Sonntag, 17. Dezember 2006

Im Schatten des Himalaya

Quer durch Zanskar von Lamayuru nach Darsha (14.08. – 05.09.2005)

Jammu and Kashmir – der nordwestlichste Bundesstaat Indiens genießt beileibe nicht den Ruf einer Oase des Friedens.Besonders den Trekkingtouristen bleiben die Vorkommnisse vor wenigen Jahren in abschreckender Erinnerung, als eine mehrköpfige Gruppe, unter ihnen der Deutsche Dirk Hasert, von moslemischen Extremisten entführt wurde. Ein norwegischer Backpacker wurde damals geköpft, vom Rest der Gruppe fehlt bis heute jede Spur, vermutlich wiederfuhr ihnen das selbe Schicksal. Immer wieder wird das Land von heimtückischen Bombenanschlägen und grausamen Gemetzeln heimgesucht. Das Auswärtige Amt läßt in seiner Reisewarnung bezüglich dieser Region keine Zweifel an der immer noch anhaltenden prekären Lage dort. Eine meiner prinzipiellen Maßstäbe sind auch die Aussagen des deutschen Außenministeriums, und wenn da zu lesen ist "von einem Aufenthalt wird dringend abgeraten", dann hat das für mich Gültigkeit. Daß wir mit unserem Reiseziel Ladakh sehr nahe an Kaschmir sein werden, war mir zwar bewußt, dennoch erschrak ich doch etwas, als ich feststellen mußte, daß Ladakh tatsächlich ein Landesteil dieses verrufenen Bundesstaates ist. Weitere Nachforschungen beruhigten jedoch mein Gewissen, denn Ladakh ist von der Warnung nicht betroffen. Die Ladakhis nämlich sind, anders als die Bewohner der westlichen Landesteile Jammu und Kaschmir, nicht etwa Muslime, sondern Buddhisten, ihre Kultur und ihre Sprache sind tibetisch verwurzelt. Sicher ist Ladakh nicht mehr so homogen wie einst. Zahlreiche Kaschmiri, Balti oder andere benachbarte muslimische Bevölkerungsgruppen haben sich vor allem in der Hauptstadt Leh als überwiegend friedliche Händler niedergelassen. Die Kaschmiri von Leh sind ihrer Heimat entflohen, weil sie dort keine Zukunft als Händler mehr sehen, und/oder weil sie von den ständigen Konflikten in ihrer Heimat die Schnautze voll haben. Man trifft sie hier wie auch sonst überall in touristischen Zentren Indiens meist als Teppich- und Textilienhändler an und ich habe sie als geschäftstüchtigen und liebenswürdigen Menschenschlag kennengelernt. Durch die ungewöhnlich hohe Präsenz von Militär in der Region sind natürlich auch zahlreiche Soldaten stationiert, die aus dem hinduistisch geprägten Flachland stammen, nicht wenige von ihnen sind Strafversetzte.

Bis zum Jahre 1974 war Ladakh Sperrgebiet und wurde erst danach für Touristen zugänglich gemacht. Gewisse Regionen unterliegen heute noch besonderen Einreisebestimmungen (die sogenannte "Innerline-Permit"), oder wurden erst vor nicht allzu langer Zeit zum Bereisen freigegeben. So ist der Zutritt ins sich nordöstlich von Leh und somit nahe der tibetischen ergo chinesischen Grenze befindliche Nubratal erst seit Anfang der 90-er Jahre für ausländische Besucher gestattet. Die Tatsache, daß Ladakh direkt an den alten Erzfeind Pakistan und an den ebenfalls mit argem Mißtrauen beäugten China grenzt, schließt leider nicht aus, daß im Falle einer Zuspitzung der politischen Lage, was sich gelegentlich sehr rasch entwickeln kann, die geplante Trekkingtour eventuell ins Wasser fällt und man dann mit einkalkulieren muß, sich kurzfristig ein Alternativziel in anderen Landesteilen Indiens oder im benachbarten Nepal zu suchen, sollte das Flugticket bereits erworben sein.

Trotz dieser sich vielleicht etwas abschreckend anhörenden einleitenden Worte ist eine Reise nach Ladakh nicht etwa risikoreicher als die zu anderen bekannten Trekkingzielen in Asien, Afrika oder Lateinamerika. Die Ladakhis sind außergewöhnlich freundliche, friedliebende und umgängliche Leute, insbesondere in den ländlichen Zonen, in denen man sich beim Trekking fast ausschließlich aufhält, braucht man bezüglich krimineller Übergriffe keine Bedenken zu haben.

Westtibet, Kleintibet – die gängigen Beinamen für Ladakh weisen bereits auf die ethnisch – kulturelle Zugehörigkeit des Landes hin. Einen Teil von Ladakh hat sich übrigens China einverleibt, Grund für Grenzstreitigkeiten zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Ländern der Erde. Während sich in Tibet, das ja bekanntlich seit dem Jahr 1950 komplett durch China annektiert wurde, viele schlimme Dinge zugetragen haben, angefangen vom Genozid unmittelbar nach Einmarsch von Mao Tse Tungs Truppen, bis hin zum Kulturmord durch Zerstörung von Tempeln, Verbot der Ausübung von Bräuchen und Anwendung der tibetischen Sprache, Unterwanderung durch angesiedelte Chinesen, blieb das indisch regierte Ladakh unbehelligt, oder – wenn man so will – vernachlässigt, so daß ich die Aussage wage: Ladakh ist wohl das echtere Tibet geblieben. Genau gesehen sind die Ladakhis eine Untergruppe der Tibeter. Ihre Sprache Ladakhi unterscheidet sich von dem in Lhasa gesprochenen Idiom in erster Linie dadurch, daß das gesprochene Ladakhi der tibetischen Schriftsprache näher kommt, als die im chinesisch okkupierten Tibet verwendete Sprachform.

Der Hauptkamm des höchsten Gebirges der Welt, des Himalaya, zieht eine krasse Wetterscheide zwischen den nördlich, und sozusagen in seinem Schatten gelegenen Gebieten, wie etwa Ladakh, das tibetische Hochland oder Mustang, und den südlichen Gebirgsteilen. Letztere erhalten die volle Nässe des Monsun, weshalb vor allem die südlich vorgelagerten Vorberge mit üppigstem Grün subtropischer Regenwälder überzogen sind. Fauna und Flora, sowie Vergletscherung und Schneemengen sind auf dieser Seite des Himalaya ungleich umfangreicher, als die im kargen und staubtrockenen Norden.Die Gebiete hinter dem Himalaya nämlich sind durch diese Wetterscheide dermaßen abgeschirmt, daß dort so gut wie kein Niederschlag fällt, und das Land somit zu einer Gebirgswüste ausgedörrt ist, die manchmal gar einer Mondlandschaft gleicht. Nichtsdestotrotz bieten sich gerade in diesem offensichtlich so trostlosen Norden ungemein faszinierende und unvergleichliche Landschaftsbilder und -eindrücke, die wohl jeden echten Naturliebhaber in ihren Bann ziehen dürften.

Ladakh bedeutet "Land der hohen Pässe", die Region zählt zu den höchstgelegenen von Menschen besiedelten Gebieten auf diesem Planeten. Es gibt dort wohl keinen geographischen Punkt mehr, der unter 3000 Metern Seehöhe liegt. Die Gipfel lassen sich zwar nicht mit den Höchsten im Himalaya messen, dennoch erreichen sie Höhen bis über 7000 Metern. Es befindet sich dort eine enorme Anzahl an namenlosen und noch unbestiegenen Bergen.Die Gesamtfläche des Landes umfaßt 97.872 qkm, mit einer Einwohnerzahl von vielleicht 100.000 Menschen. Wie gesagt, sind die Bewohner tibetische Buddhisten, allerdings gehört das Gebiet westlich von Lamayuru und Padum bis nach Kargil und dem Suru – Tal ebenfalls zu Ladakh, wenngleich die dortige Bevölkerung muslimisch ist. Jener Landesteil macht in puncto Sicherheit die Ausnahme, eine Reise dorthin wird von den deutschen Behörden abempfohlen, obwohl wir auf unserer Tour etliche Traveller kennenlernten, die in diesen Gebieten, einschließlich in Jammu und Kaschmir, unterwegs waren.

Ladakh unterteilt sich in fünf Regionen:

Das Kernland selbst mit dem Industal und der Hauptstadt Leh, im Norden durch die Ladakh – Range abgegrenzt, im Süden durch die Zanskar – Mountains abgeschlossen.

Von Leh aus ist die Nubra - Region über den Khardung La (5600 m) erreichbar. Dies ist der höchste befahrbare Paß der Welt. Das Nubra – Valley schmiegt sich nordseitig bereits an das Karakorum. Es ist für ladakhische Verhältnisse dicht besiedelt, etwas fruchtbarer und nicht gar so hoch gelegen, wie die übrigen Landesteile.

Rupshu ist die dritte Region, die sich südöstlich von Leh erstreckt. Durch sie führt die einzige Straßenverbindung von Leh hinüber ins Kullu – Tal, welches sich jenseits des Hauptkammes, auf der Regenseite des Himalaya, befindet. Mit einer durchschnittlichen Talhöhe zwischen 4000 und 5000 Metern ist dies ein sehr hoch gelegenes Gebiet.

Purig oder Unter (Lower-) Ladakh ist die bereits oben erwähnte, muslimisch dominierte Region im äußersten Westen mit dem Hauptort Kargil. Es ist sozusagen die Pufferzone zu Kaschmir. Hier wird Urdu, die Sprache Kaschmirs und Pakistans, gesprochen, dennoch sind die Bewohner nicht nur Kaschmiris. Die den Hunza des Karakorum verwandten Dardes, auch Dogpas genannt, eine indogermanische Volksgruppe, ist hier ebenfalls präsent.

Eine durchschnittliche Höhe von 4000 Metern weist das Zanskar – Tal auf. Das ehemalige Königreich fügt sich zwischen Indus – Tal im Norden, die Himalaya- Hauptkette im Süden, sowie die Zanskar – Range im Südwesten. Zanskar ist extrem winterkalt (Temperaturen bis minus 40 Grad), und den größten Teil des Jahres über aufgrund der lange Zeit unter Schnee bleibenden Zugangspässe völlig isoliert. Die vollständige Durchquerung dieser interessanten und faszinierenden Region soll Ziel unserer Unternehmung sein.


*


Gegen 4 Uhr morgens landen wir in Delhi. Unser geplanter Inlandsflug nach Leh geht erst morgen früh, bereits bei unserer Buchung in Deutschland hatte es geheißen, die Flüge dorthin an unserem Ankunftstag seien bereits voll. Wir wollen dennoch nichts unversucht lassen, und lassen uns mit einem landestypischen Ambassador - Taxi zum Inlandsflughafen kutschieren, vielleicht ist dort ja noch ein Standby nach Leh möglich. Am Ticketschalter herrscht heilloses Chaos, denn es ist eine nicht unerhebliche Anzahl von Passagieren auf dieselbe Idee gekommen, zudem erfahren wir, daß zur Zeit offenbar was faul ist. Eine Österreicherin hatte gestern schon im Flugzeug über Leh gekreist, und als sich die Maschine bereits im Landeanflug befand, startete der Flieger abrupt wieder durch und war nach Delhi zurückgekehrt. Den Passagieren wurde erklärt, das Wetter sei schuld gewesen (windstill, strahlend blauer Himmel!), doch es kursieren Gerüchte, daß die Fluggesellschaft angeblich im Streit mit dem dortigen Militär liegt, weshalb Letztere die Landeerlaubnis verweigerten, und das nun zum wiederholten Male... welcome to India!

Nun, wir sind also vorgewarnt und lassen uns noch wenigstens das OK für den nächsten Morgen geben, bevor wir uns per Taxi zum Main Bazar schippern lassen. Wir entsteigen dem alten Ambassador inmitten einer vor Leben und Chaos überkochenden Gasse, um uns zu Fuß auf Quartiersuche zu machen. Obwohl es noch früh am Morgen ist, erdrückt uns bereits eine schweißtreibende Hitze. Billige Travellerabsteigen gibt es hier im Main Bazar zuhauf, und wenn man nicht allzu verwöhnt ist, was man auf einer Indien – Reise generell nicht sein sollte, findet man hier auch rasch eine schlichte, landestypische Unterkunft. Wir jedenfalls kommen im Hotel Vivek unter. Nach dem Frühstück gegen 9 Uhr begeben wir uns hinaus auf die Straße zu einem ersten Erkundungsgang. Bereits die Anfahrt im Taxi hatte in mir schon Erinnerungen an Kathmandu geweckt, die Bummelei durch die vollgestopften, lärmenden Gassen des Main Bazar bestätigt diese Intuition. Wer eine solche Stadt selbst noch nie erlebt hat, wird es sich nur schwerlich vorstellen können, wie sich auf engstem Raum Menschenmassen durch die Straßen wälzen, unentwegt klingelnde Fahrradrikaschas, knatternde Dreiräder, wild hupende Autos, Roller und Motorräder einem den letzten Nerv rauben, holzräderne Ochsengespanne mit wild brüllenden und peitschenden Kutschern sich gleichwohl ihren Weg durch´s Gewühle bahnen, und zwischen Alledem freilaufende Kühe mitten in den unvorstellbar verschmutzte Straßenzügen vor sich hintrotten oder einfach nur mitten drin als lebendige Hindernisse verweilen. Bei diesen überfallartigen Eindrücken meldet sich wohl bei einem Großteil der dem Flugzeug frisch entstiegenen Reisenden, insbesondere bei den Neulingen, der Kulturschock. Wir drei nehmen die Dinge eher positiv auf, Alfred ist völlig hingerissen von dem exotischen Treiben, während ich denke "endlich wieder Asien", und auch Haydar scheint mehr fasziniert als erschreckt ob dieser uns so fremden Welt. Doch zu den Sinneseindrücken gehören auch die Gerüche: eine der negativsten Begleiterscheinungen des schrecklich lärmenden Verkehrs ist sicher die schier unerträgliche Luftverpestung durch die Abgase der unzählbaren Motorfahrzeuge. Zumindest für mich verlockend sind die Gerüche, die aus den unzähligen Garküchen auf die Straße hinausströmen. In wenigen Ländern findet man eine solch große Anzahl von Garküchen und Minirestaurants (indisch: Dhabas oder Bhojanalayas), die allerdings vorerst noch das Mißtrauen meiner Reisegefährten erwecken. Ich habe diese Lokale bereits auf meiner Nepalreise kennengelernt, und wenn man erst mal die Vorurteile bezüglich möglicher Durchfallerkrankungen abgelegt hat, wird der Gast die Schmackhaftigkeit der hier zubereiteten Speisen gleichwohl wie deren sensationell billigen Preise schätzen lernen. So kitzeln immer wieder exotische Aromen aus dampfenden Töpfen unsere Nasen, dazu Geruchswolken von gebackenen Kringeln aus den vielen Straßenbackstuben, Düfte von Räucherkerzen oder Seife, allerdings auch hin und wieder unterbrochen von herbem Kloakengestank und Modergerüchen von allem erdenklichen Unrat.

Dann natürlich die Menschen. Wir scheinen geschrumpft und in einen Ameinsenhaufen geraten zu sein, so eng und unübersichtlich ist das Gewühle und Gedränge im Main Bazar. Äußerst vielfältig ist auch das Äußere der Passanten. Von Turbanträgern mit langen Bärten, gut gekleideten, bebrillten Geschäftsmännern mit hinduistischen roten Punkten auf der Stirn, Frauen mit Schleiern, die Ohren und Nasenflügel mit opulentem Goldschmuck und Edelsteinen behängt, in feinste Seide gekleidet, oder aber nur in verwahrloste Lumpen gewickelt, höchstkastige Brahmanen in tadellos weißen Anzügen mit typisch indischen Stehkrägen, die nur mit schlichten Tüchern umhüllten, spindeldürren und ausgemergelten Körper weltentsagter Saddhus, bis hin zu ärmsten, oft schrecklich verkrüppelten, oder von wüsten Auschlägen oder Abszessen entstellten Bettlern. Hindus in der Überzahl, aber auch Moslems und Sikhs strömen in unterschiedlichsten Erscheinungsformen durch´s Stadtbild. Mir fällt auf, daß viele Inder ihr Haar mit Hennah gefärbt haben. Viele alltägliche Dinge in Indien wurden seit Ende der 60-er insbesondere von der Hippie - Bewegung als Mode nach Europa hereingetragen, beispielsweise auch Nasenringe, und hier, in den Straßen Delhi´s, stößt man auf die Originale. Auch Touristen sind unterwegs, manche der dicht an dicht sich aneinanderreihenden Minigeschäfte wenden sich mit ihrem Angebot ausschließlich an diese Klientel. Dann hängen Handtaschen, Tücher, Lederwaren und weiß sonst noch was über den Türrahmen in der windstillen Hitze der Gassen. Der größte Teil der Stores wird jedoch durch Krämerläden aller möglichen Genres, sowie durch Reparaturwerkstädten, Mangelstuben, Handwerksateliers, Haushaltswaren und vieles andere gestellt.

Alfred´s Uhr geht nicht mehr richtig, weshalb er sich entschießt, einen Uhrmacher aufzusuchen, welcher sich sogleich ans Werk macht. Die für einen Uhrmacher typischen Präzisionswerkzeuge kramt er aus einer alten Holzschublade hervor, in der sich auch tausende von filigranen Schräublein und sonstige Ersatzteile befinden. Anfangs beäugen wir die Sache mit einem gewissen Gefühl des Unbehagens, die Uhr ist nämlich sauteuer. Der Uhrmacher entfernt ein winziges Steinchen, ersetzt es durch ein anderes und nach einer halben Stunde Miniaturarbeit läuft die Uhr wieder einwandfrei, und das für ein für uns Europäer eigentlich lächerlich geringes Handgeld. Interessant fand ich auch, daß um den Uhrmacher zwei junge Burschen herumstanden, die seine Arbeit ganz genau beobachteten. So wird man was in Indien, man schaut die Handwerkskünste einer wohlwollenden Person durch reines Beobachten ab und probiert es eines Tages selbst. Nichts mit Kursen und Zertifikat, sondern eine praxisbezogene "Schau hin und mach´ es dann selbst –" Gesellschaft.

Nach einem wohlschmeckenden Mittagessen ziehen wir uns zu einer kurzen Siesta ins Hotel zurück. Jetlag und Schlafmangel werden deswegen noch lange nicht ausgeglichen, doch nach Stunden im lärmenden und hektischen Treiben der Stadt tut die kleine Pause gut. Nachmittags ist Sightseeing angesagt. Eigentlich hatte ich das Rote Fort und Old Delhi im Auge, aber Alfred war in seinem Reiseführer noch auf weitere interessante Sehenswürdigkeiten gestoßen. Wir beschließen also, die nahe gelegenen Ziele Old Delhi, Rotes Fort und Jami Masjid – Moschee auf unsere Rückkehr in etwa drei Wochen zu verschieben, und heute die weiter entfernten Monumente zu inspizieren. Mit dem Fahrer einer Dreiradrikscha vereinbaren wir einen Kontrakt, der die Besichtigung von mehreren bedeutenden Sehenswürdigkeiten im relativ weit entfernten Süden der Stadt vorsieht.

Zunächst geht´s zum Humayun – Mausoleum. Dieser imposante Baukomplex erstreckt sich inmitten einer grünen und ruhespendenden Parkanlage, gesäumt von schattigen Bäumen und Palmen und von steinernen Wasserrinnen- und becken durchzogen. Das Mausoleum entstammt der Zeit der islamischen Moguln – Herrschaft und war deren erste Grabanlage in Delhi. Wie beim Roten Fort, wurde auch hier roter Sandstein als Bausubstanz verwendet. Das Hauptmonument steht im Zentrum der Anlage, vom Eingangstor aus über eine schnurgerade Allee durch schöne Gartenanlagen erreichbar. Besonders eindrucksvoll ist der riesige Kuppelbau, unter der die Grabmale zweier Mogulkaiser ruhen.Das Monument wird durch etliche, elegant geschwungene Arkden ausgeschmückt. Die anderen sich auf dem Gelände verteilenden Gräber entstammen verschiedener Epochen, da nach dem Begräbnis von Humayun dort nach und nach weitere Bestattungen vorgenommen wurden. Humayun war übrigens der zweite Mogulherrscher, nach seinem Tod wurde 1564 mit der Errichtung der Anlage begonnen. Auf dem Gelände finden sich noch zwei weitere überkuppelte Mausoleen, die Nila Gumbad ("blaue Kuppel"), deren Bestimmung umstritten ist, und eine mit Koransuren verzierte, in der die letzte Ruhestätte von Babur, des Vaters von Humayun, und somit des ersten Mogulkaisers, vermutet wird. Nebenbei bemerkt, diente das Humayun – Mausoleum als Vorbild für das weltberühmte Taj Mahal.

Unser Taxifahrer brennt darauf, uns vor dem Besuch des von uns ausgewählten Qubt Minar noch zu einem weiteren Tempel zu bringen, der für uns doch einiges an Überraschungen bieten soll. Aus einer riesigen Grünanlage ragt ein enormer, in nüchterner, moderner Architektur konstruierter Bau gen Himmel, in blühendem Weiß erstrahlend. Eigentlich ist uns nicht nach Besichtigung von derartigen Neubauten, und den Erkärungen des Taxifahrers, der nur mäßig englisch, noch dazu mit schwer verständlichem indischem Akzent spricht, können wir zunächst auch nichts abgewinnen. Dennoch begeben wir uns zum Eingang, wo sich tatsächlich hunderte von Menschen in einer langsam sich vorwärtsbewegenden Schlange auf den Tempel zubewegen. Überall sind Wächter anwesend, die aufpassen, daß kein zu großes Gedränge entsteht, der Menschenfluß regelmäßig läuft, und keiner etwa aus dem vorgeschriebenen Weg ausbricht. Irgenwann werden wir dann gebeten, die Schuhe auszuziehen, und diese durch die Fenster extra dafür vorgesehener Keller durchzureichen, wo wir auch eine Rückgabemarke erhalten. Das Chaos ist hier allerdings perfekt, und, ehrlich gesagt, fürchte ich um die ordnungsgemäße Rückerhaltung unserer Schuhe. Von nun an ist der Weg mit Teppichen ausgelegt, damit sich die Pilger nicht etwa die Füße auf dem erhitzten Steinboden verbrennen. Die Prozession zieht sich träge dahin, aber wir haben ja Zeit, zudem gibt es ab hier ohnehin praktisch kein Zurück mehr. Schließlich gelangen wir ins Tempelinnere. Es handelt es sich eher um einen Ashram, also um eine religiöse Lehrstätte. Der Saal ist riesig, die Kuppel über unseren Köpfen gigantisch. Der Ashram wirkt aber weder exotisch noch ist er mit irgedwelchen Figuren aus der hinduistischen Götterwelt ausgestattet, sondern er erscheint kahl und nüchtern, wie ein überdimensionaler Königreichssaal der Zeugen Jehovas. Der Saal ist bis hinten hin bestuhlt, und wir nehmen Platz. Eine Europäerin oder Amerikanerin, die in traditioneller indischer Frauentracht gekleidet ist, trägt gerade ein Gebet auf englisch vor. Danach setzt ein eigenartig verklärender Gesang ein, der in der großartigen Akkustik des riesigen Ashrams besonders eindrucksvoll zur Geltung kommt. Während des Gebets hatten Haydar und ich einen Fluchtversuch unternommen (Alfred war bereits vor der Schuhabgabe umgekehrt), wir wurden aber höflich von einer Tempelwächterin gebeten, uns ruhig zu verhalten und das Ende der Zeremonie abzuwarten. Das Einsetzen des außergewöhnlichen Gesanges hat aber nun besonders Haydar völlig in seinen Bann gezogen, so daß er nach Öffnen der verglasten Tempeltüren jetzt plötzlich nur schweren Herzens den Ort verläßt.

Bei der Schuhausgabe scheinen meine Befürchtungen wahr zu werden. Ein Tumult und wildes Geschrei, jeder hält einfach seinen Arm mit der Rückgabemarke durch´s offene Fenster, und wer durch Schreien und Gestikulieren am meisten auf sich aufmerksam macht, der erhält auch als Erster seine Schuhe wieder zurück. Als Ausländer falle ich jedoch schon optisch auf, und werde prompt bedient, ohne herumschreien zu müssen.Und wir erhalten auch die richtigen Schuhe auf Anhieb wieder zurück. Das erste Mißtrauen gegenüber dem indischen Chaos schwindet. Wir werden uns im Laufe unserer Reise noch oft davon überzeugen können, daß die Dinge hier meist anders funktionieren - oft heillos chaotisch, aber sie funktionieren! Wie wir später erfahren, haben wir das Heiligtum der Baha´i – Religion betreten. Der an die berühmte Oper im australischen Sydney erinnernde Bau setzt sich demnach aus 27 überdimensionalen Blütenblättern aus Marmor zusammen, welche die Form einer aufgehenden Lotusblüte wiedergeben sollen. Die Baha´i – Religion ist eine sehr meditativ ausgerichtete Glaubensrichtung, ihre heiligen Schriften, die sich übrigens in den Nischen des Tempels befinden sollen, wollen zum Nachdenken anregen. Die Kuppelhöhe im Inneren des Ashram beträgt übrigens satte 34 Meter. Jedenfalls, nach unserer anfänglichen Skepsis verlassen wir das Gelände mit interessanten Eindrücken und sind froh, nicht voreilig schon umgekehrt zu sein.

Nach einer kurzen Fahrt mit dem auf uns wartenden Dreirad – Taxi gelangen wir zum Qubt Minar. Bei diesem zum Weltkulturerbe erklärten, 70 Meter hohen Minarett und den umgebenden Anlagen handelt es sich um die ersten islamischen Bauwerke Delhis. 1199 wurde das Minarett als "Siegesturm" durch den Herrscher Qud du-din Aibak errichtet. Es sollte den Beginn der islamischen Vorherrschaft über Delhi und weite Teile Indiens signalisieren. Quwwat-ul-Islam - die Macht des Islam - so lautet der Name von Indiens erster Moschee, deren Ruinen unmittelbar an das Minarett angrenzen. Auf dem weitläufigen Komplex befinden sich desweiteren das Ala-i-Darwaza, ein mit Marmorintarsien ausgeschmücktes Tor, neben dem sich ein weiterer Turm, das Alai Minar befindet. Das Grab von Iltutmish aus dem Jahre 1235 war das erste Grabmal auf indischem Boden. Zur Erinnerung: die Hindus verbrennen ihre Toten. Ein reich mit Ornamenten, Arabesken und Inschriften verzierter Innenraum war einst von einer Kuppel überdacht, von denen heutzutage nur noch im Gelände verteilte Trümmer übriggeblieben sind.

Zum Schluß lassen wir uns abermals von einem Vorschlag unseres Rikschafahrers leiten. Er bringt uns zu einer modernen Hindu – Tempelanlage, die sich ebenfalls im Süden der Stadt, unweit des Qubt Minar, befindet. Obgleich modern, ist die weitläufige Anlage wunderschön. Viel Marmor, eindrucksvolle Götterfiguren und vergoldete Kuppeln vermitteln eine Atmosphäre von Tausendundeine Nacht. Leider geht mir bei dieser Gelegenheit der Film aus, so daß ich den größten Teil der Eindrücke im Kopf und in der Seele behalten werden muß. Neben dem eigentlichen Tempel befindet sich noch ein zweiter Eingang, wo sich weitere eindrucksvolle heilige Bauten befinden. Im Gegensatz zum Humayun Mausoleum oder dem Qubt – Minar – Komlex handelt es sich hier, wie auch selbstverständlich beim Baha´i – Tempel, um ein lebendiges Heiligtum, wo unzählige Gläubige ihrer Religion huldigen. Entsprechende Rücksicht, was Verhalten und Fotografieren anbelangt, ist hier obligatorisch.

Unser Rikschafahrer würde uns noch gerne das Regierungsviertel zeigen und hat zudem noch diverse andere Ideen parat, doch für heute reicht es uns. Durch Jetlag und Schlafmangel gebeutelt, sind wir völlig k.o. und wollen zurückkehren. Über eine Stunde rattern wir mit unserem klapprigen Gefährt durch das umtriebige Delhi. Ich sitze in der Mitte, und habe darauf zu achten, daß keiner meiner immer wieder auf der Fahrt einnickenden Kameraden versehentlich aus der Rikscha kippt.

Nach einer heißen und stickigen Nacht ist um 3.45 Uhr Wecken. Haydar verträgt die Zugluft nicht, deshalb blieben Van und Klimaanlage ausgeschaltet, ich hatte daher ohne Bettlaken mehr vor mich hingedöst, als geschlafen. Wir lassen uns per Taxi durch´s noch dunkle und nun wie ausgestorben wirkende Delhi zum Inlandsflughafen kutschieren. Auf der Straße schlafen unzählige Menschen. Viele übernachten auf Liegen, vermutlich sind es die Eigner der winzigen, engen Läden, die die Nächte vor ihren Verkaufsstätten verbringen, es liegen aber auch viele zerlumpte Körper auf den schmutzigen Trottoirs, weder Matratze noch Decke machen deren Schlaf halbbwegs behaglich. Durch unser frühes Erscheinen gelingt es uns, die Maschine um 5.40 Uhr als Standby – Fluggäste zu ergattern, statt auf die für uns reguläre um 6.30 Uhr warten zu müssen. Da wir das Chaos am Vortag ja mitbekommen hatten, lag uns daran, die erste sich uns bietende Möglichkeit am Schopfe zu packen, um nach Leh zu kommen.

Mit unserer Ankunft in Leh haben wir uns schlagartig auf über 3500 Meter Seehöhe hinaufkatapultiert. Es gibt nicht wenige Touristen, die bei solcher Gelegenheit mit Höhenkrankheitssymptomen erst mal aus den Latschen kippen. Nach dem stickigen, überlauten und verpesteten Delhi fallen nun zwei Dinge besonders angenehm auf: die saubere, klare Luft und die erholsame Ruhe des Städtchens Leh, mit einem nur mäßigen Verkehrsaufkommen und ohne Gedränge auf den Straßen. Besonders jetzt, am frühen Morgen, ist die trockene Luft noch angenehm kühl, klare Wasserläufe plätschern und gluggern entlang der ruhigen Nebengassen.Im etwas versteckten Hotel "Moonflower" finden wir ein angenehmes Quartier. Der Besitzer trägt einen langen Vollbart, sein Kopf ist von einem weißen Turban umwickelt. Er ist also kein Ladakhi, sondern dürfte wohl aus den nahen islamischen Gegenden, wie etwa Baltistan stammen. Er ist zwar ein junger Kerl, doch seine außergewöhnlich ruhige Art, eine ausgesuchte Höflichkeit, und eine stark vergeistigt wirkende Gesamterscheinung spiegeln eher das Persönlichkeitsbild eines weisen, alten Mannes wieder. Das Hotel ist übrigens neu, sauber und recht gut im Schuß.

Seit der Öffnung für den Tourismus im Jahre 1974 soll Leh um das Doppelte angewachsen sein. Durch den Tourismus hat sich auch die Infrastruktur des ehemaligen Karawanenstützpunktes verändert. Zahlreiche, oft auf die fremden Besucher zugeschnittene Restaurants, die vielen Guesthouses und einschneidende Veränderungen des Warenangebotes sind die besonders ersichtlichen Veränderungen der Zeit. Nun, der Buddhismus und der Hinduismus sind Glaubensrichtungen in denen Veränderungen, Zerstörungen und Neuanfänge als wesentliche philosophische Elemente eine Rolle spielen, und man sollte vielleicht nicht weiter den Zeiten kurz nach der Öffnung nachtrauern, als in Leh alles noch beim "Alten" war. Zumal vor jenen Tagen auch kein Stillstand geherrscht hatte. Beispielsweise war Leh zu Zeiten der chinesischen Grenzschließung ab den 50er Jahren völlig in Vergessenheit geraten und in die wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit versunken. In Zeiten der indisch – pakistanischen Grenzkriegereien wurde Leh dann als Garnisonsstadt wiederaufgewertet, ein Faktor, der bis heute noch Bestand hat, da ein endgültiges Ende des Kaschmir – Konfliktes leider immer noch in weite Ferne gerückt scheint. Bezüglich dieser Auseinandersetzungen gilt es noch zu erwähnen, daß hier einer der gefährlichsten Konfliktherde der Welt am Schwelen ist, da sowohl Indien als auch Pakistan über die Atombombe verfügen.

Leh wurde im 17. Jahrhundert Hauptstadt von Ladakh, und das aus marktstrategischen Gründen: die Ortschaft lag günstig am Korridor zwischen der Paßstraße des Khardung La und dem Karakorum nach China.Neben dem dominierenden Buddhismus gibt es auch Muslime in Leh.Viele kaschmirische Händler haben sich hier niedergelassen, da in ihrer unruhigen Heimat kaum noch zahlungskräftige und kaufwillige Touristen verkehren. Im sogenannten Old Quarter, der Altstadt von Leh, leben aber auch noch seit Generationen die Nachkommen sunnitischer Händler, die einst Leh zur Handelsblüte verholfen haben. Während der Old Bazar der historische Handelsplatz von Leh ist, wo zwischenzeitlich vieles auf die Bedürfnisse der Touristen abgestimmt ist, so thront das monumentale Wahrzeichen hoch über der Stadt auf einem ausgedörrten, felsigen Hügel. Es sind die teilweise verfallenen Mauern des einstigen Palastes und das noch weiter oben wie ein Adlernest über der Stadt wachende Gompa (Gompa = buddhistisches Kloster) Namgyal Tsemo. Die Klosteranlage verteilt sich über zwei durch einen Felsgrat verbundene Hügel, das gesamte Gelände und die umliegenden Felsen sind von Gebetsfahnen behängt. Diese haben den Zweck, daß der sie umwehende Wind ihre Gebete in die Welt hinausträgt.Vor Inangriffnahme größerer Besichtigungsunternehmungen sorgen wir erst einmal für´s leibliche Wohl. Interessant ist der kaschmirische Tee, den ich bestellt habe. Unter anderem mache ich Zimtgeschmack aus, auch Nüsse schwimmen im Getränk.

Beim Aufstieg zu Palast und Gompa auferlegen wir uns selbst ein besonders langsames Gehtempo, da wir uns schließlich am Beginn der Akklimatisierungsphase befinden. Im Basar haben wir Alfred verloren, und da er nach längerem Warten nicht mehr auftaucht, gehen wir davon aus, daß er bereits selbständig zum Palast und zum Gompa emporgestiegen ist. Wir kommen zunächst durch eine sehr interessante Gasse, die wir selbst "Baker – street" taufen. Hier befindet sich eine Chappati – Bäckerei an der anderen. Das Brot Indiens (aus Wasser und Weizen gebackene, runde Fladen) wird hier in uralten, traditionellen Tandoors ausgebacken. Die Tandoors sind in die Erde eingegrabene Öfen, deren Inneres mit Ton ausgelegt ist. Auf dem erhitzten Gestein werden dann die Fladen ausgebacken. Wir lassen gleich mal ein paar heiß gebackene Exemplare für unterwegs mitgehen. Der Palast selbst bietet in seinem Inneren keine außergewöhnlichen Sehenswürdigkeiten, da man nur leer stehende, verstaubte Räume vorfindet, gelegentlich finden sich gefährliche Löcher im Boden. Das Panorama von den alten Palastgemäuern aus über die Stadt hinweg bis hinab ins grüne Industal, sowie die großartige Aussicht auf die ladakhische Bergwelt, lohnen den im unakklimatisierten Zustand recht mühevollen Anstieg. Herrlich der Kontrast des üppigen Grün der bewässerten Felder von Leh und dem grünen Industal mit der extrem kahlen, grauen bis ockergelben Einöde der unendlichen Gebirgswüste. Im Süden trotzt das Stok – Kangri – Massiv mit seinen vergletscherten Flanken. Der Stok Kangri gehört übrigens zu den sogenannten Trekkinggipfeln Indiens.Grundsätzlich ist die Besteigung sämtlicher Gipfel ab 6000 Metern in Indien untersagt. Wenn es sich um heilige Berge handelt, gibt es keine Umgehung für das Verbot, ansonsten sind Besteigungen mit dem Erwerb relativ kostspielieger Expeditionspermits durchführbar. Der Stok Kangri ist allerdings mit einer einfach zu erhaltenden, kostengünstigen Permit besteigbar. Er erfordert zudem keine außergewöhnlichen alpinen Schwierigkeiten, bei entsprechenden Bedingungen sollen sogar Steigeisen unnötig sein. Aufgrund der großen Höhe sind eine sorgfältige Akklimatisierung, beste körperliche Gesundheit und eine gehörige Portion Fitneß unabdingbar. Hinzu kommt Kleidung für Temperaturen um die minus 20 Grad. Bei einer Wetterverschlechterung kann sich diese scheinbar einfache Tour durchaus zu einem Bergdrama entwickeln.

Etwas unterhalb des Palastes befindet sich ein alter buddhistischer Gebetschrein. Durch die Anwesenheit eines Mönches haben wir das Glück, daß dieser uns den Schrein zur Besichtigung aufschließt. Die alten buddhistischen Klöster des Himalaya sind alle von einem ganz besonderen, unverkennbaren Geruch erfüllt, der teils aus dem Alter der ehrwürdigen Gemäuer, teils aus den dort untergebrachten uralten Schriften und Sakrilegien, aber vor allem durch die ständig dort brennenden Butterlampen resultiert. Stets herrscht im Inneren der Schreine eine schummrige Düsterheit, das Tageslicht wird nur durch die jediglich auf einer Seite angebrachten, mit Fensterkreuzen verrahmten Fenster gebündelt. Neben Buddha sind oft weitere Inkarnationsfiguren in Nischen angebracht, sowie durch Fotos des Rimpoche (hohe tibetisch – buddhistische Inkarnation), des Klostervorstehers und des Dalai Lama umgeben, der Betrachter wird durch die schattenreiche Schummrigkeit von flackernden Butterkerzen in eine andächtige Stimmung versetzt. An den meist mit prächtigen Schnitzereien verzierten Holzsäulen und den Wänden der Gebetsräume sind aber auch grausig anzusehende Monstermasken mit Hörnern und unheimlichen Fratzen angebracht. Die alten, knarzigen Holzböden sind mit Teppichen ausgekleidet, zu Füßen Buddhas befinden sich die Gebetsbänke der Mönche. Man sollte als Fremder unbedingt darauf achten daß, wenn man sich vor einer Buddhastatue niederläßt, niemals die Füße in Richtung des Buddha zeigen, sondern immer von ihm weg. Zudem sollte man keine Mönche berühren, vor allem nicht deren Kopf. Übrigens sollte man auch Kopftätscheln bei Kindern unterlassen. An den Wänden der Gompas finden sich fast immer eindrucksvolle, farbenprächtige Wandmalereien, die meist eine heilige Geschichte erzählen. Besonders häufig wird das Rad des Lebens dargestellt. Von den Buddhisten wird das irdische Dasein als etwas zu Überwindendes betrachtet. Das Rad des Lebens wird ihrer Ansicht nach von den drei Grundübeln der Menscheit angetrieben: Dem Neid, der Wohllust, der Habgier. Außerhalb des Lebensrades ist immer der Erleuchtete (Buddha) dargestellt, während die Menschen im Inneren des Rades ihr beklagenswertes Dasein fristen. Die Radnabe wird übrigens durch die drei oben genannten Grundübel, die in der bildlichen Darstellung als schreckliche Monster dargestellt sind, angetrieben. Weitere typische Sakrilegien sind die Thankas, gestickte oder bemalte Rollbilder, oder man hat vielleicht Glück und trifft die Mönche im Klosterhof beim Anfertigen eines Mandala an. Mandalas sind Diagramme, die meist aus buntem Sand hochkunstvoll gefertigt werden, was unter Umständen wochen- oder gar monatelange Arbeit bedeutet und die unmittelbar nach ihrer Vollendung zerstört werden. Dies ist eine besonders deutliche und für uns krass scheinende Unterstreichung der buddhistischen Ansicht von der Vergänglichkeit aller Dinge, wo die Zerstörung eine gleich wichtige Rolle wie die Schöpfung spielt. Musikistrumente, wie Zimbeln oder die alphornähnlichen Blasinstrumente sind ebenfalls fast immer in den buddhistischen Schreinen zu finden. Wenn man das Glück hat, daß einem ein anwesender Mönch einen Schrein zur Besichtigung aufschließt, so sollte man anschließend eine kleine Spende hinterlassen.

In Ladakh ist die tibetische Form des Buddhismus verbreitet. Die Mönche werden somit Lamas genannt. Die an Kegel erinnernden, überall präsenten heiligen Steinmonumente, welche andernorts als Stupen (Singular: Stupa) bezeichnet werden, heißen hier Chorten. Eine weitere Form religiöser Bauten, die einem in Ladakh auf Schritt und Tritt begegnen, sind die Mani – Mauern. Diese können von wenigen Metern bis zu mehreren Kilometern lang sein und bestehen aus Steinplatten unterschiedlicher Größen, auf denen Gebete eingraviert sind. Solche heiligen Monumente sind immer links, also im Uhrzeigersinn zu umgehen. Die Umrundung solcher Objekte wird im Buddhismus als gute Tat angesehen. Auch wird der Wanderer in Ladakh auf viele Gebetsmühlen unterschiedlichster Größen treffen. Meistens sind diese an Ortsein- oder ausgängen in Mani – Mauern eingelassen. Auch diese sind im Uhrzeigersinn zu umgehen. Das In – Bewegung – Setzen der Gebetsmühlen ist gleichsam eine gute Tat, da somit die dort aufgetragenen Gebete in die Welt hinausgetragen werden.Viele Gebetsmühlen können Höhen von mehreren Metern haben, man umrundet diese und setzt sie im Gehen in Bewegung, dabei wird ein Glöcklein mit einem angenehm hellen Ton angeschlagen. Dieses Glöckchenläuten wird für mich persönlich immer ein typisches und tiefgreifendes Element der Erinnerung an die buddhistischen Reiche des Himalaya bleiben. Die meisten Klöster in Ladakh sind dem sogenannten Gelbmützenorden zugehörig, doch soll es auch wenige Rotmützenklöster geben. Die Farben der Mönchsgewänder sind bei den Gelbmützen gelb, bei den Rotmützen rot, die eher selten getragenen Mützen haben jeweils die selbe Farbe.

Es existiert eine mit weißer Farbe dahingekleckste Markierung für den Weg, welcher über den Palast bis hinauf zum Gompa führt. Diese Variante heben wir uns für die Rückkehr auf und kraxeln stattdessen auf schmalen Pfadspuren hinter den Außenmauern des Palastes empor. Bis hinauf zum Gompa steigen wir schließlich über den verbindenden Felsgrat, so daß unser Aufstieg schon den Touch einer Mini – Bergtour bekommt. Oben treffen wir Alfred wieder. Das Umherschlendern in der weitläufigen Anlage des riesigen Gompa bei romantisch goldenem Spätnachmittagssonnenlicht macht Laune. Ein Traum ist Wirklichkeit geworden! Wie oft habe ich zuhause die verlockenden Bilder der Stadt Leh mit seiner sensationell über der Ortschaft thronenden Klosteranlage in Reisebüchern über Ladakh und dem Himalaya bewundert. Ja, und jetzt sind wir hier! Nachdem uns auch hier der Schrein durch einen Mönch geöffnet worden war und wir Einsicht in einen weiteren, anmutigen Gebetssaal nehmen konnten, steigen wir nun empor bis zum höchsten Punkt des Hügels, der von Gebetsfahnen und einem Chorten geschmückt ist. Abermals schweift der Blick über die Stadt, die Berge, das Industal. Ja, der Indus – seit meiner frühesten Jugend ist mir der Name des Flusses geläufig, und auch seine Bedeutung für den indischen Subkontinent. Indus und Ganges, so habe ich das schon in jungen Jahren gehört, seien dort die bedeutendsten und größten Ströme, beide geheiligt und mit ihren Quellen hoch droben zwischen den unnahbaren Gletschern des höchsten Gebirges der Welt, des Himalaya! Der Name Himalaya setzt sich übrigens aus zwei Begriffen des Sanskrit zusammen: Him = Schnee, Alaya = Wohnort, also Wohnort des Schnees. Wenn der Indus unterhalb von Leh vorbeizieht, hat er bereits gut 400 Kilometer zurückgelegt. Sein Ursprung findet sich auf dem tibetischen Hochplateau, nahe des heiligen Berges Kailash. Von Leh aus fließt er westwärts weiter bis hinein nach Pakistan, wo sich nach einer weiten, weiten Reise seine flachsgelben Fluten westlich von Karachi in einem riesigen Delta ins arabische Meer ergießen.

Wieder unten in Leh, speisen wir romantisch auf der Dachterasse eines Restaurants, wo wir die Bekanntschaft mit zwei sympatischen Österreicherinnen machen. Leider ist das Essen touristisch angepaßt und schmeckt reichlich fad. Das Beste ist noch der Massala – Tee mit Butter. Während Alfred und Haydar nach Sonnenuntergang noch einmal auf ein Bier und einen kurzen Check im Internet ins Stadtgebiet zurückkehren, scheinen bei mir die Wehen einzusetzen. Leh ist dafür berüchtigt, daß besonders zur Hauptsaison das Wasser dort kritisch bakteriell sein soll. Vermutlich war einer der von mir getrunkenen Tees nicht heiß genug aufgekocht. Im Übrigen sei auch vor Fleischverzehr gewarnt. Dieses wird nämlich auf tagelangen Fahrten in nicht oder mangelhaft gekühlten Lastwagen aus Srinagar hierhergekarrt. Da die vegetarische Küche Indiens an Abwechslung kaum zu überbieten ist, und in den Städten auch keine Einschränkung bezüglich der Auswahl herrscht, dürfte der Verzicht auf Fleisch eigentlich nicht weiter schwer fallen. Meine "Erkrankung" ist übrigens nicht weiter tragisch, ein paar Magenkrämpfe, danach Entladung, und gut war´s.

Als wir noch lange vor Sonnenaufgang das Guesthouse "Moonflower" verlassen, ist der Besitzer bereits in eine frühmorgendliche Meditation versunken. Zeitig sind wir am Busbahnhof, um den ersten Bus Richtung Kargil zu bekommen. Wir selbst werden nicht bis Kargil mitreisen, unser Ziel heißt Lamayuru. Lamayuru ist ein Traum von einem tibetischen Gompa, das als Adlerhorst auf einer Anhöhe inmitten einer absolut kahlen Gebirgswüste über seine Umgebung ragt. Zu seinen Füßen hat sich zwischenzeitlich ein kleines Dorf angesiedelt, wo die Menschen, außer von der Landwirtschaft, von Geschäften mit den Bedürfnissen der hier eintreffenden Trekkingtouristen leben. Dies beinhaltet Unterkunft, Essen, Verkauf von Lebensmitteln und Vermittlung von Pferden und Führern. Die stundenlange Fahrt war übrigens ein Horror. Wir hatten ausgerechnet die hintersten Sitze bekommen, ich selbst auf dem allerletzten, genau über dem Hinterrad. Bei so manchem Schlagloch mußte ich darum fürchten, durch´s Busdach nach draußen katapultiert zu werden. Für freudige Abwechslung sorgte hingegen eine Gruppe kaschmirischer Mitreisender, mit denen wir uns blendend unterhalten hatten. Vom schönen Industal, das wir durchfuhren, war nicht allzu viel mitzubekommen, allein schon wegen der Tatsache, daß sich unsere Sitzplätze auf der falschen Seite befanden. So war uns auch die Stelle entgangen, an der der Zanskar, jener Fluß, der bei unserer Durchquerung noch eine so große Rollen spielen wird, in den Indus mündet. Hochdramatisch gestaltet sich allerdings die Serpentinenauffahrt hinaus aus dem Industal zur Anhöhe von Lamayuru. Mit brüllendem Motor kämpft sich unser schrottreifer Tata – Bus über miserabelsten Straßenbelag aufwärts, immer brenzlig nahe am schwindelerregenden Abgrund einer atemberaubenden Schlucht. Eigentlich eine typische Himalaya - Busfahrt, aber absolut nichts für Leute mit schwachen Nerven!

Wir beziehen unsere Unterkunft in einem schlichten, aber ansprechenden ladakhischen Gästehaus. Ein junger Einheimischer war uns gleichfalls ins Haus nachgefolgt, er möchte Pferde und Horseman vermitteln. Wir waren uns vorab nicht ganz sicher darüber, ob wir hier in Lamayuru tatsächlich auf Anhieb Pferde und einen entsprechenden Führer bekommen würden. So scheint ja alles wie geschmiert zu laufen, als wir mit dem jungen Mann beim Tee in unserem Zimmer in Verhandlungen treten. Über die gängigen Preise haben wir uns vorab mit Hilfe von Büchern und Informationen aus dem Internet informiert, und wir einigen uns auf einen Preis für zwei Pferde, der sich im oberen Rahmen der üblichen Löhne befindet. Durch drei geteilt ist das immer noch unglaublich günstig. Eigentlich macht der Kerl einen sehr ehrlichen Eindruck. Was die Pferde anbelangt, sagt er, es wären kleine Pferde, Ponys. Wir wissen, daß es hier eigentlich keine großen Pferde gibt und denken uns nichts Schlechtes dabei. Er selbst würde uns im Übrigen nicht als Führer zu Verfügung stehen, sondern sein Vater. Wir vereinbaren, uns noch einmal in etwa zwei Stunden zu treffen, wo wir dann seinen Vater kennenlernen würden. Haydar insistiert dann noch darauf, einen Blick in die Stallungen zu werfen, damit wir uns die Ponys vorab ansehen können. Als wir am Treffpunkt erscheinen, werden wir einem steinalten Männlein vorgestellt. Dieser kann offensichtlich kein Wort englisch, was für ein Zusammensein auf einem so langen Treck nicht gerade von Vorteil ist. Wir haben die Abmachung übrigens nicht für die gesamte Tour getroffen, sondern nur für die ersten etwa 10 Tage bis Padum, dem einzigen Knotenpunkt auf dem Trek, der Verkehrsanbindung hat und als Kleinstadt eine Wiederversorgung, Hotelunterkünfte und Restaurantessen ermöglicht. In Padum wollen wir dann entscheiden, ob wir weiterhin mit Horseman gehen, diesen durch einen anderen ersetzen, oder die restliche Strecke bis nach Darsha autark bewältigen wollen. Nun, als Nächstes folgt der Blick in den Stall. Und wir taten gut daran, darauf zu bestehen. Denn, oh Schreck, im Stall standen nicht etwa Ponys, sondern Esel! Wir machen die getroffenen Vereinbarungen sofort rückgängig, denn hier wollte man uns ganz klar bescheißen. Ein Esel trägt vielleicht gerade mal die Hälfte der Last eines Pferdes und wird normalerweise auch höchstens halb so viel kosten. Zudem sind Esel bedeutend langsamer und neigen bekanntlich zu unberechenbarer Sturheit. Wir vermuten, daß diese Familie, die zudem in Lamayuru ein gut laufendes Guesthouse unterhält, den Hals nicht vollkriegen konnte. Der Sohn war offenbar schon mitsamt allen Pferden für eine Trekkinggruppe engagiert, und uns wollte man den uralten Vater mit den lahmen Eseln andrehen, und das noch dazu für die gehobene Preisklasse von Tragepferden!

Der Junge verspricht uns noch eilig, er wolle uns binnen einer Stunde zwei richtige Pferde inclusive Horseman besorgen. Er hat nämlich schon mitgekriegt, daß Alfred einem älteren Mann mit zwei Pferden gefolgt ist, der gerade eben die Straße hinaufgezogen war. Bis Haydar und ich hinterherkommen, steht Alfred bereits in den Verhandlungen. Der Preis bleibt der gleiche, den wir mit dem Schlitzohr zuvor ausgehandelt hatten, aber diesmal sind es wirklich Pferde und Dashi, so heißt unser künftiger Horseman, spricht zumindest so gut englisch, daß eine halbwegs zufriedenstellende Verständigung möglich sein wird. Das einzige Handicap, das jetzt noch aussteht, ist die Tatsache, daß Dashi morgen früh noch zwei Kinder nach Wanla, dem etwa 3 Stunden von Lamayuru entfernten ersten Ort auf der Trekkingroute, zu bringen hat. Damit er hernach nicht noch einmal nach Lamayuru zurückzukehren braucht, bieten wir ihm an, daß wir gemeinsam morgen früh nach Wanla aufbrechen könnten, und wir unser Gepäck bis dorthin selbst tragen würden.Nun, nachdem alles geregelt ist, können wir uns endlich der Besichtigung des wunderschönen Gompa widmen. Am Abend finden wir uns zum gemeinsamen Essen im Guesthouse in geselliger Runde mit einer Gruppe Israelis, einer Engländerin und einer Belgierin. Von unserer ladakhischen Wirtin werden wir mit einfacher Kost, aber liebevoll, umsorgt.

Nach einem Continental breakfast auf Ladakhi (Marmelade, Butter, Milchtee und Chapatti an Stelle von Brot) begeben wir uns zur Unterkunft von Dashi, ohne ihn dort anzutreffen. Wir finden ihn auf dem großen Platz unterhalb der staubigen Hauptstraße, wo sich mehrere Karawanen auf den Aufbruch vorbereiten. Er wartet immer noch auf die Kinder. Eine Stunde später vermeldet er, die Kinder würden wohl nicht mehr kommen, und somit können wir unsere Rucksäcke auf die Packpferde verbringen. Um 9.50 Uhr brechen wir auf. Zunächst führt unser Weg durch´s Flußbett des Sangeluma, unterhalb der Straße. Bald schon biegen wir gen Süden in ein trockenes Nebental ein. Unsere Umgebung besitzt die Kargheit und Trostlosigkeit einer Mondlandschaft. Die uns umgebenden Abhänge und Berghügel sind nichts anderes als brüchigster Schiefer, der von einer dicken Lehmkruste überzogen ist. Faszinierend zwar, doch so etwas vorraussichtlich 18 Tage lang? denke ich noch bei mir. Minzgeruch kitzelt meine Nase. Tatsächlich, am Wegesrand sprießt frische Minze, wir werden diese Pflanze insbesondere in den schattigen Schluchten dieses kargen Landes noch zuhauf antreffen.Der Aufstieg zur ersten Paßhöhe öffnet den Blick über eine tischähnliche Hochebene, die von schütterem Gras leicht angegrünt und von kahlen, ockergelben Bergspitzen umstellt ist. Diese Landschaft hat etwas von einer Westernprärie und ich fühle mich in die Cowboy- und Indianerträume meiner Kindheit und Jugend versetzt, Bilder aus zig verschlungenen Karl – May – Bänden scheinen sich mit diesem Panorama zu decken. Mit dem Wetter haben wir in gewisser Hinsicht Glück, denn es ist bedeckt, so daß uns die nun im Sommer über Tags herrschende, zwar trockene, aber stechende Hitze nicht noch zusätzlich malträtiert, denn geschunden fühlen wir uns allemal! Seit unserer Ankunft in Leh hat zwar keiner von uns ernstere Anzeichen von Höhenkrankheit zu spüren bekommen, doch allesamt sind wir immer noch verdammt kurzatmig. Wir können von Glück sagen, daß das mit unserem Pferdemann auf Anhieb schon geklappt hat. In den drei Stunden bis Wanla hätten wir mit unserem eigentlich nicht mehr zum Selbertragen gedachten Gepäck (jeder von uns nahezu 30 Kilo!) die Oberammergauer Passionsspiele nach Ladakh verlegt! Wir hätten zudem, schließlich immer noch in der Akklimatisationsphase, durch die übermäßige Anstrengung den Ausbruch von stärkeren Symptomen der Höhenkrankheit provoziert, was dann eventuell unser ganzes Unternehmen in Frage gestellt hätte. In der Akklimatisierungsphase ist unter anderem darauf zu achten, daß man sich schont. Wenn ein Teilnehmer ernsthaftere Symptome der Höhenkrankheit bekommt, dann ist damit zu rechnen, daß er sich beim Wiederabstieg recht schnell wieder erholt, hernach aber längere Zeit anfällig für die Höhe bleibt. Der Prinkiti La ist mit seinen 3726 Metern der niedrigste der insgesamt 8 Pässe, welche wir im Verlaufe unserer Durchquerung überschreiten werden, für die Eingehetappe ist er allerdings mühsam genug. Er gilt als das Tor nach Zanskar, d.h. das Gebiet des alten Königreiches fängt nun erst, jenseits des Passes an. Über die mit tibetischen Gebetsfahnen überspannte Paßhöhe fegt ein eiseskalter Wind, leichter Sprühregen setzt ein. Es sollen dies die einzigen Regentropfen sein, die wir in Zanskar zu spüren bekommen werden.

Rasch gehen wir den Abstieg an, der uns in eine beklemmend enge, völlig trockene Schlucht hineinführt. Als diese sich öffnet, könnte der Gegensatz nicht krasser ausfallen. Wir betreten das Yapola – Tal und somit die Gestade des gleichnamigen Flusses. Meine voreiligen Schlüsse, daß diese Trekkingtour vielleicht zu monoton werden könnte, sind mit einem Male dahin, das In - Szene - Treten von Wasser verändert unsere Umgebung schlagartig und steigert unser seelisches Befinden zu einer wonnigen Euphorie. Üppig grüne Weizenfelder wogen im mittäglichen Wind, Aprikosenbäume tragen goldgelbe, süße Früchte, schlanke, hellstämmige Pappeln und Weiden säumen die durch das Wasser zum Leben erweckten Uferstreifen, als wir nun auf die erste Siedlung Shila zusteuern.

Die Oasenlandschaft kontrastiert herrlich zu der trockenen, felsigen Umgebung. In Wanla (3245 m) halten wir Mittagsrast, man kocht uns Tee und Maggi – Nudelsnacks, während wir zu den malerisch am Hang klebenden, rot und weiß getünchten Relikten eines Klosters aus dem 12. Jahrhundert emporblicken. Die Wolken umspinnen die wilden Zacken der nahen, düster aufragenden Berge und schaffen ein betörendes Bild von schaurig – schöner Stimmung. Hinter Wanla folgen wir auf einem Fahrweg durch die wunderschöne Landschaft entlang des Yapola - Flusses. Es ist Erntezeit in Zanskar, überall arbeiten emsig Menschen auf den Feldern. Weizen wird geerntet, gedroschen, mit Hilfe des Windes von seiner Spreu getrennt. Am Ortseingang von Phanjila befindet sich ein attraktives Camp, wo wie unseren ersten Wandertag beschließen.Neugierige Kinder sind uns beim Zelte aufbauen behilflich, und interessieren sich in erster Linie für unsere Fotoapparate. Sie stehen sogar freiwillig Fotomodell, ohne daß wir sie darum gebeten hätten. Zur Wasserversorgung müssen wir zum anderen Ende des Dorfes spazieren, wo an einer neu aussehenden Wasserpumpe das kühle Naß aus dem Boden befördert wird. Sicherheitshalber behandeln wir auch diese Wasser mit Micropur.

Später stoßen noch die Israelis aus Lamayuru zu uns. Sie sind ohne Pferdemann unterwegs, durch ihren bereits 4 – wöchigen Aufenthalt in Leh aber auch bestens akklimatisiert. Sie haben vor, in Richtung Osten entweder nach Alchi oder nach Chilling zu trekken.Somit wird sich unser gemeinsamer Weg morgen an einer Schluchtgabelung trennen. Beide von den Israelis in Erwägung gezogenen Varianten sind zwar wesentlich kürzere Treks, als unserer, sie gelten jedoch aufgrund der sehr hohen Pässe und der Abgeschiedenheit als sehr anspruchsvoll. Besonders Alfred ist angetan von der Tapferkeit und Härte der weiblichen Teilnehmer der Gruppe. Eigentlich wenig wunderlich, sind ja alles schließlich gefechtserprobte, ehemalige Soldatinnen. Die Lichtspiele der letzten Sonnenstrahlen an den ockergelben Felsen der umliegenden Berge zaubern eine atemberaubende Stimmung. Im schwachen Licht der Dämmerung ertönt das Flötenspiel von Dashi, unserem Pferdemann, zu uns herüber. Die Pferdemänner haben übrigens die Gewohnheit, ihre Zelte etwas abseits von ihren Klienten aufzustellen, um dort für sich, oder meist zusammen mit anderen Pferdemännern oder Leuten aus den Dörfern zu bleiben.

Nachdem meine Gedärme gestern die letzten Schläge getan haben, kehrt ab heute Ruhe ein. Dafür hat es nun Alfred erwischt, und zwar offensichtlich schlimmer, als mich. Mir war gestern, als wir bei Kerzenschein unterm Zelt unseres "Hotels" einen gemütlichen Abend mit den Israelis verbracht hatten, bereits aufgefallen, daß es ihm nicht mehr so recht gut ging. Über Nacht hatte er dann unzählige Male eiligst das Zelt verlassen müssen, hinzu gesellten sich noch Kopfweh und und fiebrige Kälteempfindlichkeit. Die uns heute erwartende Etappe gehört zu den einfachsten, so daß wir nach Absprache weiterziehen. An einer Brücke endet der Fahrweg und weicht einem schmalen Pfad, der geradewegs in eine enge Schlucht hineinführt. Hier ist durchaus ein gewisses Maß an Trittsicherheit und Schwindelfreiheit gefordert, die Pferde müssen über knifflige Stellen am Halfter geführt werden. Als ich bei dieser Gelegenheit von einem der Rösser schier in die Schlucht hinabgestoßen werde, wird mir bewußt, daß Trekking mit Packpferden erst mal gelernt sein will. Die Tiere werden immer dann geführt, wenn man damit rechnen muß, daß sie von sich aus eventuell den falschen Weg nehmen könnten. Dann muß der Führer selbst nach der günstigsten Möglichkeit schauen. Sie verfügen zwar über eine vertrauenswürdige Trittsicherheit - es kommt äußerst selten vor, daß ein Tragetier abstürzt – sie sind aber nicht in der Lage, die günstigste Wegführung selbständig zu erkennen. Bei schwierigen Passagen muß sich der Führer damit beeilen, diese zu überwinden, da Pferde solche immer mit hohem Tempo übergehen. Wenn der Führer selbst zu langsam ist, kann es sein, daß er vom eigenen Pferd umgestoßen wird. Befindet man sich mit den eigenen oder entgegenkommenden Pferden auf der selben Höhe auf einem schmalen und ausgesetzten Pfad, so ist dringend angeraten, auf der Bergseite zu stehen. Die Pferde neigen dazu, Dinge, die im Weg sind, abzudrängen. Gegen ein ausschweifendes Pferde- oder Eselshinterteil gibt es keine Chance! Wenn das Gelände einfach ist, kann man die Pferde frei gehen lassen. Allerdings muß immer eine Person quasi als Leithammel vorangehen. In engen Schluchten ist selbstverständlich auch der Gegenverkehr zu beachten. Wenn ein größerer Konvoi entgegenkommt, dann nimmt man die Pferde wiederum am Zügel, und führt sie zur nächstmöglichen Ausweichstelle.

Gegen 12 Uhr Mittags passieren wir das Dorf Hanupatta (3780 m). Bis zum schön am Flußufer gelegenen Lagerplatz ist es noch eine weitere halbe Stunde. Das Camp teilen wir uns mit einer deutschen Familie, die mit Koch, Horseman und Spielgefährten für ihren etwa 5 – jährigen Sohn unterwegs sind. Meiner Ansicht nach spricht grundsätzlich nichts gegen eine Trekkingtour im Himalaya mit Kindern. Das hängt von der Robustheit und seelischen Beschaffenheit der Kinder ab, und beide Elternteile müssen sich über das Wie einig sein. Selbstverständlich muß man auch völlig anders planen. Beispielsweise kann man nicht einfach sagen, wir machen die und die Tour und ziehen diese auf jeden Fall durch. Der Vater ist jedenfalls schon mehrmals hier in Ladakh unterwegs gewesen, so auch auf dem Weg zwischen Lamayuru und Padum. Der beiden Jungs reiten auf Pferden, und müssen natürlich nicht marschieren. So lange es dem Jungen Spaß macht, so der Vater, werden sie weiterziehen, und wenn es nicht mehr geht, dann werden sie eben umkehren. Während wir uns nur noch mit der Essenszubereitung beschäftigen und uns ansonsten Ruhe gönnen, ist die Mutter ständig mit den Kindern beschäftigt. Fechtkämpfe finden statt, Verstecke spielen und Fangnis bis zum Sonnenuntergang.

Alfred geht es am nächsten Morgen immer noch nicht besser. Wir schlagen ihm vor, daß wir heute einen Ruhetag einlegen könnten, denn immerhin wartet die folgende Etappe mit einem 4800 Meter hohen Paß auf. Alfred besteht aber darauf, daß wir weiter gehen. Ganz wohl ist uns allerdings nicht dabei, doch er läßt sich nicht davon abbringen, das Trekking fortzusetzen. Das Tal, durch das wir weiterhin aufwärts ziehen, weitet sich nun, in der Ferne taucht der erste vergletscherte Berg auf. Bald schon gesellen sich die ersten Schneegipfel in unsere Nähe, die Schneegrenze dürfte etwa bei 4800 bis 5000 Metern liegen. Alfred erreicht als Erster die Paßhöhe. Wir anderen folgen gemütlicheren Schrittes. Ich selbst habe mir für diese Trekkingtour vorgenommen, dieses Abenteuer zu genießen, anstatt Geschwindigkeitsrekorde aufzustellen. Immer noch in der Akklimatisationsphase, halten wir es auch für klug, immer noch so gut wie möglich den Schongang beizubehalten. Die zugige Höhe des Sisir La (4805 m) beschert uns einen ersten Blick auf zwei außergewöhnliche Eisriesen, welche die heutige und die morgige Etappe dominieren sollen: dem Paß am Nächsten erhebt sich der globige Photoksar (6046 m), dessen Formgebung mich in gewisser Weise an den Ortler erinnert, sowie bislang noch sehr in die Ferne gerückt, wegen seiner exzentrischen Formgebung aber besonders dramatisch, der Sengge La, ebenfalls ein Sechstausender. Die Nordwand des Sengge La ist wie die der berühmten Eiger – Nordwand konkav geformt und scheint in ihrem oberen Bereich sogar überhängend. Lange bleibt sie im Schatten. Dieser Berg macht auf uns den Eindruck, als sei er von allen Seiten her unbesteigbar.

Vom Paß aus führt der Pfad nun stetig abwärts. Als wir ein paar Chorten erreichen, fällt unser Blick hinab auf ein grünes Flußtal, hoch über dessen Ufer krallen sich die weißgetünchten Häuser des Dorfes Photoksar an die steil abstürzenden Felsen. Photoksar ist ein Traum von einem Himalayadorf. Nachdem wir die Zelte auf dem Lagerplatz am Flußufer, gut einen Kilometer oberhalb der Ortschaft, aufgebaut und etwas gegessen haben, begeben sich Haydar und ich zur Stippvisite ins Dorf. Eigentlich hatten wir uns erhofft, dort einen kleinen Shop zu finden, um eventuell ein paar frische Lebensmittel zu kaufen. Daraus wird nichts, die Leute hier haben selbst nichts, was sie für Fremde entbehren könnten, auch wenn diese mit viel Geld zahlen. Wir schlendern ein wenig zwischen den engen Gassen umher, wiederholt kommen wir dabei zu kleinen Gesprächen mit den Bewohnern. Ein alter Mann sitzt mit einem vorsintflutlichen Webstuhl vor seinem Haus, mit Blick hinab in die Tiefe des unten vorbeiströmenden Flusses. Wir schauen ihm ein wenig bei der Arbeit zu. Der Webstuhl wird per Hand und Fuß mit einfachst funktonierenden Holzkufen bedient. Zahllose Perspektiven, über die Flachdächer weiß getünchter, mit Gebetsfahnen behängte Häuser hinweg zu gegenüberstehenden, drohenden Felswänden, sowie der steile Absturz zu dem tief unter uns tosenden Fluß bieten reiche Fotomotive. Als wir kurz vor Sonnenuntergang zurückkehren, tun wir das zwar ohne Lebensmittel, dafür aber voller Eindrücke. So schlendern wir bei der Rückkehr noch am Zelt des zum Camp gehörenden "Hotels" vorbei, und besorgen uns dort noch ein paar Kleinigkeiten,unter anderem können wir ein paar Hühnereier ergattern, die im Durchschnitt nur etwa halb so groß sind, wie die, welche wir aus Deutschland kennen. Überhaupt scheint hier alles kleiner geraten zu sein, so beispielsweise auch die Schafe. Die putzigen Himalaya –Zwergziegen hingegen sind eine ganz spezifische Rasse und haben die Größe eines Dackels. Ansonsten dürften für das Wachstumshemmnis das hier herrschende harte Klima, die Mangelernährung von Mensch und Tier, sowie die enorme Höhe der Siedlungen ursächlich sein. Zu den kursierenden Gerüchten über das hohe Alter, welches die Himalaya – Bewohner erreichen, bleibt zu bemerken, daß die Leute gut 10 bis 15 Jahre älter aussehen, als sie in Wirklichkeit sind. Besonders in früheren Zeiten wußten die Leute nicht, wann sie denn überhaupt geboren sind, und wenn sie nach ihrem Alter gefragt wurden, dann hieß es eben uralt, über achzig, dabei waren es vielleicht sechzig. Dashi, unser Pferdemann, ist nach eigenen Angaben 55, sieht aber mindestens 10 Jahre älter aus, und das nicht nur wegen seiner fehlenden Zähne. Auf unserer Reise durch Zanskar werden wir noch viele andere Menschen kennenlernen, die wesentlich jünger sind, als sie aussehen. Beispielsweise eine Frau von 36 Jahren, die wir gut und gerne auf 50 geschätzt hätten.

Heute lassen wir das schöne Dorf Photoksar auf der anderen Schluchtseite buchstäblich links liegen, nicht ohne jedoch den einen oder anderen sehnsüchtigen Blick hinüber zu werfen, wo die morgendlichen Sonnenstrahlen die weiß getünchten, auf die steile Felswand geklebten Ladakhihäuser bestreichen. Dazu von ocker bis rostrot leuchtende, mächtige Felswände im Hintergrund, einfach fantastisch! Hinter uns liegt nun auch der bullige Photoksar, dessen mächtige Eisauflagen im strahlenden Weiß einem beim Anblick schier die Augen blenden. Zunächst schnaufen wir uns auf die Anhöhe des vergleichsweise harmlosen Bumiktse La (4200 m) empor und von diesem aus auf einer langgezogenen Talquerung bis zum Fuß des Passes Sengghe La. Diese Teilstrecke steht ganz im Zeichen der atemberaubenden Nordwand des gleichnamigen Gipfels, dem wir nun sprichwörtlich auf die Pelle rücken. Schließlich ziehen steile Serpentinen zur Paßhöhe hinauf. Hat man diese erreicht, so steht man genau neben einem monströsen, vereisten Felsschild, welches von allen Seiten wie eine unnahbare Mauer erscheint. Dieser Gipfel ist unserer Ansicht nach eine Sache für die Elite der Bergsteigerwelt, wir können wirklich nirgends eine nur halbwegs annehmbare Aufstiegsroute ausmachen. Hier ist schwierigste kombinierte Kletterei, und noch dazu in Höhen über 6000 Metern angesagt. Ich habe heute das Gefühl, als sei die Kurzatmigkeit bei mir endgültig verschwunden. Der Aufstieg fällt mir relativ leicht, und ich bin mental gut drauf.

Unterwegs hatten wir Buben mit Steinschleudern getroffen. Die Schleudern dienen zum Zusammentreiben des Viehs. Außer Schafen und Ziegen hatten wir auf den kargen Weiden auch Yak- und Dzoherden gesehen. Dzos sind Kreuzungen von Yaks mit Flachlandbüffeln. In Ladakh gibt es übrigens außerhalb Lehs kaum Hunde, was aufgrund der in Indien sehr verbreiteten Tollwut beruhigend ist. Sengge La bedeutet "Löwenpaß", er ist mit seinen etwa 5000 Metern der zweithöchste Paß des gesamten Treks. Wir steigen hinunter zur anderen Seite. Wenn man die in etwa parallel zu unserem Pfad einschneidende Schlucht hinabsteigen würde, so würde man in das Dorf Yulchung gelangen. Dieser Weg bietet übrigens eine Variante der Zanskar – Durchquerung und würde erst zu einem viel späteren Zeitpunkt wieder mit unserer Route zusammentreffen. Unser Nachtlager finden wir mitten im Gebirge auf 4040 Metern, nicht weit entfernt vom Kiupa La. Dieser Paß wird übrigens in drei verschiedenen Büchern mit völlig falschen Höhenangaben wiedergegeben. Statt der oft angegebenen 3800 Meter erreicht er nämlich satte 4400 Meter. Mich wundert´s, daß das gleich drei verschiedenen Trekking – Autoren entgangen ist, denn wenn ich nach einer Übernachtung auf über 4000 Metern am anderen Morgen immer noch ein paar hundert Meter ansteigen muß, kann ich mich doch unmöglich plötzlich 200 Meter tiefer befinden! Die 4400 Meter wurden zudem vom Höhenmesser eines Trekkers aus Stuttgart bestätigt.

Die Nacht war miserabel. Die große Höhe, zuviel Schwarztee, ein beinhartes Nachtlager, laute Musik vom naheliegenden "Hotel" bis in die Nacht hinein, alles kam zusammen. Die Stromversorgung wird übrigens, wie immer, wenn es hier irgendwo Strom gibt, durch Solarzellen ermöglicht. Sonneneinstrahlung gibt es hier ja genügend. Eigentlich herrscht jeden Tag das gleiche Wetter: Morgens ist es im Schatten kalt, windstill, und es zeigt sich uns stets ein blauer Himmel. Wenn die Sonne alle Schatten beiseite geschoben hat, brennt sie erbarmungslos. Trotz Hitze und Anstrengung wird mein T-Shirt allerdings kaum naß, denn die extrem trockene Luft läßt den Schweiß sofort verdunsten. Gegen Mitte der ersten Tageshälfte beginnen sich am strahlend blauen Himmel Schäfchenwolken zu bilden, die in Kombination mit der Sonne herrliche Licht - Schattenspiele an die umliegenden Berge und Felswände projezieren und uns hin und wieder hochwillkommenen Schatten schenken. Untertags ist man ansonsten der gleißenden Sonne hilflos ausgeliefert, da praktisch nirgends Bäume wachsen. Der einzige Sonnenschutz in den Camps bietet dann nur das eigene Zelt, oder das große Fallschirmzelt des meist vorhandenen "Hotels". Nachmittags frischt immer Wind auf, der mitunter recht heftig werden, und einem unter Umständen auch einen gehörigen Sandsturm einbrocken kann. Sobald sich die abendlichen Schatten über die Täler legen, wird es wieder empfindlich kalt, so daß man dann im molligen Schlafsack am besten aufgehoben ist. So sind auch die Nächte auf einem Zanskar – Trek recht lang. Gegen Acht, mit Sonnenuntergang in die Koje, und so um Sechs, mit den ersten morgendlichen Sonnenstrahlen, wieder aufgestanden. Zur Zeit haben wir zunehmenden Mond, weshalb sich ein nächtlicher Gang vor´s Zelt trotz Kälte durchaus lohnen kann. Die ins helle Mondlicht getauchte Bergwelt zaubert dann eine atemberaubende Kulisse.

Heute kehrt überraschend die Kurzatmigkeit zurück. Bei meinem Aufenthalt an den Annapurnas war ich zwar bereits auch schon auf Höhen bis über 5400 Meter aufgestiegen. Damals allerdings begann mein Trekking bei 900 Metern und endete auch wieder in tiefen Lagen, d.h. der Aufenthalt in wirklich großen Höhen beschränkte sich auf nur wenige Tage. Das Trekking in Zanskar ist für uns alle eine neue Erfahrung. Schon das abrupte "Heraufkatapultieren" per Flugzeug auf 3500 Meter mit praktisch null Möglichkeiten einer Rückkehr in geringere Höhen im Falle von Höhenkrankheit war eine völlig neue Sache, und eigentlich nicht ohne Restrisiko. Das gesamte Trekking über bis zu unserer Rückfahrt über den Rohtang La hinunter nach Manali werden wir in durchschnittlichen Höhen von knapp 4000 Metern verweilen, wir werden einmal die 5000er – Grenze erreichen und sie ein anderes Mal auch überschreiten (und das sogar um Einiges mehr, als wir uns das ursprünglich gedacht haben!), sowie 3200 Meter nicht mehr unterschreiten, das bedeutet annähernd drei Wochen in großen Höhen. Ich hatte übrigens die vorteilhafte Möglichkeit, mich kurz vor unserer Abreise nach Indien in den Alpen noch vorzuakklimatisieren, meine beiden Kameraden jedoch nicht. Nie hätte ich gedacht, daß mir die Kurzatmigkeit so lange erhalten bleibt, und ich bin zudem überrascht über ihr unregelmäßiges und oft überraschendes Wiederauftreten. Selbst zu noch späteren Zeitpunkten soll es mir immer wieder mal passieren, daß ich, meist im Ruhezustand, kurze Attaken von leichter Atemnot bekomme. Diese harmlosen Anfälle lassen sich am Besten durch kurzes, schnelles Atmen beheben, und nicht etwa durch tiefes, langes Einatmen, wie ich das anfangs immer gemacht habe.

Vom Kiupa La führt der Pfad sehr steil zur Sohle eines engen Flußtales hinunter.Unsere Aufmerksamkeit erregt ein steinaltes Weiblein, welches mit einem Rucksack voller Felle beladen, ausgerechnet auf der steilstmöglichen Route, langsam, aber trittsicher die Paßhöhe hinunterklettert. Beim Herabsteigen hat man prächtige Ausblicke auf Skiumpata, das auf einer Meseta überhalb der Schlucht inmitten grüner Felder liegt, sowie das gleichfalls von reichlich Grün umgebene Gongma (3840 m), wo der wiederaufsteigende Pfad am oberen Ortsrand vorbeiführt. Der tosende Bach ist übrigens ohne Brücke zu queren, was aber in der gegenwärtigen Situation keine Probleme aufwirft. Auf 4100 Metern erreichen wir die Paßhöhe des Murgum La. Haydar hat übrigens den Rucksack der alten Ladakhi – Frau aufgenommen, und diesen bis auf die Paßhöhe getragen. Dashi, unser Pferdemann, ist höchst amüsiert darüber. Nun müsse er sie heiraten und für immer in Zanskar bleiben. Es ist köstlich, ihm zuzusehen, wie er mit seinen wenigen verbliebenen Zähnen über beide Backen seines faltigen Ledergesichts lacht. Heute sind wir etwa zeitgleich mit einer deutsch – französischen Gruppe aufgebrochen, weshalb wir die ganze Etappe über mit diesen zusammen marschieren. Diese Gruppe, bei der auch ein Pärchen aus Stuttgart dabei ist, treffen wir so gut wie jeden Abend im jeweiligen Camp, so daß wir eigentlich schon alte Bekannte sind.

Der Ort Lingshed wartet mit einer besonderen Attraktion auf. Gleich am Ortseingang, praktisch am Fuß des Passes, schmiegt sich das altehrwürdige Kloster Lingshed an eine gewaltige Felswand.In diesem schönen Gompa sollen besonders kunstvolle Thangkas (religiöse, tibetische Rollbilder) zu bewundern sein. Für uns jedoch soll Lingshed wegen Erlebnissen von ganz anderer Art in tiefer Erinnerung bleiben. Dashi führt uns zum gegenüberliegenden Ortsaugang, wo wir auf dem Dach des Hauses seiner Schwester einen Zeltplatz zur Verfügung gestelt bekommen. Bei unserer Ankunft bin ich erst einmal platt und strecke mich sogleich für ein Weilchen im Zelt aus. Doch bald schon kommt Haydar daher: "Raus hier, da draußen spielt die Kultur, und nicht in deinen Büchern!" Recht hat er, ich fühle mich auch schon wieder etwas besser. Haydar hat bereits mit einer Familie angeleiert, die unter uns auf einem Erbsenfeld beschäftigt ist. Sie winken uns, wir sollen zu ihnen herunter kommen. Eigentlich sind die Leute nur neugierig, wollen ein wenig mit uns schwatzen. Doch nachdem wir uns in die Arbeit des Erbsenerntens einweisen haben lassen, legen wir ruckzuck Hand an. Wir hauen richtig rein, und nach zwei Stunden läßt es sich durchaus sehen, was wir geschafft haben. Die Leute sind übrigens hocherfreut über die unverhoffte Hilfe. Besonders die Kinder suchen den Kontakt zu uns, und wollen unbedingt von uns fotografiert werden. Zwischendurch wird uns Buttertee mit Tsampa (geröstetes Gerstenmehl) serviert. Die Tsampa wird hierbei einfach dem Tee beigemengt und gibt diesem einen guten, nahrhaften Geschmack. Zum Schluß werden wir ins Haus eingeladen. Der Hausherr serviert uns frischen Joghurt. Die Einrichtung und die Unterteilung des Hauses entsprechen so ziemlich den Beschreibungen, wie sie Heinrich Harrer in seinem sehr empfehlenswerten Buch "Ladakh – Götter und Menschen hinter dem Himalaya" geliefert hat. In einem Raum neben der Küche erspähen wir durch die leicht geöffnete Tür einen kleinen Schrein mit alten, religiösen Schriften. Der Umfang der hier gelagerten Schriftrollen dürfte auch für ein Ladakhi – Haus sicherlich ungewöhnlich sein. Wir fragen, wie viele Tiere der Familie zur Verfügung stehen. Insgesamt 15 Ziegen und Schafe, lautet die Antwort. Wie viel Milch denn die Tiere am Tag gäben. Nur 3 bis 4 Geißen gäben überhaupt täglich Milch, das mache durchschnittlich einen Liter pro Tag. Diese Antwort bestürzt uns zutiefst. Mit dem Joghurt haben wir also eine halbe Tagesration Milch verzehrt. Wir lassen zum Abschluß etwas Geld da, für die Kinder,betonen wir, um die Gastfreundlichkeit nicht etwa zu verletzen. Inzwischen ist es spät geworden, zu spät, um noch das Kloster zu besuchen. Wir finden das nicht so schlimm, denn wir hatten und werden in Ladakh genug Gelegenheiten haben, Klöster zu besichtigen. Das Zusammensein mit dieser zanskarischen Familie soll für uns eines der intensivsten und interessantesten Erlebnisse der gesamten Reise bleiben. Der abendliche Wind stellt wieder einmal die Standhaftigkeit unserer Zelte auf die Probe. Nach Ladakh sollte man sich keinesfalls leichtsinnigerweise etwa mit einem billigen Kaufhauszelt aufmachen. Wir wurden auch schon Augenzeugen, wo das riesige Küchenzelt einer Trekkinggruppe durch die stürmischen Böen zum Einsturz gebracht wurde.

Alfred ist zwischenzeitlich gottlob wieder vollständig genesen. Um 7.20 Uhr machen wir uns auf den Weg. So zwischen 7 und 8 Uhr morgens ist meistens unsere Aufbruchszeit, gegen Mittag oder am frühen Nachmittag erreichen wir dann meist unser Tagesziel. Natürlich wären wir auch in der Lage, die Etappenlängen auszudehnen, aber zwei wesentliche Gründe sprechen dagegen: wir müssen die Leistungsfähigkeit der Lastpferde und deren Ruhebedürfnisse berücksichtigen, zudem wollen wir auch kein Wettrennen durch Zanskar veranstalten, sondern die Trekkingtour genießen. Eine frühe Ankunft im Lager bietet genügend Zeit zur Entspannung und zum Genießen der herrlichen Umgebung. Zudem besteht praktisch immer die Möglichkeit zum Kontakt mit den Bewohnern, auch wenn es sich manchmal nur um den Hotelbetreiber handelt, bei dem man es sich bei "Millik – Chai" oder "Belack – Chai" in den mit Teppichen ausgelegten Zelten gemütlich machen kann. Damit der Leser sich keine falschen Vorstellungen davon macht, was man auf dem Zanskar – Trek unter einem Hotel versteht, möchte ich noch ein paar Erläuterungen anfügen: es handelt sich dabei jediglich um kleine Versorgungsstellen, an denen es ein paar Grundnahrungsmittel, z.B. Reis oder Nudelsnacks, sowie Kekse oder Schokolade zu kaufen gibt. Es gibt immer Tee, entweder Schwarztee pur oder Selbigen mit Milch versetzt. Auf Nachfrage kann man gelegentlich auch Buttertee erhalten, ein Getränk, welches eigentlich nur die Einheimischen konsumieren, da es bei der Mehrzahl der Touristen wenig Anklang findet. Man kann ein einfaches Frühstück – in der Regel Chapatti mit Ei oder Marmelade – erhalten, und abends wird meistens gekocht. Fast immer gibt es Dahl Baat, also Reis mit Linsen. In Nepal und in Indien gibt es Gegenden, wo Dahl Baat eine spannende Sache ist, d.h. jeder Koch kennt eine besondere Art der Zubereitung. Dies ist in Zanskar überhaupt nicht der Fall. Da in diesem Landstrich so gut wie kein frisches Gemüse gedeiht, bleibt es stets bei Linsen. Nach einem harten Trekkingtag hatte mir diese schlichte Kost trotzdem immer auf´s Neue gemundet. Ich habe aber manche Leute kennengelernt, die mit dieser Art der Ernährung arge Schwierigkeiten hatten. Viele der sogenannten Hotels bestehen aus runden Mauern, die mit Steinen aufgehäuft wurden, das Ganze wird mit einer großen Zeltplane, bei denen es sich angeblich um ehemalige Fallschirme handeln soll, überspannt. Daher resultiert auch der geläufige Name "Parachutes". Gelegentlich handelt es sich aber auch um kleine, einfache Steinhäuschen. Wie die Parachutes, sind die Steinhäuschen mit bequemenTeppichen und kleinen Tischchen für die Gäste ausgestattet. Klappstühle führen nur die großen Trekkinggruppen für ihre Klienten mit, in Zanskar sitzt man für gewöhnlich auf dem Boden. Die Hotels dienen normalerweise nicht zur Übernachtung, es wird davon ausgegangen, daß Trekker mit ihren Zelten unterwegs sind.

Hinter Linshed ziehen wir zunächst auf einen kleinen Sattel, dann führt ein Hangweg oberhalb einer Schlucht. Nach einer Bachquerung kehren wir zu einer Pause im Parachute ein, ehe unser Pfad steil hinunter in einen engen Bacheinschnitt führt. Die nun folgenden, steilen Serpentinen bringen uns auf die Paßhöhe Hanuma – La (4700 m), wo uns ein schöner Ausblick auf Schneeberge beschert ist. Danach begeben wir uns in einen sehr langen Abstieg durch herrliche Schluchten, zuerst in den Hängen, dann in der Schluchtsohle. Trotz des tosenden Wassers behält die Umgebung ihr karges, felsiges Ambiente. Je weiter wir unseren Weg fortsetzen, desto mehr gewinnt die Landschaft an Dramatik. Eine riesige Schneebrücke muß mit den Pferden umgangen werden, da diese plötzlich abbricht, und die Tiere nicht in der Lage sind, anderthalb Meter hinunter zu springen. Das riesige Tor der Schneebrücke ist übermannshoch, man könnte praktisch unten in die dunkle Höhle hineinwandern. Aber wehe, wenn dann von oben die Decke bräche! Öfters können wir nun auch vollkommen von Schutt bedeckte Lawinenkegel ausmachen, die sich des Winters oder im naßschneegefährlichen Frühjahr über Rinnen und schmale Nebenklammen ins Bachbett hineingedrängt haben. Um 14.15 Uhr erreichen wir das Lager Snertse. Snertse ist nur eine Hirtenstation inmitten der Berge. Wie zuvor schon beim Camp hinter dem Sengge La, finden sich weit und breit weder ein Dorf noch ein Weiler. Ein heftiger Wind fegt über das Camp und trägt Unmengen von Staub in alle Ritzen und in unsere Augen. Dummerweise müssen mir ausgerechnet auf dieser Trekkingtour die bereits angeschlagenen Zeltreißverschlüsse vollends streiken. Zelt und Ausrüstung werden vollkommen mit Sand eingedeckt. Zum Essen finden wir eine windgeschützte Nische in einer Felswand oberhalb des vorbeifließenden Bergbaches. Eigentlich ist hier ein traumhaft schöner Platz inmitten großartiger Naturkulisse, wenn da nur der verfluchte Staub nicht wäre!

Später begebe ich mich auf eine kleine Wanderung ohne festes Ziel. Ich umgehe den nahen Hügel und steige an ihm aufwärts. Dahinter erhebt sich eine weitere Kuppe, Pferde grasen in der Umgebung. Ich steige weiter auf, will die Höhe erreichen, um vielleicht einen Blick zur anderen Seite zu erhaschen. Schließlich erreiche ich einen Sattel. Hier hängen ausnahmsweise keine Gebetsfahnen, dafür liegt in der Mitte zwischen zwei aufgehäuften Steinsäulen, welche den Paßdurchgang begrenzen, der skelettierte Schädel eines Steinbocks. Solche "Totems" haben in Ladakh den Sinn, böse Geister zu vertreiben. man findet Tierschädel oder auch ganze mumifizierte Kadaver allenthalben in oder an Häusern.

Die Aussicht zur anderen Seite ist nicht so dramatisch, wie ich erwartet hatte, denn jenseits des Passes senkt sich das Gelände relativ harmlos ab. Atemberaubend zaubert aber nun die Sonne ein fantastisches Licht auf den mir gegenüber aufragenden Felsgipfel, der nun in allen nur erdenklichen Rot- und Brauntönen zu leuchten beginnt. Ich kann auch den Pfad zum steilen Parfi – La einsehen, den wir morgen gehen werden. Zwischen sich hoch aufreckenden Felsriesen hat tosendes Schmelzwasser scharfe, tausend und mehr Meter tiefe Schluchteinschnitte herausmodelliert, die das Gesamtbild einer hochdramatischen Urlandschaft ergeben. Die Paßhöhe, auf der ich mich jetzt befinde, ist übrigens ein gutes Stück höher, als der Parfi – La. Wir haben uns für den Abend zum Essen im "Hotel" angemeldet, weshalb ich mich nun beeilen muß, um schließlich noch pünktlich bei Tisch zu erscheinen.Bei unserem Mittagessen in der Felsnische gingen übrigens Haydars Löffel und die Chapatties, die Dashi´s Schwester in Lingshed für uns gebacken hatte, abhanden.

Gegen Acht ziehen wir wieder los, dem Parfi – La entgegen. Es ist eine Wonne, durch eine so wildschöne Landschaft zu trekken. Dem kargen Boden entwachsen nur harte Gräser, doch als besondere Zierde leuchten nun vereinzelt rote, beerenähnliche Blüten. Um zum Fuß des Parfi – La zu gelangen, stürmen wir zunächst einen steilen, staubigen Pfad abwärts. Bei solchen Gelegenheiten, ist es immer von Vorteil, vor den Pferden zu marschieren, da man sonst in der Staubglocke schier erstickt. Im Talgrund erreichen wir einen Flußlauf, der auf einer landestypischen Brücke gequert wird. Landestypisch bedeutet eine geländerlose, durch zwei Baumstämme getragene Konstruktion, deren Steg aus über die beiden Stämme gelegte Holz- und Steinplatten besteht. Während ich diese Brücken immer mit einem guten Schuß leichtsinniger Unbekümmertheit überquere, scheint es dabei nicht allen Reisenden gleich zu gehen. Haydar gesteht mir, daß es ihm bei solchen Anlässen nicht immer ganz wohl ist. Der Anstieg zum Parfi – La führt uns aus dem faszinierenden Schluchtensystem heraus und bringt uns auf der anderen Seite in das stark geweitete Tal des Zanskar – Flusses. Der Zanskar ist einer der Hauptzuflüsse des Indus, seine Wasserader zieht quer durch das nach ihm benannte alte Königreich. Im Unterschied zu unserer Route schlängelt der Zanskar sich anstatt gen Nordwesten nach Nordosten, wo er bei Saspol den Indus erreicht. Der mittlere Abschnitt des Zanskar ist bis zum heutigen Tage weder zu Fuß geschweige denn per Fahrzeug direkt begehbar. Wenn der Zanskar im Winter zufriert, wird er von den Bewohnern der abgelegenen Dörfer als Verbindungsweg genutzt. Diese tagelangen Versorgungsmärsche werden Chaddar genannt. In neuester Zeit wurde die Chaddar auch durch eine besonders bärfellige Sorte von Trekkingtouristen entdeckt, sicher auch animiert durch Dieter Glogowski´s Fernsehdokumentation einer Chaddar hinauf zum Kloster Hemis, dem bekanntesten Gompa in Ladakh. Dieser Trek birgt viele Gefahren, und man muß Temperaturen von minus 30 bis minus 40 Grad hinnehmen können. Dort, wo wir das Zanskartal erreichen, ist dieses über einen guten Pfad begehbar. Dieser zieht sich mal auf Flußhöhe, mal hoch darüber, in einem wilden Auf und Ab fast ununterbrochen am Ufer entlang. Auf der gegenüberliegenden Flußseite ist man gerade dabei, eine Straße zu bauen. Diese soll eines Tages Padum mit Leh verbinden, und wenn sie fertiggestellt ist, wird sich entlang ihrer Führung vieles verändern. Ob die Zanskar – Trekkingtour so, wie sie von uns noch begangen wird, dann noch existieren wird, ist fraglich. Trotz der landschaftlichen Attraktivität wird es wohl wenige Trekker geben, die sich auf eine Tour einlassen, die auf der anderen Seite des Flusses genauso gut über eine Piste per Jeep befahren werden kann. Den abgelegenen Dörfern wird der Straßenbau wohl die Segen der Zivilisation bringen, ob sie aber auch Zufriedenheit und Wohlstand bringen wird, sei dahingestellt. Im gesamten Himalaya findet man vielerorts solcherlei Straßenbauprojekte, sich im Bau befindliche und vollendete. Es handelt sich dabei nicht um ordentlich asphaltierte Straßen, sondern meist um liederliche, ständig durch Murenabgänge unterbrochene Pisten, über die man für 100 Kilometer oft zwei Tage unterwegs ist. Wenn man hinter die fadenscheinigen Begründungen der jeweiligen Regierungen blickt, erkennt man rasch, daß sich dahinter meist nur militärstrategische Gründe verbergen, denn die Bevölkerung in diesen abgelegenen Gebieten dürfte den meisten Führungsköpfen in Delhi, Islamabad oder Kathmandu mindestens so gleichgültig sein, wie die vielen Obdachlosen und Bettler in den molochartigen Großstädten des Tieflandes.

Der erste Teil des Weges erscheint uns etwas langweilig, vor allem dann, wenn man eine so grandiose Schluchtenwanderung erlebt hat, wie sie uns auf den beiden zurückliegenden Tagesetappen beschert war. Doch bald schon gestaltet sich das Auf und Ab entlang der milchkaffeefarbenen Fluten des Zanskar interessanter und das rasend schnell dahinfließende Gewässer zieht uns in seinen Bann. Feinstsandige Ministrände von aschgrauer Farbe, natürlich völlig einsam und unberührt, machen den schönsten Karibikstränden Konkurrenz. Zum Baden allerdings ist der Zanskar nicht geeignet. Die irrsinnsschnelle Strömung ist viel zu gefährlich, und sein gletschergespeistes Wasser saukalt. Hinter einer beeindruckenden Flußbiegung, wo Stromschnellen mit aller Kraft gegen die starre Felswand gischten, erreichen wir unser Camp. Hanumil ist eine mit schattenspendenden Zwergpappeln bestandene Oase, die ihre Existenz eigentlich nur als Lagerplatz für Trekkingtouristen rechtfertigt. Am Nachmittag begeben sich Alfred und ich zur Katzenwäsche an einen der nahen Sandstrände. Man kann das Gewässer in Ufernähe durchaus betreten, nämlich da, wo der Wasserstand vielleicht gerade mal etwas mehr als knöcheltief ist. Man sollte sich aber unbedingt davor hüten, in die Strömung hineinzugeraten. Später wird das gleichmäßige Rauschen des Zanskar durch einen wuchtigen Knall unterbrochen, unmittelbar darauf sieht man eine riesige Staubwolke aufziehen. Dort, wo die Piste an einem Felsriegel ihr vorläufiges Ende hatte, wurde offensichtlich gesprengt, die Schlange der Zivilisation hat sich somit erneut um ein paar hundert Meter weiter ins wilde Zanskartal vorangefressen. Wir halten uns noch ein wenig am Strand auf, die Umgebung erscheint mir so, wie ich mir das Jordanland vorstelle. Als wir ins Lager zurückkehren, erhalten wir zwei Nachrichten, eine gute und eine schlechte: die gute ist, daß es Dashi gelungen ist, unseren spinnigen Kerosinkocher wieder zum Funktionieren zu bringen, die schlechte ist, daß eines unserer beiden Pferde einen Huf verloren hat, den Dashi mit Hilfe eines Einheimischen wieder notdürftig angebracht hat. Haydar, der Augenzeuge war, schenkt der Sache allerdings kein großes Vertrauen. Jetzt müssen wir also darum zittern, daß wir es mit Dashi und seinen Pferden wenigstens noch bis Padum schaffen. Die Franzosen haben uns übrigens darauf aufmerksam gemacht, daß in Flußnähe eine Pflanze gedeiht, die wir sicher alle kennen. Prompt finden wir ein ganzes Beet von Edelweißblumen. Um Unterschied zu denen, die ich aus den Alpen kenne, sind diese hier langstielig. Heute bleiben Haydar und ich noch lange nach Sonnenuntergang auf den Plastikstühlen vor dem Camprestaurant sitzen, auch wenn die flackernde Kerze immer wieder durch den Wind ausgeblasen wird und die Kälte der Nacht immer mehr an uns hinaufkriecht.

Das Frühstück fällt heute für Zanskarverhältnisse elitär aus.Yoghurt, Chapatti, Eier, Honig und Tee, schon beinahe ein Brunch! Haydar und ich gehen die ersten beiden Stunden mit Gepäck. Die Rücksicht auf den defekten Pferdehuf ist nur ein fadenscheiniger Vorwand unsererseits, denn in Wahrheit befinden wir uns mitten in der Taktik des orientalischen Handels, und Gott sei´s gelobt, daß Haydar als gebürtiger Anatolier hierfür die richtigen Ideen hat. Seit etwa zwei Tagen sind wir schon am Überlegen, wie es denn ab Padum weitergehen soll. Hierbei ziehen wir drei mögliche Varianten in Erwägung: wir werden Dashi als Pferdemann weiterverpflichten. Dies wäre dann an zwei Bedingungen geknüpft, nämlich einen für uns annehmbaren Preis und die Bewältigung der Strecke Padum – Darsha möglichst in sechs oder höchstens sieben Tagen. Die zweite Erwägung wäre bei Nichtzustandekommen einer Übereinkunft mit Dashi einen neuen Horseman zu engagieren, und die dritte hieße, daß wir unser Trekking autark fortsetzen, d.h. unser Gepäck selber tragen. Daß Haydar und ich in den heutigen Morgenstunden das Gepäck tragen, ist also nur Show, um Dashi zu zeigen, daß wir durchaus in der Lage sind, autark weiterzuziehen. Die Sache hat übrigens eine weitere amüsante Seite, denn ganz offensichtlich fühlt sich Dashi nicht wohl dabei, daß wir ihm seine Arbeit abnehmen, sei es, weil er diese so liebt oder aber auch wegen seines Ansehens als Pferdemann, wenn wir auf andere Einheimische treffen. Diesbezüglich gilt es noch zu erwähnen, daß man auf der Zanskar – Durchquerung viele Pferdemänner, Köche, Guids und andere für den Trekkingtourismus zuständige Zanskari trifft. Es sind aber auch noch mindestens ebenso viele Händler, Bauern, Schüler oder aus anderen Gründen Reisende Einheimische auf Zanskar´s staubigen Bergpfaden unterwegs. Zeitweise entfernen wir uns ein gutes Stück vom Zanskarufer, das Tal hat sich zu einer ausladenden Ebene geweitet und gelegentlich werden Bäche über schmale, wackelige Brücken gequert, die aus den engen Felswänden wilder Klammen hervorsprudeln. Der Zanskar selbst bildet immer wieder Seitenarme aus oder umspült Sandbänke.

Im Dorf Pidmo schauen wir drei Frauen – einer Mutter mit ihren zwei Töchtern – bei der Chang – Produktion zu. Chang ist das Bier Ladakhs, welches aus Gerste gewonnen wird. Wie bei der Weizenernte, so werden auch die Gerstenkörner mit Hilfe des Windes von der Spreu getrennt. Die Frauen werfen die Körner zunächst in die Luft, und anschließend wird handverlesen. Im Hof des Hauses steht eine riesige Kasserole bereit, wo die Gerstenkörner in heißem Wasser gekocht werden, um anschließend dem Gärungsprozeß überlassen zu werden. Auf einer Anhöhe können wir schließlich auf unser Etappenziel hinabblicken. Der Zanskar durchfließt eine große, rundliche Ebene, die Farben Grün und Gelb werden durch die kurz vor der Ernte stehenden Felder wiedergegeben, die große graue Fläche könnte nach meiner Mutmaßung als Landeplatz für das nahe Militärcamp dienen. Das Dorf auf der orographisch rechten Uferseite, welches ganz nah an die senkrecht aufstrebenden Felsberge und eine imposante Schluchtenöffnung gerückt ist, heißt Zangla. Auf unserer Uferseite erwartet uns Pishu, Heimatort unseres Pferdemannes Dashi. Um vom einen Dorf ins andere zu gelangen, muß man zunächst ein paar Kilometer flußabwärts marschieren, wo der Fluß über die längste Hängebrücke in Zanskar überquert wird, um anschließend wiederum mehrere Kilometer am Flußufer aufwärts zu gehen. Durch die Schlucht bei Zangla kann man über einen langen und einsamen Trek in Grundrichtung Nordost nach etwa 8 Tagesetappen das Kloster Hemis erreichen. Da sich das Touristencamp von Pishu laut Literatur in außergewöhnlich schöner Lage etwas unterhalb der Siedlung direkt am Zanskarufer befinden soll, bringen wir Dashi schonend bei, daß wir eben dort, und nicht in seinem Haus übernachten wollen. Gleichwohl nehmen wir gerne seine Einladung zum Essen bei ihm zu Hause heute abend an. Das Zeltrestaurant inmitten des durch Ziegen und Schafe kurzgeschorenen Rasens, eine im Hintergrund sich emporreckende Bergkette, die von Schnee und Gletschern wie mit Zuckerguß übergossen scheint, Gruppen weidender Pferde und Zwergziegen davor, und die im gleichmäßigen Tempo und Rauschen rasch dahinziehenden braunen Fluten des Zanskar schaffen hier tatsächlich einen auserlesenen Platz der Idylle. Fast erscheint mir dieses Bild aus der mongolischen Steppe entnommen.

Seit Delhi bin ich nicht mehr zum Rasieren gekommen, und ich benötige fast eine dreiviertel Stunde, um mir die borstigen Bartstoppeln aus dem Gesicht zu kratzen. Feierlich übergebe ich hiermit meine Barthaare den Fluten des Zanskar, damit dieser sie dem Indus zuführe, welcher sie wiederum nach seinem weiten Weg durch Pakistan ins arabische Meer hinausspülen wird. Der Mann vom Hotel hat für die hiesigen Verhältnisse, wo man es gewohnt ist, überwiegend gutmütige Minen und eher sanfte Gesichtszüge zu sehen, eine richtige Verbrechervisage. Er hat Ähnlichkeit mit Clint Eastwood und sein Ausdruck wirkt roh bis brutal. Später werden wir Augenzeugen der ladakhischen Prohibition. Wie bereits erwähnt, befindet sich am anderen Zanskarufer, oberhalb von Zangla ein Militärlager. Wie wir so gemütlich auf den Teppichen kauern und genüßlich unseren Tee schlürfen, stürmt plötzlich Clint Eastwood ins Zelt, zieht zwei Bierflaschen aus dem Kühleimer heraus und läßt diese blitzschnell hinterm Regal verschwinden. Da tritt auch schon ein sonnenbebrillter Soldat mit den Rangabzeichen eines Sergeanten herein. Auf der gesamten Trekkingtour bekommt man kaum Alkohol, denn um diesen verkaufen oder ausschenken zu dürfen, bedarf es einer besonderen Genehmigung. Ob diese in Ladakh schwerer zu bekommen ist, als woanders in Indien, konnten wir nicht in Erfahrung bringen.

Die Nachmittagswind wütet heute besonders heftig, er legt prompt das riesige Küchenzelt der frankoalemannischen Trekkinggruppe platt und läßt auch uns um die Standhaftigkeit unserer Zelte bangen. Wie verabredet, begeben wir uns um sechs hinauf zum Dorfrand, wo Dashi uns erwartet. Das Dorf Pishu ist eine Ansammlung von lauter gleich aussehenden, typisch ladakhischen Häusern. Überall sind Heu, Holz oder Kuhfladen auf den Flachdächern gelagert. Eigentlich nichts Außergewöhnliches, trotzdem erscheint mir dieser Ort auf eine eigenartige Weise gleichförmig und besitzt eine schroffe, schlichte Schönheit. Dashi´s Frau führt uns ins Haus. Wie üblich in Ladakh, dient das Erdgeschoß als Stall für die Tiere. Durch diesen stockdunklen Raum muß man sich zunächst zu einer Leiter tasten, über die man dann in Küche und Wohnräume gelangt. Die Küche ist der zentrale Teil eines ladakhischen Hauses, denn sie dient gleichzeitig auch als Wohnstube. Wir lassen uns auf den Teppichen hinter den niederen Tischchen nieder, welche zum Essen für auf dem Boden sitzende Personen gedacht sind, denn Stühle und Hocker kennt man hier nicht. In der Küche finden sich zu den eigentlich in jedem Ladakhi – Haushalt vorhandenen Messing – und Kupferkannen und – töpfen auch Porzellangeschirr. Wollknäuel hängen an der Decke, Pferdehalfter und der rohrförmige Stutzen zur Herstellung von Buttertee an den Wänden, eine Gasflasche, Lebensmittelkonserven sowie eine uralte Nähmaschine sind Beispiele weiterer sich im Raum befindlicher Gebrauchsartikel. Wie gewöhnlich, hat die Decke überhalb der Feuerstelle ein Loch für den Rauchabzug. Auch die Fenster sind nicht immer dicht, Glasschäden sind notdürftig mit Papier und Karton geflickt. Das dürfte jetzt im Sommer keine große Rolle spielen, doch meine Gedanken sind bei den knallharten Winterstürmen mit Temperaturen von minus 30 oder minus 40 Grad. Es ist die Zeit, in der die Ladakhis ihre Behausungen nicht mehr verlassen und nur noch von den von ihnen im Sommer angelegten Vorräten leben. Das Leben hier ist jedenfalls von einer für uns Mitteleuropäer unvorstellbaren Härte, und wir Trekker, die wir in den wenigen warmen Sommerwochen hier durchrauschen, können uns eigentlich nur schwer vorstellen, unter welchen Bedingungen die hiesige Bevölkerung den größten Teil des Jahres zuzubringen hat. Denn wenn draußen die arktische Kälte knackt und drinnen in den Häusern die Vorräte für Mensch und Tier immer knapper werden, ist in Ladakh wohl kein Tourist dabei.

Dashi´s Frau ist ein dürres, altes Weiblein, und - um ehrlich zu sein - recht unansehlich, und auch wenig sympatisch. Ihr linkes Auge ist schwer entzündet, doch wir haben nichts in unserer Rucksackapotheke, was ihr diesbezüglich helfen könnte. Touristen werden übrigens öfter von Einheimischen um Medikamente gebeten, nicht nur hier in Ladakh und auch nicht nur in Indien, denn sowohl Ärzte als auch Medikamente sind in den ländlichen Regionen der sogenannten Entwicklungsländer teuer und oftmals auch nicht verfügbar. So kann es sein, daß in manchen Gegenden sich ein – möglicherweise noch schlecht ausgebildeter oder aufgrund seiner miserablen Bezahlung lustloser - Landarzt mal alle paar Wochen, wenn überhaupt, blicken läßt, Medikamentenfälschungen sind in diesen Ländern bekanntlich sowieso weit verbreitet. Die Mehrzahl der Einheimischen läßt sich hier immer noch durch Schamanen und Geisterkult behandeln. Das möge man nicht so voreilig als primitiver Aberglaube abtun, denn ich denke, daß die Behandlung durch den Schamanen für die Dorfbewohner einfach nur kostengünstiger und eine solche Person auch jeder Zeit verfügbar ist. Wäre ständig eine für die Leute bezahlbare und halbwegs zuverlässige schulmedizinische Versorgung gewährleistet, so würde sicher die Mehrzahl der Menschen sich in die Obhut eines ordentlichen Arztes begeben.

Das einfache, aber schmackhafte Essen, welches uns serviert wird, ist – wie könnte es anders sein – Dhal Baaht. Zu den Linsen gesellt sich Weißkraut, ansonsten erkennen wir keinen Unterschied zu den uns bislang in Zanskar gereichten Reisgerichten. Eigentlich ist Dhal Baaht kein typisch ladakhisches Essen, da in Ladakh ja gar kein Reis wächst. Ursprünglich war die Gerste die Haupternährungspflanze, doch da auch Ladakh nicht gewisse Importe aus anderen Teilen Indiens verwehrt bleiben, hat sich der Reis wohl inzwischen als Grundnahrungsmittel durchgesetzt.

Nach dem Essen lenken wir das Gespräch auf unser weiteres Vorhaben mit der Frage an Dashi, ob er denn grundsätzlich bereit wäre, mit uns in höchstens sieben Tagen gen Darsha zu ziehen und wie er sich die Entlohnung vorstelle. Daß Dashi ein Schlitzohr ist, wissen wir bereits, denn bei unseren ersten Verhandlungen hat er uns noch eine Entgeltung für den Rückweg von Padum nach Lamayuru abgerungen. Wir waren damals noch so blauäugig, darauf reinzufallen. Inzwischen gehen wir davon aus, daß Dashi, wenn wir in Padum eintreffen, von dort nicht ohne eine neue Trekkinggruppe gen Norden zurückkehren wird. Er macht daraus jetzt auch keinen Hehl, und versucht uns dahingehend zu erpressen, daß er anführt, er könne in Padum jederzeit eine gut zahlende Trekkinggruppe bis Lamayuru übernehmen. Schließlich und endlich kommen wir nach einer guten Stunde des Verhandelns nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Es ist nicht so, daß wir die von Dashi geforderte Summe nicht einbringen könnten, denn schließlich sind wir zu Dritt. Vielmehr geht es uns darum, uns mit der Auszahlung eines völlig überzogenen Lohnes nicht lächerlich zu machen. Zudem sehen wir die Sache auch so, daß der Beruf Pferdemann einer der lukrativsten Jobs in Ladakh ist und weitere Überbezahlungen eventuell dazu führen könnten, daß jeder Ladakhi Ernte Ernte sein läßt, und sich alle nur noch gierig um die Touristen schlagen, womit eine bislang noch funktionierende soziale Struktur völlig ins Wanken geraten und schließlich zerbrechen könnte. Die Verlierer wären am Ende die Ladakhis selbst.

Schließlich haben wir den Eindruck gewonnen, daß im Endeffekt nicht Dashi, sondern seine Frau mit uns handelt, denn es ist uns nicht entgangen, daß diese immer wieder auf ihn eingeredet und er selbst auffallend verunsichert gewirkt hat. Armer Dashi, dieser Mann hat uns auf unserer gemeinsamen Reise unheimlich imponiert, doch im eigenen Haus scheint offensichtlich jemand anderes das Sagen zu haben.

Die Stellung der Frau im tibetischen Kulturkreis ist allerdings auch eine völlig andere, als bei den Hindus oder gar bei den Muslimen. Die ladakhische Frau ist dem Mann komplett gleichgestellt. Ja, es existiert sogar Polygamie und zwar insofern, daß eine Frau oft mehrere Männer ehelicht, meistens ist es noch der jüngere Bruder des Ehegatten. Was Heinrich Harrer allerdings noch bis in die siebziger Jahre als Gang und Gäbe vorfand, weicht heutzutage in der Praxis immer mehr zugunsten der Monogamie.

Als wir uns von Dashi und seiner Familie verabschieden – seine Tochter durften wir übrigens auch noch kennenlernen – ist es draußen bereits dunkel und ein kalter Wind zieht uns um die Ohren, als wir im Schatten der Nacht zu den Zelten zurückstolpern. Die Verhandlungen mit Dashi sind übrigens gescheitert und wir freunden uns mit dem Gedanken an, die Strecke Padum – Darsha ohne Pferdemann zu machen. Da wir zwischenzeitlich alle Drei bestens akklimatisiert sind, dürfte uns das Selbertragen des Gepäcks nichts mehr ausmachen.

Am Nachmittag konnten wir bereits beobachten, daß der Wind ein größere Wolkenmenge des Monsuns, der ja immer noch die andere Seite des Gebirges im Griff hat, herübergetragen und die vor uns liegenden Schneeberge in dicke Wolken gehüllt hatte. Die Nacht bleibt niederschlagsfrei, der frühe Morgen jedoch zeigt sich saukalt. Als ich mich wiederwillig aus dem Schlafsack herauspelle, präsentieren die grau – schwarzen Felsen der nahegelegenen 4000-er eine feine Zuckerschicht. Dort oben hat es also geschneit. Vor Dashi´s Haus werden die Pferde beladen und wir beginnen unsere heutige Etappe unter einem wolkenverhangenen Himmel. Bevor wir das Dorf verlassen, muß Dashi noch zur Volkszählung im örtlichen Schulgebäude, welches von ein paar salopp herumhängenden Militärs überwacht wird. Das Zanskartal ist hier weit ausladend, wir durchschreiten es teilweise auf Fahrwegen, auf welchen uns aber kein einziges motorisiertes Fahrzeug begegnet. An einem Bach hat ein "Hotelier" das sauberste und gepflegteste Zeltrestaurant, welches wir in Zanskar besucht haben, eingerichtet. Gestern hatten wir von unserem Lagerplatz aus die Aussicht auf ein Gletschermassiv, an dem wir heute vorbeimarschieren. Hinter dem Dorf Rinam jedoch eröffnet sich unseren faszinierten Blicken eine wahre Galerie von herrlichen Gletscherbergen. Es sind die bislang umfangreichsten Eismassiven auf unseren bisherigen Durchquerung.

Der Kleinstadt Padum eilt der zweifelhafte Ruf eines staubigen, heruntergekommenen Nests am Ende der Welt voraus. Dennoch freuen wir uns im besonderen Maße auf unser Etappenziel, denn hier bietet sich zum ersten Mal seit zehn Tagen die Möglichkeit einer Übernachtung in einem echten Bett, wenn auch in einem der für ihre Schäbigkeit legendären Hotels. Zudem können wir uns in den zahlreichen Restaurants der Stadt nach Herzenslust mit allen erdenklichen Speisen der südasiatischen Küche den Magen verrenken. Selbst elektrischer Strom, Telefon- und Internetverbindung, sowie Geldwechsel sind zumindest in einem gewissen Umfang verfügbar. Padum liegt am südlichen Rand der riesigen, kreisrunden Ebene, in welcher die Zusammenflüsse von Doda und Tsarap den Zanskar bilden. Über dem südlichen Stadtrand recken sich glitzernde Gletscherriesen der Sonne entgegen. Durch den langen Taleinschnitt des Doda, der sich nach Nordwesten hin öffnet, führt die Straße nach Kargil. Ab hier gilt wieder die Reisewarnung des deutschen Auswärtigen Amtes, denn obwohl das Gebiet noch zu Ladakh gehört, wird die muslimische Bevölkerung immer wieder in den Kaschmirkonflikt hineingezogen. So wurde während des sogenannten Kargil – Krieges im Frühjahr bis Sommer 1999 die Stadt Kargil mehrfach Ziel von pakistanischen Artillerieangriffen. Von Padum bis dorthin muß man per Autobus mit etwa 18 martialischen Fahrstunden über holprige Schotterpiste rechnen. Dennoch ist die "Kargil – Road" die schnellste Verbindung Padums mit der nächstgelegenen Stadt. In Padum selbst leben sowohl Buddhisten als auch Muslime, allerdings auch hier nicht immer in friedlicher Koexistenz. Vor ein paar Jahren war es in der Stadt zu schweren Unruhen gekommen.

Während Alfred zusammen mit Dashi und den Pferden den Weg hinunter in die Ebene einschlagen, um so am schnellsten und direktesten nach Padum zu gelangen, bleiben Haydar und ich weiterhin auf dem durch den Hang ziehenden Weg, der uns in das Dorf Karsha führt und der über und über mit Heuschrecken übersät ist. Der Grund für unseren Umweg ist das dramatisch auf steile Felsen gekittete Gompa, das wie eine Trutzburg über der Ortschaft residiert. Leider haben wir es versäumt, uns eine Flasche Wasser aus dem Gepäck zu nehmen, ehe wir uns von Alfred und Dashi trennten. Wir fühlen uns wie ausgedörrte, asketische Pilger, als wir den steilen Pfad hinauf zum Gompa erklimmen. Im Eingangstor des Klosters dösen ein paar Straßenhunde faul in der Mittagssonne, ansonsten ist hier zunächst keine Menschenseele zu sehen. Erst, nachdem wir bereits über zig Stufen, vorbei an den von Mönchen bewohnten, weiß getünchten Klausen, den ersten Tempel erreichen, zeigt sich uns ein Lama (Lama = tibetisch – buddhistischer Mönch). Wir unterhalten uns ein wenig mit ihm, und er empfiehlt uns, ganz nach oben zu steigen, wo ein weiterer Tempel zur Besichtigung geöffnet sei. Großartig ist das Panorama über die von Gebetsfahnen umflatterten Dächer und Mauern des Klosters hinweg in die unter uns sich ausbreitende Tiefebene, dem Ort Padum und zu den fantastischen Felsriesen und Eisgiganten rings herum. Bis wir oben ankommen, kleben uns die Zungen am ausgetrockneten Daumen. Wir treffen dort oben tatsächlich einen weiteren Mönch, und die Türe zum Schrein ist auch geöffnet. Zunächst aber erbitten wir Wasser. Noch nie zuvor in meinem Leben ist mir auf eine solch feierliche Art Wasser gereicht worden. Der Mönch geht mit einer Kupferkanne zur Quelle, wo er diese füllt. Das Wasser der Kupferkanne gießt er bedächtig in einen reich verzierten Zinnbecher und reicht uns diesen. Der Becher wird mehrfach wiederaufgefüllt, bis unser ärgster Durst gelöscht ist. Anschließend lassen wir uns ins Tempelinnere führen und verschiedene Dinge erklären. Neben den herkömmlichen Sitzgelegenheiten für die betenden Mönche gibt es zwei thron – oder sänftenähnliche Sessel. Der eine gehört dem Klostervorsteher, der übrigens auch den hohen Titel eines Rimpoche trägt. Der Rimpoche ist in der tibetisch – buddhistischen Kultur eine bedeutende Inkarnation, d.h. diesen Titel hat man von Geburt an, oder man wird zu einem späteren Zeitpunkt als solcher erkannt. Somit kann man niemals durch Taten oder Errungenschaften des jetzigen Lebens Rimpoche werden, sondern erst nach einer erneuten Wiedergeburt. Der andere Sitz gehört dem Dalai Lama.Außer den beiden genannten Personen darf niemand sonst diese beiden Sessel benutzen. Wir hinterlassen noch eine kleine Donation für die kürzlich erst abgebrannte Klosterküche. Auf den vielen, vielen Treppen, die uns durch die Klosteranlage wieder abwärts führen, begegnet uns ein gutes Dutzend Mönche, das Gompa erscheint plötzlich zum Leben erwacht. Karsha wäre eigentlich ein netter Flecken, um die heutige Tour zu beenden und sich in einem der beiden halbmaroden "Westernhotels" im Ort einzuquartieren. Aus logistischen Gründen haben wir uns aber vorab schon für Padum entschieden, zumal Alfred, Dashi und unser Gepäck wohl dort schon angekommen sein dürften.

Wir passieren die Brücke über den Tsarap und durchqueren auf einem staubigen Fahrweg die öde, trostlose Ebene. Der Wind pfeift uns dabei gehörig um die Ohren, und wir müssen uns gegenseitig anbrüllen, um uns zu verständigen. Irgendwie kommen wir uns vor wie zwei Verirrte in der Wüste, und wir sind gottfroh, als wir endlich den unteren Ortsrand erreichen. Wir gehen zwischen Feldern, überspringen Wassergräben, passieren Behausungen und bis wir den eigentlichen Ortskern erreichen, ist nochmal eine Stunde um. Im unteren Ortsteil siedeln noch überwiegend Buddhisten. Mir war aber eine Frau aufgefallen, die mit der Feldarbeit beschäftigt war und ein Kopftuch trug. Als ich sie mit "Ju – Lee" begrüße, antwortet sie mir nicht, und wendet stattdessen ihr Gesicht ab, was nach unseren bisherigen Erfahrungen sehr ungewöhnlich ist. Während man sich mit muslimischen Männern weiterhin unbefangen unterhalten kann, gilt es, bezüglich des Umgangs mit Frauen Unterschiede zwischen muslimischen und buddhistischen Frauen zu machen, um eventuellen Ärger zu vermeiden. Auf einer Wiese hinter der Hauptstraße treffen wir endlich Dashi mit den Pferden. Alfred sei bereits im Hotel. Haydar zieht los, um etwas Trinkbares zu besorgen. er kehrt mit Coca Cola und mit Alfred zurück, welcher uns bereits ein Zimmer im Hotel "Ibex" gesichert hat. Wir unterhalten uns noch etwa ein Stündchen mit Dashi, ehe wir endgültig von ihm Abschied nehmen. Er wird die Nacht hier auf der Wiese verbringen und will, nachdem ein paar Besorgungen getätigt sind, morgen wieder in sein Heimatdorf Pishu zurückkehren, wo bereits zwei Trekker auf ihn warten, mit denen er hinauf nach Lamayuru ziehen wird. Besonders Haydar geht der Abschied von unserem treuen Pferdemann sehr nahe. In den zehn Tagen, die wir gemeinsam verbracht haben, hat uns Dashi alle beeindruckt. Er war ein guter und fachkundiger Pferdemann, von dem wir so Einiges über die Natur in Zanskar und den Umgang mit den Pferden lernen konnten. Wir lernten unseren Pferdemann aber auch als geschickten Handwerker. als gerissenes Schlitzohr und als humorvollen Kumpel kennen, und die Reise mit ihm hat uns viel Spaß gemacht.

Das Hotel "Ibex" (Ibex ist übrigens eine himalayische Wildziegenart) wartet mit einem schönen Innenhof im Kolonialstil und muffigen, stickigen Zimmern auf. Zudem sind die Teppiche feucht, das versprochene warme Wasser ist kalt, und elektrischen Strom gibt es nur sporadisch. Alles in Allem ist es ein für Padum typisches Hotel der gehobenen Mittelklasse. Wir bestellen reichlich Essen, das uns unter den schattigen Bäumen des Hofes auf schmuddeligem Tisch serviert wird. Der Kellner schafft es - trotz mehrmaliger Bitte - leider nicht, den Tisch vorher abzuwischen.

Wir besuchen ein Internetcafé, in dem verhältnismäßig hohe Gebühren abkassiert werden. Direkt neben dem Cybercafé befindet sich ein kleines Restaurant. Obwohl wir erst vor etwa einer Stunde gegessen haben, hat uns die lange Entbehrung auf der Trekkingtour gierig gemacht, zumal man bei den hiesigen Preisen nicht lange zu überlegen braucht. Wir befinden uns in einem der typischen, und in ganz Indien so zahlreichen Dhabas, winzige Esslokale mit schmackhaften, äußerst preisgünstigen Gerichten, in denen überwiegend die Locals verkehren. Zur Auswahl steht uns nur ein Menü, das Gericht aus chinesischer Küche mundet aber hervorragend. Das Witzige hierbei ist, daß man für die nebenbei getrunkene Coca Cola oft mehr bezahlen muß, als für das Essen selbst. Neben dem Restaurant befindet sich eine typisch indische Konditorei, wo wir uns Süßigkeiten zum Milchtee reichen lassen.Draußen ist es inzwischen schon stockdunkel, und da in der Stadt, wie bereits angedeutet, der elektrische Strom nur sporadisch fließt, sitzen wir hier bei Kerzenlichtidylle. Die Kulisse der schlichten Lokalität, in der flackernde Kerzenflammen in unregelmäßigen Abständen den einen oder anderen blassen Schein über die dunklen Gesichter der – außer uns Beiden – nur einheimischen Gäste huschen läßt, würde sich dazu eignen, ein Segment für einen Film à la "Casablanca" zu drehen.

Wir kehren nochmals zurück ins Internetcafé, wo man auch Geld wechsel kann, eine Bank gibt es in Padum nicht. Der Besitzer ist ein typischer Gewinnler aus dem Tourismusgeschäft. Leute wie ihn trifft man häufig in den Trekkingregionen des Himalaya. Er ist dem Aussehen nach tibetisch – buddhistischen Herkunft, trägt einen guten Anzug, eine teuere Armbanduhr blitzt an seinem Handgelenk, er kommuniziert ständig über´s Handy, sein englisch ist ausgezeichnet und er ist ein brillanter Kopfrechner. Selbstredend sind die Wechselgebühren in Padum überdurchschnittlich hoch, und er läßt sich nicht unter eine gewisse Summe herunterhandeln. Stattdessen gibt er uns die Empfehlung, es bei der Besitzerin des nahen Hotels "Kailash" zu versuchen. Das gegenseitige Zuführen von Kunden funktioniert nach dem Motto "eine Hand wäscht die andere" und wird nicht etwa aus Selbstlosigkeit praktiziert.

Tatsächlich ist der Wechselkurs im "Kailash" ein wenig günstiger, aber immer noch über landesüblichem Niveau. Zudem sind wir hier in einer Räuberhöhle gelandet. Besoffene, reichlich schräge Typen hängen hier ab, während uns die Besitzerin in aller Öffentlichkeit die gewechselten Rupien vorzählt. Ich beobachte unauffällig die Runde und linse zu einer angetrunkenen Vierergruppe am zu uns am nächsten stehenden Tisch. In der Tischmitte thront die Schnapsflasche, hämisches Lachen ergeht mit verschlagenen Blicken in unsere Richtung. Kurz bevor wir das Lokal verlassen wollen, werden die Gläser erneut gefüllt, ein günstiger Augenblick. Ich ermahne Haydar zur Eile, aber auch ihm ist die suspekte Atmosphäre in dem Laden nicht entgangen. Wenige hundert Meter trennen uns vom "Ibex" über eine vollkommen unbleuchtete Straße und wir beeilen uns, daß wir davonkommen, wobei wir natürlich achtgeben, was hinter uns passiert. Die halbe Nacht werde ich wegen unseres Freßexzesses von Sodbrennen geplagt, was uns allerdings nicht daran hindert, bereits am nächsten Morgen wiederum ein opulentes Frühstück zu ordern, denn für die kommenden sechs Tage werden wir uns wieder an genügsamere Kost gewöhnen müssen. Unheilvolle Laute ertönen bei der Zubereitung aus der Küche, aber das geräuschvolle Hochziehen von gewissen Halssekreten und das unüberhörbare Säubern der Nasen durch Zuhalten eines Nasenflügels und den Rotz durch den anderen auf den Boden gehören vorzugsweise Morgens zur üblichen Reinigungsprozedur in Südasien. Doch solche "Unflätigkeiten", lange Wartezeiten, lustloses Personal, mangelnde Sauberkeit oder die Tatsache, daß anstatt dem Bestellten etwas ganz anderes serviert wird, sind Dinge, mit denen der Indienreisende schon allein zum eigenen Wohle wenn irgendwie möglich umzugehen lernen sollte.

Hinter Padum folgen wir der Fahrstraße hoch über dem Tsarap. Unterwegs begegnen wir vielen Straßenbauarbeitern, und die wenigen Lastwagen, die an uns vorbeiröhren, und uns mit Staub und Abgasen eindecken, dienen ebenfalls dem Straßenbau. Irgendwie erscheint uns das kurios, eine Straße, die scheinbar nur zu ihrem Selbstzweck gebaut wird. Aber dies ist nichts Ungewöhnliches im Himalaya.Die Regierung bezahlt solange, bis die Straße fertig ist. Mir ist daher zu Ohren gekommen, daß Projekte existieren, bei denen die Arbeiter keinerlei Interesse zeigen, daß diese vollendet werden, damit Lohnzahlungen und Arbeit so lange als möglich erhalten bleiben.

Das Kloster Bardan residiert – wie soll es auch anders sein – pompös auf einem Felsen hoch über der Schlucht. Direkt hinter dem Gompa werden durch einen Militärposten unsere Ausweise und Visa kontrolliert. Im Gegensatz zu Nepal, wo Touristen meiner Erfahrung nach diesbezüglich bevorzugt behandelt werden, werden sie hier in Indien – sinnvoll oder unsinnig spielt dabei keine Rolle – von derartigen Checks nicht ausgenommen. Bei der Fortsetzung unseres Weges kommen uns die Bewohner des nahen Dorfes Shila in Scharen entgegen, und zwar allesamt im Sonntagsstaat. Im Kloster findet offensichtlich eine Feier statt, und die Leute tragen die traditionellen Trachten. So sind die Männer mit ihren roten, einem Rock ähnlichen, Mänteln und den altladakhischen Lederhüten bekleidet. Die Frauen tragen sehr zu meinem Entzücken den traditionellen Perak. Beim Perak handelt es sich um den typisch ladakhischen Frauenschmuck aus kostbaren Türkissteinen, der auf dem Kopf getragen und bis zum Rücken hinunterfallend, die Form einer Kobra wiedergibt (keine Sorge, es gibt in Ladakh keine Kobras, eben so wenig, wie es in Berlin Bären und in Baden- Württemberg Löwen gibt). An beiden Seiten des Perak sind meist riesige Fellohren angenäht. Oft wird der Perak umständlich mit dem Kopfhaar verflochten, vielleicht mit eine Erklärung dafür, daß man diesen herrlichen und außergewöhnlichen Kopfschmuck heutzutage nur noch an feierlichen Anlässen zu sehen bekommt. Die Ausstattung des Perak, d.h. die Anzahl der Türkise, soll auch den Reichtum der Familie demonstrieren. Da es sich bei den Peraks aber um einen Schmuck handelt, der von Generation zu Generation vererbt wird, muß die Pracht des Perak nicht zwingend die aktuelle ökonomische Situation seiner Besitzerin anzeigen.

In Ladakh haben wir bislang nur freundliche Leute getroffen, und so ist der ladakhische Gruß "Ju – Lee" eine Vokabel, die sich der Tourist vom ersten Tag seines Aufenthaltes an aneignen sollte. Wir haben niemals Einheimische unterwegs getroffen, die nicht grüßen. Man kann den Gruß übrigens beliebig oft wiederholen, man kann also, wenn man auf eine oder mehrer Personen trifft, drei- oder viermal fröhlich "Ju – Lee" rufen. Die Pilger auf dem Weg zum Kloster scheinen jedenfalls besonders gut gelaunt zu sein, auch viele lachende Kinder sind mit dabei. Rosafarbene Schirme dienen als Sonnenschutz.

In Mune finden wir unterhalb des hiesigen Klosters unter schattenspendenden Bäumen ein angenehmes Plätzchen für eine Mittagspause. Das Marschieren mit Gepäck geht gut vonstatten und erlaubt uns eine gewisse Unabhängigkeit. So wollen wir heute noch Ichar erreich, was mit Pferden sicher nicht möglich gewesen wäre. Als wir den Weg fortsetzen, treffen wir auf eine junge Kalifornierin, die allein unterwegs ist. Während Alfred mit der jungen Dame auf dem Fahrweg bleibt, probieren Haydar und ich einen Pfad über die Berge, da uns die Fahrwegetappe langsam aber sicher auf den Wecker geht. Prompt gelangen wir schneller und sicher auch schöner ins nächste Dorf Reru. Von dort aus queren wir zunächst den aus einem engen Taleinschnitt herausströmenden Nebenfluß des Tsarap, um uns am gegenüberliegenden Ufer zunächst zu verlaufen. Der dort angefangene Fahrweg endet abrupt an Felsen und übersteilen Hängen. Wir kehren zurück und schlagen den Pfad ein, der uns hinauf zum Schluchtenrand bringt. Jetzt ist endgültig Schluß mit Fahrweg, und in einer prachtvollen, aber aufgrund der Länge mühsamen Schluchtenwanderung entlang der gelbbraunen Fluten des Tsarap aalen sich schließlich hoch über dem anderen Ufer die weißgetünchten Steinhäuser des prächtig situierten Dorfes Ichar im goldleuchtenden Abendlicht. Über eine Brücke gelangen wir auf die zum Camping vorgesehe Wiese, das Dorf berühren wir indes nicht. Die hier anwesenden Einheimischen zeigen sich wie immer sehr kontaktfreudig. Ein Junge mit einem batteriebetriebenem Transistorradio setzt sich zu mir und stellt die üblichen Fragen nach Nationalität, Familie, first time here? usw. Aus dem Radio tönt ladakhische Musik mit modernen Bässen. Dort, wo die Wiese über eine überhängende Felswand gut zwanzig Meter zum Tsarap abbricht, kann man mit etwas Schwindelfreiheit herrlich die Füße direkt über der Schlucht herabbaumeln lassen und sich an einer großartigen Szenerie ergötzen.

Auch anderntags folgen wir dem mächtigen Canyon des Tsarap, wobei unser Pfad meist in oder überhalb seiner abschüssigen Hänge verläuft. Ein Zwischenabstieg führt steil in eine seitlich einschneidende Klamm, was von uns zwar als mühsam, aber ebensogut auch als imposant empfunden wird. Wieder oben, treffen wir auf einen wandernden indischen Bergfreund. Inder, die wie die Euopäer oder Amerikaner freiwillig im Gebirge herumwandern, sind eine Seltenheit. Der Mann kommt aus Moombay (früher: Bombay) und interessant, ist sein "Kartenmaterial": Luftbilder, die er sich aus dem Internet ausgedruckt hat. Am ersten Teehaus, welches sich direkt am Tsarap – Ufer befindet, begegnen wir einigen Nonnen, die sich gerade an einer Quelle waschen. Es gibt zwar bei Weitem nicht so viele Nonnen wie Mönche im Land, trotzdem trifft man hin und wieder auch diese. Wie ihre männlichen Kollegen, tragen auch sie den Kopf kahlrasiert. Das zweite Teehaus liegt wiederum hoch über der Schlucht. Dort informieren wir uns nebenbei darüber, wie in Ladakh eigentlich die Toten bestattet werden. Dies geschieht einerseits durch Übergabe des Leichnams an einen abgelegenen Ort, wo Selbiger mehr oder weniger als Tierfutter dient, und im Falle von ansteckenden Krankheiten durch Feuerbestattung, wobei die Asche anschließend in den Wind gestreut wird.

Am Brückenkopf von Purne bricht dann ein waschechter Streit zwischen Alfred und Haydar aus. Während Alfred behauptet, Haydar hätte ihn absichtlich in die falsche Richtung gehen lassen, als er zur Brücke über den Tsarap hinunter – und am gegenüberliegenden Ufer steil wieder zum Dorf Cha emporgestiegen war, wirft dieser ihm vor, er wäre, anstatt zu warten und sich abzusprechen, einfach zumarschiert. Jedenfalls bringt die Situation in der bereits schon länger gärenden Atmosphäre das Faß zu Überlaufen und Alfred kündigt an, ab morgen allein weiterzugehen.

Von Purne aus sollte man sich den Abstecher zu Puktal – Kloster keineswegs entgehen lassen. Empfehlenswert ist ein Rundweg, bei dem man über die Ortschaft Cha wieder nach Purne zurückkehrt. Dies würde aber eine extra Tageswanderung erfordern, somit entscheiden wir uns für die einfache Route. Durch den meiner Meinung nach schönsten Schluchtenweg auf der gesamten Zanskar – Durchquerung nähert man sich in einem wilden Auf und Ab dem hochdramatisch platzierten Kloster. Kein griechisches Athos – Kloster könnte beeindruckender erscheinen, wie dieses Puktal – Gompa, welches sich aus einer Höhlenöffnung im obersten Bereich eines enormen Felsens wie weiße Lavamasse über den steilen Hang zu ergießen scheint. Darunter bricht die Schlucht senkrecht zum Fluß hinunter. Bevor man jedoch zum Kloster gelangt, türmen sich im oberen Drittel der Schlucht riesige Felsbrocken im Flußbett, starre Zeugen eines Bergsturzes. Kurz vor der Brücke, wo die letzten Pfadwindungen zum Gompa hinaufführen, begenen wir Alfred, der bereits wieder auf dem Rückweg ist. Leider ist uns sein Glück nicht mehr beschieden, den Schrein, der sich direkt in der Höhle, im obersten Teil des Klosters befindet, von innen besichtigen zu dürfen. Dennoch kommen wir zu einem amüsanten Gespräch mit einem anwesenden Mönch. Er sagt uns, daß es auch möglich sei, im Kloster zu übernachten. Direkt am Eingang befindet sich ein schlichtes "Hotel". Hätten wir das gewußt, und nur annähernd eine Vorstellung von der Großartigkeit dieses Ortes gehabt, so hätten wir trotz zusätzlicher Mühen unser Gepäck hier herauf geschleppt, anstatt unten in Purne zu nächtigen. Die Rückkehr durch die Schlucht in der aufziehenden Dämmerung bietet uns zum Ausklang ein grandioses Naturschauspiel. Wir erreichen Purne gerade noch kurz vor der endgültigen Finsternis. Das Restaurant, wo wir uns zum Essen angemeldet haben, ist bereits geschlossen, und wir werden von den Besitzern ins Haus gebeten. Wiederum haben wir die Ehre, einen Abend in einem echten ladakhischen Haus mitten im Kreis der Familie zu verbringen. Bellende Hunde – eigentlich eine Seltenheit in Ladakh – stören in dieser Nacht den Frieden erheblich.

Den ersten Teil unserer heutigen Strecke bringen wir im Gegensatz zu den gängigen Beschreibungen auf der orographisch rechten Flußseite zu. Der Pfad rutscht aber hier immer wieder den Hang hinunter und so manche kribbelige Passage bleibt uns hierbei nicht erspart. Da wir noch lebend in Darsha ankommen und nicht etwa als Wasserleichen über Tsarap und Zanskar in den Indus zurückgeschwemmt werden möchten, wechseln wir bei der nächsten Brücke die Uferseite und kehren auf den sicheren Weg zurück. Bald weitet sich der enge Canyon zugunsten eines weiten Tals. Jal, Teta und Kuru heißen die Dörfer, durch die wir marschieren und wo uns ständig Menschen von den Feldern aus zuwinken. Heute sind wir beide an einem körperlichen Tiefpunkt angekommen. Obwohl die Wegführung einfach ist und auch die Steigungen nur mäßig ausfallen, schleppen wir uns mühsam von Pause zu Pause. An einer Brücke wird die Uferseite gewechselt und wir kommen nach Tanze. Dort begegnet uns ein kleiner Junge, dem der Speichel aus dem Mund geifert.Ich frage ihn, ob das hier Tanze sei, und ich erhalte zunächst keine Antwort. Erst nach einer Weile höre ich, wie er das Wort "Sweets" – Süßigkeiten herausstammelt. Zuerst halte ich ihn für einen eventuell durch Inzucht geistig Behinderten, doch irgendwie will das nicht so recht passen. Mein zweiter Einfall ist erschreckend, aber könnte durchaus zutreffend sein: Indien ist das Land mit den meisten Tollwut – Fällen. Wenn dies auf den Jungen zuträfe, dann hätte er wohl nur noch wenige Wochen zu leben, und kein Arzt auf der Welt könnte ihm noch helfen. Bezüglich Tollwut haben wir uns keiner Impfung unterzogen, da diese sehr teuer ist, und wir wußten, daß es in Ladakh wenige Hunde und fast keine Wildtiere gibt. Wird man allerdings ungeimpft durch Tollwut angesteckt, dann hat man keine Chance mehr. Am Ortsende kehren wir in einem Restaurant ein, welches in einem Steinhäuschen untergebracht ist. Während wir Tee trinken und Maggi – Nudelsnacks schlürfen, fällt mein Blick auf die an der Wand hängende mumifizierte Katze, die für die Vertreibung der bösen Geister zuständig ist. Man sollte sich auch hier wiederum vor zu schnellen Vorurteilen hüten, denn schließlich erregt der an der Wand hängende Kopf eines Hirsches bei den meisten Europäern auch kein Aufsehen, und im Gasthof "Jägersruh" wird deswegen wohl auch keinem Besucher der Appetit auf sein Wilschweingulasch vergehen. Der in Ladakh verbreitete Geisterglaube findet sich indes nicht in der reinen Lehre Buddhas. Vor dem Einzug des Buddhismus in Tibet, als ein König sich von seinen beiden Gemahlinnen, die aus China und aus Nepal stammten, dazu bewegen ließ, diese Glaubensrichtung auch in seinem Land einzuführen, gab es den Bön - Kult, in welchem Luftgeister und Dämonen die Hauptrolle spielten. Die Spuren dieses Urkultes sind im tibetischen Buddhismus bis zum heutigen Tage noch gegenwärtig.

Hinter Table treffen sich zwei Flußtäler, wir folgen dem linkerhand, also in südöstliche Richtung. Es besteht auch keine andere Möglichkeit, da das Wechseln der Uferseiten nur an der Brücke bei Tanze möglich ist. Am Talanfang steht inmitten von kräftigem Grün ein Dorf mit besonders sorgfältig weiß getünchten Häusern. Sein Anblick läßt löst in mir Intuitionen aus, als wären wir hier nicht mehr in Ladakh, sondern vielleicht in einem Pueblo im regenreichen Galizien. Weit vor uns baut sich die riesige Felsgestalt des Gumburanjon auf, einer der schillerndsten Berggestalten in unmittelbarer Nähe des Zanskar – Trails. Unser Übernachtungsziel, Kargyak, erstrahlt ebenso in tadellosem Weiß.Am gegenüberliegenden Flußufer hat sich ein langer, teils überwächteter Felsgrat aufgestellt.

Ein Mann, der auf dem Feld beschäftigt ist, bietet uns eine Übernachtung in seinem Haus an. Tansing, sein 10-jähriger Sohn, begleitet uns dorthin. Wir lassen uns in der Küche nieder, als seien wir zu Hause. Zunächst kochen wir für uns, danach für den Gastgeber und dessen Mutter.Vermutlich ist seine Frau mit den Weidetieren oben in den Bergen. Bei unserer Gastfamilie in Purne hatte diesen Job übrigens die Großmutter übernommen. Das Hirtendasein in großen Höhen und Übernachtungen unter einer halboffenen Zeltplane mit nur mit ein paar Decken dürfte wohl eine besondere Härte abverlangen, ein weiteres Indiz, wie zäh, eigenständig und emanzipiert die hiesigen Frauen sind. Unsere Gastgeber kehren erst lange nach Sonnenuntergang vom Feld zurück.Inzwischen hat uns der kleine Tansing glänzend unterhalten und beim Kochen geholfen. Er ist ein Junge von einer unglaublich einnehmenden Offenheit, Intelligenz und Sympathie. Haydar ist derart begeistert von dem Jungen, daß er schon Überlegungen anstellt, ob und wie er dem Jungen eine gute Schulbildung finanzieren könnte. Die kommende Nacht erscheint uns besonders kalt, aber schließlich befinden wir uns in Kargyak bereits wieder auf über 4000 Metern Höhe. Wir sind jedenfalls froh, heute im Haus anstatt im Zelt zu schlafen. Hier drin gibt es zwar auch keine Heizung, doch feste Mauern ringsum und die durch das Kochen aufgewärmte Küche nebenan bringen durchaus ein paar Grade mehr.

Zum Frühstück rühren wir Müsli an, der Hausherr serviert heißen, mit Zimt versetzten Milchtee. Da Alfred im Besitz des Kochers ist, wollen wir uns auf dem Rest unseres Treks von Müsli ernähren, falls keine Gelegenheit bestehen sollte, sich in einem Tentrestaurant bekochen zu lassen. Eigentlich wollten wir Alfred hier in Kargyak treffen, um uns noch einmal auszusprechen, aber er war gestern nicht aufgetaucht. Vermutlich war er an der Brücke bei Tanze am falschen Ufer verblieben und somit ins verkehrte Tal geraten. Auch er kann übrigens nicht mehr kochen, da er sich des Kerosins entledingt hat. Zudem hat er sämtliche weiteren Lebensmittel zurückgelassen. Am fortgeschrittenen Morgen überholen wir eine Gruppe von Girls aus Südafrika, die mit Guide, Horseman und Koch in gleicher Richtung, wie wir unterwegs sind. Sie sagen, daß ein Deutscher sie heute morgen um Essen gebeten hat, der Beschreibung nach kann es sich nur um Alfred gehandelt haben. Er ist also vor uns und o.k., allerdings was Nahrung anbelangt, gänzlich von seiner Umwelt abhängig. Die Mädchen berichten auch, daß sich Alfred gestern tatsächlich an besagter Brücke verlaufen hat, dann aber umgedreht war und nach einem Gewaltsmarsch noch spätabends in Kargyak eingetroffen war. Da er wohl schon in Allerherrgottsfrühe von dort wieder aufgebrochen war, waren wir ihm nicht mehr begegnet.

Wir ziehen durch eine märchenhaft schöne Landschaft, zunächst auf den Gumburanjon zu, später unterhalb seiner hypersteilen, vielleicht anderthalbtausend Meter hohen Felswand vorbei. Haydar verwickelt sich in eine kurze Diskussion mit einer Gruppe Israelis, die mit gehisster Flagge durch die Lande ziehen. Er hat sicherlich recht, wenn er sagt, daß solche Leute mit einer Art Eroberungsmentalität unterwegs sind. Daß bei ihm die israelische Flagge eine besondere Reaktion hervorruft, die vielleicht antisemitischen Ursprungs sein könnte, kann man ihm ganz sicher nicht unterstellen, denn schließlich hat er in meinem Beisein auf dem Gipfel des Mont Blanc einem englischen Pärchen das Gipfelfoto verweigert, nachdem diese sich hierfür mit dem Union Jack drappieren wollten. Wir betreten nun das Einzugsgebiet des Shingo La (5090 m), des mächtigsten Passes auf der Zanskar – Durchquerung. Letzte Station vor dem Paßanstieg ist ein Zeltrestaurant, wo wir abermals mit den Südafrikanerinnen zusammentreffen. Ihr Guide ist ein gewisser Robin, ein ausgekochtes Schlitzohr, dem wir noch öfters begegnen sollen. Dieser behauptet, trotz seiner eindeutig tibetischen Gesichtszüge, aus Kalkutta zu stammen. Er arbeitet einen Teil des Jahres in einer Zulieferfabrik für die Automobilindustrie in Lyon, den anderen Teil verbringt er als Trekkingführer in Indien und Nepal. Dies ist übrigens eine Seite seiner Geschichte, die ich ihm glaube. Die drei Frauen waren durch eine Trekkingagentur in Leh an Robin geraten. Sie haben übrigens die selbe Strecke, wie wir hinter sich, benötigten aber annähernd die doppelte Zeit. Sicher liegt das auch daran, daß die Drei keine langen Etappen gehen können und wollen. Doch zu Beginn des Treks waren sie mit doppelt so vielen Packpferden und Begleitern unterwegs, und als sie gecheckt hatten, daß das alles völlig überflüssig und schwerfällig ist, haben sie die Hälfte des Expeditionszuges entlassen. Aufgeschwatzt hatte ihnen das alles der gute Robin, der allerdings wohl seine Sünden durch seinen Charme gepaart mit seinen außergewöhnlich guten Englischkenntnissen wieder wett macht. Was die Gebietskenntnisse bezüglich der Trekkinggebiete im indischen und nepalesischen Himalaya anbelangt, muß man ihm ebenfalls Kompetenz einräumen.

Der Shingo La erweist sich als der alpine Höhepunkt der Zanskardurchquerung. Nirgendwo sonst stößt man auf so ausgedehnte Altschneereste, die meterhoch sind und vom gischtenden Gletscherwasser der Wildbäche übermannshoch unterhöhlt werden. Als wir den Bach queren müssen, zeigt sich dies aufgrund der fortgeschrittenen Tageszeit als zu gefährlich, weshalb wir unsere Spuren durch ein steiles, hart gefrorenes Firnfeld schlagen müssen. Der Pfad verläuft in Folge durch den Schutthang einer riesigen Moräne, und bei genauer Beobachtung stellen wir fest, daß nahezu alles unter uns vergletschert ist. Dies fällt nur nicht auf Anhieb ins Auge, weil der Gletscher über und über mit Schutt bedeckt ist. Spätestens beim Blick in das zig Meter hohe Gletschertor unterhalb der Paßhöhe müssten die getarnten Eismassen auch dem letzten Unaufmerksamen auffallen.Von dem Moment an, wo wir glauben, die Paßhöhe bald erreicht zu haben, bis zu dem Zeitpunkt, als wir tatsächlich neben den flatternden Gebetsfahnen stehen, vergehen noch gut zwei Stunden. Die Aussicht vom Paß bietet vergletscherte und mit Schnee beladene Bergriesen in Anzahl und Ausmaß, wie sonst nirgendwo auf der gesamten Route. Die Höhe des Shingo La dürfte für die Ursache seiner eisigen Landschaft nur zweitrangig sein, schließlich erreichen andere Pässe, wie der Sengge La, auch nahezu diese Höhen. Es ist wohl mehr die Nähe der Klimagrenze, wo die Monsumwolken, welche gelegentlich über den Hauptkamm schwappen, sich unmittelbar dahinter entladen. Daher ist der Süden Zanskars auch die schneereichste Region Ladakhs. Um 15 Uhr 30 stehen wir auf der Höhe des Shingo La, auf der anderen Seite breitet sich direkt unter uns ein herrlicher Gletschersee aus. Wir verbringen noch eine Weile damit, die nächste Nähe des Passes ohne Gepäck zu erkunden. Auch ziehen wir eine Übernachung hier oben in Erwägung, besser gesagt, würde Haydar gerne hier biwakieren, während ich dagegen bin, da ich eine saukalte Nacht und wegen der Höhe einen schlechten Schlaf befürchte, und wir dann anderntags fix und fertig wären. Zudem glaube ich bislang immer noch an die Existenz des Zeltrestaurants wenig unterhalb des Passes, wo wir uns bekochen lassen könnten, anstatt wiederum Müsli zu schlürfen, was mir so langsam aus dem Halse heraushängt.

Schließlich entscheiden wir uns dafür, den Weg fortzusetzen. Rechterhand steilt ein mächtiger Berg auf, dessen senkrechte Nordflanke imponiert. Der Pfad setzt sich weiterhin beeindruckend zwischen Altschneefeldern, Gletschern und wilden Felsen fort, anlässlich einer Bachquerung hole ich mir nasse Socken. Wir gelangen an eine Stelle, die mit einer Steinmauer einen geschützten Zeltplatz böte. Haydar´s Blicke starren gespannt nach oben, und er murmelt so etwas wie "das könnte man schaffen..". Ich ahne schon seine Absichten. Der von Norden her so unnahbar wirkende Berg scheint eine leicht besteigbare Südflanke zu haben. Ehrlich gesagt, habe ich mich mit dem Gedanken abgefunden, daß wir hier in Zanskar eine reine Trekkingtour ohne Gipfelbesteigungen machen. Wir sind inzwischen zwar bestens akklimatisiert, aber wir haben weder Steigeisen noch Eispickel dabei. Zudem verfügen wir über keinerlei Routenbeschreibungen. Im Vorfeld unserer Reise hatte ich noch ernsthaft in Erwägung gezogen, einen Versuch an einem günstig am Weg liegenden Fünf- oder gar Sechtausender zu wagen. Mir war es aber, trotz intensiven Nachforschens, nicht gelungen, irgend welche halbwegs verwertbaren Infos über die an der Route liegenden Berge zu bekommen. Wären wir die Tour in umgekehrter Richtung gegangen, so hätten wir bei ausreichender Zeit sicher einen Versuch am Stok Kangri unternommen. Doch es sprachen einige schwerwiegende Argumente gegen einen Beginn des Trekkings in Darsha. Kurz und gut, ich hatte mich einfach damit abgefunden, daß unsere Unternehmung eine "nur" – Trekkingtour werden soll, und – ehrlich gesagt – war mir das dann auch ganz recht so, denn Besteigungen sind doch immer mit einem gewissen Streß verbunden, der uns somit erspart bliebe.

Zum guten Schluß allerdings steht unser Zelt tatsächlich hinter dem Steinmäuerchen und der Beschluß ist gefaßt, morgen in der ersten Dämmerung einen Versuch zu wagen. Eigentlich bin ich nicht der Typ, der ohne Not auf einen Gipfel verzichtet, noch dazu, wenn sich ein persönlicher Höhenrekord abzeichnet. Der mangelnde Glaube an den Erfolg der Tour war der eigentliche Grund meines Sträubens. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß wir, nicht einmal mit einem Eispickel ausgerüstet, den Gipfel eines fast – Sechtausenders erreichen werden. Sicher, die Route scheint von unserem Standpunkt aus tatsächlich machbar zu sein.Dennoch bin ich mir fast sicher, daß wir irgendwo an einem steilen, hartgefrorenen Schneefeld, das wir im Moment nur noch nicht einsehen können, scheitern werden.

Obwohl wir die Nacht auf etwa 4900 Metern zugebracht haben, hielten sich die Temperaturen moderat, schätzungsweise Tiefstwerte von minus 5 Grad. Meine gestern naß gewordenen Socken liegen zwar steifgeforen vor dem Zelt, aber ich habe noch zwei Paar Trockene im Gepäck. Als erstes richten wir ein Rucksackdepot hinter einem großen Felsen ein, vielleicht 50 bis 70 Höhenmeter überhalb des Paßweges. Der Aufstieg erfolgt über groben Schotter, besser gesagt handelt es sich um Felsplatten. Somit tun wir uns viel leichter, als gedacht, da wir die Beschaffenheit, von unten besehen, für Feinschotter gehalten haben. Bis knapp unter die Gipfelkuppe richten wir zwei weitere Depots ein, und außer erheblicher Atembeschwerden sind wir bislang tatsächlich von größeren Behinderungen und Schwierigkeiten verschont geblieben. Ich kann es kaum fassen, daß wir praktisch problemlos bis hierher gekommen sind. Drei Firnfelder konnten wir unkompliziert umgehen. Aber jetzt stehen wir vor der überfirnten Gipfelkuppe und in diesem Moment denke ich "das Spiel ist aus, und das kurz vor dem Gipfel!" Doch wir haben abermals Glück, denn der Firn ist zwar beinhart gefroren, aber die Oberfläche aufgerauht und auch der Steigungswinkel nicht allzu steil. Also, jeweils zwei spitze Felsplatten in die Hand, um eine Notbremse für einen eventuellen Sturz zu haben, und auf diese Weise gelangen wir tatsächlich zum Gipfel. Die Emotionen sind unbeschreiblich, denn Beide haben wir unseren persönlichen (vorläufigen?) Höhenrekord geschafft, noch dazu werden wir durch ein grandioses Panorama belohnt!

Die Vergletscherungen und der Reichtum an sensationellen Bergspitzen, das alles kennen wir in gewisser Weise bereits von unseren Westalpen – Hochtouren. Selbst das Verhältnis Tal – Gipfel übsteigt zumindest in diesem Teil des Himalaya die Gegebenheiten im Wallis, den Bernern oder in der Monblanc - Region nicht. Dennoch bestehen grundlegende Unterschiede. Die Täler hier sind paraktisch unbesiedelt, die Landschaft weitgehend unerschlossen, ja ein großer Teil der hiesigen Berge trägt weder Namen, noch ist deren genaue Höhe bekannt. Fast alle Gipfel müssen in Erstbegehungsmanier erobert werden, denn hat jemand schon einen "Hochtourenführer Zanskar" geschrieben? Über die Probleme im Falle eines Unfalls oder bei anderen Notsituationen wollen wir gar nicht erst reden. AMS (Acute Mountain Sickness), also Höhenkrankheit, spielt selbst in den höchsten Regionen der Alpen meist nur eine untergeordnete Rolle. Praktisch alle Berge über 4000 Meter werden dort von Hütten oder Biwaks angegangen, die weit unter diesen Höhen liegen, und fast immer wird man sich in den Alpen nur für wenige Stunden in eventuell kritischen Zonen aufhalten. Wir haben die vergangene Nacht auf ca. 4900 Metern verbracht, also gut 100 Meter höher, als die höchste Spitze der Alpen. Wer in den Himalaya reist, und einen der "niedrigeren" Berge im 5000er oder beginnenden 6000er – Bereich nicht ausreichend akklimatisiert angeht, der spielt mit seinem Leben. Bei einem auftretenden Lungen- oder Hirnödem ist für den Durchschnittsbergsteiger, der ohne Expeditionsarzt unterwegs ist, der Ofen aus, und selbst mit ärztlicher Hilfe, die hier selbstredend nur begrenzt sein kann, gibt es keine Garantie.

Trotz bester Akklimatisierung war der Aufstieg bezüglich der Höhenauswirkungen für uns Beide in vieler Hinsicht interessant. Haydar kam mit dem mühevollen Aufstieg in die immer dünner werdende Luft am Besten damit klar, indem er sich langsam und in weit ausladenden Aufstiegsserpentinen nach oben vorarbeitete. Ich wiederum bevorzugte einen ziemlich direkten Aufstieg mit zügigen Gehintervallen zwischen vielen kleinen Pausen. Dabei achtete ich darauf, daß meine Bewegungen möglichst gleichmäßig blieben. Geriet ich nur ein wenig ins Stolpern oder mußte eine außergewöhnliche Bewegung durchführen, dann sprang der Puls sofort zum Anschlag. Die Anzahl der Pausen wurden mit zunehmender Höhe bei uns Beiden immer häufiger. Eine weitere Auswirkung hat die Höhe auf die Muskelkraft, die erheblich nachläßt. Man hat das Gefühl, anstatt Muskeln nur noch Pudding in den Armen und den Beinen zu haben. Legt man zwischen zwei Bewegungseinheiten eine Pause ein, fühlt man sich im Ruhezustand sofort wieder fit. Dies könnte zu dem Mißverständnis führen, daß ein Partner, der körperlich eigentlich schon völlig am Ende ist, in den Pausen, in denen er sich ja wieder halbwegs wohlfühlt, ständig beteuert, er sei o.k.. Man sollte seinen Kameraden also vor allem während der aktiven Phase beobachten.

Die Temperatur auf dem Gipfel dürfte bei etwa 10 Miesen liegen, weshalb wir unseren Aufenthalt nicht allzu lange ausdehnen. Was für ein Unterschied dann der Abstieg im Vergleich zum Aufstieg! Jeder Meter hatte uns zum Schluß fix und fertig gemacht, und jetzt, beim runtergehen, spüren wir kaum noch belastende Auswirkungen. Recht zügig kommen wir somit den Berg wieder herunter, nur bei der Suche nach einem der Depots haben wir etwas Schwierigkeiten in dem einförmig aussehenden Stein- und Plattengeröll, doch schließlich und endlich finden wir es wieder.Auch im Nachhinein ist es uns bislang nicht gelungen, Name und genaue Höhe unseres Berges in Erfahrung zu bringen. Wir schätzen seine Höhe aber auf etwa 5900 Meter, wobei wir uns ziemlich sicher sind, daß wir damit in etwa richtig liegen. In mein Notizbuch habe ich übrigens noch die Zeiten hineingekritzelt: 6.15 Uhr Aufbruch, 10.05 Uhr Gipfel, 12.20 Uhr wieder zurück am Ausgangspunkt. In Haydar´s Karte sind zwei Orte eingezeichnet, die sich beide als nur gelegentlich existierende Hirtendomänen entpuppen. Wir hatten eigentlich gehofft, am einen oder am anderen Punkt ein Zeltrestaurant vorzufinden, wir werden jedoch enttäuscht. Wir stoßen nur auf die obligatorischen Steinmäuerchen und Spuren von Lagerplätzen, keine Parashutes, keine Menschenseele, kein warmes Dal Baaht. Was bleibt, ist ein verfluchter Gewaltmarsch das gesamte Tal hinunter. Eigentlich ist die von einmaligen Hochgebirgseindrücken geprägte Etappe viel zu schade dafür, als daß man sich, körperlich am Ende, nur hier durchschleppt, doch wir wollen ein Lager erreichen, wo wir vernünftig essen können, denn ein weiterer Müslitag wäre das Letzte!

Unzählige Bachdurchquerungen geben genügend Gelegenheiten, Schuhe und Socken auf´s Neue zu durchtränken. Hier deutet sich bereits an, was sich im weiteren Verlauf noch bestätigen soll: die Strecke vom Shingo La bis hinaus nach Darsha ist die schwierigste und am wenigsten erschlossene auf dem Zanskar – Trek. Über weite Strecken existieren keinerlei Versorgungsmöglichkeiten, das Fehlen von Brücken bringt die Notwendigkeit von einem Dutzend und mehr Furtquerungen am Tag mit sich, dazu gesellen sich große Mengen an Altschneeresten, die ganzjährig liegenbleiben. Etliche schneebedeckte Gletscher strecken ihre Zungen weit ins Tal herab. Zu guter Letzt spuckt uns die Schlucht aus und um 17.45 Uhr stehen wir am Ufer jenes Stromes, in welchen sich der uns vom Paß herabbegleitende Wildbach durch eine wilde Klamm hineinergießt. Über den Hauptarm trägt uns problemlos eine Brücke, doch der Nebenarm, der uns vom ersehnten Lager trennt, führt dicke Hochwasser. Jetzt hilft nur Eines: Schuhe aus, Hosen aus, die Sandalen aus dem Gepäck, und mit den gelösten Rucksackschnallen die eiseskalten Fluten durchschritten.Gottlob können unsere Beine der Strömung standhalten, und wir erreichen wohlbehalten das gegenüberliegende Ufer. Das Camprestaurant hat sehr zu unserer Freude geöffnet, und wir ordern gleich bei Ankunft das Abendmahl. Der außergewöhnlich gut englisch sprechende Besitzer ist der erste Parachute – Besitzer, der seine Frau bei sich hat, neben der Kochnische befindet sich das Doppelbett. Decken wurden da einfach auf ebenmäßig verteilte Steine gelegt, somit ein hartes Nachtlager. Es geht hier nicht mehr ganz zanskarisch zu, denn in dieser Hütte scheint ganz offensichtlich der Mann das Sagen zu haben, während die Frau das Gros der Arbeiten erledigt.

Wir treffen die drei Südafrikanerinnen, übrigens die einzige Gruppe, die außer uns hier noch zeltet, und diese sind mehr als überrascht über unser Wiedersehen. Sie hatten gedacht, wir seien schon über alle Berge, weil wir ja gestern, als sie auf dem letzten Lagerplatz vor der Paßhöhe campiert hatten, noch zum Shingo La hinaufgewandert waren, und wir uns seitdem nicht mehr begegnet waren. Sie konnten ja nicht wissen, daß wir uns zwischendurch mal oben auf einer Bergspitze versteckt haben.In Zanskar Sumdo, so nennt sich unser Camp, sind wir endgültig aus dem Bundesstaat Jammu and Kashmir heraus, wir befinden uns nun in Himachal Pradesh. Der Shingo La gilt übrigens, als Gegenstück zum nördlichsten Paß Prinkiti La nahe Lamayuru, als das Südtor nach Zanskar.

Die letzte Etappe bricht an, wir wollen heute noch Darsha erreichen. Sie beginnt beschwerlich, denn wir müssen umständlich durch Blockfelder steigen, und auch die Bachdurchwatungen setzen sich fort, weshalb wir langsamer vorwärtskommen, als wir ursprünglich angenommen hatten. Man merkt deutlich die Nähe der Klimagrenze, die Berghänge sind hier viel grüner, als sonstwo auf dem Zanskartrek. Wenn wir da an den Beginn unserer Tour in der Gegend von Lamayuru zurückdenken, dann ist das schon ein großer Unterschied. Dennoch befinden wir uns immer noch einem Gebiet mit vorherrschend aridem Klima. Der Pfad mündet schließlich in einen Fahrweg ein, und nach einem kurzen Stück stehen wir gleich vor zwei Tentrestaurants, eines diesseits, das andere jenseits des Baches. Wir lassen uns von den Kindern in das Zelt über dem Bach locken. Der Besitzer ist kein Ladakhi und hier ist als Gruß anstatt des Juh – Lee ein Namaste angebracht. Der gute Mann kann leider so gut wie kein englisch und offenbar ist ihm wohl auch unsere Teebestellung entgangen. Wir begnügen uns mit dem Verzehr von Keksen und ziehen weiter.

Bis hinunter nach Darsha scheint sich für uns der Fahrweg ewig dahinzuziehen. Trotz schöner Schluchtlandschaft und prächtiger Berggipfel, sowie tiefgrün gedeihender Parzellen von Weizen- oder Erbsenfeldern, die oberhalb der zum Fluß abstürzenden Steilhänge wie Teppiche aufzuliegen scheinen, wollen wir jetzt einfach nur ankommen, ausruhen, essen, trinken. Ein kleiner Gletscher dient in einer Kurve als Fahrwegauflage. Wie lange wird es wohl dauern, bis die Piste an dieser Stelle die Böschung runterrutscht? Wir erreichen eine asphaltierte Straße. Es ist die, welche Manali über Darsha mit Leh verbindet. Bunt bemalte Laster werden mit brüllenden Motoren von ihren turbangeschmückten Fahrern die Serpentinen hinaufgejagt, andere wiederum befahren sie mit quietschenden, nach verbrannt stinkendenden Bremsklötzen abwärts.Von oben herab erspähen wir etwa eine Handvoll Blechdächer jenseits einer Straßenbrücke – Darsha, der wichtige Knotenpunkt, ist nichts anderes als ein improvisiertes, hastig zusammengeschustertes Durchgangsnest an einer der wenigen Verkehrsadern, die Ladakh durchschneiden. Wer hierherkommt, will sich entweder verproviantieren, oder sucht ein notdürftiges Bett für die Nacht, oder ist – so, wie wir – auf der Suche nach einem geeigneten Verkehrsmittel, um so schnell wie möglich von hier wieder wegzukommen. In der nächstbesten Dabha an der Straße hängen drei mißmutige Jeepfahrer ab, die arrogant zu verstehen geben, daß sie keinesfalls von ihrer Forderung, die in etwa das Fünffache des üblichen Fahrpreises beträgt, abrücken werden. Auch wir bleiben stur, sind aber bereit, in letzter Minute noch einzulenken, bevor sie abfahren. Anstatt, wie abgemacht, uns aber nochmal vorher Bescheid zu sagen, verpissen sich alle Drei auf einmal und brausen mit nur halbvoll besetzten Fahrzeugen davon.

Ursprünglich wollten wir von Darsha aus direkt bis Manali durchfahren. In einer Stunde soll aber ein Bus nach Keylong gehen. Nachdem ich kurz in meinem Reisführer nachgeschlagen habe, was dieser Ort eventuell für uns zu bieten hätte, sind wir rasch davon überzeugt, daß es sich wohl lohnt, dorthin zu fahren. Als Alternative zu Darsha ist sowieso wohl alles andere besser!

Die Fahrt wird ein Abenteuer. Die nur anderthalb Stunden bis nach Keylong würde bei ängstlichen Naturen sicher Zustände des Entsetzens hervorrufen, uns jedoch setzt sie vollkommen in Begeisterung! Wir werden durchgeschüttelt wie Milkshakes, die Busreifen stehen unzählige Male dicht über dem schwindelerregenden Abgrund der oft hunderte von Metern tiefen Schluchten, Eisberge ragen um uns in die Höhe. Dem Gegenverkehr wird grundsätzlich im Kollisionskurs entgegengerast, kurz vor dem erwarteten Zusammenprall erfolgt eine Vollbremsung, die Fahrer schreien sich gegenseitig an, und in hochdramatischen Ausweichmanövern schieben sich Bus und LKW aneinander vorbei, selbstredend immer mit einem oder zwei Rädern knapp über dem Abgrund. Unser Busfahrer ist auch für indische Verhältnisse ein wahrer Draufgänger - er läßt es sich auch nicht nehmen, den einen oder anderen der normalerweise viel schnelleren Jeeps zu überholen.

Wir springen aus dem Bus, und auf einem der nächstbesten Schilder an der Durchgangsstraße steht "Taschi Deleg". Hervorragend, dieses Hotel wird in meinem Reiseführer als erste Wahl empfohlen. Das Outfit will aber irgendwie nicht zur Beschreibung passen. In dem etwas heruntergekommenen Hauptgebäude läßt es sich für ein paar Groschen im Schlafsaal zusammen mit einem Dutzend weiterer Gäste übernachten. Uns wird ein Doppelzimmer im noch nicht ganz fertigen Neubau, der sich ein Stück weit die Straße abwärts befindet, angeboten. Das Zimmer ist o.k., hat sogar warmes Wasser und Balkon (ohne Geländer). Direkt unterm Balkon fristen zwei abgemagerte Kühe, die dort an Seilen angebunden sind, ein beklagenswertes Dasein. Der Ausblick vom Zimmer, bzw. von der Balkonplattform aus, ist sensationell, denn der heilige Berg Rancha Mountain (4565 m) ist uns direkt gegenübergestellt, getrennt sind wir von diesem durch ein spektakuläres Flußtal. Das auffallende Gebäude, das dort drüben am Hang klebt, ist das Khardung Gompa. Hier beginnt und endet ein Pilgerweg, der rings um den Rangcha Mountain führt, und die sich Rangcha Parikrama nennt. Selbstverständlich wird die Umrundung im Uhrzeigersinn durchgeführt und gilt als landschaftlich äußerst reizvoll. 1000 Höhenmeter im Anstieg auf einer langen Tageswanderung sind für die komplette Runde zu bewältigen. Ich bin innerlich hin- und hergerissen zwischen der Entscheidung, morgen die Rangcha Parikrama zu machen, oder von unserem nächsten Zwischenziel Manali aus den Zweitages – Trek zu Quellgebiet des Beas und dem See Beas Kund zu unternehmen. Haydar hat seine Entscheidung bereits getroffen: er will zum Abschluß die Städte durchstöbern und den Kontakt mit den Einheimischen suchen. Heute abend werden wir jedenfalls noch gemeinsam auf Entdeckungsspaziergang durch den schönen Ort Keylong gehen. Keylong mit seinen schlappen 3000 Einwohnern ist übrigens Hauptort der Provinz Lahaul und ist ein echtes Himalaya - Bergstädtchen, um das ringsum gewaltige Gletscherberge aufragen. Der Ort liegt noch auf gut 3300 Metern.

Das eigentliche Zentrum finden wir dann treppab, dort befindet sich auch ein weiteres Hotel "Tashi Deleg". Der beinahe etwas zu nobel geratene Schuppen ist wohl der, welcher in meinem Reisführer gemeint war. Trotz Mangel an echten Sehenswürdigkeiten verströmt Keylong eine unverfälschte Atmosphäre. Tibetanische Bergvölker und Hindus wohnen hier Tür an Tür, die Zahl der Touristen scheint sich noch in angenehmen Grenzen zu halten. Haydar läßt sich bei einem Friseur für ein Handgeld den Schädel kahl rasieren und selbstverständlich schlemmern wir uns durch sämtliche Lokale, bis der Magen wieder mal schier kollabiert. Eine hinduistische Kapelle zieht durch die Gassen und sorgt mit ihren Klängen für zusätzliche Exotik. Wir finden ein lebhaftes Treiben mit urigen Geschäften in den Gassen Keylongs vor, aber nach 22 Uhr werden schlagartig die Gehsteige hochgeklappt. Ein Rolladen nach dem anderen fällt krachend herunter, die Gassen werden finster und nur noch wenige Läden spenden schwache Lichtscheine für die wenigen noch verbliebenen Bummler. Als wir über die völlig dunklen Treppen zu unserem Hotel zurückkehren wollen, müssen wir aufpassen, daß wir uns nicht etwa die Haxen brechen. Wir sind froh, als ein Passant mit einer Taschenlampe auftaucht, dem wir uns anschließen.

Kaum haben wir am nächsten Morgen das Hotel verlassen, als schon ein Geländewagen stoppt. "Manali?" fragt der Fahrer. Auf die Gegenfrage nach dem Preis erhalten wir eine Antwort, die uns nicht weiter zögern läßt. So schnell und einfach kann das gehen! Es ist 7.30 Uhr, als wir losfahren. Die Straßenführung und deren Zustand bleiben weiterhin dramatisch, ebenso wie die umliegende Landschaft. Sicherheitsgefühl und Komfort sind im Jeep doch etwas höher als im Bus. In ewigen Windungen, aber mir prächtigen Ausblicken, serpentieren wir dem Rohtang La entgegen, rußgeschwärzte Straßenarbeiter schuften am Straßenrand und verteilen Teer aus rauchenden Tonnen auf der Schotterpiste. Einer der beiden Hindu – Frauen tun die ständigen Schwankungen überhaupt nicht gut. Sie übergibt sich mehrmals während der Fahrt durch´s offene Fenster. Der Rohtang La hat zwar "nur" eine Höhe von 3978 Metern, dennoch gilt er als eine der krassesten Klimagrenzen unseres Planeten. Während diesseits des Passes immer noch eine aride Landschaft vorherrscht – kleinere Übergangsveränderungen in der Vegetation machen sich allerdings dennoch bemerkbar, je näher man der Klimagrenze kommt – so taucht man auf der anderen Seite zunächst in Tannenwald und danach in üppig grünen Regenwald ein. Doch zuvor, um 8.45 Uhr, halten wir an einer Dhaba zur Frühstückspause. Auf der Paßhöhe befindet sich übrigens auch ein Checkpoint des Militärs. Während wir so dasitzen und essen, schaue ich Haydar zu, wie er mit gesundem Appetit sein Dhal Baaht verschlingt, nebenbei lauthals Chai nachbestellt, während ein Dutzend Fliegen um seinen Kopf schwirren. Was für ein Unterschied zu dem peniblen Haydar vor nicht einmal drei Wochen in Dehli, als er sich noch nicht dazu überreden ließ, in einem der zahlreichen Minirestaurants Essen zu gehen. In kürzester Zeit ist aus ihm ein abgebrühter Indien – Reisender geworden, und das nicht nur beim Essen.

Unmittelbar auf der Paßhöhe sieht´s aus, wie wenn eine riesige Karawane rasten würde. Eine Zeltdhaba steht hier an der anderen und es herrscht viel Umtrieb. Die nun folgende Kurverei hinunter nach Manali führt durch eine großartige Berglandschaft, die den Alpen sehr ähnlich ist. Hochstämmiger Tannenwald bedeckt die steilen Hänge, Wasserfälle stürzen senkrecht von Felsklippen herab. In Manali kommen wir durch einen Schlepper im Hotel "Universal" unter, das von zwei Brüdern mit sehr unterschiedlichen Charakteren geleitet wird. Während der eine gutmütig und ehrlich scheint, ist der andere ein Gauner und lästig wie eine Schmeißfliege. Wir haben gerade mal den Zimmerpreis ausgehandelt, da will er uns, neben allen möglichen Servicediensten, wie Wäsche waschen, Ausflüge in die Umgebung, usw., auch noch Hasch verkaufen. Dies ist allerdings nichts Ungewöhnliches in Manali, denn dieser Ort zählt zu den großen Anziehungspunkten für Drogentouristen in Indien. Das günstige Klima läßt hier, neben den überall wachsenden Apfelbäumen, auch den Charas (ind. Bezeichnung für Haschisch) bestens gedeihen. Insbesondere in Old Manali, wo sich ein Gästehaus ans andere reiht, alle in schöne, subtropische Gärten gesetzt, steigen viele Haschischjünger ab. Oft kümmern sich dann die Besitzer selbst um das Wohlergehen ihrer Gäste, sprich, daß immer genügend Stoff da ist. Gar Mancher verbringt hier Monate, tagaus tagein nichts anderes vollbringend, als sich die Birne vollzukiffen und mit Gleichgesinnten abzuhängen.

Unser Eindruck von Manali bringt uns zur Feststellung, daß es hier einerseits schon recht touristisch zugeht, gerade wenn wir es unmittelbar mit Keylong vergleichen. Trotzdem herrscht im Bazar ein interessantes und buntes Treiben, und lange nicht jeder Laden ist auf Touristen eingestellt. Zudem ist Manali ein Schmelztiegel. Wenn man so durch die Gassen schlendert, sieht man überwiegend Hindus, aber auch sehr viele Buddhisten aus dem Norden, dann noch Kaschmiri und viele Zugezogene aus Rajastan. Unterhalb unseres Hotels befindet sich eine Art Armenviertel, nicht allzu groß, und somit nicht vergleichbar mit den Slums der großen Städte wie Dehli, Kalkutta oder Bombay. Neben ein paar winschiefen Bruchbuden aus Holz oder Wellblech stehen hier vor allem Zelte, in denen ganze Familien wohnen. Das gesamte Hab und Gut steht dort unter einer Zeltplane, manches Mal sogar inclusive eines kleinen Fernsehers, was aber keinesfalls als Zeichen von Wohstand anzusehen ist. Das seien alles Leute aus Rajastan, so unsere Schmeißfliege, die seien allesamt hinterhältige Diebe und Betrüger. Wir können nicht nachprüfen, wieviel Wahrheitsgehalt in dieser Aussage steckt, aber ist es nicht überall so, daß die Zugezogenen die Bösen sind? Direkt neben diesem Viertel erweckt ein modernes, aber schlichtes Gebäude unser Interesse. Immer, wenn wir hier vorbeikommen, werden gerade irgendwelche Zeremonien abgehalten. Später erfahren wir, daß dies der örtliche Sikh – Tempel ist.

Ein weiterer Vorzug Manalis ist die reiche Auswahl an gutem Essen. Nach den langen Entbehrungen in Ladakh hat bei uns der Jojo – Effekt eingesetzt und wir fressen uns nun buchstäblich durch die Stadt. Immer wieder kehren wir ein zu einem kleinen Menü oder ziehen uns die hiesigen Konditoreiwaren rein. Dabei kommt man allerdings ziemlich schnell darauf, daß das süße Zeugs zwar sehr verschieden und vielfältig aussieht, aber meist sehr ähnlich schmeckt. Es gibt zwar auch noch viele German Bakeries, wo die Ware tatsächlich wie im deutschen Konditorladen aussieht, aber diese Genüsse heben wir uns doch lieber für daheim auf. Mit dem Dreiradtaxi lassen wir uns nach Old Manali hinaufschippern. Die vielen Gästehäuser zwischen Apfelbäumen, und die hier wirklich nur noch touristisch ausgerichteten Teppich- Haschpfeifen- und was weiß ich für Krimskramsläden lassen uns völlig gleichgültig. Was uns interessiert, sind die Relikte des alten Dorfes, und davon findet man in Old Manali überraschend viel. Es sind Häuser, die im Pahari- also Bergbewohnerstil gebaut sind. Eine Art Fachwerkbau mit steinbedeckten Schrägdächern, Holzbalkone und doppelte Holztürrahmen sind die typischen Merkmale. Wenn man durch die Gassen zwischen diesen Häusern bummelt, fallen gleich zwei Dinge auf: ihre Bewohner leben noch in der alten Tradition und verdingen sich anstatt im Tourismus in der Landwirtschaft. Das Zweite ist die offensichliche Reserviertheit gegenüber Fremden. Wen wundert´s, denn seit Entdeckung Manalis durch die Hippies in den frühen 70ern ist hier seitens der Besucher viel Scheiße gebaut worden. Traditionelle Gepflogenheiten wurden rücksichtslos übergangen, eine für die Bewohner völlig unmoralische und inakzeptable Lebensführung wurde öffentlich zur Schau gestellt. Die Leute jedenfalls, die hier im oberen Teil Old Manalis immer noch in diesen Häusern auf ihre althergebrachte Weise leben, wollen ganz sicher nichts vom Lebensstil der Fremden wissen. Denn sicher wäre das Leben für sie leichter und sie wären schon längst wohlhabender, würden sie ebenfalls im Tourismusgeschäft mitmischen.

Am obersten Ende von Old Manali befindet sich ein moderner Tempel. Es ist dies der Tempel des Manu. Auch hier glauben die Menschen, daß, gleich wie in der Bibel, einst eine Sintflut stattfand. Der Gott Manu (von diesem Namen leitet sich übrigens Manali ab) übernimmt dabei die Rolle von Noah, und seine Arche soll genau hier, wo der Tempel steht, gelandet sein. Der, der uns das alles erzählt, weiß noch viel mehr zu verplappern. Ein zwielichtiger Bursche, der mir überhaupt nicht gefällt. Jung, adrett im Anzug gekleidet, stellt er sich uns als Anwalt vor. Er würde sich hauptsächlich um Touristen kümmern, die wegen Drogendelikten Probleme hier haben. Es ist unverkennbar, wie er mit einer aufdringlichen Art unser Vertrauen gewinnen will, und wie falsch er uns dabei einschätzt, denn er geht davon aus, daß auch wir, wie wohl die meisten Touristen, die sich in Old Manali herumtreiben, Anhänger des Hanfes sind. Er gibt sich betont lässig, schwärmt von tollen Feten mit Ausländern, und nach den üblichen Fragen, wo wir herkommen usw. folgt natürlich gleich die, ob wir Interesse hätten, was zu kaufen. Wenn die Story mit dem Anwalt stimmen sollte, dann wehe dem armen Schwein, der von dieser Type vertreten wird. Der stinkt förmlich nach Korruption und Zwielichtigkeit. Da kann dann der liebe Papi daheim gleich einen Dauerüberweisungsauftrag nach Indien einrichten! Wir kehren vom Manu – Tempel aus zu Fuß ins Zentrum zurück, wobei wir einen schmalen Pfad durch die üppige Bepflanzungen einschlagen. Hier vergisst man beinahe, daß man sich eigentlich noch in Stadtgebiet befindet. Unterwegs begegnen uns heubeladene Frauen und steineschleppende Männer in Gummistiefeln. Der Fluß, der anschließend mittels einer Brücke überquert wird, ist der Manalsu Nala und mündet ganz in der Nähe in den Beas, dem Hauptfluß des Kullu – Tales.

Dem Hadimba – Tempel, der ohnehin auf unserem Rückweg liegt, wollen wir selbstverständlich auch eine kleine Visite abstatten. Dieser ungewöhnliche Hindu – Schrein liegt im Schatten eines sehr hochgewachsenen Zedernwaldes, wo sich zwischen den massigen Stämmen etliche Felsbrocken verteilen. Die dreistöckige Holzkonstruktion trägt über dem Eingang verschiedene Steinbockgeweihe, vielerlei kunstvolle Schnitzarbeiten sind in die Fassaden graviert. Irgendwie weckt dieses Monument bei mir Vergleiche mit einem Schwarzwaldhaus. Das Innere des Schreins wird von höhlenartigen Felsen gebildet, und ist mit hinduistischen Devotionalien ausgestattet. Das wichtigste religiöse Symbol ist wohl die Eintiefung in Eingangsnähe, die als Fußabdruck Vishnus gilt. Direkt daneben sitzt ein junger Saddhu mit Rauschebart und einem gütigen Augenausdruck, der den Gläubigen nach der Huldigung einen gelben Punkt auf die Stirn drückt. Der Hadimba – Tempel ist der älteste Schrein Manalis, seine Erbauung datiert auf das Jahr 1553.

Während Haydar´s Bedarf an weiteren Trekkingunternehmen gestillt ist, und er es vorzieht, die verbleibenden drei Tage bis zu unserer Weiterfahrt nach Dehli mit dem Durchstöbern der Stadt und dem Besuch der umliegenden Dörfer Vashisht und Nagar zuzubringen, reizt mich noch die Idee eines Kurztreks in die Bergwelt um Manali. In erster Linie möchte ich mir dabei einen Eindruck von dieser Seite des Himalaya machen, die sich so von Ladakh, Lahoul oder Spiti unterscheidet. Frühmorgens begeben wir uns gemeinsam ins Zentrum zum Frühstück, den präparierten Rucksack für die kommenden zwei Trekkingtage habe ich schon bei mir. Wir treffen Robin, den Führer der drei Südafrikanerinnen, und wir gehen gemeinsam in einer schlichten, aber sehr guten Dhaba frühstücken. Da Robin erst morgen die Stadt verlassen wird, beschließen er und Haydar, gemeinsam den Tag zu verbringen. Sie begleiten mich noch zum Busbahnhof schräg gegenüber, wo auch sofort ein klappriger Tata hinaus nach Palchan abfährt. Der Bus ist gerammelt voll, und der Kassierer dirigiert An- und Abfahrt bei den verschiedenen Haltestellen, sowie das Zurücksetzen des Fahrzeuges mit Hilfe einer Trillerpfeife. Palchan ist ein kleines Dorf an der Rohtang – La – Straße, eine halbe Fahrstunde nördlich von Manali. Um 8.30 Uhr komme ich dort an. Ich gönne mir zunächst ein weiteres kleines Frühstück bei einer Dhaba und versorge mich noch mit ein paar Lebensmitteln. Bis zum Nomadenlager Dhundi (2743 m) brauche ich drei Stunden, wobei ich mir abseits der Straße entlang des Solang – Nala Ufers mehr schlecht als recht einen Pfad suche. Zwischendurch passiere ich Solang, einen Weiler, der auch über touristische Einrichtungen verfügt. Im Moment ist jedoch kein Ausländer hier oben. Ich weiche umständlich durch den mit wilder Vegetation zugewucherten Steilhang einer Büffelherde aus, da mir die riesigen Tiere nicht ganz geheuer sind. Erst kurz vor Dhundi treffe ich wieder auf den Fahrweg. An einer Gabelung wechsle ich über eine Holzbrücke das Ufer und folge zunächst dem nach rechts abzweigenden Fahrweg, anstatt den schmalen Pfad direkt nach Norden zu nehmen. In kurzen Abständen ertönt plötzlich eine Trillerpfeife, vom Weg über mir rufen mir uniformierte Straßenarbeiter etwas zu. Ich verstehe zwar die Worte nicht, aber glücklicherweise ahne ich, was da gerade vorgeht. Ich eile ein Stück zurück und suche Deckung hinter einer Böschung. Da tut es auch schon einen gewaltigen Knall, und kurz darauf steigt eine riesige Staubwolke gen Himmel. Straßensprengarbeiten werden eben in Indien nicht akkurat abgesperrt, wie bei uns! Ich winke den Arbeitern über mir dankend zu und setze zunächst den Weg fort. Doch schon nach kurzer Zeit sagt mir meine Intuition, daß hier was nicht stimmt. Ich kehre also zurück und frage die Arbeiter nach meinem Ziel Beas Kund. Sie weisen mich über den Fluß, in die andere Richtung, als die, welche ich eingeschlagen hatte. Ich wechsle also wiederum das Ufer über das Holzbrückchen, über welches ich gekommen war, und folge nun dem etwas kleineren, aber dennoch wasserreichen und wild schäumenden Bach, der an der Wegegabelung in das größere Gewässer einmündet, aufwärts. Rechterhand steht auf einem Hügel eine Touristenunterkunft, die um diese Zeit ebenfalls verwaist ist. Ein Nomade, der mir begegnet, erklärt mir, ich müsse an der nächsten Brücke das Ufer wechseln, um zum Beas Kund zu gelangen. Ein schöner, schmaler Bergpfad folgt nach der Brücke durch üppig grüner Vegetation direkt dem Wildbachufer. Die Pflanzenwelt verströmt hier köstliche Aromen und die Aussicht auf die Berge ist berückend. Die auf meiner Höhe auf der gegenüberliegenden Talseite gen Himel spitzenden Berggestalten sind alle von spitzkegeliger Form und bis obenhin begrünt. Weiter oben schließen dann wilde Felsmassive auf, deren graue Wände zu dem Weiß der Gletscher und des die Gipfel bedeckenden Schnees kontrastieren. Diese gewaltige Gebirgsmauer nennt sich das Hanuman Tibba Massiv, dessen ans nördliche Ende versetzter Hauptgipfel 5928 Meter erreicht. Während sich die Gebirgslandschaften von Zanskar und Ladakh nur schwer mit denen der Alpen vergleichen lassen, kann man sich beim Anblick des Hanuman – Tibba – Massivs durchaus an die Bergwelt der Glarner oder Berner Alpen erinnert fühlen.

An einer weiteren Brücke komme ich ins Zweifeln. Wo geht mein Weg weiter, diesseits oder jenseits der Brücke? Ich wechsle zunächst das Ufer, und als ich drüben keinen Pfad finde, kehre ich zurück und folge weiterhin der orographisch linken Seite aufwärts. Der Weg wird nun immer beschwerlicher. Hier ist überhaupt kein Pfad mehr und ich kämpfe mich durch Blockwerk und steile Erdrutschhänge. Hin und wieder meine ich, so etwas wie Pfadspuren gefunden zu haben, die aber ständig wieder verschwinden. Bald stehe ich am Ufer eines aus einem Seitental herabströmenden Baches. Der Weg entlang des Hauptbaches findet nun weiter oben durch einen unpassierbaren Felsriegel, an dessen Seite der Wildbach als tosender Wasserfall vorbeidonnert, ein jähes Ende. Hingegen scheinen Pfadspuren in Richtung des Seitentales zu führen. Ich habe keine Wahl, ich folge dieser Fährte, die jedoch schon bald wieder abreißt. Das Seitental entpuppt sich als eine ausgewachsene, steile Schlucht, die vollkommen weglos ist. Den Beas Kund habe ich zwischenzeitlich abgeschrieben, ich bin sicher, daß ich ihn nicht erreichen werde. Ich benötige aber zumindest einen Zeltplatz, und hege die Hoffnung, daß ich oberhalb der Schlucht einen solchen, hoffenlich schönen, finden werde, damit ich das Unternehmen doch noch mit halbwegs positiver Bilanz abschließen kann. Indes scheint die Schlucht kein Ende nehmen zu wollen, und die Kletterei durch dichte Vegetation, wo ich immer wieder in Löcher oder zwischen Felsblöcken einbreche, und durch Erdrutschhänge von heikler Rutschigkeit nimmt sich zwischenzeitlich recht dramatisch aus. Zwischendurch bildet der Bach eine herrlich ausgewaschene Felsklamm, doch im Moment treibt mich zu sehr die Sorge, mein Unternehmen hier in guter Gesundheit abzuschließen, als den Wundern der Natur Beachtung zu schenken. Hinzu kommt jetzt noch, daß die sich im Laufe des Tages immer mehr aufgeblähten Wolken als undurchdringlicher Nebel über die Landschaft gesenkt haben, und mich jeglicher Weitsicht berauben. Meine größte Befürchtung ist jedoch, daß es zu einem Wolkenbruch kommen könnte, was in diesem Gelände, vor allem in Hinblick auf die labilen Hänge, von fataler Gefährlichkeit wäre. Der Monsun ist hier erst vor kurzem durchgezogen, und ich könnte mir einen Nachzügler durchaus vorstellen. Endlich komme ich heil aus der Schlucht heraus, befinde mich allerdings nun in einem für Camping nur sehr leidlich geeigneten Gelände.Über mir führen zwei kleinere Bachbetten genauso steil weiter hinauf. Ich beschließe, es darauf ankommen zu lassen und steige im linksseitigen der beiden aufwärts. Nach gleichfalls steiler, aber wesentlich kürzerer Kletterpartie erreiche ich endlich eine schöne Bergwiese. Linkerhand stehen im Abstand von wenigen hundert Metern drei Nomadenzelte und von rechts oben kommt prompt jemand herunterspaziert. Als die Person mich entdeckt, setzt sie sich hin, um auf mich zu warten.

Es ist ein junger Nomadenhirte, der auch etwas englisch spricht. Er lädt mich ein, mit in sein Zelt zu kommen, wo seine Frau und ein kleiner Junge mit dem Essen auf ihn warten. Den mir angebotenen Tee nehme ich gerne an, doch das Essen lehne ich ab, mit dem Hinweis, daß ich ja heute noch den Beas Kund erreichen will. Der Hirte hatte mir nämlich schon verklickert, daß wir hier gar nicht weit von diesem heiligen See entfernt wären. Ich müsse nur vom Lagerplatz aus in eine Scharte hinaufsteigen, wo ich dann auf der anderen Seite über einen steilen Pfad zum See hinunterkäme. Er verschiebt extra sein Abendessen, um mich persönlich hinaufzuführen. Es dämmert schon leicht, als wir schließlich oben in der Scharte stehen, wo sich unter uns die dunkle Fläche des wunderschönen Bergsees in eine Geländemulde einfügt. Ich bedanke mich bei meinem Freund und gebe ihm noch ein paar Rupien, "For the child!", sage ich. Wir verabschieden uns wie alte Freunde und ich begebe mich hinunter in das einsame, prächtige Hochtal. Der Hirte hatte mich zuvor gebeten, nicht direkt am Beas Kund zu übernachten, denn der See sei Wohnort der Götter, die man nicht stören sollte. Ich verspreche es ihm und suche mir einen Platz etwas unterhalb des Sees, wenngleich es um taugliche Zeltplätze in dem welligen, steinübersäten Gelände sehr schlecht bestellt ist. Es ist kurz vor Einbruch der Dunkelheit, als ich am Seeufer stehe, und die spektakuläre Umgebung auf mich einwirken lasse. Der See selber wird durch einen Wasserfall genährt, der Auslauf findet sich am gegenüberliegenden Ufer als kleiner Bach. Ringsum ist das Tal von wilden, vergletscherten Felsmassiven gerahmt. Beas Kund bedeutet übrigens "Quelle des Beas" und genaugenommen trifft das auf das Hochtal im Gesamten zu, denn hier rauschen die Quellbäche des Beas herab. Hierbei wurde der See zur eigentlichen Quelle bestimmt, auch wenn das im geographischen Sinne eigentlich nicht zutreffend ist.

In der Früh´ habe ich das Glück, das Hanuman – Tibba – Massiv, welches dem Tal genau gegenübergestellt ist, in voller Pracht zu bewundern, ehe rasch die ersten Wolken zunächst nur die höchsten Gipfel umwabbeln, sich dann im fortschreitenden Morgen immer mehr aufblähen und zum Schluß nur noch Reste der grauen Felsmauer oder tieferliegender Gletscherbecken zur Ansicht frei lassen. Mein Aufbruch erfolgt um 7.50 Uhr. Zunächst hole ich mir bei der Durchwatung des unterhalb des Hochtales vorbeifließenden Baches nasse Füße, um hinterher festzustellen, daß weiter bachaufwärts ein bescheidenes Holzbrücklein existiert hätte. Der weitere Abstieg erfolgt auf weitestgehend gutem Pfad, nur im oberen Teil sind unangenehme Blockfelder zu überwinden. Dies ist nun der eigentliche und richtige Weg zum Beas Kund, wie ihn mir der Hirte am Abend zuvor erklärt hatte. Er zieht sich hoch über dem Flußufer und ein wenig von diesem entfernt durch´s Gelände und war daher vom anderen Ufer her gar nicht einsehbar, genau so wenig, wie das Tent – Restaurant, auf das ich jetzt auf dem Rückweg stoße. Die beiden Burschen, die sich übrigens auch als Bergwacht verstehen, hatten angeblich mein gestriges Tun in der Schlucht beobachtet, und zwar kurz bevor der Nebel die gesamte Szenerie verschluckt hatte. Sie hatten sich noch sehr darüber gewundert, wer denn auf die verrückte Idee käme, hier hinaufzusteigen. Auch sie stimmen meiner Mutmaßung zu, daß ich möglicherweise der erste Mensch sei, der je dieses Bachbett durchstiegen hat. Nach zwei Chais und ein paar Keksen verabschiede ich mich von der Bergwacht und kehre nach Dundhi zurück, diesmal korrekterweise beide Brücken in Anspruch nehmend, denn wenn man die zweite (in meiner jetzigen Gehrichtung natürlich die Erste) Brücke beim Abstieg außer Acht läßt, versperrt einem schon bald wieder ein abrupt zum Fluß hinunterbrechender Felsriegel das Weiterkommen. Nur wenig unterhalb von Dhundhi treffe ich einen kontaktfreudigen Baggerfahrer, der mir eine Mitfahrgelegenheit bis hinunter zum Beginn der Piste verschafft. Den Hänger mit dem aufgebaggerten Erdreich beladen, rütteln wir die Straße hinunter, auch mit dem Fahrer finde ich rasch zu netter Konversation. Jetzt ist es nur noch ein Katzensprung entlang der Rohtang – La – und schon stehe ich wieder vor der Dhaba in Palchan, wo gestern morgen alles begann. Das Ehepaar freut sich, mich wiederzusehen, und ich nehme noch einen kleinen Snack, bevor ich mich von einem Dreiradtaxi bergab nach Manali hineinrollen lasse.Der Fahrer braucht hierbei den Motor erst bei der Einfahrt ins Stadtgebiet anzuwerfen. Abends gehe ich mit Haydar gediegen zum Krabbenessen. Robin hatte ihn in dieses Restaurant geführt, das wohl etwas gehobeneres Niveau hat und somit teurer, aber für uns Europäer immer noch erschwinglich ist. Zudem sitzt man hier in einem paradiesischen Innenhof und das Essen, auf das wir zwar nahezu zwei Stunden warten müssen, ist wirklich eine kulinarische Raffinesse. Als wir ins Zentrum zurückkehren, wird dort wieder mal der kleine Schrein geöffnet, der meiner Vermutung nach dem Gott Shiva gewidmet ist. Die Götterstatue sitzt im Schreininneren auf einem Thron, ist in eigenartige Trachten gekleidet und wirkt auf mich unheimlich. Der Tempel selbst ist eigentlich unbedeutend und alltäglich in Indien, doch jedesmal, wenn wir hier vorbeikommen, und die Huldigungen abgehalten werden, bleibe ich interessiert stehen, um zuzuschauen. Die Zeremonie wird von einem hektischen Glockengebimmel begleitet, während die Gläubigen in ehrfurchtsvollen Verbeugungen zu beten scheinen, Räucherstäbchen entzünden und rote Farbe opfern. Auch nur zufällig vorbeigehende Passanten wenden stets ihre Gesichter in Richtung des Gottes, beugen dabei ihre Köpfe und falten die Hände zum Gruß.

Die Schmeißfliege hat uns Bustickets für unsere morgige Fahrt zurück nach Dehli besorgt, die Plätze vorn, wie abgemacht. Doch kurz vor der Abfahrt am folgenden Tag kommt er uns mit der Story, daß der Bus ausgefalle wäre, er uns aber dennoch gute Plätze in einem anderen Bus besorgt hätte. Doch bereits an den Nummern sehen wir, daß unsere Sitzplätze wohl weit hinten sein müssen und wir tun auch gleich unseren Unmut kund. Das hält ihn dennoch nicht davon ab, uns um Bakschisch, Schuhe, und "gift from your country" anzubetteln. Und noch dazu will er uns persönlich zum Busbahnhof begleiten. Wir lehnen ab, denn er würde uns diesen "Gefallen" nur mit dem Hintergedanken machen, uns noch in letzter Minute irgendwas abzuschwatzen oder anzudrehen. Stattdessen verlassen wir das Hotel noch lange vor der Abfahrt, und kehren mit Sack und Pack in einer vegetarischen Dhaba ein, in der wir zuvor schon beste Erfahrungen gemacht haben, und zwar sowohl bezüglich des guten Essens, als auch der charmanten Freundlichkeit und emsigen Tüchtigkeit des brahmanischen Besitzers.

Um 15.30 Uhr verlassen wir Manali im "Super Luxus" – Bus auf indisch. Nicht auszudenken, in was für einer Kiste wir gelandet wären, hätten wir nicht diese "noble" Klasse gebucht. Unsere Sitzplätze befinden sich, wie befürchtet, genau auf dem Rad. Nun denn, es sind ja nur 15 Stunden bis Dehli! Um 15.30 geht die Fahrt los.Stundenlang sind wir im Kullutal unterwegs, der riesige, hier durchschäumende Fluß ist der Beas. Ich hätte diese Dimensionen nicht erwartet und es macht mich umso stolzer, zu Fuß ins Quellgebiet eines so großen und bedeutenden Stromes vorgedrungen zu sein.Zu den interessantesten Treks im Bereich des Kullu - Tales gehören sicher diese im Bereich des Parvati – Tals, des größten Nebentals des Kullu. Doch hier ist es oft unabdingbar, sich einem guten ortskundigen Führer anzuvertrauen, denn viele Touren führen durch Dörfer, wo noch alte, äußerst strikte Traditionen beibehalten werden, und ein Fehlverhalten zu schlimmen Verwicklungen führen kann. Hinzu kommen noch Gerüchte über gelegentliche kriminelle Übergriffe in manchen Bereichen des Parvati – Tals.

Es dämmert bereits, als unser Bus immer noch durch´s untere Kullu – Tal röhrt. Die Landschaft zieht uns hier ganz besonders in ihren Bann. Wir befinden uns nun im Bereich des Himalaya – Vorgebirges zwischen 1000 und unter 2000 Metern. Grünwuchernde, subtopische Vegetation überzieht die Hänge, steile Felwände und Wasserfälle, die wie Silberfäden an ihnen herunterschießen, faszinieren uns gleichermaßen. Die Talseiten sind nun ganz nahe zueinander aufgerückt, und anstatt von Dörfern passieren wir höchstens noch den einen oder anderen Haltepunkt mit einer Dhaba, Postdienst oder ähnlichem. Dieser untere Talauslauf schient fast völlig unbewohnt. Das Bedauerliche an dieser herrlichen Teilstrecke ist, daß sich unsere Sitzuplätze auf der falschen Seite, also überwiegend zu den Hängen hin, befinden. Die Nacht ist schon lange hereingebrochen, und der Bus kurvt immer noch wild über Serpentinen abwärts. Dies macht uns nochmals bewußt, in was für einem gewaltigen Gebirge wir uns befanden, und anbetrachts dessen, daß wir vom Rohtang La bis nach Manali bereits 1800 Höhenmeter abwärts zurückgelegt haben, ist es schier unglaublich, wie lange es immer noch weiter runterwärts geht. In einer Dhaba wird eine Pause eingelegt.Interessant ist, daß wir, nachdem wir ein fleischhaltiges Menü bestellt haben, gebeten werden, in einem anderen Bereich des Lokals Platz zu nehmen, denn dieser Tisch sei für Vegetarier reserviert. Beim Zahlen bricht Haydar einen Streit vom Zaun. Ich hab´s fast geahnt: wenn ein Restaurant ein wenig Marmor auf dem Boden hat und etwas gediegener aussieht, ändert sich, was die Qualität der Küche anbelangt, oft nichts. In diesem Falle war das Chicken Curry sogar vergleichsweise schlecht. Der Preis war dafür dreimal so hoch, wie in einer gewöhnlichen Dhaba. Es nützt nichts, wir zahlen den überteuerten Fraß, aber haben wenigstens gezeigt, daß wir keine Idioten sind. Erst spät in der Nacht gelangen wir endgültig ins Flachland. Die Fahrt im Morgengrauen durch die Außenbezirke Delhis zeigt unwürdige Bilder von Menschen, die direkt neben der Straße geschlafen haben, der Eine oder Andere befindet sich gerade in Hockestellung bei der morgendlichen Darmentleerung. Es ist schon ein Irrsinn, daß wir uns im gleichen Land befinden, welches über das größte Potential an kompetenten Computer – Fachleuten der Welt verfügt, mit führender Position in der Software – Entwicklung, daß genügend Geld vorhanden ist, sich die Atombombe und die größte Armee Asiens zu leisten, oder in einem gigantischen Projekt die Stadt Mombay (Bombay) mittels einem hochmodernen Straßenbrückensystem und zukunftsweisender Schwebebahn von Monsunschäden bewahrt werden soll (zweifellos positiv zu bewerten!), aber diese Leute, die hier auf der Straße leben müssen, sind hoffnungslos alleingelassen in ihrem Elend.

Um 6.30 Uhr entsteigen wir endlich mit steifen Knochen dem Bus und lassen uns per Dreiradtaxi zum Old Bazar im Viertel Paharganj tuckern, wo wir im "Sai Palace", einer der für dieses Viertel typischen Billigabsteigen, welche es hier wie Sand am Meer gibt, im schlichten Zimmer zu moderatem Preis unterkommen. Anschließend erhalten wir in einer Dhaba ein original südindisches Frühstück. Unser letzter Tag in Indien ist angebrochen, morgen in Allerherrgottsfrühe müssen wir uns zum Flughafen begeben. Doch heute wollen wir uns noch einmal im gleichwohl faszinierenden wie auch abstoßenden Chaos eines typisch südasiatischen Supermolochs tummeln. Hinzu sollen zu Haydar´s Leiden noch ein paar Kulturvisiten kommen, die wir bei unserem ersten Aufenthalt aus Zeitgründen auslassen mussten. So gilt unser erster Besuch der Jami Masjid, welche die größte Moschee Indiens ist. Da meine Hosen kniekurz sind, wird mir am Eingang eine Art Sarong um die Hüfte gebunden, worin ich aussehe, wie ein malaiischer Bukanier. Während ich mich eingehender mit diesem für mich eindrucksvollen Bau befasse, geht Haydar schon bald wieder nach draußen, da ihn das Treiben auf der Straße mehr interessiert. Die Moschee ist übrigens kein totes Denkmal, in ihr versammeln sich immer noch Gläubige zum Gebet, denn Delhi ist, wenn auch heutzutage überwiegend hinduistisch geprägt, Schmelztiegel verschiedener Völker und Religionen geblieben. Das Rote Fort, vielleicht das Wahrzeichen von Delhi, hat ausgerechnet Montags geschlossen, weshalb wir das Monument nur von außen in Augenschein nehmen können. Ich statte noch dem hinduistischen Jain - Tempel einen kleinen Besuch ab, der sich auch "Vogelkrankenhaus" nennt. Tatsächlich werden in einem separaten Raum im Tempelinneren jede Menge kranker Vögel in Käfigen gehalten und hier offenbar wieder gesund gepflegt. Bei Eintritt in den "Patientensektor" wird um eine kleine Spende gebeten, der ich auch nachkomme. Hinterher erfahre ich, daß hauptsächlich Frauen mit Kinderwunsch hierherkommen, die glauben, daß mittels Spende und Krankenbesuch der ersehnten Kinderwunsch eintrifft. Oh jeh, da habe ich ja wieder was angestellt!

Zwischen der Moschee, dem Jain - Tempel und dem Roten Fort liegt das Viertel Dehlis, dessen Besuch uns besonders am Herzen liegt: Old Dehli, ein ausgedehntes Quartier, das einem zusammenhängenden, riesengroßen Bazar gleicht. Hier findet man ewig lange Straßenzüge, in denen jeweils mit ein und derselben Ware gehandelt wird, also ein Straßenzug, wo nur Uhren feilgeboten werden, gefolgt von der Gasse mit Elektrogeräten, dann wieder ein Straßenzug, wo es nur Gewürzläden gibt, oder die Straße der Hülsenfrüchte, die der Seifen, usw... In einem riesigen Innenhof finden wir unter Arkaden die Salzhändler, wo man das Salz brockenweise oder gar sackweise kaufen kann. Während die einen Salzbrocken zum Kochen verwendet werden, dienen andere wiederum für die Rasur. Haydar kauft verschiedenen Brocken auf Vorrat. Es gibt weiße, rosafarbene und schwarze Salzsorten, wobei Letztere auf chemischer Basis hergestellt werden. Wer bei seinem Spaziergang genau hinschaut, sprich buchstäblich hinter die Kulissen, wird mit prächtigen Ornamenten ausgestattete Fassaden alter Handelshäuser entdecken, die sich aber allesammt in einem jammervollen Zustand befinden. Abbröckelnder Putz, schimmelnde Decken und Wände, vermodernde, mit kunstvoller Filigranschnitzerei verzierte Holzbalken... Dennoch kann man sich mit etwas Fantasie vorstellen, daß diese Stadt einmal das Ideal eines Schauplatzes aus Tausendundeiner Nacht gewesen sein muß. Jedenfalls zählen die Arkaden der Salzhändler zu den besten Beispielen für den morbiden Untergang eines einstigen Morgenlandtraums.

Unbestritten ist das Elend ihrer Bewohner der größte Schandfleck der Stadt. Doch was diesen Moloch für den Besucher auf die Dauer so unerträglich macht, ist wohl der furchtbare Verkehr, sowohl bezüglich der Luftverschmutzung, als auch wegen des nervenzerreibenden Lärms und der quälenden Enge. Die Schlenderei durch Old Dehli ist daher sehr anstrengend, hinzu kommt eine brütende Hitze, gepaart mit erstickender und schweißtreibender Luftfeuchtigkeit. Dann und wann retten wir uns zu einem kleinen Päuschen an ein Kiosk oder einen Limonadenstand, um eine kühlende Erfrischung hinabzustürzen. Zwischen den wild hupenden Fahrzeugen bewegt sich, wie eine riesengroße Schlange, ein nie abreißendes Gedränge von Menschen aller möglicher Kasten- und Volkszugehörigkeiten, vom verkrüppelten und völlig mittellosen Bettler bis hin zum gutgekleideten Yuppie, dem die Krawatte in diesem Affenklima offensichtlich nicht zu heiß ist. Wer den körperlichen Kontakt zu seinen Mitmenschen scheut, oder von Ängsten befallen ist, sich vielleicht mit irgendeinem Virus anzustecken, ist hier fehl am Platz.

Eine weiteres prächtiges Monument im Stadtbild ist der Sikh – Tempel. Eine Inneninspektion wollen wir allerdings auf unseren vielleicht nächsten Indien – Aufenthalt verschieben. Zwischendurch flüchten wir in den Gandhi – Park, einer grünen und ruhigen Oase mitten im Chaos. Zum Mittagessen geraten wir durch Zufall in eine exzellente Dhaba in irgendeiner der gleichfalls überfüllten Nebengassen. Die Speisen sind rein vegetarisch und drei Jungs sind ständig damit beschäftigt, den Gästen verschiedene Zutaten nachzureichen, wobei man sich beliebig oft Nachschlag geben lassen kann. Schließlich geraten wir noch in eine Prozession zu Ehren Krishnas. Ein beaufsichtigender Wachmann, der sich als Polizeibeamter zu erkennen gibt, erklärt mir dabei die Vorgänge und stellt mir die üblichen Fragen, woher ich komme, ob ich Familie hätte und wie ich heiße. Nebenbei erzählt er mir noch, daß er einst Helmut Kohl bei dessen Besuch in Delhi bewachen mußte. In der Zwischenzeit ist Haydar in ein eifriges Verkaufsgespräch mit dem Geldbeutelhändler verwickelt.

Erst nach etlichen Stunden und vollbepackt mit Einkäufen kehren wir per Dreiradtaxi zum Old Bazar zurück. Jetzt erst wird uns richtig bewußt, wie touristisch der Old Bazar in Wirklichkeit ist. In Old Dehli waren fast ständig und ausschließlich die einzigen Fremden unter Einheimischen, auch hat sich hier kaum jemand für uns interessiert, wenn wir nicht gerade mit offensichtlichen Kaufabsichten vor einem Stand oder Laden stehengeblieben sind. Hier im Old Bazar sind die Gassen wiederum voll von Indienreisenden aus aller Welt und entsprechend ausgerichtet ist das Angebot nicht aller, aber vieler Läden. Selbst viele Dhabas haben ihre Küche auf Travellergaumen abgestimmt, was bedeutet, daß sie dann überwiegend chinesisch kochen, was bei einer großen Anzahl von Touristen offensichlich ankommt. Sicher zeigt der Old Bazar im Vergleich zum Stadtviertel Thamel in Kathmandu seine touristische Ausrichtung nicht so offensichtlich, doch nach einer Rückkehr aus Old Dehli wird der Unterschied augenfällig.

Wie wir nachts noch durch die lebhaften Gassen des Old Bazar streifen, fällt plötzlich im ganzen Viertel der Strom aus. Fast ebenso schnell beginnen in den Läden, Verkaufsständen und Restaurants Kerzenlichter aufzuflackern, man ist solche Situationen gewohnt und darauf vorbereitet. Nachts um 2, nach einer Bettruhe, die mehr einem Dösen, als einem Schlafen gleichkam, stehen wir vor unserem Hotel und warten auf das bestellte Taxi. Das Viertel ist jetzt vollkommen verlassen, es ist die Zeit, wo die Stadt den Straßenhunden gehört, die nun gruppenweise um die Häuser ziehen. Die Luft ist jetzt wieder sauber, die Ruhe schier unglaublich. Nachts scheint sich die Stadt vom Rabatz zu erholen Als wir endlich im Taxi sitzen, findet die Fahrt bereits nach ein paar Hundert Metern eine unerwartete Unterbrechung. Während der Fahrer den Wagen zum Reifenwechsel aufbockt, brennt es uns unter den Nägeln, denn die Zeit wird langsam knapp. Haydar wird zudem mißtrauisch, ob das hier vielleicht ein faules Spielchen ist, um uns in der finsteren Einsamkeit auszurauben, zumal wir ja mit unserem gesamten Gepäck und den Wertsachen zum Flughafen unterwegs sind. Da es sich um ein Pre – Paid – Taxi handelt und ich keine weiteren Anzeichen dafür erkennen kann, daß noch irgendwelche verdächtigen Personen im näheren Umfeld umherschleichen, sehe ich die Sachlage eher gelassen, und glaube bei der Reifenpanne wirklich an einen Zufall. Kaputte Reifen habe ich zudem schon des Öfteren auf Reisen erlebt, sei es auf einer Rüttelpiste in Mexiko, nach einer holprigen Fahrt durch den Kalahari – Gemsbock – Nationalpark in Südafrika, als uns die Luft direkt vor dem Gebäude der Nationalparksverwaltung ausging, oder etwa auf einer Busfahrt in Patagonien.Es passiert hier, sei es, wegen des Zustandes der Straßen, oder auch der liederlichen Verfassung der Reifen, viel häufiger, als bei uns in Deutschland. Schließlich und endlich erreichen wir sicher und rechtzeitig den Flughafen, unterwegs sehen wir den ersten und einzigen Unfall auf unserer Indienreise. Ein Lastwagen war von der Fahrbahn abgekommen, und zur Seite umgekippt. Im Flughafen treffen wir auch Alfred wieder, der die letzten Tage mit Städtebesichtigungen zugebracht hat. So treten wir auch wieder gemeinsam die Rückreise an, ein unvergessliches Abenteuer war´s jedenfalls für alle Beteiligten!

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