen hintersten Sitzbank zu. Bei gar manchem Schlagloch wird mir, als würde ich jeden Augenblick mitsamt meinem von mir verzweifelt umklammerten Rucksack durch´s geschlossene Busdach katapultiert. Deshalb bin ich zu guter Letzt froh, endlich in Tabo anzukommen. Wer die buddhistischen Klöster im tibetischen Himalaya kennt, und um deren manchmal so spektakulären Standorte weiß, hoch über den Tälern auf Bergzacken thronend, oder als schneeweiße Farbsprenkel an einen supersteilen Hang gekleckst, dem mag Tabo aufgrund seiner bescheidenen Erscheinung zunächst vielleicht eine Enttäuschung sein. Das Gompa zählt aber zu den ältesten und bedeutendsten im Himalaya. Zusätzliches Renommeé erhielt das Kloster wohl mit der Aussage des Dalai Lama, es als Altersruhesitz zu erwägen. Der neue Tempel wurde übrigens im Jahre 1983 durch den Dalai Lama eingeweiht. Das alte Gompa wurde im Jahr 996 gegründet. Das Leben der Mönche findet zwar überwiegend im neuen Teil statt, dennoch werden die Pujas im Winter noch im alten Gompa abgehalten. Die wahren Kunstschätze finden sich dann auch dort. Die Mauern des alten Komplexes sind komplett aus Lehm geschaffen. Dem trockenen und niederschlagsarmen Klima Spitis ist es hauptsächlich zu verdanken, daß sich diese alten Gemäuer bis in unsere Zeit hinüberretten konnten.

Ein paar in schon unverschämter Weise bettelnde Kinder empfangen mich am Busbahnhof. Ich gehe schnurstraks auf das Kloster zu, und quartiere mich im zum Kloster gehörenden Monastery-Guesthouse ein. Dieses Guesthouse hat eine etwas morbide Aura, ohne dabei einen gewissen Charme einzubüßen. Ich lerne den Bibliothekar kennen, der sein Zimmer dem meinigen gegenüber hat. Er kommt aus Graz in Österreich, seine Frau ist Belgierin, und die Beiden betreuen die Klosterbibliothek seit Jahren schon den Sommer über. Am Nachmittag lasse ich mich von einem Führer, der kein Mönch ist, und hier im Kloster wohl einer Art Hausmeistertätigkeit nachgeht, das alte Kloster zeigen. Von den acht Tempeln, die sich innerhalb der historischen Anlage befinden, ist der Tsug La-Khang der älteste, größte und auch der kostbarste. Dummerweise habe ich den Hinweis im Reiseführer nicht befolgt und meine Stirnlampe auf dem Zimmer gelassen. Denn zur eingehenderen Betrachtung der wundervollen Wandgemälde und der an den Wänden thronenden 32 Buddhastatuen wäre bei den im Tempelinneren herrschenden spärlichen Lichtverhältnissen eine solche wünschenswert gewesen. Fotografieren ist im Tempelinneren leider untersagt, ersatzweise kann man beim Gompawärter einen Satz wirklich schöner Bilderkarten für 150 Rupien käuflich erwerben. Ich lasse mir selbstverständlich auch die anderen Tempel zeigen, welche aus dem 15. und aus dem 18. Jahrhundert stammen. Eine eingehende Lektion über die Lehre Buddhas erhalte ich dann beim Abendessen von Julio, einem sehr gebildeten Brasilianer, und dessen Schweizer Freundin, im nahen tibetischen Gartenrestaurant. Am Mittag hatte ich im Klosterrestaurant gespeist, wobei auch eine größere Gruppe hinduistischer Brahmanen zugegen war. Diese Leute verhielten sich mir gegenüber sehr freundlich und interessiert. Dem Küchenpersonal gegenüber traten sie hingegen überheblich und äußerst dominant auf.

Nach der Klosterführung hatte ich eigentlich eine kleine Akklimatisationstour zu den Gebetsfahnen von Tabo Labtsa (4110 m) vorgesehen, welche auf einem Bergkamm hoch über der Ortschaft flattern. Ich war allerdings schlampig, und hatte mich zu wenig mit dem Zielpunkt und dem Aufstieg dorthin beschäftigt, weshalb ich dann zu den viel weiter unten wehenden Gebetsfahnen oberhalb des von Tabo her gut sichtbaren Schriftzugs aus weißen Steinen aufgestiegen war und mich noch über die wenigen Höhenmeter gewundert hatte. Das Feinschottergelände in diesem sehr abschüssigen Hang war ganz schön tückisch. Bei der Rückkehr lungerte ich noch etwas bei den über dem Ort gelegenen Höhlen herum, in denen früher meditiert wurde. Schon deswegen und natürlich auch wegen der fantastischen Aussicht über das Spitital und hinab zum Kloster mit dem ringsherum sich ausbreitenden Dorf Tabo hat sich der Ausflug dennoch gelohnt. Auch in Tabo sind zwischen den traditionellen Häusern ein paar moderne Gebäude zu erkennen, so macht das Krankenhaus von außen besehen einen recht fortschrittlichen Eindruck.

Morgens findet von 6 bis 7.15 Uhr die Puja statt, bei der ich zugegen bin. Beim Gelugpa (Gelbmützen) – Orden wird die Puja dreimal täglich von allen Mönchen gemeinsam zelebriert. Neben dem ständigen Mantra - Rezitieren wird die Feier auch durch Einsätze verschiedener Instrumente bestimmt. So ertönen in regelmäßigen Abständen eines dieser langhalsigen Blasinstrumente, welche man praktisch in jedem Kloster in einer Ecke herumstehen sieht (deren Name kenne ich bislang nicht), eine Hängetrommel, ein paar Blechbecken, sowie eine Muschel, die als Blasinstrument allerdings nur eine einzige Tonlage zustande bringt. Ein Novize übt im Hintergrund still die Griffe auf einer Holzflöte. Zum Frühstück kehre ich diesmal im Himaliya Ayanta Guesthouse and Restaurant ein (vom Gompa aus linker Hand in Richtung Busbahnhof), einer Empfehlung des Grazer Bibliothekars, welche man nicht nur wegen des guten Essens beherzigen sollte. Die Wirtsleute sind Nachkommen tibetischer Flüchtlinge. Wie mir der freundliche und kontaktfreudige Wirt erklärt, behalten die Nachkommen der einst vor der chinesischen Invasion aus Tibet geflüchteten Menschen in Indien ihren Flüchtlingsstatus, auch wenn sie in Indien geboren sind, und ihnen sodann laut Gesetz eigentlich die indische Staatsbürgerschaft automatisch zukommen würde. Das ist natürlich Politik und bedeutet wohl, daß Indien offensichtlich nicht gewillt ist, Tibet als einen Teil Chinas anzuerkennen.

Am Busbahnhof treffe ich den Bibliothekar und dessen Frau. Heute ist Sonntag, und die Beiden wollen eine Wanderung in eines der Nebentäler des Spiti-Valley unternehmen. Somit bleiben wir zunächst im Bus zusammen, sie werden nur kurz vor mir aussteigen. In unserer Unterhaltung erfahre ich auch von den neuesten Kapriolen des bekanntlich überall auf der Welt aus den Fugen geratenen Klimas. Vermutlich zum ersten Mal seit Menschengedenken war der Monsun dauerhaft in den Monaten Juli und August bis nach Spiti vorgedrungen. Neben des positiven Effektes einer ungewöhnlich reichen Ernte brachte der Monsun aber auch viel Ungemach, wie weggerissene Brücken oder von Erdrutschen beeinträchtigte Verkehrswege. Wer die erdrutsch- und steinschlaggefährdeten Steilhänge der transhimalayischen Gebirgswüsten kennt, der mag nur mit Schaudern daran denken, was passiert, wenn sich in diesen Gebieten dauerhaft starke Regenfälle etablieren.

Ich beginne heute mit der Begehung des sogenannten Spiti – Leftbank – Treks, der durch die hoch gelegenen Dörfer über der orographisch linken Seite des Spititals führt. Diese Trekkingroute ist insofern eher eine Ausnahme im Himalaya, als daß sie große Flexibilität zulässt, und problemlos jederzeit ab- oder unterbrochen werden kann, da sämtliche Dörfer durch Pistenstraßen mit dem Spiti – Tal verbunden sind. Der eigentliche Reiz dieses Treks ist sicher der ständige Wechsel von urtümlicher, einsamer Bergwüstenlandschaft zu der lebendigen Bauernkultur in den Dörfern, sowie die Berührung mit der Religiosität in den Gompas. Die Erfahrung einer typisch tibetischen Himalayalandschaft und das Kennenlernen der in ihr lebenden Menschen verbinden sich hier in idealer Weise.

Wenn man beabsichtigt, nach Dankhar hinaufzuwandern, dann sollte man dem Busfahrer bzw. dem Lotsen den Hinweis "Dankhar Short-Cuts" geben, um an der optimalen Stelle für den Aufstieg herausgelassen zu werden. Der Beginn der "Dhankar Short Cuts" befindet sich nur wenige Kilometer hinter der Ortschaft Shishiling (3600 m) und ist die bessere Alternative zur direkt vom Dorf aus ebenfalls hinaufführenden Straße. Über einen steilen Pfad steige ich empor, und mit zunehmender Höhengewinnung wird das Panorama hinunter über das spektakuläre Delta, wo der Pin – River in den Spiti – River einmündet, immer berauschender. Hinzu gesellt sich noch der Ausblick nach vorne, besser gesagt, nach oben. Hoch auf einem lotrechten Podest aus Konglomeratgestein thront über mir, einem Adlernest gleich, das alte Gompa von Dhankar. Zwischen von der Erosion herausmodellierten Felstürmen schlängelt sich der Weg zum Schluß am Bachbett einer engen Schlucht entlang, bis hinauf zu den ersten Häusern des Dorfes Dhankar (3700 – 3850 m). Zunächst durchquere ich das schöne Dorf mit seinen typischen Spiti-Häusern, und lasse bald im unteren Bereich des alten Gompa meinen Rucksack zurück, um bequem zwischen den alten Gemäuern hindurch bis zum höchsten Punkt hinaufzusteigen. Bezüglich meines zurückgelassenen Gepäcks mache ich mir hier oben in den Dörfern überhaupt keine Sorgen. Eher würde mich wohl der Teufel holen, als daß hier irgendwas abhanden kommt. Selbst wenn ein paar zu Streichen aufgelegte Kinder etwas verschwinden lassen würden, so würden die Erwachsenen rasch dafür sorgen, daß es unverzüglich wieder auftaucht. Die traditionelle Gastfreundschaft ist hier noch intakt, und auch das Empfinden von Schande für das Dorf, wenn einem Fremden dort irgendein Ungemach wiederfahren sollte.

Die Aussichten von den Gemäuern der alten Klosteranlage herab sind atemberaubend. Spiti- und Pine – River schicken zahlreiche Nebenarme durch ihre ausladenden Kiesbetten, schneeweiße Dörfer sind von grünen und goldgelben Feldern umzingelt, ockerbraune Felsberge erheben sich auf der gegenüberliegenden Talseite, Gletscherspitzen säumen den Horizont. Ich verlasse das Dorf auf dem in den Hang gesprengten Fahrweg, über welchen das etwa Dutzend weiterer hier anwesenden Touristen mit Geländefahrzeugen und Fremdenführern hier heraufgekommen ist. Oberhalb des neuen Klosters, welches sich am oberen Dorfrand, dem alten Gompa gegenübergestellt, befindet, treffe ich auf einen jungen Kerl, der an einem Bach gerade ein paar Kleidungsstücke wäscht. Etwas überhalb dreht sich eine Gebetsmühle, welche ihre Mantras mit Hilfe der Wasserkraft in die Welt hinausträgt. Er würde jetzt Mittagspause in der Gompa – Küche machen, so der Wäschewascher, und ich solle doch zum Essen mitkommen. Eine gute Idee, und so sitze ich bald im Nebenraum der Klosterküche, zusammen mit einem halben Dutzend Bauarbeitern, die im und ums Kloster beschäftigt sind, und zu denen auch der junge Mann gehört. Auch ein junger Israeli ist anwesend, der sich offenbar für einen längeren Aufenthalt ins Gompa – Guesthouse einquartiert hat. Das wohlschmeckende Gericht enthält auch weißfarbenes Fleisch. Auf die Frage des Israeli, was das sei, antwortet der Koch mit einem listigen Lachen "Local Chicken!" Was immer für ein Vogel für diese leckere Mahlzeit dran glauben hat müssen, wir fragen besser nicht weiter danach, und genießen stattdessen das Essen. Bevor ich weitergehe, gibt es noch eine Foto-Session. Mein Freund hat sich extra dafür in ein traditionelles ladakhisches Gewand geworfen, weiß der Kuckuck, wo er das her hat. Jedenfalls ist er mächtig stolz in seinem Aufzug und insistiert darauf, ich möge ihm die Bilder per E-Mail zuschicken. Als Hintergrundmotiv dient uns das alte Gompa.

Mir stehen zwei Möglichkeiten zur Verfügung, um nach Lhalung, meinem vorgesehenen Tagesziel, zu gelangen. Die etwas weitere, aber sicherlich interessantere, führt über den Dhankarsee. Im Aufstieg dorthin kommt mir eine Gruppe junger Israelis entgegen, es sind die Freunde dessen, welcher mit mir in der Klosterküche zu Mittag gegessen hatte. Ganz zum Schluß folgt der Truppe noch ein alter Hippie. Für dieses dürre Gerippe muß der Aufstieg zum See sicher ein Gang zur persönlichen Leistungsgrenze gewesen sein. Ich habe das richtige Timing erwischt, denn als ich oben am See ankomme, ist außer mir niemand mehr zugegen. Das auf über 4000 Metern gelegene Gewässer und seine Umgebung sind phänomenal! Während am Ostufer ein Teil des Sees ausgetrocknet ist, bietet sich der wohl schönste Ort, um den Aufenthalt hier oben zu genießen, am Westufer an, wo man über den glatten Seespiegel die unmittelbar ihn umgebenden karge Hänge hinweg zu dramatisch am Horizont sich erhebenden Gletscherbergen schauen kann. Am Westufer steht auch ein kleiner Chorten mit flatternden Gebetsfahnen und während ich den Chorten von links nach rechts umrunde, murmle ich ein dankbares "om mani padme hum".

Die Fortsetzung der Wanderung erfolgt nun pfadlos, und zwar in etwa Westrichtung, wobei mehrere Anhöhen überschritten werden. Trotz der dünnen Luft, ich bewege mich nun unentwegt in Höhen zwischen 4100 und 4300 Metern, fällt mir dieser Gang über die Berge verhältnismäßig leicht, wenngleich ich bei den Aufstiegen einen wesentlich langsameren Schritt anlegen muß, als ich das von den Alpen her gewohnt bin. Tief unter mir taucht nun Dhankar wieder auf – was für ein Anblick! Das auf einen wilden Felsgrat gesetzte alte Gompa, der Kessel, in dem sich die Häuser des Dorfes verteilen, die grün-gelben Terrassen, die unterhalb des Dorfes die Hänge herabfallen, und noch viel tiefer, praktisch im Hintergrund, die urzeitähnlichen Canyons von Spiti – und Pin – River. Das alles liegt nun praktisch zu meinen Füßen! Das nächste Drama läßt nicht lange auf sich warten, denn unvermittelt gerät nun eine riesige, ockergelbe Felswand ins Blickfeld, darunter lauert ein scharfer Schluchteneinschnitt. Zu deren oberen Rand muß ich nun absteigen. Das nun unter mir gähnende, canyonartige Tal heißt Lingti Valley. Ich muß diesem einwärts folgen, um nach Lhalung zu kommen. Hier ist es vorerst vorbei mit weglosem Gelände, denn eine staubige Piste zieht über dem Schluchtenabgrund als ewig langes Band durch den Hang. Tief unter mir schlummern diesseits und jenseits des Ufers pittoresk je eine kleine Siedlung. Am gegenüberliegenden Ufer mache ich zudem eine steile Schlucht aus, die oben in einen mit grünen Weiden und Feldern überzogenen Hang mündet. Darüber wiederum verteilen sich schneeweiß die Häuser von Demul (4320 m). In diesem Ort gedenke ich meine morgige Etappe zu beenden. Die Dämmerung setzt ein, aber Lhalung will und will nicht erscheinen. Ich hätte nicht erwartet, daß der Ort so tief in der Schlucht drin, und somit so weit weg vom eigentlichen Spiti – Tal, gelegen ist. Gerade mal mit dem letzten Fünkchen Tageslicht treffe ich schließlich und endlich in Lhalung (3700 m) ein, die Stirnlampe war schon prepariert. Das Kabrik – Guesthouse wird seit etwa einem Jahr von Tashi und seiner Familie geführt, und man ist dort am Herd einer echten Spiti - Familie bestens aufgehoben. Als ich noch Grüße von Volker aus Berlin ausrichte, von dem ich diese Adresse habe, freut man sich um so mehr. Der Segen der Familie sind die beiden erst 6 Monate alten Zwillinge. Auch ein Bruder von Tashi, der beim Militär dient, und gerade Urlaub hat, ist zugegen. Tashi spricht sehr gut englisch, was man in Spiti eben nicht immer erwarten kann, und er ist zudem ein kompetenter Führer für Exkursionen in die umliegenden Berge.

Am nächsten Morgen habe ich es nicht eilig mit dem Wiederaufbruch. Die Wegzeit hinauf nach Demul ist mit 3 ½ bis 5 Stunden angegeben und zudem verfügt Lhalung über einen Schatz, der seinesgleichen sucht! Das alte Gompa im oberen Teil des Dorfes mag von außen besehen nicht allzu vielversprechend erscheinen. Hinter seinen morschen Holztüren versteckt sich dafür ein Kleinod, das sich ohne weiteres mit den Schätzen von Tabo messen lässt. Der Unterschied ist, daß Tabo eine bekannte Touristenattraktion ist, die in keinem bedeutenden Indien – Reiseführer unerwähnt bleibt. Das Dorf Lhalung und sein Gompa hingegen sind bislang weitestgehend unbekannt geblieben. Tashi zeigt mir noch das Haus, in welchem der Schlüssel für das Tempelportal zu erfragen ist. Eine alte Frau weist mir den Weg hinauf zum Gompa, offenbar soll ich dort den Schlüsselverwalter treffen. So komme ich denn auch an eine kleine Baustelle, wo einer der Anwesenden tatsächlich den Schlüssel bei sich hat. Nur der Haupttempel ist verschlossen, und nachdem mir der Herr die Tür zu diesem geöffnet hat, bleibe ich nach kurzen Erklärungen mir selbst überlassen. Ich frage noch, ob fotografieren erlaubt sei. Kein Problem, gibt man mir zu verstehen. Sensationell, denke ich. Völlig allein stehe ich hier in einem Monument, welches in der buddhistischen Welt sicher von allergrößter Bedeutung ist, kann mich dabei in Allerseelenruhe umtun, und nach Lust und Laune fotografieren. Zwischendurch erscheint eine alte Frau, um zu beten. Tashi hat mir ein paar Kopien in deutscher (!) Sprache mitgegeben. Ich weiß sehr wohl, aus welcher Quelle diese Kopien stammen. Es ist das umfassendste Buch, welches bislang über Spiti in deutscher Sprache erschienen ist, und derart akkurate kunsthistorische Beschreibungen über das Kloster von Lhalung findet man wohl in keiner weiteren Literatur mehr.

Der "Serkhang" ("goldener Tempelraum") genannte Schrein ist relativ klein, dafür aber voller Kostbarkeiten. Die Klostergründung ist, wie Tabo, auf das Ende des 10. Jahrhunderts datiert. Die Hauptattraktion sind drei zentrale Figuren, dahinter reiht sich eine prächtige Kollektion von Bodhisatva – Statuen auf. Sie sollen allesamt älter sein, als sämtliche sonst heute noch im tibetischen Buddhismus verbreiteten Kunstwerke. Vermutlich rettete die Abgelegenheit das Lhalung – Gompa vor Zerstörung oder Plünderung. Bemerkenswert sind auch die Wandmalereien, und diesmal habe ich sogar an die Stirnlampe gedacht. Nachdem ich mir ausgiebig Zeit für den Haupttempel genommen habe, schaue ich mir noch die anderen Räumlichkeiten an. Dabei ist allerdings nur noch der Tempel mit den vier übermannsgroßen, weißen Buddhastatuen interessant. Letztere entstammen übrigens einer anderen Epoche, als die Skulpturen aus dem Serkhang und werden vom kunsthandwerklichen Aspekt her betrachtet weitaus geringfügiger angesehen, als jene im Serkang. Dennoch bin ich auch hier beeindruckt.

Als ich wieder zurück im Guesthouse bin, ist dort gerade ein uraltes Männlein zugegen. Das ledergegerbte Gesicht, eine filigran verzierte Gebetsmühle in einer Hand haltend, dazu Mantras murmelnd – dieses Portrait wäre als Titel für einen Dumont – Reiseführer geeignet. Überhaupt ist es in tibetischen Anwesen ganz normal, daß täglich Dutzende verschiedene Leute aus der Nachbarschaft aus- und eingehen, sei es für ein Schwätzchen, sei es aus geschäftlichen oder arbeitstechnischen Gründen. Jeder frisch Eintreffende wird stets mit einem Glas Chai versorgt. Wer als Trekker in tibetischen Regionen unterwegs ist, wird nicht umhin kommen, täglich Unmengen an Schwarztee mit Milch zu konsumieren. Manchmal denke ich, bis ich nach Deutschland zurückkehre, muß ich schon längst schwarze Zähne haben. Eine Katze flieht über den Innenhof nach draußen. Tashi sagt, daß nachts die Tür zur Wohnstube offen war, das Tier unbemerkt hineingelangt war, und dort den Milchvorrat verschüttet hat. Eher Sorge bereitet mir die Tatsache, daß das Tier geifert, und somit aller Wahrscheinlichkeit nach an Tollwut erkrankt ist.

Um 12.15 Uhr schaffe ich es schließlich, mich auf den nicht ganz unbeschwerlichen Weg hinauf nach Demul zu machen. Dem Dorfbach abwärts folgend gelange ich ans Ufer des Lingti - Rivers. Ein Stück weiter flussabwärts überschreite ich die Brücke, dann zieht der Weg im Hang durch die großartige Schlucht bis zum Weiler Sanglung (3600 m). Unterwegs bieten sich fantastische Rückblicke auf Lhalung. An den drei Häusern von Sanglung werde ich von einer Frau in ihr Heim gebeten. Es ist Mittagszeit und in Spiti entspricht es der traditionellen Gastfreundschaft, daß man dann, wenn gerade jemand auftaucht – egal, ob fremd oder bekannt – denjenigen zu Tisch einlädt. So nehme ich Platz am Herd. Außer der jungen Frau sind noch ihre zwei Kinder und die Oma zugegen. Die alte Frau murmelt, wenn sie gerade nicht mit ihrer Tochter oder den Enkeln spricht, Mantras vor sich hin. Auf dem Tisch steht eine aus einer Konserve gefertigte Gebetsmühle, die ich ab und an mal zum Drehen bringe, eine Geste, die nie verkehrt ist. Allerdings sollte man die Gebetsmühle auch in die richtige Richtung drehen. Ich habe den Eindruck, daß diese Familie verhältnismäßig arm ist, ganz sicher ärmer, als etwa Tashi und seine Familie. Man serviert mir Reis mit einer etwas säuerlich schmeckenden Soße, dazu natürlich Chai. Als ich zum Abschied etwas Geld dalassen will, wird dies zunächst entschieden abgelehnt. Ich mache dann aber klar, es sei für die Kinder, worauf das Geld zögerlich angenommen wird.

Hinter Sanglung verlasse ich das Lingti – Tal, und betrete die Schlucht des Petanse - River. Ich durchwate den Fluß gleich zu Anfang – ein Fehler! Die Pfadspuren am dortigen Ufer verlieren sich, der Hang ist an vielen Stellen abgerutscht und die Begehung gefährlich. Zwischendurch dient mir mal ein nicht mehr benutzter Bewässerungsgraben als Weg, was wesentlich angenehmer und sicherer ist, als die pfadlosen Hang- und Uferböschungsquerungen. Bei einer erneuten Schluchtenverzweigung erscheint eine Brücke. Ich hätte mir also die Mühen einer Durchwatung mit Schuhwechsel ersparen können, und auch der kritische Hang wäre nicht nötig gewesen. Jetzt geht es steil in Serpentinen aufwärts durch die neue Schlucht, bis ich endlich zu den ersten Feldern und dann zu den Häusern von Demul (4320 m) gelange. Tashi hat mir eine Adresse mitgegeben, so daß ich bei Verwandten von ihm unterkomme. Diese Leute sind sehr freundlich, die Kommunikation ist hier allerdings eingeschränkt, da in meiner neuen Gastfamilie niemand englisch kann. Unten im Hof grunzt gar wild ein Dzo. Dzos sind Kreuzungen aus Yak und Rind, die ebensolche Töne, wie die Yaks von sich geben. Nicht umsonst werden die Yaks auch Grunzochsen genannt. Ein weiterer Gast wird im Haus übernachten. Es ist ein Verwandter der Familie, der einen Tagesmarsch von hier entfernt wohnt. Der Gast und der Hausherr gehen nach dem Abendessen zum Schnaps über, auch ich werde zum Trinken aufgefordert, bleibe aber meiner alkoholfreien Linie treu und trinke lieber Tee.

Als ich frühmorgens durch´s Fenster schaue, bietet sich mir ein Bild von verklärter Landidylle. Aus den Kaminen der umliegenden Häuser steigt Kaminrauch in die kalte Morgenluft empor, das Frühstück wird bereitet. Geheizt und gekocht wird hier in den Bergdörfern übrigens mit Yakdung. Einige Leute sind bereits, teils in Begleitung ihrer Dzos, welche auch als Arbeitstiere dienen, auf den Feldern beschäftigt, oder auf dem Weg dorthin. Während unten im Spiti – Tal die Bewohner vielerorts bereits mit dem Dreschen beschäftigt waren, beginnt die Ernte hier oben erst. Eigentlich ist es schon sensationell, daß in so großen Höhen Ackerbau betrieben wird, noch dazu blicke ich in der Umgebung des Dorfes auf außerordentlich reich bestellte Felder.

Nach dem Frühstück verlasse ich Demul. Eine Gruppe von Geiern kreist am Himmel, sie versammeln sich schließlich auf einer Anhöhe. Als ich mich ihnen nähere, heben sie einer nach dem anderen ab. An der Versammlungsstelle angekommen, entdecke ich eine Blutspur, die vom Weg wegführt. Unter mir, in einer Mulde, liegt ein fast skelettierter Tierkadaver, vermutlich von einem Yak, Rind oder Dzo. An einer Wasserader lasse ich mich zu einer Pause nieder und genieße die Umgebung. Unter mir liegt Demul, die Schneegipfel auf der gegenüberliegenden Seite des Spititals heben sich nun als zusammenhängende Kette hervor. Die Sonne brennt hier oben untertags nicht mehr so unangenehm heiß, wie in den tieferen Lagen. Die Nächte sind bislang, im Vergleich zu denen auf unserer letztjährigen Tour in Zanskar, vergleichsweise mild. Die Hügel um mich herum tragen Büschelgras auf fahlgrauem Untergrund, manchmal sind die Hügel auch völlig kahl, und erscheinen dann wie aschgraue Elefantenrücken. Von der Paßhöhe des Yang Laptse (4750 m) überblicke ich eine tiefeinsame Hügellandschaft, rechts abgegrenzt durch karge Felsberge. Jetzt tritt die ebenmäßige, weiß strahlende Pyramide des Chau Chau Kang Nilda (6303 m) ins Blickfeld. Diesem Berg war ich bereits auf der gestrigen Hügelüberschreitung ansichtig geworden. Der Chau Chau Kang Nilda ist die schillerndste Berggestalt, die man bei der Begehung des Spiti – Leftbank – Treks zu sehen bekommt. Der Name bedeutet in der Übersetzung "Blauer Mond am Firmament". Man muß diesen Berg wohl in einer Vollmondnacht gesehen haben, um zu einem solchen Resultat zu kommen.

Der Pfad führt mich zunächst wieder von der Paßhöhe herunter und zieht dann in eine Bergflanke hinein. Ein Yak grunzt mich an. Diese großen Tiere faszinieren mich einerseits, andererseits flößen sie mir aber auch einen gewissen Respekt und ich komme ihnen besser nicht zu nah. Yaks und Dzos sind hervorragende Nutztiere. Vornehmlich dienen sie als Transport- und gelegentlich sogar als Reittiere. Aus ihrer Wolle werden wärmende Decken und Pullover gefertigt, sie tragen jede Menge deftiges Fleisch auf den Rippen und ihre Milch ergibt die berühmt-berüchtigte Yakbutter, die dem Buttertee beigefügt wird. Hierzu ist anzumerken, daß Yakbutter normalerweise nicht ranzig ist, wie man so oft hört. Ich selbst habe schon des öfteren im Himalaya Buttertee genossen. Zugegebenermaßen ist dieses geschmacklich eher mit einer Bouillon, als mit Tee vergleichbare Getränk nicht jedermanns Sache, ranzige Butter wurde mir dabei aber noch nie vorgesetzt. Um zu den Yaks zurückzukommen: wie die Kamele, so sind auch die Yaks einerseits sehr nützlich, andererseits neigen sie zu sturer Eigenwilligkeit und können sich mitunter aggressiv verhalten.

Die Wanderung bleibt landschaftlich grandios. Über steppenartiges Hügelland hinweg erblicke ich die schneebefleckte Gipfelkette auf der Westseite des Spititals, in der Rückschau erheben sich weitere Gletschergiganten. Die schlichte Sennhütte unter mir ist das einzige, was hier auf menschliche Besiedlung hindeutet, unterhalb der Passhöhe war mir noch ein alter Mann, die überlangen Zöpfe in tibetischer Manier als eine Art Dutt auf dem Kopf zusammengebunden, begegnet. Leider wird kurz vor dem Na Ri (4620 m), der zweiten Paßhöhe, die ich heute zu überschreiten habe, der Pfad von einer Fahrpiste abgelöst. Somit scheint klar, daß man beabsichtigt, nach und nach die Dörfer oberhalb der Spiti – Leftbank mit einer Straße zu verbinden. In den Dörfern habe ich allerdings nie jemanden gesehen oder kennengelernt, der über ein eigenes Kraftfahrzeug verfügt. Somit liegt nahe, dass das Interesse an dieser Straße wohl von den Agenturen herrührt, die Touristen mittels Jeep – Ausflügen hier herauf bringen möchten. Es mag vielleicht ein wenig voreingenommen klingen, wenn ich behaupte, dass mit dem Jeep – Tourismus weit mehr Personen mit mangelnder Ausprägung an kulturellem und ökologischem Respekt Zutritt zu dieser Region erhalten, als beim Trekking. Meine These findet sich aber leider Gottes in der Realität oft bestätigt. Sicher ist, dass mit der Fertigstellung einer durchgehenden Straße kaum noch jemand Gefallen an einer Fußwanderung finden dürfte. Dies bedeutet für die Dorfbewohner konkret: kaum noch Fremdübernachtungen, da der Besuch aller Dörfer dann locker als Tagesbesuch heruntergerasselt werden kann. Keine Verdienstmöglichkeiten mehr für Horsemen oder Trekkingguids. Und schließlich werden von den Agenturen sicher nur noch gewisse offensichtliche Highlights punktuell frequentiert, ein großer Teil dieser interessanten Gegend verfällt in die Vernachlässigung. Das große Geld wird dann ohnehin wieder einmal in Manali oder sonstwo weit weg von Spiti verdient werden.

Ich erreiche schließlich die durch den Straßenbau nicht gerade romantischer gewordene Paßhöhe Na Ri (4620 m). Verkehr herrscht auf der Piste definitiv so gut wie keiner, nur eben mal zwei mit Touristen und Guids besetzte Geländefahrzeuge lassen mich zwischendurch mal in einer Staubwolke stehen. Zu den oben bereits erwähnten Panoramabildern gesellen sich nun zwei neue Perspektiven: vor mir, noch in die Ferne gerückt, erkenne ich das Kloster von Komik. Darüber, in direkter Falllinie zum Kloster, erhebt sich ein eigenartiger Berg. Als langer Rücken zieht er sich dahin, zeigt dabei schwarzgraue Flanken und oben einen Schneegrat, der wie eine Pferdemähne über den gesamten Grat hinwegzieht. Daß der Berg neben seiner von hier aus sichtbaren schwarzen auch noch eine weiße Eisflanke hat, davon ahnt man hier noch nichts, wenn man es nicht vorher schon weiß. Kanamo heißt dieser Berg, zu deutsch "Mutter in schwarz und weiß". Dieser Name bezieht sich auf die beiden so verschiedenen Seiten des Berges. Sein Westgipfel misst eine Höhe von 5974 Metern, von dort aus ließe sich theoretisch der Ostgipfel angehen, der etwa 6050 Meter hoch sein dürfte. Der Westgipfel gilt als alpintechnisch problemlos, d.h. jediglich steiler Schotter ohne Eis- oder Firnkontakt, keine Kletterei nötig. Steigeisen, Seil oder Pickel können getrost zu Hause gelassen werden, ausreichende Akklimatisierung und ein hervorragender Trainingszustand sind hingegen obligatorisch. Diesen Westgipfel habe ich mir sozusagen als alpines Highlight zum Ziel gesetzt. Doch bis es soweit ist, werden noch ein paar Tage vergehen.

Ich treffe im Kloster ein, wo ich auch Quartier finde. Eine Besonderheit des Gompa von Komik ist die Tatsache, dass die Mönche hier nicht dem weitverbreiteten Gelugpa (Gelbmützen) - Orden angehören, sondern dem der Sakya (Rotmützen). Die Lehre der Rotmützen ist die ältere. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Richtungen soll die Ansicht über den Weg zur Erleuchtung sein. Die Rotmützen stellen die individuelle Suche nach der Erleuchtung in den Vordergrund, den Gelbmützen ist hingegen an der Erleuchtung aller gelegen. Ein Bodhisatva ist übrigens eine bereits erleuchtete Inkarnation, die ihren eigenen Weg ins Nirwana hinauszögert, um anderen Menschen ebenfalls dorthin zu verhelfen. Zwischen den beiden Konfessionen gibt es keine Feindseeligkeiten, beide Richtungen betrachten den Dalai Lama als ihr Oberhaupt. Die Klosteranlage trägt den Namen Tangyud und befindet sich in beachtlichen 4500 Metern Höhe auf einem kleinen, aussichtsreichen Plateau überhalb des idyllisch in einem Kessel schlummernden Mini – Dorfes Komik. Entgegen meiner Bedenken, bei den Rotmützen könnte es vielleicht strenger zugehen, als bei den Gelugpa – Brüdern, treffe ich auch hier auf aufgeschlossene und neugierige Mönche, mit denen ich einige Gespräche führen kann. Auf einem Vorplatz wird mit einer vor den Klostermauern zeltenden Trekkinggruppe Cricket gespielt. Das sieht ganz witzig aus, wenn man die jungen Lamas in ihren traditionellen Mönchskutten und mit Baseballmützen auf den Köpfen über den Platz sausen sieht. Das Abendessen nehmen wir alle zusammen in der dunklen Klosterküche ein, Taschen- und Stirnlampen sind obligatorisch, denn die kleinen Kerzlein, die von den Mönchen entzündet werden, reichen nicht aus. Zehn Lamas und sechs Novizen im Kindesalter sind derzeit fest im Kloster integriert, so erfahre ich. Neben dem Kloster befindet sich noch ein riesengroßer Viehpferch. Eine alte Frau treibt dort abends Yaks, Dzos, Pferde und Esel zusammen hinein. Aufgrund der großen Zahl an Tieren vermute ich, daß die Alte für sämtliche Arbeitstiere des Dorfes Komik zuständig ist.

Das Frühstück wird wiederum in legerem Beisammensein auf dem Balkon über dem Innenhof des Unterkunftshauses eingenommen. Wir sitzen dabei auf dem Boden, die Stimmung ist fröhlich. Ich möchte, bevor ich meine Wanderung fortsetze, unbedingt noch der Puja beiwohnen. Während die Gelugpa dreimal täglich gemeinsam Puja feiern, findet bei den Rotmützen nur eine statt, und diese wird, wie weiter oben schon erwähnt, nur durch einen einzigen Mönch zelebriert. Die Puja ist auch an keinen fixen Zeitplan gebunden, wie mir der Lama, der heute die Zeremonie durchführen wird, erklärt. So gegen Neun ziehen nur wir beide gen alten Tempel. Bis 1975 hatte das Kloster übrigens seinen Standort im Nachbarort Hikkim. Es wurde aus mir nicht ganz klar gewordenen Gründen hierherverlegt. Bei Uli Friebel steht zu lesen, nach einem Erdbeben, die Mönche erklärten mir, es sei wegen dem Wasser. Vielleicht steht aber auch das Eine mit dem Anderen im Zusammenhang. Leider habe ich es verpasst, nachzufragen, oder es auch nur einfach nicht aufnotiert, weshalb mir das wahre Alter des alten Tempels nicht bekannt ist. Mit Sicherheit sind es mehrere hundert Jahre. Er wurde in Hikkim abgebaut und hier wieder zusammengesetzt. Ich bin fast die ganze Zeit über der einzige Anwesende, während der Lama die Zeremonie vornimmt. Nur zwischendurch taucht kurz eine neugierige Person aus der Trekkinggruppe auf, dann ein Guide oder Jeep – Fahrer, der wohl hindustämmig ist, aber den Buddhismus entweder sehr verehrt, oder sogar konvertiert ist. Ich habe ihn bereits bei der Puja in Tabo und auch beim Gompa in Dhankar gesehen. Niemand hat mich vorgewarnt, daß die Puja bei den Sakya geschlagene vier Stunden dauert. Das ist dann auch mir zuviel, schon allein deswegen, weil ich es nicht gewohnt bin, so lange im Schneidersitz zu verharren. Nach zweieinhalb Stunden stehle ich mich schließlich mit schmerzenden Gliedern davon.

Die vor mir liegende Etappe ist sehr kurz, die reine Gehzeit beträgt gerade mal zwei Stunden. Bedauerlicherweise folgt der Trek hier komplett dem Fahrweg. Das Dorf Hikkim liegt im Schoß eines weiten Kessels, welchen ich oberhalb umrunde. Danach eröffnet sich mir erneut ein Kessel, darin befindet sich das Dorf Langza. Hinter Langza zieht die Shilla – Schlucht einen scharfen Schnitt durch die Landschaft. Sie soll im Falle der Begehbarkeit zu den landschaftlichen Highlights meiner Trekking – Tour gehören. Doch zunächst gilt es, in Langza eine Unterkunft zu finden. Durch ein Mißverständnis gehe ich über den das Dorf teilenden Hügel zu den Häusern, die direkt an die Shilla – Schlucht grenzen. Dort werde ich von einem jungen Mann wiederum über den Hügel zurückgeführt. Wie gesagt, es war heute eine sehr kurze Etappe, dennoch fühle ich mich völlig ausgepumpt und will endlich meinen schweren Rucksack loswerden. Wer in den großen Höhen des westtibetischen Himalaya eine Trekkingtour plant, sollte bezüglich der körperlichen Anforderungen ein paar Punkte beachten: neben der nötigen Vorsichtsmaßnahmen zur Vermeidung der Höhenkrankheit muß man sich auch darüber im Klaren sein, daß der ständige Aufenthalt in großen Höhen einem gehörig zusetzen kann. Hat man irgendwelche Leiden, sei es eine Erkältung, Fieber oder eine Durchfallerkrankung, so darf davon ausgegangen werden, daß sich die negativen Symptome in der Höhe verstärken. Auch wenn man bereits gut akklimatisiert ist, verläßt einem die Kurzatmigkeit deswegen noch lange nicht. Kurioserweise kann es einem passieren, daß man nach einigen Tagen unterwegs das Gefühl hat, jetzt ist alles paletti, heute lief´s hervorragend, einem dann aber schlagartig tags darauf die Kurzatmigkeit wieder einholt. Wer von sich weiß, daß er in den Alpen in der Lage ist, selbst mit schwerem Gepäck 10 Stunden oder mehr über mehrere Tage hinweg herunterzureißen, sollte sich im Himalaya nicht darüber wundern, daß ihm an manchen Tagen sogar nur zwei Stunden schon zu viel sein können. Hipoxie ist kurzfristiger Sauerstoffmangel, bei dem man ein leichtes Erstickungsgefühl bekommt. Sie resultiert aus zu flachem Atmen, was in geringen Höhen keine Rolle spielt, in Höhen von 4000 Metern oder darüber aber zu einem Sauerstoffdefizit führt, das dann durch schnelles Durchatmen wieder reguliert werden kann. Die Hipoxie befällt mich jeden Morgen in der Halbschlafphase, manche Personen bekommen sie nachts in der Einschlafphase, was noch unangenehmer ist, da sie einen dann immer wieder auf´s Neue aufweckt.

Meine Gastfamilie in Langza gehört der MUSE – Organisation an, welche in dem Verruf steht, die ihnen angeschlossenen Familien mehr oder weniger auszubeuten. Von jedem übernachtenden Touristen wird ein Pauschalpreis von 400 Rupien für einen Tag in Vollpension kassiert. Dabei fließt der Großteil der Summe zur Agentur in Manali, den Familien sollen angeblich gerade einmal 150 Rupien bleiben. Zudem soll diese Organisation auf die Leute in den Dörfern Druck ausüben, ihr beizutreten. Man kann versuchen, MUSE zu boykottieren, allerdings gibt es auch Dörfer, wie eben Lhalung, wo es zu MUSE keine Alternative gibt. In meiner Gastfamilie fühle ich mich wohl, gegen sie richtet sich auch meine Kritik nicht. Was auffällt, ist eine bezüglich des Tourismus etwas fortgeschrittenere Infrastruktur. Ich finde den an der Wand im Gästezimmer prangenden Hinweis für Reisende in Spiti durchaus sinnvoll. Er klärt über Tugenden, Tabus und andere wichtige Verhaltensregeln auf. Wenn da nicht das Hintergrundwissen über die sonstigen Machenschaften von MUSE wäre . . .

Am fortgeschrittenen Nachmittag begebe ich mich hinüber zur Shilla – Chhu (Chhu: Schlucht). Mein Gastgeber hat mich bereits gewarnt, die Schlucht morgen zu begehen, das sei viel zu gefährlich. Ich will aber dennoch den Wegezustand mit eigenen Augen erkunden. "Wege" finde ich gleich mal gar keine. Pfadspuren führen in eine enge, steile Nebenklamm, deren Begehung selbst gepäcklos bereits heikel ist. Mit dem großen Rucksack auf dem Buckel will ich hier auf keinen Fall hinuntersteigen. Ich gehe den Schluchtenrand ab, um eine eventuelle Alternative zu finden, jedoch erfolglos. Somit treffe ich die Entscheidung, morgen früh, anstatt der Durchquerung der Shilla – Schlucht, wo ich auf der anderen Seite über die Dörfer Ghete und Tashigang hinüber nach Kibber gekommen wäre, zunächst wieder nach Kaza abzusteigen. Die Suche nach einem Weg durch die Shilla – Schlucht bringt mir dafür einen wundervollen Abendspaziergang entlang der Schlucht und rund ums Dorf ein. Goldgelbe Weizenfelder wogen im Wind, die Hausberge Kanamo und Chau Chau Kang Nilda triumphieren am nördlichen Horizont. Faszinierend ist auch der auf dem Hügel sitzende, überdimensionale Buddha, der seinen Blick genau auf die im Westen sich erhebende Bergkette richtet. Erst mit der fortgeschrittenen Dämmerung treffe ich wieder bei meiner Gastfamilie ein.

Will man die Dörfer auf der anderen Seite der Shilla – Schlucht erreichen, dann bleibt als Alternative zur Schluchtdurchquerung nur der Abstieg nach Kaza und der anschließende Wiederaufstieg. Zunächst folge ich der Jeepstraße in Richtung Tal. Ein kleiner Shortcut führt mich durch eine spannende Geröllrinne hindurch wiederum zur Straße zurück. Ein Stück weiter unten mache ich einen Pfad aus, der auf die Schlucht zuläuft. Der Abstieg nach Kaza erfordert lediglich 2 ½ bis 3 Gehstunden, ich habe also alle Zeit der Welt, um noch ein wenig herumzutrödeln. Sehr zu meiner Freude stelle ich fest, daß der Pfad in die Schlucht hineinführt. Ich lege den Rucksack ab und folge diesem. Über steile Serpentinen gelange ich fast bis hinunter auf den Schluchtengrund, wobei mir faszinierende Einblicke in diesen prächtigen Canyon ermöglicht werden. Die Kanamo thront dabei hoch über der Kulisse des Schluchtenrandes. Neben dem Shilla – Bach verläuft eine betonierte Bewässerungsrinne. Das Wasser des Baches wird somit schon hier in der Schlucht für die Verteilung über die Felder um Kaza präpariert. Mit Schaudern betrachte ich die steinschlag- und erdrutschträchtige Geröllhalde am gegenüberliegenden Ufer. Ich kehre zurück zum Rucksack, folge aber noch ein Stück weit dem Schluchtenrand, bevor ich wieder auf die Straße zurücksteige. Dramatisch in den steilen Hang gebaut, zieht diese überhalb der Schlucht bis ins Spiti- Tal hinunter. Ein Geländefahrzeug hält neben mir, die beiden Männer bieten mir an, mich bis nach Kaza mitzunehmen. Ich willige ein, habe einfach keine Lust, weiterhin auf der Straße hinunterzudackeln und erfreue mich somit an der großartigen Aussicht über das Spitital durch´s Autofenster.

Wir treffen gegen Mittag in Kaza ein. Im Milarepa – Guesthouse werde ich mit viel Freude empfangen. Außer mir ist noch eine Reisegruppe untergebracht, deren Geländefahrzeuge im Hof neben dem Guesthouse parken. ich statte zunächst dem Tempel des örtlichen Kaza – Gompa einen kleinen Besuch ab, welches – wie Komik – dem Sakya – Orden angehört. Während meiner Anwesenheit hält ein Mönch gerade die Puja ab. Ich setze mich zuerst hin und lausche der Puja. Der Mönch lächelt zu mir rüber. Anschließend besichtige ich die Inneneinrichtung des Tempels. Nach Schlemmern und Herumschlendern im Bazar unternehme ich einen kleinen Spaziergang in die Schlucht oberhalb der Ortschaft. Mein Ausflug in die eindrucksvolle Schlucht wird ziemlich früh gestoppt, als ich polternden Steinschlag vernehme und eine große Staubwolke weit oben in den Felsen sehe, die minutenlang anhält. Ich möchte keinesfalls riskieren, diese Stelle zu passieren und verweile lieber auf einem Felsblock, wo ich die prächtige Umgebung in Ruhe in mir aufnehmen kann. Später begebe ich mich, vorbei an der örtlichen Kaserne und der Polizeistation, ans untere Ortsende, wo unter der Abbruchkante des Erosionshanges das Kiesbett des Spiti – Rivers beginnt. Ein traumhafter Sonnenuntergang wird mir hier vorgezaubert. Ähnlich wie Leh hoch über dem Indus, so thront auch Kaza über dem Spiti – Fluß, allerdings nicht ganz so weit darüber. Dennoch zeugt der Abstand zum Wasser vom Respekt der Menschen gegenüber potenzieller Überschwemmungen. Mit Einbruch der Nacht kehre ich in den Bazar zurück. In einer einfachen Dhaba lasse ich mich verköstigen, als im gesamten Bazar der Strom ausfällt. Rasch wird mit Hilfe einer Gaslampe wieder Licht ins Dunkel gebracht, mir jedenfalls düngt der Schein der fauchenden Gaslampe weitaus romantischer, als das elektrische Licht. Leider habe ich unbedachterweise meine Stirnlampe im Milarepa zurückgelassen. Stockfinster ist es auf dem Rückweg. Das Hauptproblem ist das den Ort in zwei Teile trennende Bachbett. Da die alte Brücke erst kürzlich abgerissen wurde, und die neue erst noch gebaut werden muß, bleibt nur die Durchquerung des unwegsamen Bachbetts, und ich muß dabei aufpassen, nicht im Blockwerk zu stürzen, oder mir im Bach nasse Hosen zu holen. Schließlich bin ich froh, als ein paar Einheimische auftauchen, und mit ihrer Lampe aushelfen. Einen der vier Jungen kenne ich sogar bereits. Er war im Haus meiner Gastfamilie in Langza anwesend, als ich dort eintraf.

Ich werde nun das Pferd von hinten aufzäumen. Mein Plan für die Fortsetzung der Trekkingtour ist, diese nun vom von mir ursprünglich vorgesehenen Endpunkt aus wiederaufzunehmen. Hierzu setze ich mich frühmorgens in den Bus Richtung Kunzom La und lasse mich in Kiato aussetzen. Ein kleiner Schlechtwettereinbruch hat manche Berge der Umgebung, so auch die Kanamo, mit weißgepuderten Köpfen und Rücken zurückgelassen. Ich mache mir Sorgen um das Gelingen der noch anstehenden Besteigung.

Kiato (4000 m) ist ein Himalayanest im Norden des Spititals, nahe zu Losar bzw. zum Kunzom La. Viel mehr, als die Dörfer im Umkreis von Kaza, wirkt Kiato gott- und weltvergessen. Auf die Frage nach einer Dhaba ernte ich nur ein mitleidiges Lächeln von den Einheimischen, weshalb ich mit den bereits zu "Löffelbrot" zerfallenen Toastscheiben, mit Marmelade zusammengekittet, aus meinem Rucksack vorlieb nehmen muß. Rings um das Dorf erheben sich vollkommen nackte, karge Berge aus ockergelben Felsen.Das Gefühl, in einer Gebirgswüste zu sein, ist hier wegen des Eindrucks der Abgelegenheit stärker, als in Kaza. Leider führen große Teile des heutigen Trails entlang einer Fahrpiste. So habe ich zuerst ein Stück der geteerten Straße zurückzufolgen, auf welcher ich mit dem Bus gekommen bin. Kurz bevor diese den Spiti – River über eine Brücke quert, folge ich der Abzweigung einer neuen Piste, die im Hang der Spiti – Leftbank in mäßigem Anstieg verläuft. Zwar störe ich mich an der Tatsache, anstatt auf einem schmalen Wanderpfad auf einer staubigen, breiten Piste unterwegs sein zu müssen, Landschaft und Aussicht sind aber dennoch unbestechlich. Der Spiti – River wird bei Kiato durch ein verengtes Flußbett hindurch vorübergehend auf einen einzigen Strom reduziert, der sich aber bald wieder in viele Nebenarme auffächert, sobald sich sein Kiesbett wieder weitet. Die eisigen Statuen mächtiger 6000-er säumen den Horizont, heute von einem ständig Veränderungen herbeizaubernden Wolkenvorhang umspielt. Die Straße Kaza – Kunzom La verläuft nun tief unter mir, am gegenüberliegenden Ufer, und dann und wann sehe ich ein Fahrzeug einem Spielzeug gleich zur Paßhöhe oder Richtung Kaza fahren. Beeindruckend sind auch die unzähligen, manchmal schier nadelspitzen Konglomerattürme im Uferbereich des Flusses, denen Erosion und der Zahn der Zeit teilweise äußerst kühne Formen modelliert haben, und die sich gelegentlich in Gruppen wie Terrakottasoldaten aufreihen. Wie fast immer, wenn ich auf Fahrwegen unterwegs bin, treffe ich unterwegs Straßenarbeiter und komme auch an einem kleinen Arbeitercamp vorbei.

Ladarcha (4270 m) ist nicht nur ein Paßübergang, sondern auch ein ehemaliger Handelsplatz. An diesem Ort trafen früher wichtige Karawanenrouten zusammen, was lag also näher, als hier Markt zu machen? Aus Spiti kamen Pferde und Gerste, aus Westtibet Yaks, Wolle und Halbedelsteine, aus Kullu wurden Zucker, Eisenwaren und Kleidung herangebracht. Heute weiden Yaks und Dzos auf dem auffallend grünen, ausgedehnten Wiesenplateau. Hier lasse ich das Spiti – Tal hinter mir und marschiere landeinwärts. Obwohl die Fahrpiste immer noch besteht, scheint sie mir hier oben ihre Existenz nicht mehr so aufzudrängen. Ich verlasse sie nach kurzer Zeit ohnehin, um über einen Pfad das Mini – Dorf Dumla (4150 m) zu erwandern. Bevor ich in den Ort hinuntermarschiere, gönne ich mir oberhalb eine kleine Rast, von wo ich einen schönen Ausblick über das von Feldern begrünte Tal genießen kann. Am Dorfbach wäscht eine Gruppe von Frauen Teppiche, das dumpfe Ausklopfen der nassen Teppiche und ihr Lachen und Schwatzen, sowie der fröhliche Gesang eines Viehhüters dringen zu mir herauf. Die unverputzten Steinbehausungen dieses Dorfes erscheinen ärmlicher, als die Häuser in anderen Orten, was im Gegensatz zum üppigen Gedeihen auf den umliegenden Feldern steht. Ich durchwate den Dorfbach und gehe auf eine Anhöhe zu. Dahinter beginnt der eigentliche Höhepunkt der heutigen Etappe. Ich betrete eine zwar kleine, aber wunderschöne Schlucht. Der Uferbereich des kleinen Baches ist dicht mit grünen Büschen und Gräsern bewachsen. In der Schlucht selbst befinden sich wohl ein gutes Dutzend uralter Wassermühlen, von denen sicherlich einige zwischenzeitlich aufgelassen sind, andere wiederum haben immer noch ihre Funktion. An einem Brücklein führt ein steiler Serpentinenweg aus der Schlucht heraus. Ich folge diesem zunächst fälschlicherweise, allerdings nicht ohne Vorbehalte. Glücklicherweise treffe ich ein paar Einheimische, die auf mein Fragen hin dann auch erklären, daß ich auf diesem Weg ins Dorf Chicham gelangen würde, was nicht meine Absicht ist, denn mein Etappenziel heißt Kibber. Also kehre ich zurück in die Schluchtsohle. Jetzt wird es erst richtig spektakulär, denn meine kleine Schlucht mündet über einen pittoresken Wasserfall in einen riesigen, imposanten Canyon. Niemals hätte ich eine solch urgewaltige Schluchtenlandschaft vermutet, als ich von meinem Aussichtspunkt überhalb Dumla das Gelände überblickte, und nur zwei nichtssagenden Einschnitten in einer plateauähnlichen Steppenfläche gewahr wurde. Wie ich später noch erfahren soll, bezieht das Dorf Kibber Teile seines Trinkwassers aus dem Parilungbi – Bach, welcher mit seinem glasklaren Wasser die nach ihm benannte Schlucht durchfließt. Über einen steilen Serpentinenpfad steige ich schließlich wieder aus dem Canyon heraus. Oben muß ich noch ein Stück weit der Piste folgen, ehe ich endlich in Kibber ankomme.

Kibber (4205 m) ist von allen Dörfern der Spiti – Leftbank das bekannteste. Einst als das höchste Dorf Asiens gepriesen (obwohl Demul, Komik oder Langza allesamt höher liegen!), musste es zwischenzeitlich gehörig Federn lassen. Heutzutage wirbt das Wegeschild unten im Spiti – Tal nur noch mit der (eher realistischen) Formel "höchstgelegenes als erstes an Straße und Elektrizität angeschlossenes Dorf Asiens". Wie dem auch sei, trotz seiner im Vergleich mit den anderen Dörfern fortgeschritteneren touristischen Infrastruktur (mehrere Homestays, zwei Guesthouses mit zumindest zeitweise geöffneten Restaurants), ist Kibber bislang immer noch bodenständig geblieben. Ganz sicher gehört es mit zu den am höchsten gelegenen dauerhaft besiedelten Ortschaften auf diesem Erdball - Rangliste aus meiner Sicht aber unnötig. Das nahe, etwas weiter unten gelegene Kloster Ki hat sicher wesentlich zum Renommeé von Kibber beigetragen. Dieses wunderschöne, im 16. Jahrhundert gegründete Gompa besticht durch seine einmalige Lage. An die supersteilen Hänge eines Bergkegels geklebt, thronen die schneeweißen Häuslein des Gompa hoch über dem Spiti – Tal.

Ich betrete Kibber über den oberen Dorfteil. Eigentlich wollte ich in einem der beiden Guesthouses unterkommen, doch ich werde von einer jungen Frau angesprochen, die mir Unterkunft im Homestay anbietet. Um so besser, denke ich, und folge der Frau in ihr Haus. Wie eigentlich immer in Spiti, so leben auch hier mehrere Generationen unter einem Dach. Die ältere Schwester ist Dorflehrerin und spricht ein recht passables Englisch, weshalb hier eine ergiebige Konversation möglich ist. Sie ist nicht etwa die Dorflehrerin, denn es existiert ein richtiger Lehrkörper, bestehend aus rund zehn Pädagogen, ein Zeichen für eine gute Infrastruktur und sicher auch für einen gewissen Wohlstand des Dorfes. Im Haus sind zwei weitere Gäste, ein Pärchen aus Japan, einquartiert. Die beiden haben hier satte sechs Wochen zugebracht, das ist insbesondere für japanische Verhältnisse sehr lang. Der junge Mann studiert tibetische Kultur und kann sich schon ganz ordentlich in "Spiti-language" verständigen. Sie waren schon vergangenes Jahr hier, ihre Aufenthaltszeit läuft nun allerdings ab, denn morgen ist der letzte Tag vor der Rückkehr nach Japan.

Von Kibber aus will ich endlich meine erhoffte Besteigung der Kanamo angehen. Ich beabsichtige, den 5974 Meter hohen Westgipfel in zwei Tagen (hin und zurück) zu bezwingen. Hierzu will ich morgen zum Hochlager Tsanka Gyepsa (4860 m) aufbrechen, dort die Nacht verbringen, um dann in einem langen und anstrengenden Tag den Gipfel besteigen und, wenn möglich, noch am gleichen Tag entweder nach Kibber zurückkehren, oder gar das Ki-Gompa erreichen. Das Hauptproblem ist mein schweres Gepäck, aus diesem Grund spekuliere ich auf die Unterstützung eines Maultierbesitzers, der für mich den Gepäcktransport ins Hochlager bewerkstelligen könnte. Meine Gastfamilie sagt mir zu, mich mit einem jungen Mann bekannt zu machen, der für diese Aufgabe in Frage käme, und der obendrein noch ein erfahrener Guide ist. Dieser trifft dann auch schon bald im Haus ein. Ich werde mit ihm allerdings nicht handelseinig. Morgen ist in Kibber Schulfest, das ganze Dorf feiert und man versucht, mich davon zu überzeugen, noch einen Tag zu warten, denn während des Festes ist anscheinend niemand bereit, mit mir zur Kanamo zu gehen. Mit meiner Ungeduld lasse ich mir ganz sicher einen kulturellen Leckerbissen entgehen, doch an der Kanamo führt nichts vorbei! Würde ich die Besteigung um einen Tag verschieben, so könnte ich einerseits aus Zeitmangel meine geplante Trekkingtour vom Kunzom La über den Chandersee bis hinauf zum Baralacha La vorzeitig abschreiben, zudem fürchte ich, dass mir das Wetter noch einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Der Guide erzählt mir etwas von einer Strafe, die er zu bezahlen hätte, wenn er am Feiertag arbeiten würde. Er will auf diese Weise aber nur den Preis hochtreiben. Ich bleibe jedenfalls auf meinem Standpunkt, morgen schon aufzubrechen und schlage meiner Gastfamilie eine andere Variante vor: Ich lasse sämtliche für die Besteigung nicht benötigten Utensilien bei ihnen zurück, werde dann mit wesentlich leichterem Gepäck das Unternehmen völlig autark durchführen und bei meiner Rückkehr eine weitere Nacht in ihrem Haus verbringen. Zudem bitte ich die Familie, mir eine Dose voll Tsampa mit auf den Weg zu geben. Wie bereits erwähnt, bin ich ohne Kocher unterwegs und muss mich somit in den kommenden zwei Tagen kalt ernähren. Tsampa (gemahlene Gerste) ist ein typisches Nahrungsprodukt im tibetischen Himalaya, es wird gelegentlich sogar als Beigabe für den Buttertee verwendet. Zusammen mit meinem Müsli und der Trockenmilch dürfte ich somit eine Mahlzeit erhalten, die mir genügend Kohlenhydrate für die bevorstehenden zwei Marathon – Tage liefert.

Generell waren mir bisher die Angaben von Uli Friebel sehr hilfreich, bei der Beschreibung des Weges nach Tsanka Gyepsa ist ihm allerdings ein Fehler unterlaufen, denn vom Dorf aus südöstliche Richtung müsste eigentlich nordöstliche Richtung heißen. Auf dem Kartenausschnitt, den Uli mir per E-Mail zugesandt hatte, ist dieser Fehler nur bedingt erkennbar, da die Karte nicht eingenordet ist. Als ich schon mitten in den Hügeln bin, fällt mir ein, daß er wohl diesbezüglich in unserem Telefongespräch etwas erwähnt hatte, nur habe ich es dann später wieder vergessen. Die Richtungskorrektur erfordert einen gehörigen Mehraufwand an Energie, da ich über mehrere Hügel hinweg überschreiten muß, danach bin ich mir immer noch nicht ganz sicher, ob ich jetzt wohl endlich richtig bin. Mit einem vollen Rucksack hätte ich hier bereits verloren gehabt. Auf einem Kamm erspähe ich Gebetsfahnen, dort steige ich empor. Jetzt endlich bin ich mir sicher, bei dem Tal unter mir handelt es sich um das Hochlager Tsanka Gyepsa, denn die geographischen Gegebenheiten decken sich mit der Beschreibung in Uli´s Buch. Nach dem Aufstellen des Zelts und einer kleinen Essenspause begebe ich mich auf die von Uli empfohlene Akklimatisationstour. Dabei bestätigt sich erneut, dass ich hier richtig bin. Die Route führt durch eine steinige Schlucht aufwärts zu einem kleinen Sattel, die Kanamo baut sich nun direkt vor mir auf. Ich kann jetzt schon die morgige Aufstiegsroute auskundschaften. Doch statt der weiteren Annäherung an die Kanamo begebe ich mich nun links empor auf einen rundbuckligen Vorgipfel, bei dessen höchstem Punkt 5205 Meter erreicht sind. Die Landschaft hier am Fuße der Kanamo ist faszinierend. Oberhalb des Passes begeistern mich staubtrockene Hügel in verschiedensten Gelb-Ocker- und Braunnouancen, nackte, wie rasiert wirkende Erde, sämtliche Furchen und Formen obszön preisgebend. Der Aufblick zur mächtigen Kanamo, sowie die ebenfalls sehr nahe Präsenz der beiden 6000er Shilla Peak und Chau Chau Kang Nilda tun ihr Übriges. Doch auch der Abschluss des Hochtales, in dem sich mein Lagerplatz befindet, ist ein großartiger Ort für Freunde des Biwakierens inmitten einsamer Bergwildnis, allerdings wird es abends mit dem Vorrücken der Schatten schnell kalt. Bei meiner Rückkehr treffe ich zwei irische Bergsteiger, die von meiner Anwesenheit hier mindestens ebenso verblüfft sind, wie ich von der Ihrigen. Die Beiden sind die Vorerkunder einer größeren Gruppe. Sie wollen morgen von Kibber aus mit Unterstützung von Maultieren hier hochkommen, das Hochlager einrichten, und den Gipfelanstieg somit einen Tag nach mir in Angriff nehmen.

Im Vergleich zu der Nacht damals mit Haydar unterhalb des Shingo La, als wir am folgenden Tag den Zanskar Mountain (5950 m) bestiegen, ist es diesmal nicht gar so kalt, dennoch lassen leichte Minustemperaturen das Kondenswasser auf der Zeltwand über Nacht gefrieren. Überhaupt sind die Nächte hier in Spiti milder als in Zanskar, obwohl ich diesmal zwei Wochen später dran bin. Um 8 Uhr breche ich auf, und bereits um 9.05 Uhr stehe ich vor dem Einstieg in den ersten Schutthang. Verdammt steil sah der aus der Distanz betrachtet aus, doch als ich mich in den Hang hineinbegebe, stelle ich fest, dass dieser recht gut und gefahrlos zu begehen ist, dafür aber äußerst mühsam. Ich merke, wie ich unwillkürlich in den Rhythmus der Zanskar-Mountain-Besteigung verfalle. Meine Art ist der direkte Aufstieg, also fast ohne Serpentinen, in zügigen, manchmal fast spurtartigen Intervallen, ständig durch kleine Pausen unterbrochen. Bei jedem Intervall jagt es mir den Puls zum Anschlag, ich hechle wie ein gehetzter Dackel, kämpfe gegen ständig wiederkehrende Hypoxieattacken. Ich erreiche das Ende des Hanges, und was von unten betrachtet zunächst wie ein Plateau ausgesehen hatte, zeigt sich nun als Grat. Auf diesem gehe ich, nun vorerst weniger steil, zur Schulter hinauf, welche mit dem eigentlichen Gipfelaufschwung verbunden ist. Jetzt wird es noch einmal knallehart, denn der Gipfelhang geizt nicht an Steilheit und, bezüglich der mir wie eine Ewigkeit erscheinenden Qualen, die ein Anstieg in diesen Höhen mit sich bringt, eigentlich viel zu lang. Man darf dabei keinesfalls den Punkt ins Auge fassen, den man erreichen will, in diesem Fall den Gipfel. Man sollte sich jediglich auf die nächsten paar Schritte konzentrieren, also von mir aus auf den am nächsten liegenden auffälligen Felsen. Berganstiege haben für mich generell was mehr oder weniger Meditatives, in diesen Höhen jedoch ganz besonders. Es ist ein Kampf gegen den eigenen Sauhund, eine Prüfung der Willenskraft, und nur mit einer felsenfesten Überzeugung für die Sache kann der Gipfel erreicht werden. Mein Gehirn beginnt unterwegs über die Relativität von Weit und Nah zu philosophieren, so auch jetzt, kurz unterhalb des Gipfelchorten. Ich schaue zu ihm empor. Ist er weit? Ist er nah? Ich lege ein Intervall hin, falle vor Anstrengung auf die Knie, keuche wie ein ums Leben Hetzender. Wiederum der Blick zum Chorten. Um wieviel bin ich ihm näher gekommen? Ist es noch weit? Eigentlich ist er schon nah . . . aber hier oben ist er doch weit . . .

Um 12.40 Uhr stehe ich endlich am Ziel, neben dem Chorten auf dem Westgipfel der Kanamo, auf 5974 Metern. Drei Stunden 40 für den Aufstieg sind schon eine Zeit, die sich sehen lassen kann. Uli Friebel veranschlagt dafür 6 Stunden mit Pausen (41/2 Std. reine Gehzeit). Ich lasse meinen Rucksack von den Schultern gleiten, doch anstatt nun endlich zur Ruhe zu kommen, die Gipfelaussicht und die Freude über die erfolgreiche Besteigung zu genießen, folge ich dem langgestreckten Grat mit der mächtigen, nach Norden gekämmten Wächte, bis vor zu einem weiteren Chorten. Diesen zweiten, in den Landesvermessungen nicht berücksichtigten Gipfel kann man vom Tal aus gut erkennen und erscheint von dort aus betrachtet markanter, als der eigentliche Westgipfel. Vermutlich ist er sogar ein paar Meter höher, als der offizielle Gipfel. Direkt hinter dem zweiten Chorten folgt eine Einschartung, der Gang zum etwa 6050 Meter hohen Ostgipfel ist nur mit Steigeisen und Pickel möglich. Die steile Firnkappe des Gipfels würde ich sogar mit Seil sichern, denn wer dort abgeht, fällt gut 1000 Meter! Ich kehre wieder zurück zum ersten Chorten und genieße das Hier und Jetzt. Solange man sich nicht bewegen muss, kann man es in diesen Höhen durchaus aushalten. Das Panorama ist grandios. In der Ferne leuchten die Firnketten der Sechstausender, in der Nahsicht halten wiederum Chau Chau Kang Nilda und Shilla Peak Prominenz, doch besonders faszinierend ist nun der schauderhafte Blick hinab über die bald 1000 Meter überwiegend senkrecht abstürzende Eiswand der Kanamo-Nordflanke. Auch der dicke Wulst der Gratwächte erzeugt Bewunderung.

So gnadenlos langsam und knüppelhart der Aufstieg war, so lächerlich einfach und schnell ist nun der Abstieg. Diesen Effekt hatten wir bereits vergangenes Jahr am Zanskar Peak festgestellt. Dennoch will mir der Abstieg nicht leichtfallen, da ich nun die Erschöpfung vom harten Aufstieg zu spüren bekomme. Am liebsten würde ich mich irgendwo hinlegen und nur noch schlafen und mit Unwillen denke ich an den langen Rückweg bis hinunter nach Kibber. Als ich um 15.30 Uhr am Lagerplatz ankomme, treffen dort gerade die Iren mit ihren Packtieren ein. Ein Teil der Gruppe ist bereits vorzeitig wieder umgekehrt, doch die beiden Herren von gestern sind wiederum mit von der Partie. Ich gebe ihnen einen Bericht über meine Besteigung und noch ein paar kleine Tipps und wünsche ihnen alles Gute für ihren morgigen Gipfeltag. Der Abstieg nach Kibber führt erneut durch eine großartige Kulisse entlang eines Bächleins. Sattgrüne Auen, feuerrote Büsche, Teppiche von Edelweiß . . . Jenseits eines Schluchteneinschnitts schlummert idyllisch das Dorf Chicham inmitten seiner blühenden Terrassenfelder. Mein Blick gleitet zurück über das schüttere Grün der nahen Hänge bis hinauf zur Kanamo. Ich halte Rast auf einer Weide, kurz bevor der Pfad direkt hinunter nach Kibber geht. Die Sonne durchflutet die Umgebung mit einem bereits golden leuchtenden Spätnachmittagslicht. Ein Mann mit mehreren Packtieren zieht ein paar Hundert Meter weiter drüben vorbei, in Richtung Dorf. Es ist der Donkey-Man der Iren. Jetzt will auch ich die letzten mühsamen Schritte tun, und endlich in Kibber ankommen. "You´re a strong man!" respektiert die Dorflehrerin meine Leistung, auch wenn man hier wenig Verständnis dafür hat, wie man die Annehmlichkeiten eines Festes für einen kalten und einsamen Berg hergeben kann.

Die Rückkehr nach Kaza trete ich am folgenden Tag im "Local Bus" an. Bedauerlicherweise bleibt mir für´s Kloster Ki nur ein bescheidener Blick aus dem Busfenster. Abermals kreuze ich im Milarepa auf. Bei meinem Gang durch´s Städtle werde ich von zwei Saddhus angesprochen. Schon bei meinen vorhergehenden Aufenthalten in Kaza war mir aufgefallen, dass diese hinduistischen Bettelpilger häufig im Ortsbild anzutreffen sind. Die Saddhus sind in ihrer Eigenschaft als heilige Männer sehr unterschiedlich zu bewerten, denn zwischen den vielen, die es ernst meinen mit ihrer Berufung zu Meditation und Askese, wandeln auch zahlreiche "Scheinheilige", ja sogar manche Drogenverkäufer kleiden sich gelegentlich in für Saddhus typische Wickeltücher, um das Vertrauen potenzieller Kunden zu erwecken. Die beiden mir jetzt Gegenüberstehenden sind wohl harmloserer Art, dennoch will mir einer von ihnen für ein bißchen Hokuspokus 500 Rupien abknöpfen. Dabei soll mich wohl seine Aussage "Ich sehe dein reines Herz, deine ehrliche Seele. Für dich ist das Glück der Menschen wichtiger, als das Geld!" rührseelig stimmen.

Der Geruch von Gas kitzelt meine Nase, ein Kocher faucht geräuschvoll – jawohl, ich sitze wieder einmal in einer Dhaba! Ich liebe diese schlichten Einrichtungen, die meist nur wohnzimmergroßen Räumchen, deren mit abblätternder Farbe bepinselten Wände mit hinduistischen Kalenderblättern behängt sind, auf abgewetzten Tische stehen die obligatorischen Wasserkrüge, alte, oft nicht allzu sauber aussehende Plastikstühle erfüllen ihren Zweck, eine matt leuchtende Birne baumelt von der kahlen Decke herab, und am Eingang eine schreibtischähnliche Theke, an der man beim Verlassen bezahlt. Über der Bezahltheke prangt der vom Duft der Räucherkerzen umwabbelte Hausaltar, welcher, je nach Besitzer, entweder hinduistischer oder buddhistischer Huldigung dient. Jeder Dhabawirt hat auch Kerzen für die allabendlichen Stromausfälle in irgendeiner Schublade parat. Dass die einfachen Gerichte dort stets wohlschmeckend und sättigend und nach meiner Erfahrung auch immer hygienisch unbedenklich serviert werden, brauche ich nach meinen häufigen Schwärmereien über diese "Gaststätten des einfachen Mannes" eigentlich nicht mehr hinzuzufügen.

Tags darauf verlasse ich das Tal des Spiti-River per Bus. Mein Ausstiegspunkt soll die Passhöhe Kunzom La sein, und es sieht nicht gut aus! Bereits während der Fahrt durch´s Tal sind die Gipfel ringsum in Wolken gehüllt und teils schon dezent vom Neuschnee gepudert. Im Anstieg zur Passhöhe tauchen wir voll in den Nebel ein, und während der Bus nach kurzer Pause am Heiligtum seine Fahrt hinunter ins Chander-Valley fortsetzt, bleibe ich mit dem alten Wärter des kleinen Teehäuschens und zwei Arbeitern, die dort oben zu tun haben, in einer naßkalten, nebeldichten Einöde zurück. Ehe ich zu meinem Marsch in Richtung Chander – Tal (Tal = See) aufbreche, ziehe ich mich mit den drei Verbliebenen auf einen heißen Tee in die kahlen Wände des spartanisch ausgestatteten Tea-Shops zurück.

Die anfänglichen Fahrwegspuren weichen bald einem schönen Bergpfad, der durch eine wundervolle Felsenlandschaft führt, leider aber ohne Fernsicht. Die Passhöhe des Balarmo La (4800 m) wird überschritten, und hiermit das Tal des Chander-River erreicht. Fragmentarisch gönnt der hin- und herziehende Wolkenvorhang mal kürzer, mal etwas länger geöffnete Sichtfenster hinab in das urzeitlich anmutende Flußbett oder hinüber zu in dichte Wolkenkokons verwickelte Gletschergiganten. Im Unterschied zum besiedelten Spiti-Valley finde ich hier wiederum eine tiefeinsame Bergwüste vor. Hier regiert mit absolutem Machtanspruch Mutter Natur, die hier Platz für gigantische Eisgipfel, die Üppigkeit einer sich willkürlich verzweigenden Flusslandschaft und die Tristesse von mit kargen Gräsern besprießten Buckeln und Berghängen geschaffen hat, den Menschen dabei aber ausgegrenzt zu haben scheint.

Während der Wanderung tritt nach und nach eine Wetterbesserung ein, und als ich den Chandersee erreiche, haben sich schon viele Wolken bereits wieder verzogen, so dass ein Großteil der umliegenden Gipfel jetzt sichtbar ist. Ich treffe am Südufer auf den traumhaft schönen See. Der durch den harten Wind aufgeraute Wasserspiegel des Chandertal (zu deutsch: Mondsee) brilliert türkisgrün inmitten seiner ockergelben Umrahmung. Ich schlendere nun an seiner Westseite entlang, um so ans Nordufer zu gelangen. Aus der Gegenrichtung kommt mir eine einzelne Person entgegen. Ein Kanadier, Bergfreund und Indienreisender, der schon über ein Jahr im Land unterwegs ist. Es soll für mich die einzige menschliche Begegnung für die Dauer meines Aufenthalts am See bleiben. Der Kanadier gibt mir den Tipp, einen Windfang der sich am Nordostufer des Sees befinden soll, als Zeltplatz aufzusuchen. Das von einem kleinen Sandstrand gesäumte Nordufer wird in den Monaten Juli und August häufig von Trekkinggruppen frequentiert, was leider nicht nur anhand der Pferde- und Maultierkacke, sondern auch durch gewisse Zivilisationsabfälle, die dort herumfahren, manifestiert ist. Die besagte Stelle am Nordostufer ist tatsächlich ein Platz, wie man ihn sich für´s Zelten in der Wildnis wünscht. Zwar existieren Windfänge aus aufgeschichteten Steinen auch am Nordufer, dieser hier ist aber der am sorgfältigsten ausgebaute, umgeben von zig großen und kleinen Chorten und Steinmännchen, die von Gebetsfahnen umgarnt sind. Über dem Ostufer ragen wüstenkarge Felsgipfel empor, welche wohl nur knapp die 5000er – Kote übertreffen. Durch den zurückliegenden Schneefall sind einige dieser Spitzen weiß angezuckert, Restwolken umspielen kecke Felsnadeln, so dass das Ganze eine hochalpine Note erhält. Der Blick über die Seefläche hinweg gen Westen zeigt hingegen Berge, die sich ob ihrer hochalpinen Wirkung nicht mehr aufzuschminken brauchen, denn diese gewaltigen 6000er-Riesen sind allesamt in dicke Gletschermäntel gehüllt. Wie gewohnt, so pfeift auch hier am Chander-See ein harter Wind, der mir den Aufbau des Zelts nicht gerade erleichtert. Nachdem mein Lagerplatz eingerichtet ist, bleibt mir noch genug Zeit für einen Ausflug zu den westlich direkt über dem Seeufer aufsteigenden Hügeln, von denen aus mir beste Aussichten hinunter in die kiesige Schwemmebene des Chander-Rivers und hinüber zu den besagten Bergketten gewährt sind. Die weiter südlich aufragende und mir direkt gegenübergestellte Kette heißt Chanddrabhaga-Range, häufig auch mit einem schlichten "CB" abgekürzt, die weiter nördlich ansetzende ist die Koa-Rong-Range, die ebenfalls oft nur mit einem Kürzel benannt wird, nämlich "KR". Besonders imponiert mir ein Berg aus der CB-Gruppe. Zum Einen durch seine schnittige Figur, zum Anderen mit seiner nun von der Sonne angestrahlten, vereisten Nordwand. Zu seinen Füssen strömt ein gigantischer Gletscherstrom herab. Überhaupt tragen diese wilden Berge enorme Gletscherwannen zwischen sich, geradeso, als befänden wir uns noch mitten in der letzten Eiszeit. Ein wenig weiter westlich des Chander-River hat sich ein weiteres Flußbett in die Talsohle eingegraben. Dieses bezieht seine milchigen Fluten direkt aus den Gletschern der CB-Range, von wo aus sich der Fluß aus einem Hochtal herab in die Talebene ergießt und sich etwas weiter südwestlich des Chandersees mit dem Chander-River vereinigt.

In den frühen Morgenstunden werde ich wach und vernehme ein zart klingendes, regelmäßiges Rascheln auf der Zeltplane, in welchem ich Schneefall vermute, vom Geräusch her offensichtlich ziemlich naß, zudem ist es saukalt. Ein bißchen mulmig ist mir schon bei dem Gedanken, dass die Schneefälle vielleicht zu ergiebig ausfallen könnten. Eines ist für mich allerdings jetzt schon sicher: ich werde die geplante Trekking –Tour bis hinauf zum Baralacha La nicht machen, sondern bei Tagesanbruch nach Batal hinunterwandern. Der Trek hinauf zum Baralacha-Paß hätte nochmals drei Tagesmärsche in Anspruch genommen, wobei zwei Flüsse, Tokpo Yongma und Tokpo Gongma, zu durchqueren sind, die oft als problematisch beschrieben werden, wobei es dort bei Durchquerungsversuchen schon zu tödlichen Unfällen gekommen ist. Der Baralacha La wird von der Manali-Leh-Straße frequentiert, von dort aus wäre ich mit einem sich mir bietenden Verkehrsmittel (Bus, LKW, Jeep) nach Keylong oder Manali zurückgekehrt. Wenn der Paß zuschneit, dann ist es allerdings vorbei mit Autoverkehr. Der nächste Ort, von welchem aus ich dann hätte eine Fahrmöglichkeit ergattern können, wäre dann Darcha (siehe Story "Zanskar-Durchquerung"), erreichbar zu Fuß in weiteren zwei Tagesetappen, bei Schneelage sicher mehr, inclusive Verirrungsgefahr.

Erwartungsgemäß rutscht mir beim Öffnen der Zeltplane im ersten Tageslicht naßkalter Schnee entgegen, ein wenig davon rieselt direkt in meinen Kragen hinein, welch´eine Wonne! Jedenfalls muss ich heute morgen ein gehöriges Maß an Disziplin aufbringen, um mich aus dem warmen Schlafsack herauszupellen, in die Kälte hinauszustapfen, und mich marschbereit zu machen. Es dauert ziemlich lange, bis die Sonnenstrahlen auch in das Tal des Chandersees hineinfluten. Dem nassen Schnee bereiten sie mit ihrem Auftreten ein frühzeitiges Ende, man kann förmlich dabei zusehen, wie die weißgetünchten Hügel in der Umgebung nach und nach ihre grüne und ockerfarbene Patina wieder zurückgewinnen.

Batal (4000 m) ist für mich kein unbekannter Ort mehr, denn schließlich hatten wir dort auf der Hinfahrt nach Spiti einen Lunch-break. Und genauso, wie Chhatru, der Dhaba-Siedlung, in welcher ich nach dem Abstieg vom Hampta-Paß genächtigt hatte, so ist auch Batal nichts anderes als eine Versorgungspunkt auf dem Weg zwischen Spiti, dem Kullu-Tal und Keylong, ebenfalls mit dem gewissen Schuß abenteuerlich anmutender Wildwest-Romatik inmitten urtümlich- prächtiger Himalayalandschaft. Ich erreiche Batal über eine kurz hinter dem See beginnende Piste, die durch die berückende Kulisse von eisigen Bergketten und den canyonartigen Flußlauf des Chander River führt.

In Batal bekomme ich von den freundlichen Dhaba-Betreibern (eine Flüchtlingsfamilie aus Tibet) eine Unterkunft mit Bett in einem kleinen Steinhäuschen zugewiesen, für das als Türe ein Holzrad dient, welches bei Bedarf vor den Eingang, bzw. von dort wieder weggerollt wird. Eine abgelegene Straßendhaba wie Batal bietet stets eine exklusive Atmosphäre, weshalb sich ein Aufenthalt über Nacht dort lohnt. Ständig wechseln die Gäste, es treffen sich LKW-Fahrer aus sämtlichen Provinzen Nordindiens mit Bauern, die vom Stadtbesuch in ihre Dörfer zurückkehren, Geschäftsleute, Touristen, Horsemen, Trekkingguides . . . Stets werden bei Chai und/oder Dhal Bhat Neuigkeiten diskutiert, das Wetter und der aktuelle Straßenzustand sind dabei immer wiederkehrende Themen. Mir drängt sich hier irgendwie der Vergleich zu den Pferdeumspannstationen aus längst vergangenen Zeiten auf, als in Europa noch anstatt mit der Familienlimousine über die Autobahn, mit der Kutsche über die ehemaligen Postwege gereist wurde. Ich glaube, dass gerade in den Dhabas entlang der abgelegenen Routen des Himalaya noch vieles vom Sinn und Ambiente dieser einstigen Herbergen erhalten geblieben ist.

Die Wanderung vom Mondsee nach Batal war zwar kurz und objektiv einfach, dennoch war ich, bedingt durch ein Formtief, gottfroh, endlich in Batal anzukommen. Ich will es noch mal betonen: eine Trekkingreise durch den Himalaya bedeutet – mehr noch, als etwa in den Alpen – stets auch ein Wechselbad gegensätzlicher Gefühle, denn bedingt vor allem durch die körperlichen Strapazen, aber auch Gefühle des fremd seins, oder der Umgang mit der Einsamkeit, lassen einem nicht ständig alles so wundervoll und wonnig empfinden, wie das die Dias daheim auf der Leinwand dem außenstehenden Betrachter suggerieren. Doch stets sind es die Momente der inneren Erfüllung, die Auskostung eines tollen Augenblicks, Kontakte mit den verschiedensten Leuten, oder auch der Stolz auf überstandene Strapazen und gemeisterte Probleme unterwegs, welche die negativen Gefühle um ein Mehrfaches wiederaufwiegen und einem immer wieder aufs Neue zu einer Reise wie dieser anspornen. So auch jetzt: beim Durchstreifen der unmittelbaren Umgebung von Batal finde ich einen von der Sonne erwärmten, großen, flachen Felsen, auf dem ich mich genüsslich ausstrecke. Über mir spannt sich der tiefblaue, von fliehenden Wolkenfetzen belebte Baldachin des tibetischen Himmels, der Wind pfeift über mich hinweg, und wenn ich den Kopf zur Seite wende, kann ich die Straße überblicken, wo unter mir von Zeit zu Zeit ein einen Kometenschweif aus Staub hinter sich herziehender Lastwagen vorbeischeppert. Außerdem genieße ich meinen Gästestatus in Batal, wo im warmen Zelt Chai, Dhal Bhat und freundliche Menschen auf mich warten, und vergessen ist das Gefluche und Gejammere auf dem Weg hierher.

Neben der Dhaba befinden sich mehrere Gedenksteine, die auf Expeditionen ums Leben gekommenen Bergsteigern gewidmet sind. Auffällig ist dabei, dass alle verunfallten Personen bei Flußüberquerungen ihr Leben ließen, unter anderem auch die beiden ersten bei einer Bergexpedition tödlich verunglückten indischen Frauen. Kurz vor Sonnenuntergang stehe ich – dick eingepackt Wind und Kälte trotzend – am Ufer des Chander – River und blicke hinüber auf eine schneebedeckte, wolkenumgarnte Bergkulisse. Wieder so ein Moment . . .

Außer mir verbringen noch weitere Personen die Nacht in Batal: ein tschechisches Pärchen und eine indische Trekkinggruppe. Beim abendlichen Dhal Bhat entspinnt sich eine anregende Unterhaltung. Laut Aussage der Inder beträgt die momentane Schneehöhe am Baralacha La 5 ½ Fuß, und auch der Dhaba – Wirt bestätigt, dass da oben jetzt sämtlicher Verkehr eingestellt sei. Hier am Kunzom La wird es meistens etwa Mitte Oktober, dann bricht die Familie ihre Zelte ab und verbringt den Winter in ihrem Häuschen im Kullu – Tal. Bezüglich der Wirtschaftlichkeit ihrer Dhaba können die Wirtsleute zufrieden sein, denn in der Hochsaison verkehren hier täglich bis zu 350 Gäste. Außer dem Sohn sind noch zwei hinduistische Hilfsjungen mit im Team. Wenn Gäste kommen, dann geht´s hier drin fluggs zu, dennoch stimmt die Qualität. Die Familie mag somit zu einem gewissen Wohlstand gekommen sein, aber die Arbeit ist hart und zeitintensiv.

Der frühe Morgen zeigt sich wolkig, bildet aber gerade durch die in Wolkenfetzen gehüllten Berge ein interessantes Panorama. In der Dhaba wird übrigens schon seit 5 Uhr gearbeitet. Ich unterhalte mich besonders gut mit den indischen Trekkern. Sie gehören vermutlich allesamt der Kaste der Brahmanen an, sind gut situiert, und Geschäftsmänner von Welt, die auch Europa gut kennen. Auffallend an den Sprachgewohnheiten vieler gebildeter Inder ist, dass ihr Hindi ständig mit englischen Worten oder auch ganzen Sätzen durchwebt ist. In Anwesenheit von Ausländern wird dann aber meist generell bei englisch geblieben. Der erste Bus, der vom Kunzom La herunterkommt ist so voll, dass es besser ist, auf den zweiten zu warten. Also bleiben wir weiterhin unter der Sonne sitzen, bestellen noch eine Runde Ingwer-Tee und führen unsere Unterhaltung fort. Zwischendurch preschen zwei Offiziere der indischen Armee mit Vollgas heran. Zwei aus der indischen Trekkinggruppe beschließen, mit den beiden nach Manali zu fahren, mir hinterlassen die beiden Rennfahrer ihre E-Mail-Adresse, damit ich sie in Manali kontaktiere, um den Rest meines Urlaubs mit ihnen zusammen zu verbringen. Sie beabsichtigen, eine Strecke zu befahren, die von den gängigen Routen wegführt, und äußerst interessant sein soll.

Im Bus komme ich neben Ina aus Bremen zu sitzen, wir führen unterwegs eine anregende Unterhaltung. Nach kurzer Fahrt gabeln wir kurioserweise unsere zwei indischen Freunde wieder auf. Nach deren Aussage legten die beiden Offiziere einen derartig halsbrecherischen Fahrstil hin, dass sie um ihr Leben fürchten mussten. So kommen auch mir Bedenken, ob ich die mir noch verbleibenden Tage doch nicht lieber allein verbringe. Die E-Mail-Adresse "Casino-Casanova" hat vielleicht doch eine gewisse Aussagekraft bezüglich der ungestümen Macho-Mentalität der beiden Herren . . .

Die Busfahrt wird erwartungsgemäß beeindruckend, wenngleich ein wenig eng, dafür sitze ich diesmal nicht auf einem der hinteren "Rüttelplätze". Der erste Teil der Strecke bis Chhatru ist mir ja bereits von der Hinfahrt her bekannt, danach folgt das Stück bis nach Gramphu, wo die Kunzom-La-Piste in die Straße zum Rohtang La einmündet. Die Rohtang-La-Strecke befuhren wir vergangenes Jahr nach unserer Zanskar- Durchquerung. Haidar und ich waren damals per Jeep von Darcha her auf dem Weg nach Manali hier vorbeigekommen. Im Unterschied zum letzten Mal müssen wir diesmal keinen Checkposten passieren. Der Bus macht den Mittagsstop auch nicht in der zwar fliegenverseuchten, aber urigen Dhaba auf der Passhöhe, sondern auf dem Rummelplatz jenseits des Passes, etwa 600 Höhenmeter unterhalb, wo Pizzahut, Burgerrestaurants und weitere auf Tourismus abgestimmte Esslokale in einer Kette aufgereiht sind. Wiederum fasziniert mich auf´s Neue der abrupte Übergang aus der Trockenzone hinüber zur Monsunseite. Senkrecht herabstürzende Wasserfälle, saftig-grüne Bergwiesen und dunkle Tannenwälder malen hier ein Bild, das dem Berner Oberland sehr nahe kommt.

Da ich das Hotel Tourist in Manali auf Anhieb nicht finde, nehme ich abermals im "Hill Queen" Quartier. Mein Augenmerk gilt diesmal dem tibetischen Viertel, welches sich oberhalb des Überlandbusbahnhofs linkerhand in Richtung Model Town befindet. Es gibt dort interessante Häuser, ein Kloster und einen überdachten Markt.

Frühstück in Model Town. Das Mixed-Pickels-Zeugs auf den Rotis wird wohl nie mein Fall werden, eine der wenigen Ausnahmen, wo ich mich bezüglich Essen ziere. Aber kein Problem, denn ich kann die Rotis schließlich ohne diese Pampe verzehren, und da mir gerade danach ist, gehe ich gleich anschließend in eine weitere Dhaba, zum zweiten Frühstück. Die Gerüche Indiens: es bleibt für mich festzuhalten, dass Indien weitaus mehr angenehme, als abstoßende Gerüche hat. Vor allem die Räucherkerzen verströmen allenthalben ihre Duftnoten durch Gassen und Lokale, ganz zu schweigen von den Düften der unzähligen Backstuben, Dhabas, Gewürzläden . . .

Wer sowohl Indien als auch die "Bollywood"-Filme kennt, der weiß, dass Letztere einen Großteil der indischen Realität einfach ausblenden. Man sieht dort nie Armut und wenig Tradition. Nach meiner Erfahrung sind Armut und Tradition wesentlich repräsentativer für dieses Land, als die exklusiven Auftritte der indischen Upperclass. Doch selbstverständlich gibt es auch sie, und ganz besonders hier in Manali. In Dandymanier sind sie in Pelzmäntel mit oft schrillen Farben gedresst, das mit Pomade geglättete Haar wird in jeder sich spiegelnden Scheibe mit einer eleganten Bewegung von einem Kamm durchzogen, Goldketten glitzern in den Ausschnitten halboffener Hemden. Bei uns in Europa würde man Männer in solcher Aufmachung wohl als homosexuell deklarieren, hier in Indien kann das zwar auch der Fall sein, dennoch gilt diese Art extravaganter Auftritte unter den jungen Reichen als smart. Die jungen Frauen und Mädchen zeigen sich allgemein weniger modern, bleiben meist bei der Tradition, mit wertvollen Saris und kostbarem Schmuck ihre Schönheit und Herkunft unterstreichend, aber auch unter ihnen sieht man manche in Jeans oder – bedauerlicherweise eher selten - sogar Mini-Rock.

Im "Hill Queen" fällt mir auf, dass die Zimmerreinigungen ausnahmslos von Kindern durchgeführt werden. Was soll man tun? Das Hotel wechseln? Man sieht nirgends wirklich hinter die Kulissen, woanders kann das genauso sein, auch wenn´s vielleicht auf Anhieb nicht ersichtlich ist. Ich erinnere mich an die Aussage meines Schwiegervaters Enrique, als wir uns im mexikanischen Badeort Mazatlan aufhielten: die gesamte Hotellerie- und Nachtclubszene sei dort mit Drogengeldern aufgebaut worden. Was kann man tun? An der Rezeption nachfragen, ob das Hotel etwa mit Drogengeldern finanziert wurde? Kinderarbeit ist in Indien leider Gang und Gäbe, genauso, wie viele andere Mißstände, wie etwa die soziale Stellung der Frauen. Es gibt Leute, die sich darüber auslassen, wie es denn möglich sei, dass die reichen Inder die Armut um sie herum einfach ignorieren. Erstens stimmt das so nicht, viele Bettler haben gewisse Stammadressen, wo sie sicher sein können, dort beispielsweise einmal am Tag eine warme Mahlzeit zu erhalten. Und was ist mit uns? Ein jeder weiß um die Mißstände in der Welt. Macht das etwa einen moralischen Unterschied, ob man die Bilder in der Distanz des Fernsehens sieht, oder ob die Armut unmittelbar vor einem steht?

Da ich meine Trekkingtour bis zum Baralacha La nun nicht fortsetzen konnte, habe ich jetzt mehr Zeit übrig, als ursprünglich geplant. Diese will ich mit Herumreisen im und ums Kullutal zubringen. So verlasse ich Manali am nächsten Morgen mit dem Bus gen Süden, in den Hauptort Kullu. Es existieren zwei Routen dorthin: die Hauptstrecke auf der orographisch rechten Seite des Beas-River ist mir bereits bekannt. Die Fahrt auf der Leftbank-Road hingegen dauert zwar länger, ist dafür aber auch schöner und interessanter. Dass ich nun auf dieser unterwegs bin, habe ich allerdings dem Zufall zu verdanken. An der Local Bus Station von Manali war ich einfach in den nächstbesten Bus gestiegen, der nach Kullu ging, und dieser fährt eben nun die Leftbank herunter. Die ersten paar Kilometer bin ich ja bereits zu Fuß gegangen, als ich meine Tour zum Hampta-Paß begann. Die Fahrt führt vorbei an Hotels aller Klassen, Dhabas, Läden und Magazinen, verrußten und verölten Reparaturwerkstätten, Verschlägen, Hindutempeln, aber auch durch prächtige Kiefernwälder, rauschende Nallas, üppige Apfelplantagen, blühende Gärten und natürlich Menschen – Hindus, Buddhisten und Sikhs aller Genre und sozialer Klassen.

Kullu ist nicht der Ort, welcher in Reiseführern ob seiner Schönheit gepriesen wird. Die Stadt wird dort nur als Durchgangsstation aufgeführt. Ich beziehe mein Quartier im Hotel "The Nest", welches sich zwar praktisch, aber wenig schön, direkt neben dem Busbahnhof befindet. Was mir in Kullu als erstes auffällt, ist die Tatsache, dass die Touristenanmache à la Manali hier merklich reduziert ist. Kullu fügt sich langgestreckt in die Wanne des gleichnamigen Tals und zieht seine urbane Ausdehnung bis auf die westliche Talflanke empor, so dass man durchaus von einer pittoresken Lage sprechen kann. Beim Umherstreifen stelle ich fest, dass die Stadt selbst wirklich nicht sonderlich attraktiv ist, der Basar jenseits der Brücke besitzt dennoch eine quirlige Atmosphäre, und wenn man von dort aus weiter an besagter Talflanke emporsteigt, gewinnt man eine schöne Aussicht über die Stadt und das Tal. Die Sehenswürdigkeiten in Kullu sind spärlich, sie beschränken sich auf ein paar hinduistische Tempel. Nur einer davon befindet sich direkt im Stadtgebiet, die beiden anderen sind über kleine Wanderungen zu erreichen. Ich begnüge mich mit der Besichtigung des nicht weit vom Busbahnhof entfernten Raghunathij Mandir. Die Tempeldiener sind bei meinem Eintreffen gerade mit der Reinigung des Heiligtums beschäftigt, weshalb ich mich zunächst etwas gedulden muss. Dafür werde ich Augenzeuge einer gründlichen Tempelputze, bei der reichlich Wasser zu Einsatz kommt, aber auch allerlei abgebranntes Räucherzeug und verwelkte Blüten werden entfernt, und der Vorplatz sorgfältig gekehrt. Sehr erfreut bin ich darüber, dass man mir auch das Fotografieren erlaubt. Auch hier in Kullu lebt, gleich wie in Manali, Mischbevölkerung. Ich habe bereits über die zugezogene Minderheit von Hindus in Kaza geschrieben, hier im Kullutal kehren sich die Verhältnisse um: zwischen der hinduistischen Bevölkerungsmehrheit sieht man viele tibetische Gesichter, und natürlich – wie wohl überall in Nordindien – sind auch die Sikhs in großer Zahl vertreten. Die Kuriositäten Indiens beschränken sich natürlich nicht nur auf Mensch und Natur, sie sind auch häufig von technischer Art, so wie etwa eine keilriemenbetriebene Zuckerrohrpresse am Straßenrand.

Ich probiere es mit dem Abendessen in der Raj-Dhaba, im Reisführer als die "sauberste Dhaba von ganz Kullu" ausgelobt. Sie ist es nicht mehr und nicht weniger, als tausende andere Dhabas hier und sonstwo in Indien. Der Koch scheint mir ein ziemlich schräger Vogel zu sein. Während ich mein Dhal verzehre, kommt er mir mit spitzfindigen Fragen und versucht mich mit der Aussage "Kullu good place to stay?" irgendwie zu provozieren. Mein Eindruck ist, dass er überhaupt nicht verstehen kann, was die reichen Fremden in diesem Drecksnest zu suchen haben, wo er doch Tag und Nacht davon träumt, eines Tages mit genügend Rupien in der Tasche einfach nur von hier abzuhauen, und hätte er die Möglichkeit, an mein Geld zu gelangen, er würde das vermutlich auch über meine Leiche tun.

Dem Parvati-Valley eilt der Ruf von prächtiger Landschaft und religiöser Mystik, aber auch die Anrüchigkeit von Drogenanbau und spurlos verschollenen Touristen voraus. Grund genug für mich, dort einmal vorbeizuschauen. Um es gleich vorwegzunehmen, ich begebe mich mit dem Besuch des Parvati-Tals nicht etwa in eine besonders große Gefahr, denn das gut zwei Dutzend in den letzten paar Jahren verschwundener Touristen ist allesamt auf führerlosen Trekkingtouren verlorengegangen, zudem wird der eine oder andere Fall auch in Zusammenhang mit Drogen gestellt. Ich selbst werde mich mit einem Tagesausflug per Bus nach Manikaran, dem religiösen Zentrum des Parvati-Tals, zufrieden geben.

Von Kullu aus geht es zunächst nach Bhuntar, einer Kleinstadt an den Pforten zum Parvati-Tal. Der Busbahnhof befindet sich unmittelbar neben dem Flughafen, nebenbei bemerkt eine flotte Möglichkeit, von Delhi aus komfortabel ins Kullu-Tal zu gelangen. Der Beas-River wird über eine Brücke passiert, dann schlängelt sich eine Straße hoch über den Fluten des Parvati-River stetig bergan. Dieses Hochtal geizt tatsächlich nicht mit landschaftlicher Raffinesse. Erfüllt von einer subtropischen Üppigkeit erscheint es mir wie der Garten Eden. Zwischen manchmal abrupt abbrechenden Steilwänden der Schlucht tosen die ungebändigten Fluten des Parvati-River. Hier gedeiht so manche Nutzpflanze, die den Einwohnern zur Ernährung oder zum Verkauf auf den Märkten dienlich ist. Genauso üppig soll hier aber auch der Cannabis sprießen, die ertragreichen Felder bleiben allerdings, für den normalen Touristen unsichtbar, in den abgelegenen Winkeln und Seitenarmen des Haupttales versteckt. Gelegentlich gedeiht diese Pflanze aber, wenn auch nur in bescheidenen Mengen, direkt an der Straße. Im Bus sitzen, neben den Einheimischen, einige Hippies und in den Ortschaften treibt sich viel einschlägiges Volk herum, wobei der Ort Jiri aufgrund des erhöhten Aufkommens an Bindehautentzündung erkrankter Rastafarians und strohblonder Chillum-Saddhus bereits eine Hochburg des Charras sein dürfte, noch lange bevor man Manikaran ereicht. Sie haben ihre Hütten oder Ferienanlagen oft für Monate gemietet, und viele von ihnen bringen ihre Tage damit zu, in der Hängematte herumzudösen und sich vom Herbergsbesitzer mit dem täglichen Dope versorgen zu lassen. Das Parvati-Tal ist aber auch ein begehrtes und äußerst ergiebiges Betätigungsfeld für Trekker und Bergsteiger. Ich habe bereits angedeutet, dass diese Region eine besondere Sensibilität gegenüber der Bevölkerung erfordert. So ist beispielsweise die etwa dreitägige Tour von Nagar im Kullu-Tal über den Chandrakani-Paß (3660 m) nach Malana zwar sehr beliebt und wird zu bestimmten Zeiten auch häufig begangen. Doch die strengen Traditionen der Leute von Malana und Umgebung machen die Begleitung durch einen zuverlässigen Führer praktisch unabdinglich. Bei Touren im und ums Parvati-Tal sollte das Engagement eines Führers auch aus Sicherheitsgründen erfolgen, da hier in den letzten zehn Jahren, wie gesagt, rund zwei Dutzend Touristen auf Nimmerwiedersehen verschwunden sind. Es gibt hier übrigens eine Tour, die mich im besonderen Maße reizen würde, die ich allerdings nur in Begleitung von weiteren bergerfahrenen und gut durchtrainierten Begleitern unternehmen würde: der etwa neuntägige, harte und anspruchsvolle Hochalpintrek über den vergletscherten Pin-Parbati-Paß (5319 m) hinüber ins Pin-Valley und nach Spiti.

Während der Fahrt das Tal hinauf eröffnet sich für kurze Zeit ein genialer Blick auf den vergletscherten Bergkamm, welcher die Kullu-Region von Spiti trennt. Das Panorama hält jedoch nicht bis Manikaran, denn weiter oben verändert sich der Blickwinkel und die schönen Berge verschwinden wieder. Manikaran liegt eingezwängt in die enge Schlucht des Parvati-River, und der Ort verteilt sich schlauchartig auf beide Flußseiten. Hier soll einst die Göttin Parvati mit ihrem Gemahl Vishnu ein Liebesbad genommen haben, währenddessen Parvati´s Ohrringe von einer Schlange gestohlen wurden. Die Schlange wurde jedoch wieder zur Herausgabe der Ohrringe gezwungen, wobei diese wütend das Geschmeide aus der Nase herausprustete. Seitdem schießen hier die Dämpfe der heißen Quellen aus dem Erdinnern empor. Vor einem Erdbeben im Jahr 1905 schossen die Fontänen 10 bis 14 Fuß hoch, heutzutage steigen nur noch die heißen Dämpfe aus dem brodelnden Wasser auf. Die Quellen sind zwischen 88 und 94 Grad heiß. Sie sind von zwei Tempeln überbaut, einem hinduistischen und einem Gurudhwara, also Sikh-Tempel. Die Sikh-Version der einstigen Begebenheiten lautet übrigens folgendermaßen: Shri Guru Nanak Dev Ji erreichte den Ort in Begleitung von zwei seiner Jünger (Bhai Bala und Mardana). Mardana wurde hungrig. Die drei Pilger hatten zwar die Zutaten für eine Mahlzeit, aber keine Kochgelegenheit, worauf Ji den beiden befahl, einen Stein aufzuheben. Unter diesem kochten die heißen Quellen. Bis zum heutigen Tag wird in der Küche des Gurudhwara ausschließlich mit der Hitze und dem Wasser der Quellen gekocht. Wie in allen Sikh-Tempeln, so kann man sich auch hier als Gast kostenfrei verköstigen lassen (Spende allerdings erwünscht!). Bedeckung der Haartracht, Verbot von kurzen Hosen und das Ausziehen der Schuhe sind obligatorisch. Grundsätzlich werden in Indien vor Betreten sämtlicher Tempel, egal ob hinduistisch, buddhistisch, moslemisch oder Sikh, die Schuhe ausgezogen, dasselbe gilt auch beim Betreten von Häusern und Wohnungen.

Vom Busbahnhof aus quert man die von Cannabispflanzen überrankte Brücke. Dort stößt man zunächst rechterhand auf den Brahma-Tempel. Kurz danach erreicht man die erste kleine Badeanlage. Dort hält sich bei meinem Eintreffen niemand zwecks eines rituellen Bades auf. Rings um dieses Areal stehen ein paar Tibeterhäuser nebst schönem, aber modernem Tempel. Folgt man von dort aus einem schmalen Pfad bergwärts, dann gelangt man zu den örtlichen Schulgebäuden. Als nächstes spaziert man durch den Bazar, dessen Läden und Verkaufsstände sich in einer geraden Linie links und rechts einer einzigen Gasse bis hinunter zu den beiden Haupttempeln aneinanderreihen. Das Sortiment der dort feilgebotenen Waren zeigt an, wie stark der Tourismus in Marikaran Fuß gefasst hat. Ich betrete die Anlage durch den Haupteingang des Hindu-Tempels. Der Hindu-Schrein entzückt durch schönen, morgenländischen Baustil, wohingegen der riesige Sikh-Tempel ein gesichtsloser Betonbau ist. Dennoch gefällt mir die Gesamterscheinung des Heiligtums, bezeichnend sind die von Weitem schon sichtbaren, aufsteigenden Wasserdämpfe. Ich halte mich eine geraume Weile am Hindu-Haupttempel auf und lasse die berückende Atmosphäre auf mich einwirken. Nebenan ertönt das gleichförmige Rauschen des Parvati-Rivers, der unmittelbar unter dem Heiligtum vorbeiströmt. Die Steinplatten um die Quellen herum sind knalleheiß, obwohl sie überschattet sind. Das heiße Wasser strömt demnach auch unterirdisch, und für eine schmerzfreie Begehung durch die Besucher wurden Holzstege gelegt. Es überwiegen die einheimischen Besucher, was durchaus daran liegen kann, dass die Hauptsaison für die ausländischen Touristen bereits vorbei ist. Es halten sich gläubige Pilger und fotografierende Touristen in etwa die Waage, auch bei den indischen Besuchern. Viele Saddhus sind zugegen, nehmen rituelle Bäder im großen Badebecken, welches sich im Gebäudeinneren, unmittelbar neben Haupttempel mit seinen Quellen, befindet. Es existiert auch ein separates Frauenbad und eine "Hot Cave", also heiße Höhle, mehr oder weniger eine etwas lauwarm geratene Sauna. In die heißen Quellen beim Tempel haben Saddhus verschiedene Säckchen wie übergroße Teebeutel zum Kochen hineingehängt. In den heiligen Quellen von Manikaran gebrodelt, dürften die darin enthaltenden Kräuter und Wundermittel die höchsten Weihen erhalten. Das Zeug stinkt allerdings wie die Hölle, und auch der von den Quellen herrührende Schwefeldampf tut sein Übriges hinzu. Ich betrete linkerhand des Eingangs einen kleinen Nebentempel, dessen Wände mit bunt bemalten Tüchern aus der hinduistischen Mythologie behängt sind ( Darstellungen von Krishna, Vishnu, Ghanesh, und wie sie alle heißen). Hier drin befinden sich auch kleine Verschläge, die weitgepilgerten Saddhus als Schlafunterkunft dienen.

Das Gurudhwara der Sikhs hat auch von innen besehen riesige Dimensionen. Ich besichtige die Küche, wo bestimmt ein Dutzend Männer und Frauen durchgehend mit dem Zubereiten der Mahlzeiten beschäftigt sind. Riesige Vorräte an Gemüse, Linsen, Reis usw. lagern ebenfalls dort. Die Einladung zum Essen lehne ich diesmal höflich ab, das Wasser für den Chai stammt auch aus den Quellen und wird zudem nicht mehr zusätzlich erhitzt . . .

Eine zweite Brücke führt übrigens vom Heiligtum aus zur anderen Flußseite hinüber, ich finde allerdings den Zugang nicht, was nicht weiter tragisch ist, denn der Gang durch den Basar und ein Kurzbesuch im Rama-Tempel lohnen mehr, als die Wohnhäuser auf der anderen Seite des Parvati. Im Rama-Tempel quatscht mich ein Typ an, der auf den ersten Blick wie ein Saddhu aussieht. Mir wird dennoch sofort klar, dass der wohl eher der örtlichen Haschverkäuferinnung angehört. Gegen 15 Uhr nehme ich einen Bus zurück nach Bhuntar. Erneut erfreue ich mich an der herrlichen Fahrt durch´s zauberhafte Parvati-Tal. Mir fällt auf, daß die Drahtseile zahlreicher Materialseilbahnen zu den auf der gegenüberliegenden Flußseite gelegenen Höfe führen, die oftmals weit oben im Hang verstreut liegen. Durch die isolierte Lage ist deren Bewohnern wohl ein mühevolles Leben in ständigem bergauf-bergab bestimmt, das mit den Seilbahnen mildernde Umstände erhält. Um 17.45 bin ich wieder zurück in Kullu, wo ich den Rest des Abends mit Umherbummeln im Basar und Essen gehen verbringe. In zwei Tagen Aufenthalt in Kullu begegnet mir dort so gut wie kein weiterer Tourist.

Die Strecke zwischen Delhi und Kullu-Tal habe ich bislang stets im Nachtbus zurückgelegt. Irgendwie interessiert mich schon, wie die ganze Strecke wohl bei Tag aussieht. Die Fahrt beginnt bereits um 4 Uhr morgens und ich zahle beim Kassierer 300 Rupien (5-6 Euro), also spottbillig. Ich erhalte dafür ein ganzes Bündel Fahrbillette, denn ich reise mit einem Local-Bus, und ich ahne es bereits, der wird wohl an jeder Straßenecke anhalten. Leider legen wir wegen des frühen Aufbruchs einen guten Teil der Fahrt durch´s Kullu-Tal wiederum in der Dunkelheit zurück. Das dunkle Teilstück der Route kenne ich jedoch bereits, denn in etwa da, wo nun die Sonne aufgeht, ging sie bei der letztjährigen Fahrt mit Haidar unter. Der Bus hält anfangs, wie befürchtet, alle paar Minuten, und wird natürlich auch brechend voll. Ich habe meinen Sitzplatz am Fenster, somit alles o.k.! Im ersten Tageslicht ist es zwar noch reichlich diesig, die Landschaft, durch die wir fahren ist jedoch von besonderem Reiz. Wir befinden uns hier im Mandi-Distrikt. Die Stadt Mandi befindet sich inmitten der grünen Hügellandschaft des Himalaya-Vorgebirges. Es ist eine ewige Kurverei, und ständig kotzt irgendwer aus dem Fenster, bis dann der Bus vor Chandigarh den Himalaya endgültig hinter sich lässt und ins flache Land hinausfährt.

Chandigarh ist die gemeinsame Hauptstadt der Staaten Punjab und Haryana. Der Punjab hat in der unheilvollen Geschichte der beiden Nachbarn Indien und Pakistan eine unrühmliche Rolle gespielt, da sich ein Teil des Landes auf pakistanischer Seite befindet. Der indische Staat Punjab ist die Hochburg der Sikhs, und sie waren es auch, die die Abspaltung zwischen dem von ihnen dominierten Punjab und dem hinduistischen Haryana erwirkt hatten. Entstanden sind hierbei zwei halbautonome Staaten mit der 1966 neugegründeten gemeinsamen Hauptstadt Chandigarh. Bereits während der indisch-pakistanischen Partition im Jahre 1947 erfolgte ein von blutigsten Übergriffen begleiteter Exodus von Moslems einerseits sowie Sikhs und Hindus andererseits.

Eine Reifenpanne muss behoben werden. Wir stehen eine gute Stunde bei der Werkstatt des Vulkanisators, nebenan befindet sich eine größere Raststätte. Und als ob´s zu unserem Kurzweil während der Warterei gedacht wäre, trifft dort gerade eine Sikh-Hochzeitsgesellschaft ein. Gut, bei meinen indischen Mitreisenden wecken die Vorgänge wenig Interesse, ich jedoch, als übrigens einziger Ausländer im Bus, kann meine neugierigen Blicke nicht mehr von dem schrillen Verwandtschaftsmeeting dort drüben ablenken. Diese Leute sind auf jeden Fall wohlhabend, und die Anzahl der anwesenden Gäste dürfte sich gut und gerne auf etwa 50 Personen belaufen. Die Raststätte scheint nur als Treffpunkt zu dienen, wo alle Gäste zusammenkommen, die mit ihren Privatautos wohl aus allen möglichen Richtungen her angereist sind. Es werden Limonadengetränke (Alkohol ist übrigens bei den Sikhs verpönt!) als Erfrischung gereicht, gelacht, geschwatzt, und alle tragen ihre schicksten Kleider und Anzüge. Turban und Vollbart sind wohl die Erkennungsmerkmale der männlichen Sikhs. Das alte Brauchtum schreibt vor, daß ein Sikh sich niemals rasiert oder die Haare schneiden läßt. Sämtliche Männer der älteren Generationen scheinen sich zumindest bezüglich Turban und (allerdings oft gestutztem und eitel gepflegtem!) Bart immer noch an die Tradition zu halten. Bei den Jungen sehe ich nur zwei ohne Turban. Ansonsten tragen sie alle adrette Kleidung, Handys hängen an den Gürteln. Sie würden so problemlos Zutritt zu jeder Schickimicki-Disco erhalten. Aus den Autos der Jungen dröhnt überlaute Rap-Musik indischer Machart. Bei den Damen kann ich keine gravierenden Unterschiede zu den Hindu-Frauen erkennen. Das Brautpaar kommt daher in Prunk und Schmuck, man lässt Juwelen klimpern und will heute die hochwohlgeborene Herkunft bestimmt nicht verleugnen!

Bis Delhi führe ich eine anregende Unterhaltung mit einem jungen Manager, der aus dem Staat Orissa (Nordostindien) stammt, und mit der Familie seines Bruders sowie der Mutter unterwegs ist.

Ankunft gegen 18 Uhr in Delhi am Kashmir Gate. Die den riesigen Busbahnhof umlagernden Rikschahfahrer sind allesamt Halsabschneider und ich ärgere mich maßlos! Nachdem ich das erste Dutzend unverschämter Fahrpreisforderungen in den Wind geschlagen habe und ich mich bereits wutentbrannt auf den Fußweg gemacht habe, kommt doch noch einer mit einem halbwegs akzeptablen Angebot, wenngleich immer noch weit überteuert. Es geht mir nicht darum, dass ich etwa meine Reisekasse schonen muss, ich fühle mich einfach verarscht und denke auch an die vielen netten Menschen, bei denen ich übernachtet oder gegessen habe, und die durch ihren ehrlichen und bescheidenen Charakter stets angemessene, aber nicht überhöhte Preise von mir verlangt haben, und mich ärgert die Aussicht, dass jemand nur deshalb mehr Geld von mir erhalten soll, weil er ein gewiefter Abzocker ist.

Paharganj ist das Mekka der Budgetreisenden, mit all den Vor- und Nachteilen, die sich aus diesem Status ergeben. In der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu findet man im Stadtteil Thamel in etwa das Gleiche, allerdings würde ich Paharganj einen Schuß mehr Authentizität zugestehen. Jedenfalls finden sich hier massenhaft billige Unterkünfte und mehr oder weniger auf Touristen abgestimmte Lokale und Shops. Wenn einem das alles, insbesondere die ständige Anmache durch die verschiedenen dort aktiven Serviceanbieter (Händler, Rikschafahrer, Hotelschlepper usw.), auf die Nerven fällt, kann man sich immer noch problemlos von dort aus auf Sightseeingtour, auf einen Spaziergang durch Old Delhi, oder zum Shoppen nach New Delhi begeben. Der Name "Satya Palace" täuscht über die wahren Verhältnisse hinweg, aber Hotels mit solchen und ähnlichen blumigen Namen gibt es viele hier in Paharganj, ich glaube, das letzte Mal mit Haidar hatten wir auch einen Palast. Jedenfalls sind diese äußerst günstigen Zimmer nur relativ unempfindlichen Personen zu empfehlen, aber wer sich mit einem schlichten Bett mit gelegentlich funktionierender Dusche begnügen und über gewisse Unreinheiten oder Lärmbelästigungen hinwegsehen kann, der ist hier gut aufgehoben. Ich benutze im Zweifelsfall bezüglich der Bettwäsche immer meinen Schlafsack, das ist eben der Vorteil des Trekkingtouristen.

Mein erster Weg am frühen Morgen führt mich direkt in die Ochsenscheiße. Besonders bekömmlich, wenn man nur Sandalen trägt. Da ich mich schon ziemlich weit vom Hotel entfernt habe, bin ich gezwungen, eine gute Zeit mit von warmem Brei eingeschmierten Zehen herumzulaufen, bis ich endlich das Hotel und die rettende Dusche erreiche. Nüchtern betrachtet, ist der Tritt in die Ochsenkacke unter all den weiteren Widerwärtigkeiten, in die man hier sonst noch hineintreten könnte, nicht die schlechteste Alternative.

Heute kann ich der Versuchung eines nichtindischen Frühstücks nicht wiederstehen und bestelle Porridge, Spiegeleier und Kaffee. In Delhi scheinen Hitze und Luftfeuchtigkeit immer präsent, allerdings stelle ich jetzt doch ein wenig Milderung fest im Vergleich zu meiner Ankunft vor drei Wochen. Nach einem kleinen Abstecher nach Old Delhi marschiere ich zu Fuß weiter zum kreisförmig angelegten Connaught Place, dem Zentrum von New Delhi. Zwei Dinge treiben mich hierher: zum einen die Neugierde, da wir uns beim letzten Mal ausschließlich mit Old Delhi sowie den punktuell über das gesamte Stadtgebiet verstreuten Hauptsehenswürdigkeiten beschäftigt haben. Dabei waren wir durch New Delhi nur mal mit der Rikscha hindurchgebraust. Der zweite Grund ist die Suche nach dem Büro, in welchem es möglich sein soll, Tickets für den Flughafenbus zu erwerben. Dieses soll sich auf der Rückseiten des Air-India-Büros befinden. Wie so oft, weiß keiner der von mir Befragten Bescheid, weder der Wachmann, und schon gar nicht der Typ aus dem Reisebüro. Der eine sagt, er kenne dieses Büro nicht, obwohl sein eigener Arbeitsplatz sich im selben Gebäude befindet, der andere behauptet, das Büro würde nicht mehr existieren. Wer sucht, der findet. Und so werde ich tatsächlich fündig, und zwar in einem unscheinbaren Eingang auf der Gebäuderückseite. Dort hat ein älterer Herr einen Stuhl und einen Schreibtisch in einem düsteren Treppenhaus stehen. Das Gebäudeinnere wird hier gerade einer Renovierung unterzogen, und der Mann hat sein Büro somit inmitten einer Baustelle. Bei ihm kaufe ich das Ticket und er nennt mir noch die Uhrzeit, zu welcher ich mich am späten Nachmittag hier wieder einfinden soll. Das "Büro" hat tatsächlich nicht durchgehend geöffnet, der Mann ist nur zu bestimmten Zeiten hier anzutreffen, weshalb man vielleicht ein bißchen Geduld aufbringen, und sich rechtzeitig um das Ticket bemühen sollte. Der Connaught Place und seine noblen Geschäfte sind mitnichten mit der Basaratmosphäre Old Delhis zu vergleichen. Wer in Indien gute Bücher kaufen will, der findet in den dortigen Buchhandlungen die ergiebigste Auswahl der ganzen Stadt.

Ich verlasse Delhi heute nur ungern. Wenn ich zurückdenke an den Tag meiner Ankunft vor drei Wochen, als ich gottfroh war, endlich aus diesem überkochenden Hexenkessel herauszukommen, und jetzt könnte ich noch stundenlang durch die Stadt streifen. Leider ereilt mich das Pech am Flughafen. Der im Reiseführer aufgeführte Retiring Room existiert nicht mehr. Dorthin wollte ich mich verkrümeln und bis zu meinem Abflug in den frühen Morgenstunden etwas schlafen. Jetzt muss ich mit dem Wartesaal vorlieb nehmen, für den ich obendrein noch Eintritt zahlen muss. Kaum Platz genommen, marschiert Einer mit einer Giftspritze durch und desinfiziert den ganzen Saal. Sämtlich Anwesenden bekommen Hustenanfälle, ich verdrücke mich ins benachbarte Flughafenrestaurant. Hier ist zwar alles dreimal so teuer, als draußen in der Stadt, aber für uns Europäer immer noch sehr moderat. Das Restaurant gibt sich in einem leicht gehobenen Ambiente, hat sich aber dennoch sein indisches Flair bewahrt. Auch wenig passend gekleidete Personen, wie ich, werden von den Kellnern zuvorkommend bedient und die Küche ist gut. Die anwesenden Gäste stammen querbeet aus verschiedensten Nationen und sozialer Herkunft. Außer mir sind noch mehr Rucksacktouristen anwesend, die ganz offenbar alle hier ihre restlichen Rupien loswerden wollen. Um zwei Uhr Nachts gehe ich schließlich zum Einchecken in die Abflughalle. Ankunft in Stuttgart am frühen Abend, heim mit dem Zug und am nächsten Morgen zur Arbeit. Auch das ist Kulturschock . . .

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