Auf den Spuren der ersten 8000er – Bezwinger ums Annapurna – Massiv
Unter den bekanntesten Wanderrouten dieser Welt gehört die Umrundung des Annapurna – Himal zu den Klassikern mit dem Anspruch, gleichfalls eine der schönsten zu sein. Als ich am 1. März in Kathmandu eintreffe, beginnt gerade mal das Frühjahr in die Täler des Himalaya einzuziehen, des höchsten und mächtigsten Gebirges der Erde. Die empfohlene Jahreszeit für derartige Unternehmungen auf der Monsunseite des Gebirges ist eigentlich der Herbst, also die Monate Oktober und November, die Zeit von März bis Ende April wird unter Kennern jediglich als die zweitbeste Wahl gehandelt. Da Gebirgswetter aber grundsätzlich unberechenbar ist, sind dies nur Empfehlungen, die durch Wettersturz, Neuschnee, Nebel bzw. Dunst oder anhaltend starke Regenfälle unter Umständen schnell zunichte gemacht werden können. Trotzdem genießen die gängigsten Trekkingrouten in Nepal den Ruf einer höheren Wetterstabilität, als manche Gegenden der Alpen.
Daß das Frühjahr einige ganz besondere Vorzüge aufweist, wird der Leser noch im Laufe des Berichtes erfahren und kann dann selbst abschätzen, welche Zeit für ihn persönlich in Frage käme.
Bevor ich mit meinem Bericht loslege, möchte ich zunächst noch einige allgemeine Erklärungen zur Region sowohl in geographisch/klimatischer, als auch in kultureller und alpingeschichtlicher Hinsicht vorwegschicken:
Das Annapurna – Massiv liegt mitten im zentralen Teil der mächtigen Himalaya – Kette, wo Annapurna I mit 8091 m den höchste Gipfel darstellt, ein gutes Dutzend Bergriesen erreicht mehr als 7000 m und zahlreiche 6000er – Gipfel fügen sich mit ein, die in diesem gigantischen Gebirgsspektakel oft schon zu zweitrangigen Statisten degradiert werden. Der Annapurna – Himal findet seine Grenzen wie folgt: im Osten bzw. Nordosten durch das lange Tal des Marsiangdi – Khola (Khola = Fluß), von dessen Talabschluß aus der Weg zum Paßübergang Thorong – La führt, wo die Grenze zu Tibet nur noch wenige Kilometer entfernt liegt, und der Himalaya in das riesige tibetische Hochplateau übergeht, dem sogenannten Dach der Welt. Auf der anderen Seite des Passes finden wir das Tal des Khali Gandhaki (Khali = großer Fluß, Strom), das den Annapurna – Himal nach Westen hin unter anderem zu den im Nordwesten gelegenen Mustang - Bergen abgrenzt, wo dann weiter südlich der Dhaulagiri mit 8167 m triumphiert. Dieses Tal kann, neben seiner einzigartigen Schönheit und kulturellen Vielfältigkeit, mit einem geographischen Rekord aufwarten, es handelt sich nämlich um das tiefste Tal der Welt, wobei die Gipfel der beiden Bergriesen Annapurna I und Dhaulagiri nur 43 km Luftlinie trennen, woraus resultiert, daß der Höhenunterschied zwischen Talgrund, sprich Flußbett des Khali Gandhaki und den jeweiligen Bergspitzen, nahezu 7000 m beträgt. Nach Süden hin gehen die Schneegipfel ins Himalaya – Vorgebirge über, jenes grüne, zur landwirtschaftlichen Nutzung oft stark terrassierte Bergland, das große Teile der nepalesischen Landfläche bestimmt. Noch weiter unten liegt dann auf 820 m Nepals zweitgrößte Stadt Phokara mit seinem sensationellen Blick auf die gesamte Bergkette von Dhaulagiri über Annapurna und Machapuchare bis hinüber zum Manaslu (8156 m). Dort öffnet sich das subtropische Tal von Phokara, in dem sich unter anderem auch mehrere Seen befinden.
Der Annapurna – Himal mit seinen Tälern teilt sich in zwei extrem unterschiedliche Wetterzonen, die dann auch einen enormen Einfluß auf die Landschaft nehmen: die vom Monsun bedachte, üppig grüne Südseite, und der Norden zwischen Manang und Jommosom, der im sogenannten Monsunschatten ein karges, fast wüstenhaftes Dasein fristet. Selbstverständlich findet man ab einer gewissen Höhe in beiden Teilen nur noch die hochalpine, vegetationslose, vergletscherte und lebensfeindliche Welt der Hochgebirge vor.
Neben der landschaftlich - klimatischen Zweiteilung erfahren unsere beiden Haupttäler auch eine kulturelle Gliederung, wobei man im Groben zwischen den hinduistisch geprägten Siedlungen in den tieferen Lagen, vor allem im unteren Tal des Marsiangdi Khola, und den in den Hochlagen buddhistischen Bergdörfern der ethnisch der tibetisch – mongolischen Rasse zugehörigen, tibeto – burmesische Dialekte sprechenden Volksgruppen wie den Gurung oder Manangi unterscheidet. Hier gibt es allerdings - für den Laien meist nicht erkennbare - Nuancen und auch Dörfer mit ethnischen Vermischungen, wobei die friedliche Koexistenz der verschiedenen Rassen und Religionen im Vielvölkerstaat Nepal zur Selbstverständlichkeit geworden zu sein scheint. Die im Land in jüngster Zeit immer mehr eskalierenden, für die Zukunft des Landes meiner Meinung nach enorm gefährlichen Konflikte zwischen Maoisten und regierungstreuem Militär und Polizeitruppen resultieren aus der klaffenden Schere arm – reich, mächtig – ohnmächtig, wobei Macht und Reichtum, bzw. Armut und Ohnmacht eben nicht durch bestimmte ethnische Gruppen repräsentiert werden.
Die alpinistische Erschließung des Annapurna – Gebiets fand seinen Anfang 1950, als eine französische Expedition unter Leitung von Maurice Herzog, der später übrigens zeitweise den Posten des französischen Erziehungs – und Sportministers bekleidete, mit dem Ziel, als erste Menschen einen 8000er zu besteigen, sich auf den abenteuerlichen Landweg von der indischen Grenze durch das damals noch völlig straßenlose Nepal machte, wo am 21.04.1950 im Khali – Gandhaki - Tal das erste Basislager errichtet wurde. Zunächst beschloß man, es am Dhaulagiri zu versuchen, doch war es der Expedition nicht gelungen, dort auch nur eine halbwegs akzeptable Aufstiegsroute auszumachen, weshalb die Franzosen schließlich die Annapurna I in Augenschein nahmen. Vom unter den damaligen Umständen sehr schwer erreichbaren oberen Talabschluß des Miristi Khola aus wurde dann der Aufstieg von Norden her angegangen, der damals einzigen, halbwegs akzeptabel erscheinenden Möglichkeit, wenngleich auch hier ein enormes Risiko eingegangen wurde, besonders was die dort herrschende extrem hohe Lawinen – und Eissturzgefahr anbelangte. Am 3. Juni 1950 erreichten Maurice Herzog und Louis Lachenal, alles auf eine Karte setzend, den 8091 m hohen Hauptgipfel der Annapurna I, eine Leistung, die in den folgenden 20 Jahren nicht mehr wiederholt werden sollte. Der dramatischste Teil dieser in jeder Hinsicht tollkühnen, fast wahnwitzigen Unternehmung entwickelte sich jedoch während des Abstiegs, bzw. bei der Rückkehr der Expedition zurück nach Indien. So wie Herzog den Gipfelgang ohne den im Bewußtsein seiner Verantwortung für seinen Bergkameraden zum Gipfel gefolgten Lachenal nicht überlebt hätte, wären beide Gipfelsieger gleichfalls ohne die Hilfe ihrer Expeditionskameraden und der Sherpas nicht mehr lebend von der Unternehmung zurückgekehrt. Beide hatten sich Gliedmaßen erfroren und mußten, im Schwebezustand zwischen Leben und Tod, teilweise den Berg hinunter- und den gesamten Anmarschweg zurückgetragen werden, wobei Amputationen erfrorener Gliedmaßen zum Tageswerk des Expeditionsarztes Oudot gehörten.
Erst im Jahre 1970 rückte die Annapurna wieder ins Augenmerk der Öffentlichkeit, wobei zwei Expeditionen nahezu zeitgleich operierten: Von Norden her wurde die jetzt so genannte „Franzosenroute“ von einer englischen Expedition wiederholt, und auf der Südseite wagte sich erstmals eine ebenfalls englische Expedition unter der Leitung von Chris Bonnington an die Hauptgipfel – Bezwingung über die gleichfalls gefährliche und extrem steile, 3500 m aufragende Annapurna Südwand, eine Unternehmung, die aufgrund der technischen Schwierigkeiten in den 50er Jahren undenkbar gewesen wäre. Anmarschweg und Basislager der Südwandexpedition sind heutzutage bei Nepaltrekkern gleichfalls bekannt wie populär. Der Erfolg dieser Unternehmung wurde getrübt durch die tödliche Verunfallung des Expeditionsteilnehmers und Weltklassebergsteigers Ian Clough in einer Eislawine beim Abstieg zwischen Lager I und II, als keiner mehr mit größeren Gefahren gerechnet hatte.
Erwähnung verdient sicher auch die 1984 erfolgte erste Annapurna – Gesamtüberschreitung über alle drei Gipfel durch die beiden Schweizer Erhard Loretan und Norbert Joos, die nach meinem Wissensstand seither nicht mehr wiederholt worden ist. Zu den Pionierleistungen an der Annapurna zählt selbstverständlich auch der Gipfelgang von Reinhold Messner und Hans Kammerlander über die Nordwestwand im Jahre 1985, sowie die West – Nordwestbegehung einer tschechoslowakischen Expedition im Herbst 1988 unter der Leitung von Josef Nezerka, der zusammen mit Jindrich Martis den Gipfel erreichte, wobei Jirka Pelikan, der auf dem Weg zum Gipfel allein umgekehrt war, auf dem Rückweg tödlich verunglückte.
Im Gegensatz zum Mount Everest, dem durch den in jüngerer Zeit aufgekommenen Bergsteigertourismus über geführte und präparierte Routen viel von seiner Würde genommen wurde, umweht die Annapurna immer noch die Aura eines extrem gefährlichen und schwierigen 8000ers, obwohl sie in der Liste der höchsten Berge der Welt „nur“ Rang zehn belegt. Die Statistik weist sogar eine höhere Quote an tödlichen Unfällen auf, als die des berüchtigten Nanga Parbat.
Meine Wanderung durch die Annapurna – Region gliedert sich in drei Hauptteile: zuerst der langsame Aufstieg entlang des Marsiangdi Khola, danach der wesentlich schnellere Abstieg durch die Khali Gandhaki – Schlucht, wobei als Kulminationspunkt zwischen den beiden Tälern der 5416 m hohe Thorong – La (La = Paß) überschritten wird, und schließlich der Ausstieg aus der Schlucht hinauf nach Ghorepani und seinem sensationellen Aussichtspunkt Poon Hill, von wo aus ich mich nochmals in größere Höhen begeben werde, und zwar mitten hinein ins Massiv, in den atemberaubenden Kessel des Annapurna – Basislagers auf 4130 m, wo ein Großteil des Weges entlang eines dritten Flußtals aufwärts führt, nämlich dem des Modhi Khola. Allgemein wird die Trekkingroute durch Schluchtpfade und in steilen Hängen verlaufende Trassen bestimmt. Der Gang über offene Bergwiesen ist eher selten, ebenfalls führt sie nicht über Grate und enthält auch keine Kletterpassagen. Trotzdem sollte man auf den gelegentlich etwas exponierten Wegen, sowie auf den Hängebrücken einigermaßen schwindelfrei sein. Hauptgefahren auf dem Weg sind, wenn auch manchmal etwas übertrieben dargestellt, Steinschlag, Erdrutsche hauptsächlich während der Monsunzeit, sowie - vor allem im Frühjahr – Lawinenrisiko auf dem Weg zum Annapurna – Basislager, aber auch eventuell am Thorong La. Gelegentlich sollen auch schon in gewissen Bereichen der Trekking – Route Überfälle auf Einzelwanderer vorgekommen sein, wobei es aber niemals ernsthaft Verletzte oder gar Tote gegeben hat. Die Auseinandersetzung mit Ausbruch und Verlauf der Höhenkrankheit, und vor allem mit den Maßnahmen zu deren Vermeidung, ist unverzichtbar. Allgemein läßt sich sagen, daß Trekking im Annapurnagebiet nicht gefährlicher ist als ein Unternehmen im selben Umfang in den Alpen. Sollte es jedoch zu einem Unfall kommen, so ist es um eine rasche Hilfe mittels Bergwacht allerdings schlecht bestellt.
Meine Ankunft in Kathmandu gestaltet sich wieder einmal typisch für ein Land der sogenannten Dritten Welt: krasser können die Unterschiede nicht sein zwischen der Jet – Set – Atmosphäre im Flugzeug und der anschließenden Taxifahrt vom Flughafen zum Hotel, wo wohl gar manchen Fernreiseneuling das Entsetzen packt, und auch ich wieder einmal die alltägliche Armut und den Überlebenskampf in diesem aus den Nähten zu platzen drohenden Moloch im Schnellabriß vor Augen geführt bekomme. Kathmandu mag aufgrund seiner „nur“ 800.000 Einwohner vielleicht wie ein Zwerg im Vergleich mit anderen Großstädten der Dritten Welt erscheinen. Dennoch krankt die Kapitale Nepals an den selben Symptomen vergleichbarer Städte, die ich zuvor schon gesehen habe, wie Mexiko - Stadt, Bangkok, Guadalajara oder Marrakech: Luft – und Umweltverschmutzung, Verkehrschaos, wachsende Kriminalität ( diese jedoch glücklicherweise noch nicht so brutalisiert wie in anderen Metropolen Asiens), und die allgegenwärtige Armut, das Elend und die Erbärmlichkeit der vielen zu einem Leben von der Hand in den Mund verdammten Einzelschicksale, für die sich die Frage nach dem Morgen nicht stellt, da man zu sehr damit beschäftigt ist, notdürftig über den heutigen Tag zu kommen Die nicht abreißende Landflucht und der Kinderreichtum in diesen Ländern lassen solche Moloche mit der beängstigenden Geschwindigkeit eines bösartigen Geschwürs wachsen, und ich stelle mir die Frage, wieviel Unterschied eigentlich besteht zwischen der mittelalterlichen Feudalgesellschaft, in der die Minderheit des Adels und der Kleriker Herrschaft und Reichtum besaßen, und der Rest der Bevölkerung ein Dasein in Armut fristete, und unserer heutigen Welt, wo man in den westlichen Industrieländern weitestgehend im Wohlstand lebt, während etwa 60 Prozent der Erdbevölkerung unter dem Existenzminimum zu vegetieren hat und wie vielleicht die Geschichte über uns Zeitgenossen einmal urteilen mag.
Allem Elend und Chaos zum Trotz nehme ich aber auch das exotische Treiben wahr, die vielen Bilder, die mir die Präsenz einer völlig anderen Kultur vermitteln, das Aussehen, die Kleidung der Menschen, der Klang der fremden Sprache, orientalische Musik aus scheppernden Lautsprecherboxen, prächtige Hindutempel, Obstverkäufer, rituelle Badeplätze, knatternde Trolleys ( Taxi – Dreiräder), Fahrradrikschen, düstere Handwerksläden, heruntergekommene Autowerkstätten, Lebensmittel – und Gewürzläden, die vielen, vielen Händler, die zu Fuß mit Bauchladen, oder auf dem Fahrrad unterwegs sind, oder ihre Ware auf einer Decke an einer Straßenecke feilbieten, das alles zieht am Taxifenster vorbei, während der bereits am Flughafen zugestiegene Schlepper, den ich anfänglich für den Taxifahrer gehalten habe, da er mich zum Wagen geführt hatte, mich mit Engelszungen zum Verbleib in seinem Hotel zu bewegen versucht. Da ich ohnehin beabsichtige, aus logistischen Gründen im touristischen Stadtviertel Thamel abzusteigen, lasse ich mich schließlich dazu überreden, mir sein Hotel anzusehen, das nicht weit weg ist vom Kathmandu Guesthouse, welches ich ursprünglich als Unterkunftsmöglichkeit vorgesehen hatte. Die Überlegung, diesmal eventuell einen Führer für meine Tour zu engagieren, entstammt weniger aus der Unsicherheit, mich zu verirren oder mich sonst auf irgendeine Weise nicht zurechtzufinden, als vielmehr aus der Tatsache, daß das deutsche Auswärtige Amt aufgrund der derzeitigen politischen Lage vor Alleingängen warnt. Daß die Empfehlung meines Hotelinhabers an eine Agentur um die Ecke nicht aus Freundschaft, sondern aus Geschäftsinteresse geschieht, wobei meist das Prinzip der gegenseitigen Hilfe bei der Kundenzuführung praktiziert wird, ist mir schon klar, der mir angebotene Service hört sich aber ganz brauchbar an, nur der Preis nicht. Indem ich vorgebe, nur mit einer begrenzten Summe an Bargeld ausgestattet zu sein, und glaubhaft mache, weder Kreditkarte noch Travellerschecks mitzuführen, gelingt es mir schließlich, einen akzeptablen Preis für das auf 23 Tage angesetzte Unternehmen herauszuschlagen, das Führer, dreimal am Tag Essen, Unterkunft und An- sowie Abfahrt beinhaltet. Was mich zusätzlich noch verlockt, und zu diesem etwas überhasteten Geschäftsabschluß führt, ist die Tatsache, morgen schon zum Ausgangspunkt meiner Wanderung gelangen zu können. Es ist immer noch so, daß der Besuch der meisten Trekking – Gebiete in Nepal eine Permit (Erlaubnisschein) erfordert, die nur in Kathmandu oder im Falle Annapurna – Region auch in Pokhara, in den entsprechenden Dienststellen erhältlich sind. Als wir uns geschäftseinig werden, ist Freitag – Nachmittag halb drei, um drei schließt die Behörde, Samstag ist in Nepal arbeitsfrei, und wollte ich die Permit persönlich beantragen, hätte ich das frühestens am Sonntag tun können, wobei sich die laut Reiseliteratur mindestens 10 Stunden dauernde Fahrt zu meinem Ausgangspunkt Besisahar wohl auf Montag verzögert hätte. Die Agenturen jedoch haben ihre Laufburschen, die in der Lage sind, eine solche Permit noch eine halbe Stunde vor Dienstschluß zu besorgen. Der Hauptgrund, die Tour früh zu beginnen und nach hinten hin ein paar Tage „Luft“ zu haben, ist die Unvorhersehbarkeit gewisser Dinge, die im Extremfall zum Verpassen des Rückfluges führen können, wie zum Beispiel auf den letzten Drücker das Annapurna – Basecamp erreichen und in der folgenden Nacht eingeschneit werden!
Jetlag und Kulturschock liegen mir noch auf der Seele, und um diesen typischen Erscheinungen einer Fernreise etwas entgegenzuwirken, unternehme ich den Rest des Nachmittags einen kleinen Spaziergang durch Thamel. Ich finde schließlich auch ein einfaches, sympathisches Restaurant, bei dem das draußen angebrachte Schild fast größer scheint, als das ganze Lokal. Preis und Qualität sind gut, und es entspinnt sich ein kleines Gespräch mit dem Besitzer, wobei ich etwas enttäuscht erfahre, daß ich nicht nepalesisch, sondern chinesisch bestellt habe. Als ich früh Abends wieder in der Agentur erscheine, wird mir Shankar vorgestellt, mit dem ich dann die nächsten 23 Tage zubringen werde.
Der Versuch, mein Schlafdefizit durch eine frühe Bettruhe auszugleichen, scheitert am lärmenden Stadtleben, wenngleich sich mein Hotel auch etwas zurückgezogen in einer Nebengasse befindet. Bereits in der ersten Nacht lerne ich den „Gassenhauer“ Nepals kennen, der mir noch an vielen Orten aus sämtlichen Ecken entgegenschallen soll. Das traditionell – indisch klingende Singspiel zwischen einem Mann und einer Frau wird irgendwo in der Nachbarschaft wieder und wieder abgespielt. Stimmengewirr, Verkehrslärm und herunterkrachende Rolläden schließender Läden tun ihr Übriges, um mich am Einschlafen zu hindern. Der immer noch über das Land verhängte Ausnahmezustand setzt dem Spuk jedoch ein vorzeitiges Ende, und noch vor Mitternacht gleicht Kathmandu einer Geisterstadt.
Morgens um halb 6 treffe ich dann Shankar in der Hotellounge und wir machen uns auf den Weg zum Busbahnhof, wo eine längere Suche nach dem richtigen Bus beginnt. Dieser fährt direkt zu unserem Ausgangspunkt Besisahar, so daß ein Umsteigen nicht nötig wird, dafür muß ich in Kauf nehmen, mit einem öffentlichen Bus, und nicht etwa mit einem der als sicherer geltenden sogenannten Touristenbusse zu reisen. Ein wenig bange ist mir schon zumute, als man meinen Rucksack aufs Busdach pfercht und ich bin gottfroh, Bargeld und wichtige Papiere relativ sicher am Mann zu tragen. Die Fahrt auf dem Pritvi Highway, der Kathmandu mit Pokhara verbindet, treibt mich noch nicht zu Freudenjauchzern. Von Terrassenbau geprägte, grüne Berglandschaften mit erdrutschbedingten Erosionswunden, Flußtäler, sowie Dörfer und verstreute Weiler bestimmen das Bild. Unser Sitzplatz ist jedoch bergseitig, das Wetter diesig, und ich falle unterwegs immer wieder in Halbschlaf. An unzähligen Brunnen und Wasserstellen sieht man Leute sich waschen oder sich die Zähne putzen, viele Frauen bearbeiten mit Hämmern Steine, die für ihren jeweiligen Verwendungszweck auf die passende Größe zurechtgeschlagen werden. Beim Essensstop gebe ich mich noch sehr bescheiden, ich nehme nur wenig zu mir, und meine Wahl fällt auf einen Teller voller Linsen, nur aus dem Grund, weil die am meisten dampfen und deshalb am besten durchgekocht erscheinen. Durchfall im Bus wäre bei der langen Strecke eine mittlere Katastrophe. Bei der zweiten Pause um die Mittagszeit werde ich schon mutiger und wage mich bereits an ein vollständiges Daal Bhat, sozusagen das Nationalgericht Nepals, dessen Hauptzutaten Reis und gekochte Linsen mit verschiedenen Gemüsesorten angereichert werden, Mixed Pickels in Soße und Chili dienen als Gewürz. Ab Dumre verlassen wir den Pritvi – Highway und unser Bus keucht mit brüllendem Motor die endlos scheinende Bergstraße nach Besisahar hoch. Am Eingang eines der am Weg gelegenen Dörfer passieren wir einen Militärposten, wo alle Nepali aussteigen und zu Fuß unter den wachsamen Augen der Soldaten durch den Ort gehen müssen, während ich und vier oder fünf weitere Touristen sitzen bleiben dürfen. Wir erreichen Besisahar schließlich nach 7 Stunden Fahrzeit, was ganz akzeptabel ist, da die Fahrt unter Umständen auch zwei Tage dauern kann, dies jedoch eher während der unfall - und erdrutschgefährlichen Monsunzeit. Trotzdem bin ich schließlich froh, den auf der ganzen Fahrt überfüllten Bus verlassen zu können, wo zeitweise auch Passagiere mit einem Platz auf dem Dach vorlieb nehmen mußten, oder als Trittbrettfahrer in der Eingangstür hingen. Im übrigen ist der Verkehrsablauf in Nepal typisch Dritte Welt: laut, chaotisch bis haarsträubend, und mit Vehikeln, die sich meistens in einem technisch bedenklichen Zustand befinden.
Wir quartieren uns in einem Hotel am Ende des Ortes ein, wo ich Alfred und Linda kennenlerne, die ich bereits im Bus wahrgenommen habe, und die mit ihrem Führer ebenfalls hier untergekommen sind. Die aktuellen Geschehnisse des 11. September 2001, die Ermordung der nepalesischen Königsfamilie Anfang des selben Jahres, Meldungen über Generalstreiks, Ausnahmezustand und vor allem die Zunahme der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Maoisten und Regierungstruppen in jüngster Zeit sorgen jetzt für gähnende Leere in den zuvor oft vollbelegten Lodges auf Nepals Trekkingrouten. Was für uns verbleibende Touristen fast schon paradiesisch scheint, ist für die vom Tourismus stark abhängige nepalesische Wirtschaft eine Katastrophe.
Kurz nach unserer Ankunft entlädt sich noch ein Gewitter, und wir schätzen uns glücklich, zusammen mit der Gastfamilie und unseren Führern in der Lodge einen gemütlichen Abend im Trockenen zu verbringen.
Auch der folgende Tag wartet gleich mit einem frühmorgendlichen Gewitter auf, das sich jedoch nach dem Frühstück bereits wieder gelegt hat, trotzdem werden wir nach einem kurzen Wegstück gezwungen, unser Regenzeug überzustreifen. Der Schauer ist jedoch kurz und nicht allzu stark. Wir folgen bis zum Dorf Bhulhule einem Fahrweg, auf dem auch noch der Bus, im Schrittempo durch die unzähligen Schlaglöcher schwankend, verkehrt. Ab Bhululbhule, wo sich der erste Kontrollpunkt der ACAP (Annapurna Conservation Area Project) befindet, läßt man dann endlich sämtliche motorisierte Zivilisation hinter sich, und wir überqueren die erste der unzähligen auf dem Weg liegenden Hängebrücken, die jedoch vieles von ihrem einstigen Schrecken verloren haben, da die ehemaligen Hanfseile durch vertrauenserweckendere Stahlseile ersetzt worden sind. Trotzdem vermitteln diese Konstruktionen immer noch den Hauch abenteuerlicher Romantik, wie sie schwankend und oft schwindelerregend hoch über die Schluchten der unter uns wild tosenden Schmelzwasser der Himalaya - Gletscher führen. Der Ortsausgang wird von einem schönen Wasserfall geziert, und die Fahrpiste weicht einem schmalen Bergpfad, auf dem sich nur noch Mensch und Maultier bewegen. Ich habe jetzt das Gefühl, als ob es hier erst richtig los geht, hier wird auch das Flußtal bereits enger und in der Ortschaft Ngadi scheint Shankar bestens bekannt zu sein, doch ich nötige ihn, weiter bis Bahundanda zu gehen, wozu man schon die erste Steigung zu bewältigen hat. Bei diesem Anlaß verstärkt sich meine Beunruhigung darüber, ob man mir in Kathmandu mit Shankar nicht etwa einen „Flachlandinder“ angedreht hat, denn offensichtlich bereitet ihm der Anstieg doch etwas Schwierigkeiten, trotz seines, im Vergleich mit meinem Rucksack, verhältnismäßig leichten Gepäcks. Habe ich mich etwa in Kathmandu durch einen zu voreilig abgeschlossenen Handel über den Tisch ziehen lassen? Shankar gehört nicht zu den etnischen Gruppen der Hochgebirgsbewohner Nepals wie etwa der Gurung oder Sherpa, die man leicht an den mongolischen Augen und der abgeflachten Nasenform erkennt. So spuken mir jetzt die Gerüchte durch den Kopf über unlautere Trekking – Agenturen und untaugliches Begleitpersonal, sowohl Träger, als auch Führer. Es finden sich immer wieder Einheimische, die aus den Nicht – Hochgebirgsgegenden Nepals wie beispielsweise dem Terai kommen, oder auch Arbeitsuchende aus Indien, die gottfroh sind, als Träger für eine Tour anheuern zu können, ohne oft die geringste Vorstellung davon zu haben, was sie dort oben im Gebirge erwartet. In der Vergangenheit soll es öfter schon vorgekommen sein, daß solche Träger, die dann auch meist noch miserabel ausgerüstet sind, unterwegs erfroren sind. Manche dieser armen Teufel haben den Thorong – La – Paß barfuß durch meterhohen Schnee überquert, und der unwissende Tourist denkt sich, das sind eben diese zähen Bergbewohner, von denen er schon zu Hause so viel gehört hat, glaubt vielleicht noch, daß barfuß gehen in luftiger Kleidung in Nepal normal sei, bewundert sogar diese zähen Naturburschen, und nach einer eiskalten Biwaknacht in vielleicht 4000 Metern findet er anderntags seinen tapferen Träger, nur in eine dünne Decke gehüllt, erfroren vor dem Zelt. Shankar´s Formtief erklärt sich aber anders: es ist dies seine erste Tour in der neuen Saison, und wenn ein nepalesischer Bergführer oder Träger keine Tour zu führen oder zu begleiten hat, dann geht er anderen Tätigkeiten nach, bei denen er sich ein Zubrot verdienen kann, und der Feierabend wird meist schwatzend unter Freunden oder in der Familie verbracht, oder es flimmert der Fernseher, wenn einer vorhanden ist. Sport treiben oder auch andere Arten des aktiven Freizeitverhaltens sind typisch für die westliche Industriegesellschaft und in Ländern wie Nepal unbekannt oder auch unmöglich. Bedingt durch unsere tariflich geregelten Arbeitszeiten und unsere finanziellen Mittel sind bei uns Formen einer Freizeitkultur entstanden, die in Ländern wie Nepal für den Großteil seiner Bewohner undenkbar und auch unbekannt geblieben ist. Überhaupt ist die Einstellung zu den Bergen und zum Alpinismus in Nepal eine völlig andere, als in unserer westlichen Kultur. Es gibt kaum einen Nepalesen, der aus sportlichem Ehrgeiz einen Berg besteigen, oder aus Leidenschaft zu einer Bergwanderung aufbrechen wird. Für die Nepali ist das Tätigsein in der Bergtourismusbranche nichts weiter als eine gute und oft die einzige Möglichkeit, sich sein tägliches Brot, bzw. Dhal Bhaat zu verdienen. Den meisten Einheimischen wird es wohl ein Rätsel bleiben, wieso reiche Westler ihr gemütliches Zuhause verlassen, um sich freiwillig ohne Not auf einen mühevollen Weg zu machen, den die Einheimischen selbst nur als Handels – und Versorgungsverbindung nutzen, sich in Höhen zu begeben, wo ihnen die Luft nicht mehr bekommt, und auf Gipfel zu steigen, die den Bergbewohnern ursprünglich als den Göttern vorbehalten galten. Nur wenige Nepali, hauptsächlich aus den Reihen des Sherpa – Stammes, griffen diese Mentalität des sportlichen Ehrgeizes für sich auf, und zählen heute oft zu den Erfolgreichsten der Weltbergsteigerelite. Shankar ist Hindu der hochstehenden ehemaligen Kriegerkaste der Chettri und stammt aus einem auf etwa 1300 m Höhe gelegenen Dorf im Dhading – Distrikt und bevor er im Trekkinggeschäft als Träger hauptsächlich in der Everest – Region tätig wurde, hütete er Ziegen. Die Fitneß der Bergbewohner resultiert also nur aus ihrer Arbeit an der frischen Luft und den langen Fußmärschen, die sie oft mit Lebensmitteln oder Alltagsdingen schwerstbeladen zurücklegen müssen, um den nächst größeren Marktflecken zu erreichen. Die Tatsache, daß ihre Heimatdörfer oft sehr hoch gelegen sind, bringt eine natürliche Höhengewöhnung mit sich.
Unser erstes Etappenziel ist das wunderschön an den Berg gebaute Dorf Bahundanda, und das Hotel „Mountain View“ im oberen Teil der Ortschaft macht seinem Namen alle Ehre. Obwohl erst auf 1310 m Seehöhe, befinden wir uns hier schon mitten in einer eindrucksvollen, grün überwucherten Berglandschaft. Nach einem sonnig – warmen Wandertag geht kurz nach unserer Ankunft ein Regenschauer nieder. Das Geläut der Viehglocken klingt zu uns herauf, die typische Geräuschkulisse, die fast alle von Menschen bewohnten Bergregionen in der Welt miteinander gemeinsam haben. Die von einer Hindufamilie geführte Lodge verfügt übrigens noch über einen Brieftaubenschlag. Abends bricht dann ein kleiner Disput zwischen dem Besitzer und einer Gruppe junger Holländer aus, da diese sich zum Abendessen in einer anderen Lodge verköstigt haben. Die Übernachtungen in den Gästehäusern sind spottbillig, und die Betreiber verdienen eigentlich erst durch das Essen. Die überall meist auf den Speisekarten abgedruckten Regeln für Annapurna – Wanderer, die von der ACAP herausgegeben werden, weisen darauf hin, daß man dort essen soll, wo man einquartiert ist. Die Essens – und Übernachtungspreise, ebenfalls von der ACAP festgelegt, sind fest, werden jedoch nicht immer von den Lodgebetreibern eingehalten. Die Essenspreise steigen mit den Höhenmetern, da die Versorgungswege zu höher gelegenen Bergdörfern länger und mühevoller sind. Alles Benötigte wird entweder per Eselskarawane oder durch Trägerkolonnen in tagelangen Märschen hinaufgetragen. Mit zunehmender Höhe nimmt auch der Anteil an den von den Kommunen selbst produzierten Lebensmitteln ab, da die Fruchtbarkeit des Bodens zunehmend durch Kälte und Trockenheit beeinträchtigt wird.
Die jetzt schon recht frische Nacht, in der ein paar Hunde im Dorf um die Wette bellen, stimmt mich doch etwas nachdenklich, wenn ich mir vor Augen führe, welche Höhen wir die kommenden Tage noch anzustreben gedenken. Noch mehr Beunruhigung löst in mir das Gerücht aus, daß der Paß derzeit noch tiefverschneit und unbegehbar sei, viele Gruppen seien bereits wieder umgekehrt. Sollte ich etwa doch noch zu früh dran sein? Die einschlägige Literatur differiert mit ihren Angaben zwischen Mitte Februar und Mitte April als frühester Zeitpunkt für eine Thorong – La – Überschreitung, und wie das eben mit der Bergnatur so ist, kann das von Jahr zu Jahr sehr unterschiedlich sein. Die Holländer jedenfalls beschließen, den Anstieg sehr langsam anzugehen, auch aus Angst vor den höheren Essenpreisen, die bei Langzeittravellern mit begrenztem Budget sicher eine Rolle spielen, für einen Reisenden, der sich nur wenige Wochen im Land aufhält, jedoch erschwinglich sein sollten. Beim Frühstück wird mir tibetanisches Brot kredenzt, das bei Touristen sehr beliebt sein soll und auch meine Lobpreisung findet. In Oel gebacken, kommt dieses köstliche Fladenbrot stets warm auf den Tisch.
Unsere heutige Etappe führt uns zunächst gemütlich überwiegend bergab, um anschließend zu unserem Zielort Chamje (1430 m) wieder anzusteigen. Dabei folgen wir dem Verlauf der Marsiangdi – Khola – Schlucht, die hier von üppiger subtropischer Vegetation gesäumt wird. Unterwegs schrecken wir ein Rudel Affen auf, das sich, noch ehe ich meine Kamera parat habe, laut kreischend in das dichte Buschwerk zurückzieht. Im Gegensatz zu ihren Artgenossen, die sich in den Bereichen der Tempelkomplexe wie Swayambu niedergelassen haben, sind diese hier menschenscheu, während man sich bei Tempelbesichtigungen in Kathmandu auf böse Überraschungen gefaßt machen sollte, besonders wenn man etwas Essbares mit sich führt. In Nepal gibt es zwei Affenarten: die langschwanzigen, schwarzgesichtigen Lemuren, mit ihrem grauen Fell und weißem Haupthaar , und die rotgesichtigen, braunfelligen Rhesus – Makaken, um die es sich in diesem Fall handelt. Der rege Verkehr auf dem Weg zeigt, daß wir uns auf einer intakten Handelsroute befinden. Meist nur mit billigen Badeschlappen ausgestattet, mit denen gar mancher Europäer schon in der heimischen Dusche verunfallt ist, bewegen sich mit oft enormem Gewicht beladene Träger den steinigen Bergweg auf und ab, wobei der Pfad oft durch Erdrutschpassagen unterbrochen wird, und man dann unangenehm wie ein Seiltänzer über rutschige Trittspuren balancieren muß. Außer den vielen menschlichen Trägern, die ihre Last mittels einer durch Stirnriemen getragene Kraxe in leicht gebückter Haltung tragen, begegnen wir auch langen Maultierkarawanen, deren Zaumzeug meist mit kunstvollen Stickereien oder auf den Köpfen der Tiere getragenen, hohen Federbüschen verziert ist. Das Leittier ist an den medaillenförmigen, kleinen Spiegeln auf der Stirn erkennbar. Man sollte diesen Karawanen immer bergseitig ausweichen, um beim Ausscheren eines Tieres nicht in den Abgrund gestoßen zu werden. Das canyonähnliche Flußtal beeindruckt durch gähnende Abgründe, die senkrecht bis ins Flußbett hinabfallen, enorme Felswände ragen über uns auf, und überall tosen herrliche Wasserfälle. Über Hängebrücken wechseln wir immer wieder die Uferseite. Die Mittagspause verbringen wir in Jagat, wo ich ein steinaltes Großmütterchen bei ihrer Arbeit beobachte, die darin besteht, Chilischoten zum Trocknen in der Sonne auszulegen und die Abfallstücke herauszusortieren. Es ist in Nepal völlig normal, alte Frauen mit einer dampfenden Zigarette im Mundwinkel zu sehen, ebenso gewöhnlich ist die etwas unappetitliche Angewohnheit der Nepali, sich geräuschvoll den Schleim aus dem Rachen hochzuziehen und auszuspucken, was man selbst bei hübschen und jungen Frauen sieht.
Ein wichtiger Bestandteil unserer Wegpausen ist das Teetrinken, woraus sich auch die Bezeichnung „teehouse trek“ für die derartige Form des Wanderns in Nepal erklärt. Sämtliche Lodges, die in Nepal auch Teehäuser genannt werden, offerieren zwar die bekannten Limonadensorten und Mineralwasser in Plastikflaschen, erstere sind jedoch bekanntermaßen wegen des zu hohen Zuckergehaltes nicht allzusehr als Durstlöscher geeignet, und, nebenbei bemerkt, auch überteuert, während man die Plastikflaschen grundsätzlich nicht kaufen sollte. Dieses Zeugs wird nicht recycelt, sondern landet irgendwo in der Landschaft, meist im Umkreis der Dörfer, und man muß wissen, daß so eine Plastikflasche etwa 100 Jahre braucht, um zu verrotten. Somit bietet sich der Tee, neben dem obligatorisch mit Micropur oder Jod behandelten Trinkwasser, das man an jedem Bach oder Wasserhahn kostenlos erhält, als die idealste Form der Flüssigkeitszufuhr an. Heiß kredenzt, wird er langsam getrunken, und kann somit vom Körper besser aufgenommen werden, da zu schnell getrunkenes Wasser sozusagen „durchläuft“, d.h. es wird als Urin gleich wieder ausgeschieden.
Ich empfehle, in den tieferen und fruchtbaren Lagen gezielt nach frischem Pfefferminztee zu fragen, eine Köstlichkeit, die ich, mit aromatischen Minzblättern frisch vom Garten zubereitet, seit meiner Marokko - Tour nicht mehr genossen habe. Zwar wird in Nepal nicht die langwierige und liebevolle Teezeremonie der arabischen und maghrebinischen Länder praktiziert, dafür kann man sein Getränk selbst zuckern. In Marokko und Tunesien wird der Tee leider meist hoffnungslos überzuckert serviert. Auch Ingwer wird gelegentlich mit der frischen Pflanze zur Teezubereitung verwendet, einmal komme ich sogar in den Genuß eines Zimttees. Meistens jedoch gibt es Schwarztee wahlweise mit und ohne Milch oder Zucker, der aus Indien oder China eingeführt, ein anregendes Getränk ist, allerdings keine besondere Qualität besitzt.
Nach unserer Mittagspause in Jagat erreichen wir schon bald unser Tagesziel, Chamje. Wir verweilen jedoch noch etwas am Ortseingang, wo uns gegenüber ein eindrucksvoller Wasserfall in die Schlucht hinunterstürzt. Wir philosophieren ein wenig und das schon fast schon etwas abgedroschene Shangri – La wird herbeizitiert. Shankar behauptet, der Ort existiere wirklich, und zwar irgendwo in China. Ich muß gestehen, ich weiß es wirklich nicht, wie wohl so viele, die ausziehen, um ihr eigenes Shangri – La zu suchen, und es oft in Nepal gefunden zu haben glauben. Die Ortschaft Chamje zwängt sich in genialer Lage in halber Höhe an den westseitigen Abhang der hier bereits sehr eng gewordenen Schlucht des Marsiangdi Khola, und wird beidseitig von steilen Felsen überragt. Die Bewohner sind Angehörige der mit den Tibetern verwandten Gurung, und somit Buddhisten. Unsere Lodge erinnert mich etwas an einen Westernsaloon, nur daß statt Pferden Maultiere an der Brüstung angebunden sind. Während ich in meinem Zimmer etwas ausspanne, ruft mich Shankar. Er hat eine Gruppe Lemuren am Ortsausgang ausgemacht, und so verbringen wir eine gute Weile damit, der Horde beim Herumtollen zuzusehen. Abends esse ich Momo, Teigbällchen mit einer leckeren Gemüsefüllung. Eigentlich eine tibetische Spezialität, bekommt man sie dennoch überall auf dem Annapurna – Trek. Die gemütliche Inneneinrichtung unserer Gaststube mit den schönen Decken auf den Sitzbänken verstärkt den Appetit. Mir fallen die buddhistischen Reliquien in den Nischen auf, und auch die hinduistischen Werbeplakate und Kalenderblätter an den Wänden. Auch ein deutsches Plakat, das für eine Diaschau über die Annapurna – Region wirbt, prangt an der Wand. Dieses Plakat soll mir noch allzu oft begegnen, der gute Mann scheint es geschafft zu haben, seine Plakate in wirklich jeder Lodge auf der Annapurna – Runde aufgehängt bekommen zu haben. Seine Web – Seite ist jedenfalls sehr informativ, ich habe sie vorab schon in Deutschland besucht. Die Nacht wird unruhig, einige Händler haben sich im Gastraum versammelt und schwatzen noch lange, ein Kind heult in der Küche, die Mutter schimpft und mein Zimmernachbar läßt gerade einen Furz. Die Teehäuser sind extrem hellhörig, könnte ich nepalesisch, ich verstünde jedes unter mir gesprochene Wort. Die Schlafräume sind ohnehin meist nur durch dünne Preßspanplatten voneinander getrennt. Wenigstens ist es heute Nacht etwas wärmer, als in Bahundanda, was den Gang zur Toilette etwas angenehmer macht.
Unsere vereinbarte Weckzeit ist 6.30 Uhr, wobei durch die stets frühe Bettruhe eigentlich nie ein Wecker nötig wird. Gewöhnlich erwacht man durch das Krähen des Hahns, der oft schon um vier Uhr morgens loslegt. Die Morgenwaschung erledige ich am öffentlichen Brunnen neben der Lodge, an dem sich bereits auch ein paar Kinder zum Zähne putzen eingefunden haben. Wir folgen auch heute weiterhin der Marsiangdi – Khola - Schlucht, und unser Pfad schlängelt sich aufwärts überhalb steiler Abgründe, gelegentlich ragen Überhänge über den in den Felsen geschlagenen Weg, sichere Unterstände im Falle eines Regengusses. Ständig tosen Wasserfälle um uns herum, vereinzelte Stechpalmen thronen auf oft aalglatten Felsklippen, die gelegentlich mit Wurzelwerk und Kletterpflanzen behangen sind. Wenn diese dann noch von kleinen Bächen berieselt werden, präsentiert sich uns die Szenerie in besonders üppigem Grün. Unvermittelt sehen wir uns einem eindrucksvollen Felsturm gegenüber und etwas weiter oben verlockt ein kleines Teehäuschen zur Pause. Nach Überwindung einer Steilstufe erblicken wir unter uns, malerisch in einem rundlichen Hochtal gelegen, die Ortschaft Tal (1700 m). Hier begeben wir uns auch auf das Niveau des Marsiangdi Khola, der sonst immer mehr oder weniger tief unter uns getost hatte. „Tal“ bedeutet auf deutsch „See“, ein Hinweis darauf, daß diese runde Wiesenfläche durch einen ehemaligen See entstanden ist. Das ausgedehnte Kiesbett rechts des Flusses zeigt, daß dieser See wohl zumindest noch während der Monsunzeit existiert. Während die bisherigen Schneegipfel, die wir zu sehen bekommen haben, weit hinter uns in größerer Entfernung aufragen ( die Vorberge von Manaslu und Himalchuli), taucht jetzt der erste Schneeberg direkt vor uns auf. Die Mittagspause verbringen wir in einer Lodge am Ende der Ortschaft, wo ein wunderschöner Wasserfall die herrliche Kulisse vervollständigt.
Bald schon tauchen alte Bekannte am Horizont auf: Alfred und Linda mitsamt ihrem Führer sorgen mit ihren gegenseitigen Hänseleien für kurzweilige Abwechslung. Inzwischen sind Wolken am Himmel aufgezogen, und wir beschließen, unseren Weg fortzusetzen. Es dauert nicht lange, und es beginnt zu regnen, allerdings zunächst nicht allzu heftig, doch während wir die Morgenstunden noch im herrlichen Sonnenschein zugebracht hatten, ist die Landschaft um uns herum jetzt düster, ja beinahe unheimlich geworden. Doch als alter Nordland – Fan kann ich auch solchen Eindrücken etwas Schönes abgewinnen. Jetzt tauchen bereits die ersten Tannen im Landschaftsbild auf, Frauen, mit Viehfutter beladen, begegnen uns. Wie Hoorige Bären kommen sie daher, jene Fastnachtsfigur, die den Bewohnern meiner Heimatstadt Singen bestens bekannt ist. Vor uns habe ich die Träger des Trekking – Unternehmens „Hauser Exkursionen“ ausgemacht, und Alfred hat mir gesteckt, daß uns auch der „Summit Club“ des Deutschen Alpenvereins etwa einen Tagesmarsch voraus ist. Diese professionellen Trekking – Unternehmen vor uns zu wissen, ist eine gute Neuigkeit, denn sollte der Thorong La zugeschneit sein, werden diese ihre Leute zum „Spuren“ hochschicken, um somit den Paß für ihre Gruppen begehbar zu machen, was uns und vielen anderen Individualtrekkern ebenfalls zugute kommt, wenn das auch etwas von „Trittbrettfahrerei“ hat.
Schließlich passieren wir den Ort Karte, wo mir die Gebetsmühlen am Dorfausgang auffallen, von wo aus es nicht mehr weit ist bis zu unserem heutigen Etappenziel Dharapani (1860 m). Unser Hotel befindet sich im weiter oben gelegenen Ortsteil Upper – Dharapani und ist erst vor zwei Jahren erbaut worden. Hier treffe ich die Holländer aus Bahundanda wieder, und auch ein belgisches Pärchen hat sich hier einquartiert, die beiden waren mit heute bereits am ACAP – Kontrollposten in Karte begegnet. Die Holländer und die Belgier sind Langzeittraveller, und bei einem geselligen Abend werden die Erfahrungen vom Reisen auf dem indischen Subkontinent und in Südostasien ausgetauscht. Der Regen hat indes an Stärke zugenommen, im Gastraum unserer Lodge ist es bereits wieder recht kühl, und wir sitzen alle fröstelnd mit Jacken bekleidet um den Tisch, uns wärmenden Tee einflößend. Draußen sieht es verdammt nach Dauerregen aus und als ich nachts um halb drei zur Toilette gehe, schifft es in Strömen.
Beim Frühstück um 7.30 Uhr sieht die Welt schon wieder anders aus: die ersten Sonnenstrahlen dringen durchs Fenster, und auf den Bergen der Umgebung, die alle wohl noch keine 3000 m erreichen, sind die Spuren der kühlen Regennacht in Form von Neuschnee ersichtlich, der sich wie Puderzucker bis hinunter auf knapp 2000 m verstreut hat. Ich wage nicht, jetzt an die Zustände am Thorong La zu denken und uns bleiben ja Gott sei Dank noch ein paar Tage, ehe wir das Einzugsgebiet dieses hochalpinen Uebergangs erreichen werden. Der Dorflehrer gesellt sich zu mir an den Frühstückstisch, und ich erfahre einiges über die Probleme im Schulalltag hier in der Gegend und dem nepalesischen Schulsystem allgemein. Hier im Annapurna – Gebiet kann man wohl sagen, daß die Bildungsversorgung recht gut funktioniert. Es findet sich in jedem Dorf mindestens eine Schule und es bestehen Untergliederungen in Grund – Haupt- und weiterführende Schulen. Leider ist das nicht in ganz Nepal so, und die Annapurna – Region eigentlich ein Musterbeispiel, so wie auch in vielen anderen Sektoren, zum Beispiel der Stromversorgung. Der Wandertourismus hat hier für einen relativen Wohlstand gesorgt, trotzdem sieht man immer noch viel Armut, da doch lange nicht alle Bewohner am Segen des Fremdenverkehrs teilhaben. Nach meinem Wissensstand handelt sich bei den beiden großen Annapurna – Tälern des Marsiangdi Khola und des Khali Gandhaki um die einzigen straßenlosen Bergtäler in Nepal, die zwischenzeitlich vollends elektrifiziert sind. Die Gegend um Landruk, welche oft als Rückweg vom Annapurna – Basecamp hinunter zum Phokara – Baglung - Highway gewählt wird, soll diesen Zivilisationssegen sogar erst letztes Jahr erhalten haben.
Unsere heutige Etappe führt uns weiterhin aufwärts, und in Bagarchap sind 2160 m erreicht. Die Aussicht auf die hinter uns liegenden Bergriesen Manaslu (8109 m) und Himalchuli (7632 m) wird mit steigenden Höhenmetern immer besser. Hinter Danagyu geht es hinauf durch Mischwald und hier findet das Panorama auf die beiden schneebepackten Eisgipfel seinen imposanten Höhepunkt. Der Buddhismus begleitet uns nun auf Schritt und Tritt, der Zutritt zu den Dörfern führt durch mit Inschriften und Gebetsmühlen versehene steinerne Tore, in jedem Ort findet sich nun eine Mani – Mauer (meist mit tibetischen Schriften versehene, lange Steinmauern, in denen reihenförmig Gebetsmühlen eingelassen sind) und viele kleinere, Chorten oder auch Stupa genannte, turmförmige Sakralbauten zu Ehren Buddhas. Die im Wind flatternden Fahnen und an Wasserhähnen angebrachten Stoffetzen, denen ich zunächst die Funktion eines Waschlappen angemutet hätte, sind ebenfalls buddhistische Glücksbringer, wie mir Shankar erklärt. Die auf die Fahnen geschriebenen Gebete sollen mit jedem Windhauch in die Welt hineingetragen werden, die Textilien an den Wasserhähnen indes sind Zeichen der Dankbarkeit, durch reisende Händler oder Pilger angebracht. Beim Passieren oder Umrunden einer Mani – Mauer oder eines Chorten sollte man darauf achten, daß dies immer im Uhrzeigersinn geschieht, woraus sich die Weggabelungen an diesen Bauwerken erklären, nämlich der linke Pfad für die aus der eigenen Richtung Kommenden, der Rechte sozusagen für den Gegenverkehr.
Unsere Schlucht hat sich inzwischen etwas geweitet, im Wald erscheinen immer mehr Tannen, und noch vor unserem Zielort Chame (2670 m) marschieren wir bereits durch wohlduftenden Tannenwald. Der Waldbestand ist hier indes, bedingt hauptsächlich durch Brennholzrodung, nicht mehr ganz so üppig, wie man das gerne sehen würde. Genau aus diesem Grund verweist die ACAP darauf, daß man bei der Auswahl seines Quartiers darauf achten sollte, daß mit Kerosin und nicht etwa mit Brennholz gekocht und geheizt wird, um diesem destruktiven Holzschlag Einhalt zu gebieten. Auf einer Lichtung entdecken wir eine Gruppe von Geiern, die hier in einem verendeten Reh eine willkommene Beute gefunden haben. Am Ortseingang von Chame passieren wir einen Militärposten, wo Shankar wieder mal zur Gepäckkontrolle gebeten wird, während ich als Tourist unbehelligt bleibe. Auch dieses Dorf ist ein wunderschöner Flecken, und mir fällt auf, daß die Dächer mit Steinen belegt sind, wie wir das aus den Alpen bereits kennen. Es ist immer wieder interessant, zu beobachten, wie unter ähnlichen Lebensbedingungen lebende, sich jedoch in Religion und Ethnik gänzlich unterscheidende und separat voneinander gewachsene Kulturen, oft zu identischen Problemlösungen gelangen.
Hier in Chame bekommen wir erstmals den Bergriesen Annapurna II zu Gesicht, auch wenn dieser aus der hiesigen Perspektive heraus noch nicht seine wahre imposante Erscheinung preisgibt und noch, sozusagen als Außenpfosten des gegebenen Panoramas fungierend, doch noch etwas in die Ferne gerückt ist. Der Manaslu hat sich zwischenzeitlich leider in dicke Wolken gehüllt, hier in Chame ist es sonnig, aber recht kühl und ich entdecke schon den einen oder anderen winzigen Schneerest in schattigen Ecken. Wir sind heute recht stramm marschiert, nicht ganz viereinhalb Stunden von Dharapani bis hierher, für mich eine Leistung im mittleren Belastungsfeld, während ich die vorhergehenden Etappen doch als sehr geruhsam empfunden habe. Ein paar Kinder empfangen mich im Dorf mit „hello pen!“ und „hello sweets!“. Allgemein wird jedoch sehr wenig gebettelt, und ich habe mir sagen lassen, daß die Bettelmentalität hauptsächlich durch zugezogene Inder in Nepal Verbreitung findet. Auf keinen Fall sollte man bei bettelnden Kindern nachgeben, da dies deren soziale Entwicklung gefährlich durcheinanderbringen kann. Zum Ersten wird Schulbildung und Arbeit als nicht mehr nötig betrachtet, da man durch Betteln unter Umständen mehr Geld erstehen kann, als mit anständiger Arbeit, zum Anderen führt es zu einer kriecherischen Haltung gegenüber Fremden, und zerstört somit Stolz, Würde und Kultur der Menschen.
Unsere Lodge wird von einem sehr freundlichen und umsorgenden Herbergsvater betrieben, der beim Bedienen seiner Gäste (im Moment bin ich noch der Einzige) nicht mehr aus dem Lächeln herauskommt. Der Gastraum ist glücklicherweise beheizt, und während ich hungrig eine besonders gelungene Riesenportion Daal Bhaat in mich hineinschaufle, beobachte ich durch´s Fenster das Tun der Soldaten, die riesige Mengen Brennholz heranschaffen. Mein Schlafraum befindet sich übrigens direkt gegenüber von deren Quartier, das mit Sandsäcken, zwischen denen drohend Gewehrläufe herausragen, gesichert ist. Im Falle eines nächtlichen Feuergefechts mit maoistischen Rebellen wäre ich wohl in einer denkbar ungünstigen Lage, und wäre dann am besten unterm anstatt im Bett aufgehoben.
Nach dem Essen kundschafte ich den schönen Ort aus, wobei mir die Holländer wieder begegnen, die in einem Hotel in der Dorfmitte untergekommen sind, während das belgische Pärchen mit einer Unterkunft jenseits der Hängebrücke, am anderen Ufer des Marsiangdi Khola, der die Ortschaft teilt, vorlieb genommen hat. Ich entdecke ein buddhistisches Kloster und einen Schrein mit tibetischen Schriften , an dem eine bildliche Krishna – Darstellung angebracht ist. In Nepal gibt es etliche sakrale Stätten, die sowohl von Buddhisten als auch von den Hindu gleichsam verehrt werden. Am Flußufer treffe ich Shankar, der damit beschäftigt ist, seine Socken an den dort entspringenden heißen Quellen zu waschen. Da die Größe der Quellen doch etwas bescheiden ist, eignen diese sich eher zu diesem Zweck, als zu einem entspannenden Vollbad. Auf einem großen, glattgewaschenen Felsbrocken lasse ich mich zum Dösen neben dem wild schäumenden Marsiangdi Khola nieder. Als Lesestoff für diese Reise hatte ich mir zu Hause schon Hermann Hesse´s „Siddharta“ in den Rucksack gepackt und ich tue es jetzt der Romanfigur gleich und lausche dem Fluß. Mir antwortet er jedoch nicht, weil mir vermutlich doch die meditative Tiefe fehlt, aber er unterstützt wunderbar meine Gedankenabläufe, die jetzt um alles Mögliche kreisen, vor allem um Diejenigen, die mir nahestehen. Als ich zur Lodge zurückkomme, sind da schon unsere Münchner Freunde. Shankar hat sie am Dorfeingang abgefangen und hierhergelotst. Sie bekommen gerade ihr Zimmer zugewiesen, mit Blick auf den Manaslu, „ ... and also to the swiss Mattelholn!“, wie ihnen ihr schlitzohriger Führer versichert. Dieser ist übrigens ein guter Sänger und Musiker, und sein Wechsel von traditionellem Gesang und Flötenspiel sorgt bei unserem Abend am Kanonenofen für die passende Atmosphäre. Die Nacht wird kalt und ein klarer Sternenhimmel verkündet gutes Wetter für den folgenden Tag. Gelegentlich dringt ein helles Bimmeln an mein Ohr, das von einer großen Gebetsmühle herrührt, die, wenn sie in Bewegung gesetzt wird, bei jeder Umdrehung an ein kleines Glöcklein stößt.
Wie mir der nächtliche Himmel versprochen hat, folgt ein klarer Tag mit strahlend blauem Himmel. Der Weg führt, teilweise dramatisch in den steilen Fels gesprengt, oft direkt über´m gähnenden Schluchtabgrund, immer weiter in die Höhe. Wir kommen an einem Apfelbaumgarten vorbei, die Ernte ist, wie bei uns, im Oktober. Trotzdem habe ich gestern am Weg Händlerinnen gesehen, die unter anderem einzelne Äpfel verkauft haben. Sie stammen noch aus der vergangenen Saison, und da man hier oben keine Kühlschränke hat, dafür aber vom Herbst bis jetzt ins Frühjahr hinein gute Möglichkeiten, ein bleibendes Schneefeld oberhalb der Dörfer zu finden, hat man dort eine natürliche Gefriertruhe. Sicher leidet das Aroma unter dieser Prozedur, weshalb man sich lieber an die Früchte der Saison halten sollte. Typisch auf unserem Weg sind auch immer wieder die klaffenden Wunden, die abgegangene Erdrutsche hinterlassen haben, und besonders an solchen Stellen ist die Erde oft noch gefährlich in Bewegung. Während die Mehrzahl dieser Passagen glücklicherweise meist am gegenüberliegenden Ufer zu beobachten sind, kommen wir auf etwa 3000 m nicht umhin, eine solche Gefahrenzone überwinden zu müssen. Ständig kullern kleine und größere Steine den Abhang hinunter und es ist höchste Eile geboten, um sich nicht unnötig lange im Gefahrenbereich aufhalten zu müssen. Die Möglichkeit eines erneuten Erdrutsches ist jedoch eher während ergiebiger Regenfälle gegeben, während die Gefahr durch Steinschlag hier erheblich ist. Der kurze Spurt mit 17 Kilo Gepäck im Rücken läßt mich schon ein wenig die erreichte Höhe spüren, beim normalen Marschtempo waren mir deren Auswirkungen noch nicht aufgefallen. Wir passieren jetzt auch häufiger zunächst vereinzelte Schneeflecken, dann immer häufiger ausgedehnte Schneefelder, die nicht nur aus Altschnee bestehen. Ein Lawinenkegel einer durch eine enge Klamm geschossenen Lawine endet am anderen Ufer im Flußbett. An einer kleinen Holzhütte legen wir eine Rast ein. Der Wechsel von Tauwetter und kalten Nächten hat am Dach wunderschöne Eiszapfen entstehen lassen, deren Tauwasser gleich einem leckenden Wasserhahn geräuschvoll auf die Erde tropft. Ein paar junge Frauen, ihre schweren Lasten haben sie auf extra dafür vorgesehenen Felstischen abgelegt, haben sich, kichernd und tratschend, ebenfalls zu einer Rast eingefunden. Kurz vor einer riesigen, schrägen Felswand, die wie eine große Platte aussieht, führt uns unser Weg mittels Hängebrücke über den Fluß, um dann nach links in Richtung Westen einzuschwenken, was sehr beruhigend ist in Anbetracht der Abrißkante, wo sich ein enormes Schneebrett gelöst haben muß, und ein weiterer Abgang nicht auszuschließen ist. Bald haben wir die Teehäuser von Dhukure Pokhari erreicht, wo ich einen Spanier treffe, der froh ist, sich endlich mal wieder in seiner Landessprache unterhalten zu können, Englisch liegt ihm offenbar nicht allzu sehr. Er kommt von Manang zurück und beteuert, es sei dies die allererste Bergfahrt seines Lebens. Nachdem er Augenzeuge eines Lawinenabgangs geworden ist, ist ihm die Lust auf´s Weitergehen vergangen, doch auch Kondition und Höhenluft haben ihm zunehmends zu schaffen gemacht, trotzdem ist er für einen Trekkingneuling doch recht weit gekommen. Zufrieden ist er allemal, zum Einen mit der eigenen Leistung, zum Anderen mit dem, was er gesehen hat. Er schwelgt geradezu im siebten Himmel, als er mir von der Traumaussicht in Manang berichtet und macht mich selbst natürlich um so gespannter auf das, was noch folgen soll. Allgemein ist der Weg ruhiger geworden, es herrscht nicht mehr gar soviel Handelsverkehr und auch landschaftlich hat sich mit Erreichen der Gegend von Pisang, welche bereits zum Manang – Distrikt gehört, wieder einiges verändert. Nachdem wir Dhukure Pokhari mit seinen aromatischen Kieferwäldern hinter uns gelassen haben, gelangen wir zunächst in ein skandinavisch anmutendes Trogtal mit einem kleinen See. Zum ersten Mal auf unserer Route haben wir uns optisch von den Gestaden des Marsiangdi Khola entfernt, aber nur scheinbar, denn sein Flußbett ist laut Karte nicht weit entfernt und der Ort Pisang liegt wieder direkt an seinem Ufer. Sein Flußbett ist jetzt schon auffallend schmaler geworden, da wir ihm ja in Richtung zu seinem Oberlauf folgen Die Umgebung von Pisang wirkt sehr karg, die Häuser der Siedlung haben die Farbe des Bodens und scheinen auf natürliche Weise dort entstanden zu sein. Mit dieser steinig – trockenen, nur noch von Buschwerk durchsetzten Landschaft, haben wir die Monsumschattenseite des Himalaya erreicht. Die Leute hier haben eine sehr dunkle Hautfarbe und gehören zu den mit den Tibetern eng verwandten Bhotiya, einem traditionellen Händlervolk. Wie wohl derzeit noch die meisten Trekker, so haben auch wir uns in Lower Pisang, das auf 3200 m im Flußtal liegt, niedergelassen. Nach einem kräftigenden Dhaal Baat erklimmen wir die Anhöhe zum höher gelegenen Upper Pisang. Ein kalter Wind weht durch die Mähnen der grasenden Pferde am Wegesrand und uns um die Ohren, eine Herde zottliger Ziegen kommt uns entgegen. Auffallend für uns Europäer sind vor allem die ausgeprägten Hörner, worin sich die hiesigen Tiere deutlich von den uns bekannten unterscheiden. Unser kleiner Ausflug hat, außer Neugierde, jetzt auch einen anderen Grund: wir sind bereits in Höhen angelangt, wo die Akklimatisierungsphase beginnt. Eine der wichtigsten Regeln der Höhenanpassung lautet: hoch gehen, tief schlafen, d. h., nach Erreichen des Etappenziels sollt man sich um mindestens 100 Höhenmeter weiter nach oben begeben, und sich dort auch ein Weilchen aufhalten, um einem nächtlichen Ausbruch der Höhenkrankheit vorzubeugen.
Das Dorf Upper Pisang ist wesentlich ärmer, als sein weiter unten gelegener Nachbar. Der Wohlstand bringende Tourismus hat hier noch nicht Einzug gehalten, nur wenige, äußerst bescheiden wirkende Einfachstunterkünfte gibt es bis jetzt hier. Die oberhalb des Dorfes errichtete Pagode enttäuscht mich. Es ist ein nichtssagender Neubau, umliegende Baumaterialien zeugen davon, daß sie noch nicht ganz fertiggestellt ist. Wir lassen uns auf ein paar Holzbalken nieder, und jetzt erst nehme ich mir die Zeit, die Szenerie, die sich während unseres Aufstiegs langsam hinter uns aufgebaut hat, genauer in Augenschein zu nehmen. Daß ich dabei nicht ins Stammeln gerate, ist wirklich alles! Ich bin sicherlich schon oft verwöhnt worden auf meinen Wanderungen und Reisen, gerade was Bergpanoramen anbelangt. Zweimal schon habe ich direkt unter der Eiger – Nordwand genächtigt, ich habe die Tour um´s gesamte Mont – Blanc – Massiv gemacht, bin in Mexiko auf dem Paso de Cortes zwischen Popocatepetl und Ixtaxhiuatl gestanden, um nur ein paar der vielen Leckerbissen zu nennen, aber so was wie jetzt habe ich noch nie gesehen! Sicher ist es eine Frage des persönlichen Geschmacks, wo auf der Annapurna – Runde sich nun der schönste Aussichtspunkt befindet. Aber die direkt vor mir in den Himmel strebende, grandiose und schneebepackte Pyramide der Annapurna II (7939 m) wird für mich der beeindruckendste und ehrfurchtsgebietendste, auch wenn man auf der gesamten Tour aus dem Staunen nicht mehr herauskommt. Vergletscherte Steilwände, schneestrotzende Flanken und ein wilder Gletscherbruch glänzen im strahlenden Sonnenlicht. Jetzt im Frühjahr, wenn die Sonne den Schnee bis zum Nachmittag aufgeweicht hat, donnern ab der Mittagszeit ständig Lawinen herunter, und ich bedauere es ein wenig, daß wir nicht Augenzeugen einer dieser Abgänge werden, den gewaltigsten und verheerendsten der Welt. Mit genügend Geduld und Sitzfleisch wäre es aber sicher möglich. Wir beginnen jedoch langsam zu frieren und beschließen wieder hinunterzusteigen, um uns am Ofen unseres Teehauses aufzuwärmen. Der schöne Blick auf Lower Pisang mit seinen Ackerparzellen, die jetzt, wo der Winter sich noch nicht vollends aus dem Tal zurückgezogen hat, noch brach liegen, gerät nur noch zur bescheidenen Nebenkulisse, im Vergleich zum eben Gesehenen. Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch, daß mir das Dorf Upper Pisang mit seiner Ursprünglichkeit, seinen schönen, wenn auch ärmlichen Häusern, und den verwinkelten Dorfgassen sehr gut gefallen hat. Ich prophezeihe, daß dieses Dorf, schon allein wegen seinem unglaublichen Panorama, in wenigen Jahren dem tiefer gelegenen Pedanten als begehrte Übernachtungsmöglichkeit den Rang streitig machen wird, schüchterne Anfänge sind bereits getan.
Schon gegen 16.30 Uhr verschwindet die Sonne hinter den Bergen und es wird schnell richtig kalt. Der Gastraum unserer Unterkunft wird mit Kerosinlampen beleuchtet, der Strom wird hier oben zwischen den Dörfern aufgeteilt, d. h. Strom gibt es jetzt im nächstgelegene Dorf, das morgen dafür darauf verzichten muß, während dann die Glühbirnen hier in Pisang wieder leuchten. Interessant wird heute abend die Unterhaltung mit dem Guide von Linda und Alfred, die sich ebenfalls wieder hier eingefunden haben. Er bekennt sich unumwunden, wie übrigens viele Nepali, mit denen ich mich unterhalte, zur Sache der Maoisten und läßt ein überraschendes Allgemeinwissen durchblicken, daß sich beileibe nicht nur auf Nepal und Indien beschränkt. Alfred hat es für heute abend bedauerlicherweise auf´s Krankenlager geschlagen, Kopfweh, Durchfall, Fieber. Ich verpasse ihm ein paar Paracethamol und beim Frühstück, wo mir die freche Welpe der Lodgebesitzer um ein Haar den Haferbrei vom Tisch zieht, geht es ihm wieder etwas besser. Er ist bereits das dritte Mal im Annapurna – Gebiet und in den Achzigern muß er sich hier reichlich ausgetobt haben, indem er mit seinen damaligen Begleitern mehrere der sogenannten Trekking – Gipfel bestiegen hat. Trekking – Gipfel sind Berge entlang der Wanderroute, die von der nepalesischen Regierung zur Besteigung freigegeben sind, es ist jedoch eine nicht gerade billige Permit nötig, und natürlich die entsprechende alpine Erfahrung und Ausrüstung, da es sich durchgehend um Berge mit über 6000 m Höhe handelt. Alfred wurde damals auch Zeuge einer Tragödie am Pisang Peak, der übrigens hier von Pisang aus bestiegen wird, wo eine ganze Seilschaft des Summit – Club, von der bei Bergsteigern bekannten Gruppen – Dynamik angetrieben, ums Leben kam. Jetzt, mit gut 50 Jährchen, ist Alfred gemächlicher geworden, und der allabendliche Konsum der vielen Selbstgedrehten hat vermutlich auch einiges zu seinem kurzfristigen Ausfall beigetragen.
Der heutige Tag bringt uns durch eine spätwinterliche Landschaft am kleinen Flughafen von Humde vorbei, der jedoch noch außer Betrieb ist. Dafür komme ich zum ersten Mal in den Genuß des Yaktees, oft auch Sherpatee genannt (die nepalesische Bezeichnung kenne ich nicht), einer Himalaya – Spezialität, die besonders im Khumbu und im Everest- Gebiet verbreitet ist, und zwar meinen, aber noch lange nicht den Geschmack der Mehrheit der Touristen trifft, weshalb das Getränk auch nie auf der Speisekarte erscheint, sondern nur auf Nachfrage gereicht wird. Die Zutaten sind Wasser, Yakbutter, Salz und Molke und das Gebräu wird in einem rohrähnlichen Gefäß mittels eines Stampfers zusammengemischt. Während ich mit Genuß das wärmende Getränk in mich hineinschlurfe, beobachte ich einige junge Männer bei einem in Nepal recht verbreiteten Spiel, das ähnlich wie Billard funktioniert. Auf einem großen Brett befinden sich schwarze und weiße Steine, ähnlich denen des Mühlespiels, die über Bande in die vier Ecklöcher katapultiert werden müssen
Die Fernsicht auf die sich westlich von uns auftürmenden Bergriesen bleibt uns heute aufgrund der Bewölkung leider verwehrt und ich muß mich mit den näher gelegenen Eindrücken begnügen. Wo es gestern in Pisang schon fast nach Bergwüste ausgesehen hat, gesellt sich jetzt unterwegs doch wieder etwas Kiefernwald hinzu, die Landschaft wirkt dennoch streng und steppenartig, und erweckt durch ihr noch winterliche Erscheinung den Eindruck einer nordischen Tundra. Meinem ersten Yak begegne ich, das von einem Balkon in Humde auf mich herabzublicken scheint, es ist jedoch nur noch der Kopf übrig und das Riesenvieh bereits aus dem Leben geschieden. Verschiedene Chorten und wassergetriebene Gebetsmühlen stehen am Wegesrand und als optischer Leckerbissen schmiegt sich das Dorf Braga mit seinem 500 Jahre alten Kloster an einen von steingrauen Felsen überragten Berghang. Hier, kurz vor dem Distrikthauptort Manang, fallen die vielen Tuffelsen auf, die von unzähligen Höhlen wie ein Schweizer Käse durchlöchert scheinen. Ich vermute, daß dieses eigenartige Landschaftsbild durch Erosion entstanden ist. Nachdem wir in Manang Quartier bezogen und uns verköstigt haben, begeben wir uns am Nachmittag zu einem alten, verlassenen Kloster in Ortsnähe, was uns auch gleichzeitig wieder um ein paar Höhenmeter weiter hinauf bringt. Aus einer staubigen Nische zieht Shankar ein uralt scheinendes, auf tibetisch beschriebenes Pergamentbuch und den Kopf einer abgebrochenen Buddhastatue hervor. Da ich kein Archäologe bin, kann ich das Alter dieser Antiquitäten nicht abschätzen, sicher aber sind sie sehr alt, und gehören eigentlich sicher vor fremdem Zugriff verwahrt, oder in die Vitrine eines Museums. Es ist für mich kaum zu glauben, daß so was hier einfach nur „herumfährt“ und trotzdem noch nicht abhanden gekommen ist. Bei der Rückkehr nach Manang fangen wir am Ortseingang unsere drei Freunde ab. Das erste Hotel im Ort wird von Alfred mit verächtlichen Worten bedacht, eine schlechte Erfahrung von seinem letzten Aufenthalt. „It´s a good place to die!“ pflichtet ihm auch sein Führer bei. So verbringen wir erneut einen gemeinsamen Abend wieder einmal als einzige Gäste eines gepflegten, von einem freundlichen Sherpa geführten Hotels. Die Einrichtung des Gastraums erinnert mich jedoch eher an den Stil der Berghäuser der Alpen oder der Hohen Tatra. Schön, neu und sauber eingerichtet läßt sie jedoch bedauerlicherweise die landestypische Atmosphäre missen. Die Nacht wird klar und steinkalt, und am nächsten Morgen steige ich vor Sonnenaufgang auf´s Hoteldach, wo mein frühes Aufstehen prompt mit einem umwerfenden Panorama belohnt wird. Die Annapurna II mitsamt der benachbarten, nicht so markanten Annapurna IV (7525 m) sind von hier aus schon wieder etwas in die Ferne gerückt, dafür triumphieren jetzt Annapurna III (75555 m) und die formschöne Gangapurna (7454 m). Den Kamm auf der rechten Seite abschließend, thront dort der etwas bescheidener auftretende, schneeweiße Tilicho Peak (7134 m). Langsam schiebt die aufgehende Sonne ihr wärmendes Licht wie ein riesiger Scheinwerfer über das weiße Gipfelmeer, ein traumhafter Moment. Mein spanischer Freund hat den Mund wahrlich nicht zu voll genommen, diese Aussicht hier ist bombastisch und sicher eine der beeindruckendsten der Welt! Ich mache die ungefähre Route aus, die über das abgelegene Dorf Khangsar zum Tilichosee führt. Dieser auf etwa 4900 m gelegene Bergsee wird in Nepal als der höchstgelegene See der Welt gehandelt, was ich, trotz der respektablen Höhe, anzweifle und gilt noch (vermutlich nicht mehr allzu lange!) als Geheimtip. Der Abstecher dorthin macht zur jetzigen Jahreszeit jedoch keinen Sinn und ist sogar gefährlich. Der See ist noch zugefroren und völlig mit Schnee bedeckt. Von dort aus bietet der Gebirgspaß Mesokantu La (5099 m) die einzige, jedoch wesentlich anspruchsvollere und gefährlichere Alternative zum Thorong La als Übergang ins Khali - Gandakhi – Tal. Diese Querung wird zudem oft durch das nepalesische Militär vereitelt.
Mit halb eingefrorenen Pfoten erscheine ich dann zum Frühstück, und bis die Münchner Langschläfer so gegen halb acht erscheinen, haben wir bereits wieder unsere Rucksäcke geschultert. Auf geht´s in einen großartigen Tag, der mit gewaltigen Ausblicken aufwarten soll!
Der morgendliche Anstieg zeigt uns Manang von seiner Schokoladenseite. Sehr schön ist jetzt von dieser Perspektive aus zu sehen, daß der Ort auf einem Felspodest thront, darunter erkennt man die Parzellen der noch schneebedeckten Äcker, und noch weiter unten schlängelt sich schließlich der jung gewordene Marsiangdi Khola durch das Tal. Das kleine Seelein unterhalb des von der Gangapurna herunterfließenden Gletscherbruchs ist vollends gefroren. Bald erreichen wir Tanki Manang, wo sich eine kleine Gruppe Franzosen das zweifelhafte Vergnügen gibt, hier, auf fast 3700 m, einen Joint durchzuziehen. Na ja, jedem das Seine! Die Aussicht hinüber zum Massiv wird jedenfalls immer dramatischer, und allein dieser Anblick führt bei mir schon zu rauschartigen Zuständen. Unterwegs werden wir von einer Reiterin überholt, die uns auffordert, sie später doch in ihrem Hotel zu besuchen. Das oberhalb des Dorfes Gunsang (3900 m ) gelegene Teehaus bietet sich dann auch wirklich für eine kleine Rast an, und mir wird wohltuender Sherpatee gereicht. Wir steigen schließlich weiter nach oben, über einen kleineren Paß, wo auf der Höhe einsam ein noch geschlossenes Teehaus aus der verschneiten Landschaft ragt. Wir haben jetzt das Gebiet erreicht, das nicht mehr ganzjährig bewohnt ist, im Winter ziehen sich die dortigen Lodgebesitzer in tiefere Lagen zurück. Im Weiler Yak Kharka (4018 m) beschließen wir unsere heutige Etappe. Draußen in der Sonne essen ein paar Amerikaner und Engländer (selbstverständlich mit dicken Jacken bekleidet!) und ich geselle mich zu ihnen. Sie ziehen nach der Mahlzeit jedoch weiter und ich verbleibe als einziger Gast im Weiler. Ich beschließe, zusammen mit Shankar ein Stück den hinter uns liegenden Berg hinaufzusteigen, wo wir zunächst auf das Zelt von Viehhütern stoßen, ehe wir auf eine große Yakherde treffen. Wir haben jetzt wohl etwa 4400 Höhenmeter erreicht, und der Aufstieg ohne Gepäck bereitet mir eigentlich keine Schwierigkeiten, die große Höhe macht sich aber dennoch deutlich bemerkbar. Der Puls ist jetzt viel schneller oben, man neigt zu langsameren Bewegungen, jeder zu hektisch ausgeführte Schritt wird mit einem sprunghaften Ansteigen der Pulsfrequenz quittiert und gelegentlich hat man selbst im Ruhezustand das Bedürfnis, kurzfristig nach Luft schnappen zu müssen, was nun häufiger auch nachts geschieht. Trotzdem schlafe ich auch in dieser Nacht gut und auch Kopfschmerzen oder gar schlimmere Symptome der Höhenkrankheit bleiben aus. Mein Zimmer ist übrigens mit einem großen Fenster ausgestattet, und am nächsten Morgen genieße ich aus dem Schlafsack heraus den Sonnenaufgang über´m grandiosen Massiv. Zum Frühstück schreite ich über klirrende Eisplatten gefrorener Wasserlachen zum Haupthaus, wo sich der Gastraum befindet. Linda, Alfred und ihr sympathischer Führer sind am Vortag leider nicht mehr aufgetaucht und wir werden auch wohl nicht mehr zusammentreffen, da Shankar und ich beschlossen haben, heute noch die erst vor wenigen Wochen neueröffnete, den Namen Upper Highcamp tragende Hütte unterhalb des Thorong La Passes anzustreben, wo wir den Bruder unseres dem Sherpa – Stamm angehörenden Herbergswirtes kennenlernen werden. Etwas traurig stimmt mich dieser Umstand schon, durch unser schnelles, arhytmisches Voranschreiten werden wir jetzt so manche Bekannte, die wir auf unserem bisherigen Weg immer wieder getroffen und fast liebgewonnen haben, weit hinter uns lassen. Die Holländer, die Belgier, die Tschechen, die wir seit Besisahar nahezu täglich getroffen haben und auch eine sechsköpfige deutsche Gruppe, die uns öfter zu Beginn des Treks begegnet ist, werden wir wohl nicht mehr wiedersehen. Die sechs Deutschen hatten sich übrigens via Internet zusammengefunden. Aus verschiedenen Teilen Deutschlands kommend, einer aus dem von Singen nicht weit entfernten Sindelfingen, haben sie ihren Traum einer Annapurna – Umrundung in ein gemeinsames Projekt umgewandelt, sich vorab schon um einen Führer gekümmert, und sich erst in Nepal persönlich kennengelernt.
Auf unserem Weg zum Paß erreichen wir zunächst den Weiler Letdar (4200 m), hinter dem wir die Wahl haben zwischen einem oberen und einem unteren Weg. Da Shankar von unserem Lodgebesitzer in Yak Kharka auf die derzeitige Gefahr, die der obere Weg in sich birgt, hingewiesen wurde, schlagen wir den unteren Pfad ein. Das Panorama auf Annapurna III, Gangapurna und Tilicho Peak bleibt uns zunächst weiterhin erhalten, es verändert sich jediglich die Perspektive. Vor uns erheben sich nun die 6000er Gipfel der Chulu – Gruppe. Nicht so hoch und auch nicht so dramatisch wie die vorhin erwähnten gefallen sie trotzdem mit ihren schlanken, schroffen Formen. Auch sie zählen zu den mit Permit ersteigbaren Trekkinggipfeln. Der Marsiangdi Khola indes hat abermals abgespeckt und hat nur noch die Stärke eines mittleren Gebirgsbaches. Wir werden uns in Thorong Phedi, am Fuße des Thorong La auch von ihm verabschieden müssen, da wir dort aus seinem Tal heraussteigen werden, um den großen Übergang hinüber zur Kali - Gandaki – Schlucht anzugehen.
In Thorong Phedi wird das Tal durch eine enge, wirklich imposante Felsschlucht begrenzt, deren Aufbau mich an die Todra – Schlucht in Marokko erinnert. Bei unserer Teepause beobachten wir spannende Szenen. Die den oberen Weg gegangenen Trekker sehen sich jetzt unmittelbar vor einem mit harschigem Altschnee bedeckten Steilhang, eine prekäre Situation, die auch mir nicht unbekannt ist. Die Gefahr ist jedoch nicht gar so groß, wie sie zunächst scheint, denn die Schneedecke zieht sich auch am Fuß des Steilhangs weit hinaus und endet nicht etwa abrupt in einem Schotter – oder Blockfeld, was im Falle eines Sturzes sicher zu einem ernsthaften Unfall führen würde. Gar manchen sieht man jetzt beim Blick nach unten den Kopf schütteln, und doch versucht einer nach dem anderen, mit höchster Behutsamkeit hinunterzusteigen. Einer wirft sogar den Rucksack ab, der mit affenartiger Geschwindigkeit den Hang hinuntersaust, ein Härtetest für´s Material. Zum Glück geschieht kein Unfall, und Shankar und ich schultern unsere Rucksäcke, um den beschwerlichen Anstieg in Richtung Thorong La anzugehen. Ab jetzt muß jeder Wanderer seinen eigenen Rhythmus finden, wichtig sind dabei gemächliche Schritte in einem gleichmäßigen Tempo. Reichliche Flüssigkeitszufuhr sollte ab 3000 m obligatorisch geworden sein, und seit Manang habe ich immer meinem Daal Bhaat eine Knoblauch – Zwiebelsuppe als Vorspeise vorangehen lassen. Knoblauch hat die Eigenschaft, das Blut zu verdünnen, ein wichtiger Faktor zur Vorbeugung der Höhenkrankheit. Der Aufstieg hat schon beinahe etwas Meditatives an sich, sehr gut weiß ich als vielgeübter Berggänger, daß mich jeder meiner gemächlichen Schritte näher zum Ziel bringt. Jede überhastete Bewegung treibt den Puls sofort bis an den Anschlag. Bald schon erreichen wir auf etwa 4600 m das sogenannte Highcamp, ein aus mehreren Häusern bestehender Hüttenkomplex, wo wir zu mittag essen. Während die meisten der heute von Thorong Phedi oder Lethar aufgebrochenen Gruppen hier bereits über Nacht verbleiben, machen wir uns weiter auf den Weg zum sogenannten Upper Highcamp auf etwa 4900 m. Knapp unterhalb der Hütte stehen wir unvermittelt vor einer Erdrutschpassage mit erheblicher Steinschlaggefahr. Auch hier, wie ehemals zwischen Chame und Pisang, kullert ständig Material den Steilhang hinunter, doch als ich diesmal nach oben blicke, rutscht mir schier das Herz in die Hose: riesige Felsbrocken hängen, nur noch locker mit dem Erdreich verbunden, über der Passage, und man muß jederzeit damit rechnen, von einem herunterstürzenden Koloß erschlagen zu werden. Es bleibt uns nur, die Gefahrenzone so schnell als möglich zu durcheilen. Jetzt kommt aber die Auswirkung der Höhenluft fatal hinzu. Ich versuche, einen Spurt mit meinen 17 Kilo Gepäck im Kreuz hinzulegen, muß jedoch zwischendurch innehalten. Ich habe das Gefühl, als wenn Kopf und Brustkorb gleichzeitig explodieren würden. Todesangst macht sich in mir breit, ich blicke nervös nach oben, ob sich da nicht etwa schon ein Felsbrocken löst. Ich wäre einen Moment lang nicht mehr fähig, dieser Gefahr auszuweichen, ich fühle mich körperlich nahe einer Herzattacke. Hinter mir ertönt Shankar´s panisches Schreien: „Go on, go on, fast!“ Ich setze erneut zum Spurt an, wenige Augenblicke werden zur Ewigkeit, bis die Gefahr endlich überwunden ist. Wir freuen uns wie die Kinder an Weihnachten und brechen vor Erleichterung in frenetisches Gelächter aus. Ich spüre, wie uns in diesem Moment ein echtes kameradschaftliches Gefühl verbindet. Shankar wird heute den Rest des Tages in einer euphorischen Stimmung bleiben, wir haben hier gemeinsam eine Situation überwunden, die wir ein Leben lang nicht vergessen werden. Schließlich gelangen wir wohlbehalten zur Hochcamp – Hütte , wo uns der Bruder des Sherpa – Wirtes von Yak Kharka, und sein Gefährte, der hier oben als Koch tätig ist, einen herzlichen Empfang bereiten. Selbstverständlich kennen auch sie die brenzlige Passage, und sicher ist es empfehlenswert, diese Stelle so früh wie möglich in den Morgenstunden zu überwinden, wenn das gefrorene Erdreich dem Ganzen noch einigermaßen einen Zusammenhalt gibt, als Nachmittags, wenn die Sonne den Hang zu einer schlammigen Masse aufgeweicht hat. Gefährlich bleibt dieser Durchgang jedoch immer, und man kann nur hoffen, daß der nächste größere Regenfall, der ganz sicher einen erneuten Erdrutsch auslösen wird, die Lage etwas entschärft, indem die lockeren Geröll – und Felspartikel mit hinuntergespült werden.
Nach einer geruhsamen Teepause mache ich mich abermals auf den Weg. Shankar hat diesmal keine Lust, mich zu begleiten, obwohl ich es gerade jetzt als nötig erachte, daß die erreichte Übernachtungshöhe nochmals überschritten wird, um ideal zu akklimatisieren und vor allen Dingen einem nächtlichen Ausbruch der Höhenkrankheit vorzubeugen. Auch Einheimische sind gegen diese Erscheinungen nicht unbedingt gefeit. Bei meinem Aufstieg begegne ich einer jungen Deutschen in Begleitung eines Führers, die den Paß heute von der anderen Seite aus angegangen war und ihn erfolgreich gemeistert hat. Die Überquerung von Muktinath (3800 m) aus ist wesentlich schwieriger und erfordert einiges mehr an Ausdauer und Beharrlichkeit, als die Überschreitung aus dem Marsiangdhi – Khola – Tal. Hinter Muktinath gibt es bis hinauf zum Paß praktisch keine Übernachtungsmöglichkeit mehr, es sind viel mehr Höhenmeter am Stück zu bewältigen und das Gelände bleibt fast ausnahmslos steil, während von unserer Seite aus sich immer wieder etwas flacher verlaufende Passagen einschieben, bei denen man sich doch etwas „erholen“ kann. Ich gratuliere zur erfolgreichen Überschreitung und warne noch vor der gefährlichen Erdrutschpassage, da die beiden beschlossen haben, heute noch bis ins untere Highcamp hinabzusteigen. Ich selbst will noch ein gutes Stück nach oben gelangen, und ohne Gepäck mit gemächlichen Schritten komme ich auch recht gut vorwärts. Der Weg ist gut zu finden, da die Spur im Schnee deutlich ausgetreten ist. Meinen Umkehrpunkt markiere ich deutlich im Schnee, um ihn beim morgigen Aufstieg wiederzufinden. Die Stelle befindet sich nach meiner momentanen Einschätzung nicht mehr allzu weit unterhalb der Paßhöhe, d. h. auf mindestens 5300 m. Ich habe leichtes Schädelbrummen und trotz der Anstrengung betört mich ein Glücksgefühl, verursacht durch den Adrenalinschub. Bevor ich zur Hütte zurückkehre, lege ich noch eine lockere Runde Schattenboxen ein.
Als ich die Hütte erreiche, kommen gerade die Franzosen, die ich in Tanki Manang beim Kiffen angetroffen hatte, dort an, allerdings in weiten Abständen zueinander. Die junge Frau trifft als erste ein, danach der Erste ihrer Begleiter. Von ihrem Kameraden sagen sie, daß er große Schwierigkeiten hätte, sie wüßten aber, wie zäh dieser sei, und daß auch er es hierher schaffen würde. Ich hatte in Tanki Manang kurz mit ihm gesprochen und ihm dort schon abgeraten, weiterzugehen, da er bereits scheinbare Anzeichen der Höhenkrankheit gezeigt hatte. Wie es mich überhaupt ein wenig wundert, daß diese Gruppe doch so weit gekommen ist, scheint es mir in seinem Fall beinahe unglaublich. Und doch, da kommt er tatsächlich, dieser lange Lulatsch, seine riesige Bommelmütze läßt ihn noch länger und schlacksiger erscheinen, als er eh schon ist. Und er sieht aus! Das hagere Gesicht ist völlig ausgemergelt und die weit aufgerissenen Augen scheinen ihm gleich aus den Höhlen zu fallen. Bei der Ankunft kippt er gleich seitwärts in den vor der Hütte aufgetürmten Schnee. „Du siehst aus wie Maurice Herzog nach der Rückkehr vom Annapurna – Gipfel!“ kann ich mir eine etwas spöttische Bemerkung nicht verkneifen. Drinnen wird das Abendessen vorbereitet, und Maurice Herzog zieht sich Knoblauchzehen pur rein, da ich ihm den Tip mit dem Knoblauch als Mittel gegen die Höhenkrankheit gegeben habe. Anschließend kotzt er dann vor die Hütte, und als er wieder reinkommt, zündet er sich zu meinem Entsetzen eine Zigarette an. Er fühle sich schon wieder viel besser, beteuert er, und außerdem brauche er das als Suchtkranker. Und er gesteht mir schließlich unverblümt, daß er ein Junkie sei, derzeit jedoch auf Methadon, wobei er angeblich schon mit einer geringen Tagesdosis haushalten könne. Es grenzt wirklich schon an ein Wunder, daß ein Schwerstabhängiger wie er einen solchen Gewaltmarsch bewältigt. Allerdings hat er auch einen dringenden Antriebsgrund, sein Bargeld geht nämlich zur Neige, und die einzige Bank auf der ganzen Annapurna – Runde befindet sich in Jommosom, auf der anderen Seite des Passes. Obwohl mir die drei sonst nicht unsympatisch sind, nehme ich mir trotzdem vor, meine Sachen etwas im Auge zu behalten.
Die Franzosen begeben sich schließlich vor uns in die Kojen, während ich und Shankar noch ein wenig mit dem Hüttenwirt und dessen Koch sitzen bleiben. Sie waren selbst erst vor wenigen Tagen hier oben angekommen, und hatten die Hüttentür aufgebrochen vorgefunden. Vermutlich hat sich eine Gruppe darauf verlassen, daß die Unterkunft schon geöffnet sei, und war dann dazu genötigt, hier einzubrechen, um nachts nicht der Kälte und dem Wetter ausgesetzt zu sein. Die Nacht verbringen Shankar und ich gemeinsam in einem Schlafraum, worüber dieser sich amüsiert wie ein Schneekönig. Unser Wirt hat uns glücklicherweise dicke Yakdecken mitgegeben, denn die Nacht wartet mit schätzungsweise minus 20 Grad auf! Zwischen dem Gemäuer unseres Schlafraums und dem Wellblechdach klafft eine große Lücke, durch die unentwegt eiseskalte Luft hineinweht. Ich vergrabe mich vollends im Schlafsack und unter der Decke, japse aber schon bald wieder nach Sauerstoff. Zweimal drängt mich die große Menge an getrunkenem Tee vor die Hütte, jedesmal ein wahrer Horror! Weder ich noch Shankar machen diese Nacht ein Auge zu und das Aufstehen noch lange vor Sonnenaufgang wird zu einer qualvollen Prozedur. Über Nacht sind mir Trinkwasser und Sonnenmilch eingefroren und ich suche im Schein der Stirnlampe meinen verfluchten linken Handschuh! Shankar erbarmt sich meiner, er hat ein zweites Paar Handschuhe dabei. Gleich nach dem Zusammenpacken flüchte ich sofort zur Feuerstelle, wo unser Koch bereits das Frühstück vorbereitet, um dort meine halb erfrorenen Krallen wieder aufzutauen. Als wir schließlich aufbrechen, pfeift uns zusätzlich zu den Polartemparaturen ein bissig – kalter Wind um die Ohren, der uns einen entsprechenden Chill – Effekt beschert. Ich bin eingepackt wie eine Mumie und trage beinahe sämtliche mitgeführten Klamotten am Leib. Nur noch Gesicht, Ohren und Füße kriegen die Kälte wirklich zu spüren. Eine Mütze ist jetzt nicht genug, und die Füße wollen – trotz der drei Paar Socken – einfach nicht warm werden. Der gestern so hilfreiche Adrenalinschub will sich heute um´s Verrecken nicht einstellen, so daß die Etappe für mich zu einer wahren Tortur wird. Auch aus vergangenen Touren weiß ich, daß mir Schlafmangel besonders zusetzt. Die gestern noch gut begehbare Spur ist nun durch Schneeverwehungen verblasen, was den Aufstieg zusätzlich erschwert. Die zauberhafte Schneelandschaft um uns herum läßt mich heute ohne Emotion, ich denke nur noch an das Erreichen des Passes. Die Paßhöhe ist mit flatternden Gebetsfahnen gekennzeichnet, und zu meiner Verwunderung treffen wir in dem kleinen Steinhäuschen, das einsam dort oben steht, einen Tee kochenden Sherpa an. Obwohl wir bei den beiden Thorong – La – Etappen die größten Meereshöhen unserer Wanderung erreichen, stellen der Paß und seine Umgebung in punkto Aussicht keinen außergewöhnlichen Höhepunkt dar, da man das Massiv mit seinen 7000 – er Gipfeln von hier aus nicht einsieht. Trotzdem leuchten und glitzern um uns herum die völlig unberührten Schneefelder der uns umgebenden Bergflanken in der grellen Sonne. Idiotischerweise habe ich keine Sonnenbrille bei mir, die Konsequenzen soll ich noch zu spüren kriegen! Daß der Abstieg auf der anderen Seite des Passes angenehmer werden sollte, war eine Illusion. Die Qualen wollen heute einfach kein Ende nehmen, der Gang nach unten wird zum Martyrium. Extrem steile und gefrorene Schneefelder bescheren uns zudem einige nicht ganz ungefährliche Passagen, die wir jedoch mit Behutsamkeit meistern. Die Hoffnung, daß sich mein schlapper Zustand mit abnehmenden Höhenmetern und somit der Rückkehr in sauerstoffreichere Luft bessern würde, bleibt leider unerfüllt, ich bin heute einfach in einer schlechten Tagesform.
Was ich oben noch über die Aussicht beim Paßaufstieg gesagt habe, gilt nicht für die Abstiegsroute nach Muktinath. Dort nämlich präsentiert sich uns das prächtige Panorama der Mustang – Berge und der Blick hinüber in das ehemals verbotene, gleichnamige Königreich im Königreich. Karg und trocken wirkt die unter uns liegende Landschaft, das wüstenhafte Ockergelb ist von zahlreichen Schneefeldern durchzogen. Wie ein Pfeiler begrenzt der Daulaghiri im Südwesten dieses großartige Bild. Von dieser Perspektive aus hat er noch gar nichts gemeinsam mit jener Form, die er uns von den berühmten Aussichtspunkten Poon Hill oder der Dammside in Phokara aus offeriert. Leider ist mir heute ganz und gar nicht nach Bergromantik zumute, aber mein Shankar scheint dafür in Hochform, und läuft wenig rücksichtsvoll weit vorweg. Na warte, Bürschchen...
Bevor wir Muktinath erreichen, treffen wir am Ortseingang auf ein Kloster, wo im Inneren des Tempels zwei sehr kleine Gasflammen brennen, die bisher noch nie erlöscht sind. Sehenswert sind auch die 108 kleinen Brunnen, die im Tempelhof vor sich hinplätschern. Das von jetzt im Winter noch als trostlose, graue Skelette erscheinenden Pappeln umgebene Kloster ist eine bedeutende Pilgerstätte, die sowohl von Buddhisten, als auch von Hindus verehrt wird. Trotz meines maroden Zustandes lasse ich mir die Besichtigung dieses Kleinods nicht entgehen.
Wären da nicht die schneeweißen Gipfel um uns herum, könnte man Muktinath für ein verlorenes Westernnest inmitten der mexikanischen Sonora – Wüste halten, zumindest erwacht bei mir diese Intuition, als wir die staubige Hauptstraße hinuntergehen, den ACAP – Kontrollpunkt passieren, und schließlich – Gott sei´s gelobt und gepriesen – unser Hotel erreichen. Nach dem Essen folgt eine längere Erholungsphase, von der Hotelterrasse aus verfolge ich das Treiben unten an der Wasserstelle, wo Frauen mit dem Waschen von Geschirr und Töpfen beschäftigt sind. Beim Marsch durch die gleißenden Schneefelder ohne Sonnenbrille habe ich mir die Augen verblitzt, und ich kann kaum noch richtig sehen, da ich ständig das Gefühl habe, geblendet zu werden, alles um mich herum erscheint mir viel zu grell. Ich habe bereits beim Abstieg das Aufkommen der Symptome bemerkt, und die Augen immer wieder geschlossen oder mit der Hand versucht, sie vor dem reflektierenden Licht der blendenden Schneeflächen zu schützen. Als wir Spätnachmittags noch ein wenig durch die Ortschaft schlendern, pfeift es von der Terrasse eines Hotels herab: Maurice Herzog und seine beiden Begleiter! Er hat es also tatsächlich geschafft! Auch sein Zustand hat sich augenscheinlich gebessert, er sieht wieder etwas gesünder aus und macht einen fröhlichen Eindruck.
Wir schlendern weiter zum Ortsausgang, wo wir in die wild zerklüftete Canyonlanschaft hinunterblicken, durch die unsere morgige Etappe führen wird. Zahlreiche Dörfer thronen pittoresk auf felsigen Erhebungen oder auf kargen Plateaus. Ich sehe ein paar wenige Parzellen, wo dem steinigen Boden scheinbar doch noch etwas abgewonnen wird. In der Nacht bleibt es relativ mild, obwohl wir uns in Muktinath immer noch auf 3800 m Höhe befinden. So erlebe ich den kommenden Morgen endlich mal wieder ohne Zähneklappern und blicke zudem in einen strahlend blauen Himmel. Auch der Zustand meiner Augen hat sich glücklicherweise über Nacht gebessert.
Mit der Überschreitung des Thorong – La haben wir den Manang - Distrikt verlassen und befinden uns nun im Distrikt Mustang, genauer gesagt in Lower Mustang. Bei dem gemeinhin mit dem Namen Mustang belegten, ehemals für Touristen gesperrten Königreich handelt es sich eigentlich um das höher gelegene Upper – Mustang, das momentan zwar zugänglich ist, die Permit dazu ist aber teuer bei den entsprechenden offiziellen Stellen zu erkaufen. Als wir uns auf den Weg machen, taucht die Sonne die umliegenden Dörfer in ein malerisches Licht. Bequem geht es nun bergab, wo wir dem Lauf eines Canyon folgen, zunächst mit einem gewissen Abstand, dann aber bald eindrucksvoll direkt an dessen Rand. Wir passieren ein paar zauberhafte Dörfer, besonders gut gefällt mir Jharkot, das bereits von Muktinath aus durch seine exponierte Lage ins Auge fällt. Am Wegesrand sehen wir Pferde die wenigen Halme weggrasen, die dieses steinige Ödland noch hergibt und wir treffen auf zwei indische Saddhus, die sich hier schon nahe an ihrem Ziel, dem Pilgerort Muktinath, befinden. Noch etwas weiter unten haben die beiden frommen Männer einen trockenen Busch mit sakralen Bändern geschmückt. Es waren übrigens die ersten Saddhus, die mir je in meinem Leben begegnet sind. Auf unserem Weiterweg durch´s Kali - Gandhaki – Tal sollen noch wir täglich auf solche geheimnisvoll wirkenden Asketen treffen, die alle das gleiche Ziel verfolgen: die Wallfahrt hinauf zum Kloster von Muktinath. Bald trifft unser Canyon auf das berühmte Tal des Kali Gandhaki, wo auch unsere Wanderung eine Richtungsänderung erfährt: sind wir seit dem Thorong La grob West- Westnord gegangen, so führt uns der Kali Gandhaki hinunter in den Süden, und schließt somit die „Klammer“ um den Annapurna – Himal. Der Dreh- und Angelpunkt stellt das Dorf Kagbeni (2800 m) dar, das jetzt direkt unter uns liegt, bereits wieder umgeben von grünen Feldern. Der Kali Gandhaki präsentiert sich durch ein enormes Kiesbett, das von vielen Dränagen durchflossen wird, die durch ihr gelb – braunes Wasser wie Miniaturausgaben des großen gelben Flusses, Yangtsekiang, in China erscheinen und eigentlich der Bedeutung des Namens Kali Gandhaki, nämlich „schwarzer Fluß“, widersprechen. Rechts hinter dem Dorf erblicke ich eine Brücke. Sie zu überschreiten, bedeutet das Königreich Mustang zu betreten, was, wie bereits erwähnt, ohne Erlaubnisschein verboten ist, die Umsetzung dieses Dekrets wird durch einen Militärposten überwacht. Die Ortschaft Kagbeni versetzt mich in Erstaunen, ich komme nicht darum herum, in mein Notizbuch die Bemerkung „vielleicht das schönste Dorf, das wir auf unserem bisherigen Weg passiert haben“ zu kritzeln. Enge, verwinkelte Gassen führen zwischen durchgehend traditionellen Häusern mit den typischen Holzbalkonen hindurch und auch ein Kloster gibt es zum Besichtigen. Dieses Kloster hat die Besonderheit, daß es das einzige von insgesamt 10 derselben Epoche und Baustil angehörenden Abteien in der Mustang – Region ist, welches sich außerhalb Upper – Mustangs befindet und somit auch für Besucher, die nur die Permit für die Annapurna – Region mit sich führen, zugänglich ist. Man zeigt mir einige steinalte Pergamentbücher, ein noch funktionierendes Holzblasinstrument, dessen Klang sicherlich auch den Tibet – Fans bekannt sein dürfte und man erklärt mir die verschiedenen Wandmalereien, die Teile der buddhistischen Weltanschauung darstellen.
Für unseren Weiterweg zum Tagesziel Jommosom benutzen wir das Kiesbett des Khali Gandhaki. Die aus der Ferne harmlos aussehenden Flußdraenagen sind in Wirklichkeit sehr schnell fließende Wasserarme mit respektabler Wassertiefe, die sich ohne Hilfe von Brücken nicht zur Durchschreitung empfehlen. Im Übrigen ist man gut beraten, sich nicht allzu weit vom Ufer zu entfernen, da man sich sonst schnell in einem Labyrint von mäandrierenden Flußarmen gefangen finden kann. Die kleinen, manchmal wenig vertrauenserweckenden Holzbrücklein sind rar gesät, und wenn´s blöd läuft, kann man Stunden damit zubringen, aus dem Labyrint wieder zum Ufer zurückzufinden. Als wir so durch´s Flußbett stapfen, erscheinen uns die vor uns im gleißenden Licht auftauchenden Häuser von Jommosom wie eine Fata Morgana. Im Gegensatz dazu sind die dahinter aufragenden Eisgipfel, wo der Daulaghiri wie ein Arguspfeiler dominiert, zu gigantisch, um als illusionierende Lichtspiegelung verkannt zu werden. Unterwegs kommt uns ein Pärchen entgegen, das ich irgendwo schon mal gesehen zu haben glaube. Wenig später funkt´s im Kopf: Der erste Tag in Kathmandu! Auch sie waren Gäste im Hotel Kharma, scheinen mich jetzt aber nicht mehr erkannt zu haben. Offensichtlich mußten sie aus irgendeinem Grund ihren ursprünglichen Plan, nämlich gleichfalls die Annapurna – Runde ab Besisahar zu machen, fallen lassen, da sie nun dem Khali Gandakhi talaufwärts folgen. Mit Jommosom erreichen wir die größte und bedeutendste Ortschaft im Annapurna – Gebiet, aber sicher nicht die schönste, obgleich die Kulisse des hier herrschenden Nilgiri – Nord (7061 m) wahrlich beeindruckt. Auf den Hausdächern ist viel Feuerholz gestapelt, verhängnisvoll für die ohnehin schütteren Baumbestände, die auf den umliegenden Hängen dieser immer noch im Monsunschatten gelegenen Region gerade mal wieder zu gedeihen beginnen. Die Infrastruktur in Jommosom ist, wie gesagt, einmalig im Annapurnagebiet und umfaßt, neben dem Flughafen, eine Bank und sogar Kletterfelsen mit präparierten Routen. Auch das Militär ist sehr stark präsent, die Ortschaft ist gleichzeitig Garnison mit einer großen Kaserne, und Shankar wird wieder mal Opfer einer Leibes – und Gepäckvisite. Unser Hotel liegt am Ortsausgang, direkt neben der Landebahn des Flughafens, wo wir vom Esszimmer aus eine atemberaubende Aussicht zum Nilgiri – Nord genießen, das Starten und Landen der Propellermaschinen läßt sich jedoch nur bis etwa 12 Uhr mittags verfolgen. Das Kali - Gandakhi – Tal zieht sich wie ein Schlauch von Nord nach Süd und die regelmäßig Nachmittags auffrischenden Winde sind berüchtigt. Unversehens kann man mitten in einen tüchtigen Sandsturm geraten, der einem dann buchstäblich Hören und Sehen vergehen läßt. Wegen eben dieser Winde findet auch Nachmittags kein Flugverkehr mehr statt. Shankar und ich haben im Vorfeld bereits abgesprochen, daß wir den ariden Nordteil des Tales stets in den Morgenstunden begehen, um unsere Tagesetappen spätestens um ein Uhr zu beschließen. Als wir uns nach dem Essen zum Besuch des örtlichen Museums aufmachen, bestätigt sich auch gleich diese Heimtücke der Natur. Diesmal hat sich der obligatorische Sandsturm mit Regenwolken gepaart, und wir retten uns ins Museum. Die Wolken ziehen später jedoch weiter, um sich an anderer Stelle zu entladen. Am nächsten Morgen beim Frühstück gewahre ich leichte Bewölkung am Himmel, die Gipfel sind jedoch frei. Der Hausherr, ein Hindu, zieht murmelnd mit Räucherkerzen durch´s Quartier, dies dient zur Vertreibung böser Geister. Überhaupt hat Jommosom einen auffallend hohen Anteil an hinduistischer Bevölkerung.
Da wir jetzt ständig bergab gehen und somit zügig ein großes Pensum an Kilometern zurücklegen, bietet uns die nun folgende Etappe eine unglaubliche Vielfalt gegensätzlicher Landschaftsbilder und auch die ethnische Zusammensetzung der Bewohner wird sich ändern. Sie führt uns aus der Bergwüste hinaus, hinein in koniferen Bergwald, um schließlich in der von saftigem Grün bestimmten Üppigkeit subtropischer Wildnis zu enden, wo auch wieder köstliche Zitrusfrüchte gedeihen.
Das tiefste Tal der Erde - wohl bin ich mir bewußt über die geographische Einmaligkeit der Gegend, die wir nun durchschreiten, obgleich ich mich an der - wenn auch nur temporären - Wiederkehr der modernen Zivilisation störe. Diese präsentiert sich durch die Einflugschneise zum Flughafen, wo jetzt ständig Propellermaschinen aus Pokhara eintreffen, bzw. dorthin zurückfliegen. Auch müssen wir unseren Weiterweg auf einem guten Stück ausgebauter Fahrpiste zurücklegen, wenngleich es auch weit und breit kein Auto hier gibt. Vermutlich hat diese Trasse einen militärstrategischen Sinn. Durch´s Flußbett tuckert ein mit einem halben Dutzend Mann besetzter Traktor, neben den Flugzeugen wirklich das einzige Motorfahrzeug, das ich auf der Annapurna -.Runde zu sehen bekomme. Der Austritt aus dem Monsumschatten findet abrupt statt: im wunderschönen Dorf Marpha stehen wir plötzlich vor grünleuchtenden Terassen, auf denen der Weizen im Wind wogt, blühende Aprikosenbäume betören uns mit ihrer weiß - lila Pracht und ihrem Duft, und die Vielfalt der hier gedeihenden Feldfrüchte ist enorm. Die weiß getünchten Natursteinhäuser sind typisch für die Dörfer hier oben, die Gassen sind vorbildlich gepflastert, und überhaupt wirkt alles ein wenig sauberer, ordentlicher, wohlständiger, aber auch touristischer, als im Marsiangdhi - Khola - Tal. Das liegt daran, daß der sogenannte Jommosom – Trek, der Weg durch´s Kali - Gandhaki - Tal, die klassische und populärste Wanderroute Nepals ist, denn sie bietet auf relativ kurzer Strecke eine unglaubliche Vielfalt an Landschaftsbildern und kulturellen Facetten. Durch die Möglichkeit des Hin – oder Rückfluges von/ab Jommosom bietet sie für Leute mit wenig Zeit eine fantastische Alternative für einen Kurztrek, und im Falle der Begehung talabwärts ist sie auch für die weniger Sportlichen zu bewältigen. Auch die tibetanischen Schmuck – und Handarbeitenhändler wissen um die Popularität dieser Route, wie Wegelagerer lauern sie am Wegesrand auf kaufwillige Touristen.
Die anfänglich bescheidenen Kiefernbestände schließen sich bald zu einem dichten Tannenwald. Wir begegnen etlichen Pferde – und Eselskarawanen, die unten im Flußbett dann und wann einen der Flußarme passieren, auch Reiter sieht man öfter. Ich muß an Alfred aus München denken, der die Karawanen drüben im Marsiangdhi – Khola – Tal verflucht hatte. Als er das erste Mal an der Annapurna war, gab es diese Form des Warentransportes dort noch nicht, alles wurde von menschlichen Trägern erledigt. Durch die Maultiere seien die schönen, bequem begehbaren Steintreppen nahezu völlig zerstört worden, außerdem roch es damals auch nicht toujours nach Eselskacke, wie das leider Gottes halt heutzutage der Fall ist. Nun, da die Steintreppen kein tausendjähriges kulturelles Erbe darstellen, wie beispielsweise der Inka – Pfad in Peru, ist dies zu verschmerzen, zumal die von Alfred melancholisch vermissten Verhältnisse im Annapurna – Gebiet durchaus noch anzutreffen sind, nämlich auf dem Weg zum Basislager. Hier im Khali – Gandhaki – Tal, auf dieser uralten Handelsroute hinauf nach Mustang und Tibet, hat der Maultiertransport jedoch Tradition, und man kann sagen, der Warenverkehr wird noch mit den selben Verkehrsmitteln abgewickelt, wie vor hunderten von Jahren. Auch Handwerk und Ackerbau entlang unserer Route wird noch mit Werkzeugen betrieben wie zu Christi Zeiten. Ich habe schon manche Klage gehört, die Annapurna – Route sei mittlerweile zu touristisch geworden, die ursprünglichen Lebensgewohnheiten der Bevölkerung habe sich durch den Tourismus einschneidend verändert. Dem stimme ich nur zum Teil zu. Sicher lebt ein großer Teil der Bevölkerung entlang der Route ausschließlich von Tourismus, wer aber die vielen, immer noch in ihren ursprünglichen Tätigkeiten, Traditionen und Lebensumständen verbliebenen Menschen nicht sieht, muß Tomaten auf den Augen haben. Was das Tragen traditioneller Kleidung anbelangt, und vor allem bei der Religion halten sich fast alle Teehausbesitzer und deren Familien noch an die Vorgaben ihrer Väter und Urväter.
Das auf unserem Weg gelegene Dorf Tukuche (2590 m) fand Einzug in den abenteuerlichen Bericht von Maurice Herzog. Wie zu Beginn meiner Geschichte schon erwähnt, hatten sich die Franzosen zuerst am Daulaghiri versucht, ehe sie schließlich zur Annapurna kamen. Herzog war damals in diesen Ort hinuntergestiegen, um ausfindig zu machen, ob von der dortigen Bevölkerung Lebensmittel, selbstverständlich gegen gutes Entgelt, für die oben am heute so genannten Franzosenpaß ausharrende Expedition zu erhalten wären. Er fand damals eine völlig verarmte, trostlose Siedlung vor, wo es absolut nichts zu holen gab. In der Beziehung haben sich die Zeiten sicher geändert. Die Ortschaften um Kalopani schließlich strahlen wieder eine etwas meridionalere Atmosphäre aus, während die umliegende Landschaft mich jetzt eher an Bilder aus den Rocky Mountains erinnert. Auffallend auch hier die Zunahme der Hindubevölkerung. Während wir in Kalopani Mittagspause halten, zieht ein Militärtrupp in Gefechtsanordnung die Hauptstraße hinauf. In einem weiter unten gelegenen Dorf soll vergangene Nacht eine Bombe vor der Polizeistation gezündet worden sein. Von solcherlei Ungemach merkt man im Hinterhof unserer Lodge nichts, wo wir gerade ein wohlschmeckendes Dhaal Bhaat verzehren, während der Besitzer und dessen Töchter mit dem Auseinanderzupfen der Schafsschur beschäftigt sind. Doch noch ist für uns nicht Feierabend und wir ziehen weiter durch malerische Ortschaften mit schönen Schieferschrägdächern, und glaubte ich mich vorher noch in den Rocky Mountains, so wähne ich mich jetzt im Tessin oder im Friaul. Auch die Flora ändert sich: koniferer Bergwald trifft jetzt auf immergrünen Regenwald, schließlich verschwinden die Kiefern vollends und wir sind wieder endgültig in den Subtropen. Hinter Kalopani hört dann auch das Kiesbett des Kali Gandhaki auf, der sich jetzt in eine eindrucksvolle Schlucht hineindrängt. Ein paar sonnenbebrillte Saddhus im schlichten Pilgerkleid begegnen uns, dann stellt sich uns eine Büffelherde in den Weg und wir laufen dem schlechten Wetter davon, denn seit geraumer Zeit werden wir von dicken Regenwolken verfolgt, die sich düster im Norden und im Westen auftürmen. Ein Blick über die Schulter sagt mir, daß es in Richtung Marpha bereits tüchtig herunterläßt. In Ghasa (2010 m) beziehen wir schließlich unser Nachtquartier. Es handelt sich um einen sehr kleinen, aber zauberhaften Ort. Hier weist der Weizen auf den umliegenden Feldern bereits eine beachtliche Höhe auf. Den Abend verbringen wir mit zwei Deutschen aus Dresden, einer der beiden ist Student der Ethnik und findet in Shankar einen willkommenen Informanten in Sachen Bevölkerung und Landeskunde. Auf die Ermordung der Königsfamilie durch dessen angeblich betrunkenen Bruder angesprochen, erzählt uns Shankar mit raunender Stimme: „This was not an accident, it was a masterplan!“, und wir bekommen einen wahren Politkrimi zu hören. Dazu ist anzufügen, daß der ermordete König Birendra in der Bevölkerung ein ähnliches Ansehen genoß, wie etwa König Bumiphol in Thailand. Sein Nachfolger, der seit den mysteriösen Ereignissen im Palast zu Kathmandu den Thron okkupiert, wird von der Mehrheit der Nepalesen mit Skepsis und Mißtrauen beäugt und hat bis jetzt nicht annähernd die Popularität seines Vorgängers erlangen können.
Frühmorgens um 7 Uhr 20 begeben wir uns bereits wieder auf den Weg, der uns durch eine zauberhafte subtropische Schlucht führt, unter uns tost wild der Kali Gandhaki. Das Klima hier ist wunderbar, zum Wandern allerdings fast wieder zu warm. Unterwegs kaufen wir zur Erfrischung ein paar Orangen, die hier in zahlreichen, wohlduftenden Hainen gedeihen und jetzt ihre optimale Reife erlangt haben. Schmetterlinge mit ungewöhnlichen Farben flattern durch die Luft, überall pfeift, schnattert und krächzt es. Die Verursacher dieses exotischen Urwaldkonzerts sind jedoch im dichten Gewirr von Sträuchern, Bäumen und Blattwerk meist nicht auszumachen. Zum Mittagessen sind wir bereits an unserem heutigen Ziel Tatopani angelangt. Im paradiesischen Hotelgarten läßt es sich unter Schatten spendenden Orangenbäumen, blühenden Rhododendronbüschen und prächtigen Bourgainvillen auch wunderbar aushalten. Zum Daal Bhaat reicht man mir Tee aus frischen Pfefferminzblättern, selbstverständlich aus dem eigenen Garten. Der Mais wird, wie es in dieser Gegend üblich ist, unter einem länglichen Strohdach aufgehängt. Nicht etwa zum Trocknen, wie mir Shankar erklärt, sondern nur zur Lagerung. Hinter uns ziehen Eselskarawannen mit Gebimmel die Dorfstraße hinauf, und nur die unzähligen, lästigen Fliegen stören die Idylle. Auffällig ist, daß man in Tatopani mehr Touristen trifft, als wir es bisher gewohnt waren. Dies hat wohl zwei Ursachen: zum Einen die leichte Erreichbarkeit im Rahmen eines Kurztreks von Pokhara aus, was auch für nicht allzu konditionsstarke Softtrekker in Frage kommt, zum Anderen deutet bereits der Ortsname (tato = warm, pani = Wasser) auf die heißen Quellen, die am Strand des Kali Gandhaki entspringen und dort in zwei künstliche Becken gefaßt sind. Auch wir profitieren von dieser konfortablen Einrichtung und gestalten den Nachmittag als erholsamen Badetag, was wir uns nach allem, was wir die letzten Wochen hinter uns gebracht haben, redlich verdient haben. Touristen und Einheimische tummeln sich hier Seite an Seite, und im badewannenwarmen Sitzbecken läßt es sich gemütlich plauschen und so manche Bekanntschaft schließen. Den Holländer Ivor, der bereits über 1 Jahr in Indien verbracht hat, treffe ich später an einem ruhigen Plätzchen am Flußufer sitzend, mit derselben Lektüre, die auch mich begleitet, nämlich Hesse´s „Sidharta“. Ob ihm der Fluß wohl antwortet?
Wir befinden uns in Tatopani auf 1190 m, dem tiefsten Punkt seit Beginn unserer Wanderung, was sich in Klima und Vegetation deutlich bemerkbar macht, und während uns die zurückliegenden Etappen seit der Thorong – La- Überschreitung kontinuierlich abwärts geführt haben, soll sich das nun wieder ändern mit einem deftigen Aufstieg am folgenden Tag. Wir klettern jetzt sozusagen aus der Kali – Gandhaki –Schlucht hinaus, um unserer Wanderung eine andere Richtung zu geben, und gleichzeitig ein neues Kapitel in unserer Annapurna – Runde aufzuschlagen. Die nun folgenden Wandertage sollen uns zu einem der meistgepriesenen Aussichtspunkte der Welt führen, wir werden blühende Rhododendron – und lianendurchschlungene Regenwälder durchschreiten, um abermals wieder hinaufzusteigen in die Zone der kalten Nächte und der glitzernden Schneefelder, diesmal sogar mitten ins Herz der Annapurnas, in die atemberaubende Bergarena des Annapurna – Basislagers. Und so verlassen wir den Garten Eden von Tatopani, an einer Hängebrücke nehmen wir Abschied von Ivor und dessen schwedischem Begleiter, Johann. Die Beiden wollen der Kali – Gandhaki – Schlucht weiterhin abwärts folgen und ihre Wanderung in Baglung beenden. Es ist dies die schnellste Variante, um die Annapurna – Runde bzw. den Jommosom – Trek zu beenden. Auf uns jedoch warten neue Sensationen, wobei uns erst einmal ein schweißtreibender Aufstieg beschert ist. Ich bin in Hochform, der Erholungstag gestern hat mir gut getan. Mit forschem Tempo schreite ich bergan, und mir entgeht nicht, daß Shankar heute ziemlich hinterherhinkt. Ständig läßt er sich neue Ausreden einfallen, um eine kleine Pause herauszuschinden, wobei er stets so tut, als ob er um mich besorgt wäre. „Möchtest du nicht etwas trinken?“, „Ich glaube, du solltest dich etwas schonen, wir werden heute einen langen Tag haben!“ usw. Ich lasse mich nicht darauf ein und treibe ständig vorwärts. Die Sache vom Thorong La, als Shankar rücksichtslos vorauseilte, ist noch nicht vergessen, und ich will ein Geständnis! „Mir geht es heute nicht so gut, ich glaube, wir sollten etwas langsamer gehen!“ kommt dann schließlich die Beichte. Na, also! Erst jetzt nehme ich Rücksicht, Rache ist eben süß! Wir erreichen bald eine Paßhöhe, wo der Anstieg aber nur kurz unterbrochen wird. Kurz vor der Ortschaft Chitre (2390 m) halten wir Mittagsrast. Das Teehaus, auf dessen exponierter Holzterrasse wir uns niederlassen, stellt einen großartigen Aussichtsplatz dar, und obgleich sich Daulaghiri, Tukuche Peak (6920 m) und der Nachbarberg, den ich leider nicht benennen kann, gerade in Wolken hüllen, bietet sich eine tolle Aussicht zu den umliegenden Berghängen mit niedlichen Dörfern und grünen Terrassen. Die Erscheinung der Behausungen hat sich hier oben wiederum geändert, sie haben jetzt häufig Strohdächer, und sind mit brauner und weißer Farbe getüncht. Auch in diesen Bergdörfern nimmt das Landleben seinen ureigenen Lauf: ständig begleitet uns das Hämmern der manuellen Stein – und Holzbearbeitung, Frauen sitzen am Spinnrad, ein Ochse zieht träge den Holzpflug über´s Feld, Hähne krähen zu jeder Tageszeit, das Heulen und das Bellen der Hunde ist schon auf Entfernung zu hören, und gelegentlich passiert man ein Anwesen, wo eine Mutter ihre Kinder gerade lautstark maßregelt. Durch die wiedergewonnene Höhe ist es auch wieder etwas kühler geworden, was uns bei unserem fordernden Aufstieg sehr entgegenkommt. Der Rhododendron, der hier zum Teil dichte Wälder bildet, steht in Hochblüte, und zu den normalerweise blutroten Blüten gesellen sich auch gelegentlich Spezies, die in Dunkelrosa blühen, oder auch – allerdings ganz selten – in Weiß. Auch der Bambus sprießt, und erreicht gelegentlich Höhen von mehreren Metern. Durch Shankar erfahre ich, daß man in Nepal sechs verschiedene Arten dieser Pflanze kennt. Eine davon ist essbar, man erkennt sie am doppelten Trieb. Weiter fällt mir eine Baumart auf, bei der auch der Stamm über und über mit grünem Blattwerk bewachsen ist, die selben Bäume habe ich auch schon bei einer Wanderung in Südafrika gesehen.
Als wir schließlich Gorapani erreichen, zeichnet sich bereits das drohende Unwetter ab. Der Ort liegt auf 2750 Metern, wir haben heute somit 1560 Höhenmeter hinter uns gebracht. Nach den beiden „Königsetappen“ am Thorong La stellte dieser Tag bisher die größten Anforderungen, und vor allem Shankar ist heute dankbar, endlich anzukommen. Obwohl sich die Ortschaft durch eine exzellente Lage auszeichnet, die grandiose Ausblicke zuläßt (heute jedoch wegen Gewitterwolken stark eingeschränkt!), gefällt mir Gorepani nicht besonders. Es ist ein künstlicher Ort, der sich aufgrund des Tourismus gebildet hat, d. h. reine Hotellerie. Daran alleine würde ich mich nicht stören, es sind vielmehr, die blauen Wellblechdächer und Außenverkleidungen der Gebäude, die völlig von der traditionellen Bauweise abweichen und gar nicht richtig hierher passen wollen. Unsere Unterkunft wird von einem ehemaligen Gorka – Offizier geleitet, der zur Zeit allerdings nicht anwesend ist. Die Bezeichnung „Gorka – Truppen“, die ursprünglich ausschließlich für die aus der Region des gleichnamigen Himalayaortes stammenden Söldner verwendet wurde, ist schon seit langer Zeit zum geläufigen Ausdruck für die berühmt – berüchtigte nepalesische Armee geworden. Nachdem die Engländer an der außergewöhnlichen Kampfkraft eben dieser Truppen bei dem Versuch gescheitert waren, ihre imperialistischen Ambitionen auch auf Nepal auszudehnen, rekrutierten sie diese mit finanziellen Lockmitteln als Spezialtruppen für die eigene Armee. Der Ruf dieser Soldaten, deren gefürchtete Zähigkeit und Kampfkraft wohl aus den bereits Eingangs zitierten harten Lebensbedingungen in den hiesigen Bergregionen resultiert, hat sich bis heute gehalten. Immer noch findet man nepalesische Soldaten jetzt vor allem in den Reihen der UNO – Blauhelme. Ein Bürgerkrieg jedoch würde bedeuten Gorka – Truppen gegen Gorka – Truppen und wehe der fremden Macht, die es wagen würde, hier mitzumischen. Sie würde genauso scheitern wie die Amerikaner in Vietnam oder die Russen in Afghanistan.
Unser pensionierter Gorkha hat es jedenfalls geschafft, ein gemütliches Teehaus einzurichten, ausgestattet mit einem vorzüglichen Koch und einem aus einem alten Oelfaß konstruierten Kanonenofen, der den Aufenthaltsraum beinahe in eine Sauna verwandelt. Wir sind froh darüber, denn der Abend bringt bereits wieder recht unangenehme Temperaturen mit sich. Die Sonnenstrahlen vermögen es, noch ein letztes Mal durch die bereits dicht aufgezogenen Gewitterwolken zu dringen, und das unter uns liegende Tal in ein seltsam gelbes Licht zu tauchen. Wie langweilig ist dagegen doch ein strahlend blauer Himmel! Kurze Zeit später schüttet es Regen, Hagel und Schnee zur gleichen Zeit vom Himmel und der erste Blitzschlag legt sogleich die Stromversorgung lahm. Tant mieux, würde man in Frankreich sagen, denn jetzt findet das Abendmal in Form eines vorzüglichen Dhaal Bhaat bei romantischem Kerzenlicht statt, während die am Himmel zuckenden Blitze die Gaststube in sporadischen Abständen hell erleuchten.
Der eigentliche Grund, warum Gorepani überhaupt existiert, ist wohl der 3193 m hohe Poon Hill, ein Aussichtsberg par excellence! Vor dem Frühstück noch stürmen wir gepäckfrei den Berg hoch, ziehen im Sauseschritt an den vor 2 Stunden mit ihren Stirnlampen aufgebrochenen Gelegenheitswanderern vorbei, und nach 25 Minuten befinden wir uns bereits auf der Anhöhe, vermutlich vorläufiger Saisonrekord! Jetzt kann das Spektakel beginnen und in der beißend kalten Morgenluft genießen wir den sagenhaften Sonnenaufgang über einem der großartigsten Bergpanoramen der Welt! Hier stehen sie vor uns: links der Daulaghiri von seiner Schokoladenseite, Nilghiri, Annapurna Süd (7219 m), Hiunchuli (6441 m) und der großartige Machapuchare (6993 m) direkt vor uns, um nur einige zu benennen. Der Machapuchare, der übrigens in der Hitliste der formschönsten Berge der Welt Platz zwei hinter dem Alpamayo der peruanischen Cordillera Blanca einnimmt, präsentiert hier seine weltbekannte Fischschwanzflosse (Fishtail), wie sie etliche Kalenderblätter und Bergsteigerstuben in aller Welt ziert. Bevor die Sturmflut von Fototouristen richtig einsetzt, sind wir schon wieder im Abstieg, und genießen das Frühstück zusammen mit einem Finnen, den wir oben auf dem Berg angetroffen haben und der ebenfalls in unserem Hotel die Nacht verbracht hat.
Unser erstes Wegstück führt uns erneut auf eine Paßhöhe, von wo aus die Aussicht auf unsere Eisgipfel mindestens so großartig ist, wie vom Poon Hill aus, nur nicht so bekannt und überlaufen. Auch hier sind wir von dichten Rhododendronwäldern umgeben, die allerdings noch nicht in der Blüte stehen, ein gutes Exempel, wie sich mit zunehmender Höhe die Blütezeit der Flora verschiebt. Schließlich geht es hinunter in eine enge, schattige Schlucht, die bald von Bäumen, bald von aufgeschichteten Felswänden gesäumt wird. Mitten im Wald gelangen wir an ein abgelegenes Teehaus, wo wir die Zeit mit koketten Witzeleien mit der schönen Wirtin vertreiben. Weiter geht es schließlich durch dschungelartigen Rhododendronwald, der sich hier dann auch wieder in voller Blüte befindet. Die Bäume sind stark vermoost und von hohen Farnen umgeben. Eine Horde langschwänziger Languren flieht kreischend ins Unterholz, als wir unvermittelt vor ihnen auftauchen. Sie haben an einer verlassenen Behausung wohl eine Futterquelle entdeckt. Ständig begleitet uns exotisches Vogelgepfeife und – gezwitscher, und ich würde mich nicht wundern, würde sich plötzlich Tarzan an einer der zahlreichen Lianen an uns vorbeischwingen. Die Mittagspause bringen wir in einer Lodge zu, von der aus wir eine einmalige Aussicht auf den Machapuchare haben. Dieser Berg gilt den Nepali als heilig und ist für jegliche Besteigung gesperrt, und sein Gipfel ist auch offiziell nie von Menschen erreicht worden Sein besonderes Merkmal ist die zweigipfelige Spitze, die an die Hinterflosse eines Fisches erinnert, daher rührt auch der Beiname Fishtail. Der wesentlich weniger spektakuläre Hiunchuli hat sich derzeit in Wolken gehüllt. Aber gerade auf das Wohlwollen dieses Berges sollen wir später, auf dem Weg zum Annapurna – Basecamp, besonders angewiesen sein. Seine gefürchteten Eislawinen haben schon manchen Trekker in den Tod gerissen. Auch jetzt sind uns wieder Gerüchte über einen schweren Unglücksfall ans Ohr gedrungen, wobei die Geschichten über das Wie und genaue Wo noch variieren, später soll es sich aber als eine schreckliche Wahrheit herausstellen, daß drei junge Wanderer aus Bayern mitsamt ihrem Führer auf dem Weg zum Basislager ihr Leben lassen mußten. Daß diese Route gerade im Frühjahr besonders lawinengefährdet ist, war mir im Vorfeld schon bekannt, und ich bin mit Shankar übereingekommen, daß wir trotzdem den Weg dorthin einschlagen werden, uns jedoch unterwegs sorgsam über die derzeitigen Verhältnisse erkundigen wollen, und wenn das Risiko zu groß sein sollte, bereit sind, das ganze Unternehmen notfalls abzublasen. Bei unserer Rast stelle ich fest, daß ich meine Landkarte „Annapurna – Basecamp“ bei der schönen Wirtin unten in der Waldlodge liegengelassen habe. Scheiße, 35 deutsche Eier beim Teufel, aber Verluste sind auf längeren Bergfahrten normal und bald beruhige ich mich wieder, als ich an das tragische Schicksal der verunfallten Gruppe denke, oder auch die selbst heil überstandenen Gefahren an den beiden Erdrutschpassagen und den kritischen Altschneefeldern am Thorong La.
Für uns geht es nun weiter steil bergab, an terrassierten Haferfeldern, ländlichen Gehöften und lieblichen Teehäusern vorbei, bis in den Talgrund des Nebenflusses des Modi Khola, der hier auch in Denselben mündet. Nach Überqueren einer alten Hängebrücke geht es nun steil nach oben, wo wir das traumhaft gelegene Bergdorf Chomrong (2170 m) erreichen. Diesen Ort kann man wohl als Eingangstor zur Basislagerroute bezeichnen. Letztere folgt im Wesentlichen dem Lauf des Modi Kola aufwärts. Blicken wir von unserer wunderschön im höchsten Teil des Dorfes gelegenen Lodge aus zurück nach Süden, so können wir, an die Hänge des linksseitigen Flußufers geschmiegt, die Ortschaft Landruk erkennen, durch welche unser vorraussichtlicher Weiterweg führen soll, wenn wir vom Basislager zurückkehren und sich unsere Trekkingtage dem Ende neigen werden. Das sensationelle Panorama, das sich normalerweise von unserem Hotel aus in Richtung Norden bietet, wird von der Südannapurna (7219 m) direkt vor uns, und weiter rechts vom sagenhaften Eisturm des Machapuchare dominiert, während der Gandharba Chuli (6248 m ) etwas mehr in den Hintergrund gerückt bleibt. Leider türmen sich in dieser Richtung momentan auch dichte Wolken auf, es sieht zunächst stark nach Regen aus, zu unserer Freude macht es dann doch noch auf und wir kommen in den Genuß eines atemberaubenden Anblicks.
Da wir auf unserem Rückweg vom Basislager vorraussichtlich wieder in Chomrong verweilen werden, kommen wir mit unserem Teehauswirt darüber ein, einen Teil unseres Gepäck hier zurückzulassen, um somit bequem und schnell aufsteigen zu können.
Der nächste Morgen präsentiert sich uns heiter bis wolkig, und unser Weg führt zunächst über unzählige steile Treppenstufen abwärts, wo wir über einer alte Brücke einen Bach queren, um dann gleich wieder steil bergan zu gehen. Mit den „abgespeckten“ Rucksäcken kommen wir zügig voran, ohne uns dabei „auszupumpen“. In Sinuwa (2340 m) halten wir ein zu einer Teepause, während der bereits nähergerückte Machapuchare für uns sein würdevolles Antlitz enthüllt. Schließlich geht es weiter, im stetigen Auf und Ab, durch moosbehangene Rhododendronwälder. Der Ort Bamboo (2335 m) hat bereits alle Attribute eines gottverlorenen Urwaldnests. Der Rhododendron toleriert zwischenzeitlich auch wieder andere Baumarten neben sich, und so bewegen wir uns bald in einem üppig – grünen, dschungelartigen Mischwald, im Übrigen das gedeihlichste und ausgedehnteste Waldgebiet, das wir auf unserem bisherigen Weg angetroffen haben. Aufgrund des dichten Buschwerks ist der Modhi Khola unter uns nicht allzu oft zu sehen. Schade, denn wenn sich uns wieder einmal ein kleiner Lichtblick auftut, so beeindrucken uns stets die wilden Kapriolen, die der tosende Fluß unter uns schlägt. Hin und wieder ergießen sich Wasserfälle über steile Abhänge in sein unruhiges Bett und vor Doban (2505 m) erhebt sich über uns eine enorme Klippe. Wenig später passieren wir einen kleinen Hinduschrein. Das Läuten des Glöckchens soll in ähnlicher Weise tugendhaft und glücksbringend sein ,wie das Drehen einer buddhistischen Gebetsmühle. Da, wie bereits erwähnt, unser Weg zur jetzigen Jahreszeit nicht ganz ungefährlich ist, kann ein wenig Glück durch göttliche Gunst nicht schaden, und so läuten wir denn im Vorbeigehen artig das Glöcklein.
Unser Schluchtpfad führt weiter über steile Treppenstufen hauptsächlich bergauf, und schon bald überragen uns monströse, aalglatte Granitfelswände, die von Wasserfällen überspült werden, ein wahrhaft eindrucksvolles Schauspiel! Hier lassen wir auch die Üppigkeit des Regenwaldes hinter uns, und es müssen immer wieder Erdrutsch – und Lawinenschneisen überwunden werden, die uns stets daran erinnern, wie zerstörerisch und unbarmherzig die natürlichen Gewalten hier gelegentlich zuschlagen. Zu unserer Rechten können wir dem Modhi Khola wieder zuschauen, wie er seine quirlenden Wasser durch ausgespülte Pools brausen läßt, oder wild durch eine Klamm schießt. Der im Vergleich zur Monsunzeit relativ niedrige Wasserstand läßt glattgeschliffene Felsbrocken wie Inseln zwischen den tobenden Wassermassen herausragen. Beim geographischen Punkt Hinku Cave (3100 m) handelt es sich um einen riesigen Felsen, der eine Art Dach bildet, wo sich ein Schlupfwinkel bietet, der einer kleinen Grotte gleicht. Hier soll einst eine Lodge gestanden haben, die von einer Lawine hinweggefegt und, da mitten in einer lawinenträchtigen Zone gelegen, dann auch nicht mehr aufgebaut wurde. Auf unserem Weiterweg zum Etappenziel Deurali (3230 m) nähern wir uns buchstäblich den Wolken, und es setzt leichter Regen ein. Die von Nebelschwaden umwabbelte Ortschaft und ihre Umgebung wirken beinahe schon etwas unheimlich. Nur wenige hundert Meter vor dem Dorfeingang passieren wir einen enormen Lawinenkegel, den größten, den ich bisher gesehen habe. Wenn dieser durch den Ort gefegt wäre, dann hätte er ganz sicher sämtliche Gebäude wie Kartenhäuser umgepustet. Beim Toilettengang zur nachtschlafenen Zeit hinaus in die Kälte wölbt sich ein klarer Sternenhimmel über den Dächern des totenstillen Bergnests, ich kann mich also wieder optimistisch zur Nachtruhe begeben.
Um 7 Uhr 15 ist es dann so weit, wir nehmen den Marsch hinauf zum Basislager unter die Sohlen. Frühmorgens ist es noch kalt und die Lawinengefahr bleibt somit auf ein Minimum reduziert. Grundsätzlich wird empfohlen, die lawinengefährdete Zone, die sich in etwa hinter Bamboo bis hinauf zum MTB (Machapuchare Base Camp) erstreckt, in den frühen Morgenstunden zu begehen. An einem sonnigen Tag sollte man dann die Etappe so gegen 11 Uhr beschlossen haben, denn dann beginnt der Schnee oben auf den Flanken des Hiunchuli durch die ständige Sonneneinstrahlung gefährlich weich zu werden. Eine andere Situation stellt sich bei einem Wettersturz mit großen Neuschneemengen, dann herrscht Tag und Nacht Lawinengefahr, und man sitzt unter Umständen tagelang fest. Die Gefahrenlage bei Neuschnee ändert sich normalerweise erst wieder, wenn die Schneedecke schon zwei bis drei Tage alt ist und zwischendurch kalte Temperaturen geherrscht haben. Bleibt es warm, so bleibt auch die Lawinengefahr. Ein weiteres Manko ist sicher, daß es hier in Nepal keinen Lawinenwarndienst gibt, und man auf die herkömmlichen Formeln der Lawinenkunde zurückgreifen muß. Auch bietet sich keine Möglichkeit, sich durch einen Einschnitt der Schneedecke, wie es z. B. Tourenskifahrer und Höhenbergsteiger praktizieren, ein Bild von deren derzeitigen Zusammensetzung zu machen, was ohnehin sehr viel Erfahrung und Fachwissen erfordert. Wie bereits erwähnt, führt der Weg durch eine durch hohe Felsklippen eingemauerte Schlucht, die Abgänge kommen von sehr weit oben, und schießen dann abrupt über die Klippe. Von den vier Verunglückten kamen drei durch die Druckwelle ums Leben, nur der Vierte, der Führer, wurde von den Schneemassen erfaßt und sein Leichnam bis zur Stunde noch nicht gefunden. Dieser Stand der Dinge wurde uns durch unseren Hüttenwirt in Deurali zuteil. Er muß es eigentlich wissen, denn kurz nach Verlassen des Dorfes wird der Weg hinunter zum Fluß umgeleitet, den Normalweg sehen wir unter einem mit Erdmassen durchsetzten Lawinenfeld begraben. Die Umleitung geschieht wohl aus Pietätsgründen, denn wir haben gestern Lawinenfelder größeren Ausmaßes passiert und es werden heute noch weitere folgen. Ich habe seit gestern übrigens Divergenzen mit Shankar über unser weiteres Vorgehen. Er wollte mich gestern noch dazu überreden, bis zum MTB weiterzugehen. Ich mußte leider feststellen, daß er überhaupt keinen blassen Schimmer von Lawinenkunde hat, er ist sogar der Meinung, daß es uns möglich wäre, bedingt durch unser leichtes Gepäck, einer herandonnernden Lawine auszuweichen. Jetzt fängt er wieder damit an: „As you see, no danger!“. Na klar, du Schlaukopf, von unserer Position, eingeschlossen in eine enge Schlucht, kann man die oben lagernden Schneemassen auch nicht ausmachen, geschweige denn einen nahenden Abgang kommen sehen. In einem solchen Fall würde man wohl nur donnernde Geräusche hören bis die Lawine schließlich über die Felsklippen in die Schlucht hineinschießen würde, und dann steht man eben gerade richtig und hat Glück, oder man hat Pech und befindet sich im mortalen Bereich. So wären wir also laut Shankars Plan gestern noch während des Nachmittags in die Mulde des Annapurna Basecamps hineingestiegen, hätten dieses heute besucht und wären anschließend bis nach Deurali zurückmarschiert, das wir dann heute wiederum im Laufe des fortgeschrittenen Nachmittags erreicht hätten. Den Grund für diesen Plan habe ich ohnehin längst durchschaut. Es geht ihm jediglich um die höheren Essenspreise in den hochgelegenen Quartieren, die ja auf seine Rechnung gehen. Ich mache ihm nun ein für allemal klar, daß wir nach meinem Plan vorgehen werden, und daß ich nicht die geringste Lust habe, wegen höherer Daal -Bhaat – Preise hier oben ins Gras zu beißen, zumal ich auch bereit bin, eventuelle Mehrkosten zu reembursieren.
Schließlich gelangen wir wohlbehalten hinaus aus der Schlucht, und biegen nun nach Westen ein, wo wir bald schon die Teehaussiedlung des Machapuchare Base Camp (3700 m) erreichen. Ich störe mich etwas an der Bezeichnung Basislager im Zusammenhang mit dem Machapuchare. Er ist, wie gesagt, ein unbestiegener und ein verbotener Berg, folglich kann es auch kein Basislager geben. Die derartige Benennung dieses Hochquartiers ist wohl reine Wichtigtuerei, bzw. ein Lockmittel, um den Touristen die Übernachtung hier, und nicht etwa weiter oben, im Annapurna – Basislager, schmackhaft zu machen. Wir jedenfalls werden uns hier aus taktisch - logistischen Gründen einquartieren, um von hier aus, vollends gepäckbefreit, die restlichen Höhenmeter hinauf zum Annapurna – Base - Camp zurückzulegen. Da mir der im Talboden verlaufende Sommerweg wegen eventueller Lawinengefahr nicht sicher erscheint, setzen wir unseren Weg auf etwa Dreiviertelshöhe des langgestreckten Moränenwalls fort, der genau auf das Basislager zuführt. Unterwegs steige ich kurz hinauf zum Moränengrat, wo sich mir eine von ein paar gefrorenen Seen durchsetzte wüste Erdrutscheinöde präsentiert. Bereits auf unserem Weg haben wir eine tolle Aussicht auf die berüchtigte Südwand der Annapurna, hinter uns thronen Machapuchare und Gandharba Chuli. Letzterer imponiert besonders mit seiner in der strahlenden Sonne glitzernden Schnee – und Gletscherdecke. Von Weitem erkennen wir jetzt die verschneiten Berghütten des Annapurna – Basislagers, dahinter prägt die gewaltige Südwand der Annapurna I (8091 m) die Szenerie. Bis jetzt hat sich der Protagonist unserer Annapurna – Wanderung vor unseren bewundernden Augen versteckt, um nun, fast am Ende unserer großartigen Wanderung, Demut einflößend seinen großen Auftritt zu absolvieren. Und wie am Ende einer großartigen Theateraufführung präsentieren sich hier, in der Arena des Base – Camps, abermals etliche der bedeutendsten Gipfel dieses Massives der Superlative, in einem imponierenden Reigen dem faszinierten Zuschauer. Fang (7647 m) und Annapurna South (7219 m) erheben sich links der Annapurna I, drehen wir uns noch etwas weiter in diese Richtung, so sehen wir den Hiunchuli (6441 m), hinter uns dann im gleißenden Gegenlicht, jetzt ohne Fischflosse, der heilige Machapuchare (6993 m), daneben Gandharba Chuli (6248 m), dessen von hier aus gut einsehbarer Eisbruch in besonderer Weise beeindruckt. Weiter nach hinten versetzt, nun aus einer völlig anderen Perspektive, als wir sie vom Marsianghdi Khola Tal her kennen, erscheinen uns noch einmal Annapurna III (7555 m), sowie die Gangapurna (7454 m), die sich wie eine Nadel in den blauen Himmel emporreckt. Über die Benennung des Gipfels, der sich zu unserer Rechten auftürmt, bleibe ich mit Shankar uneins. Während er steif und fest behauptet, es sei der Fluted Peak (6501 m), bin ich mir eigentlich recht sicher, daß es sich um den Tent Peak (5663 m) handelt, da der Fluted Peak laut Karte viel weiter zurückversetzt und somit von hier aus nicht sichtbar ist. Daß ich mich jetzt und hier inmitten eines der faszinierendsten Bergpanoramen, die ein Nur - Wanderer auf dieser Erde erreichen kann, befinde, braucht mir kein Mensch und kein Buch mehr zu bestätigen. Wegen der viel größeren Nähe zu den Gipfeln, und wegen des erregenden Eindrucks, von diesen buchstäblich eingeschlossen zu sein, übertrifft meiner Meinung nach dieser Platz das Panorama von Poon Hill.
Es ist gerade mal 10 Uhr, als wir den Rückmarsch ins MBC antreten. Noch immer zeigt sich der Himmel über uns im strahlenden Blau. Gegen 11 verzehren wir unser Daal Bhaat, und als ich danach vor die Hüttentür trete, sind bereits die ersten Wolken aufgezogen. Die generellen Empfehlungen in der einschlägigen Literatur, die Besichtigung des Basecamps in den frühen Morgenstunden vorzunehmen, scheinen somit berechtigt. Da ich mich , wie gesagt, weigere, nach 11 Uhr noch in die Schlucht hinunterzusteigen, verbringen wir nun einen faulen Nachmittag. Die Siesta kurz nach dem Mittagessen wir d immer wieder durch eiskalte Zugluft gestört, da ständig jemand die Tür offen läßt. Unsere Lodge ist übrigens sehr gut besucht, und ich muß meinen Schlafraum mit einem Norweger teilen. Der Abstieg einer größeren Wandergruppe am fortgeschrittenen Nachmittag löst übrigens nicht nur bei mir Kopfschütteln aus. Der Abend am kerosinbeheizten Gemeinschaftstisch in einer internationalen Runde gestaltet sich unterhaltsam, während draußen sich zwischenzeitlich ein zäher Nebel etabliert hat, in dem immer wieder kleinere Graupelschauer niedergehen. Als es schon dunkelt, taucht dann mein Zimmergenosse, den ich bislang noch nicht gesehen habe, im Gastraum auf. Triefend naß, die Stirnlampe noch auf dem Kopf, Vollbart und langes, goldblondes Haar: so steht er da, der nordische Hüne, und grüßt mit sanftem, bedächtigem Ton und ich glaube zunächst, der Erzengel Cherubim sei uns soeben erschienen. Nachts wird es dann nochmal so richtig schweinekalt, und mein Zimmergenosse, dessen Schlafsack den gegebenen Verhältnissen offensichtlich nicht standhält, steht mitten in der Nacht auf, um sich im Gastraum ein paar Decken zu besorgen.
Um 6 Uhr 15 machen wir uns bereits auf die Socken und erscheinen um 8 Uhr 15 in Deurali zum Frühstück. Der dortige Herbergswirt hat sich indes eine schwere Erkältung mit Fieber und Gliederschmerzen zugezogen und führt nun das Regime mit dröhnender Stimme vom Krankenlager aus. Man braucht kein Nepali zu verstehen, um mitzubekommen, wie seine Knechte förmlich vor ihm zittern.
In der Schlucht passieren wir etwa 12 bis 15 Lawinenfelder, es sind allerdings seit unserem Aufstieg keine neuen hinzugekommen. Da der Schnee jetzt noch harschig ist, kommen wir sehr gut voran und bald passieren wir abermals die denkwürdige Unglücksstelle, wo der Umweg über zwei liederliche Behelfsbrücken führt. Bald schon befinden wir uns wieder in der immergrünen Waldzone, wo mir schließlich ein sonnenbebrillter junger Mann entgegenkommt, der mich offensichtlich kennt und mit dem Ausspruch überrascht: „Schau an, der Singener!“ Erst nach einigen Momenten schaltet´s bei mir: Wir waren ihm in den ersten Tagen unseres Trekkings mehrfach begegnet, es kommt aus Sindelfingen und war mit der sechsköpfigen deutschen Gruppe unterwegs, die sich über´s Internet zusammengefunden hatte. Die Gruppe ist zwischenzeitlich auf drei Personen zusammengeschrumpft, und ausgerechnet die junge Frau, die bei den ersten kräftigeren Aufstiegen bei Bahundanda stets außer Atem und mit hochrotem Kopf an den Pausenplätze erschienen war, ist immer noch mit von der Partie und schickt sich nun an, ebenfalls noch den Marsch hinauf zum Annapurna – Basislager zu absolvieren. Den Thorong La hat die gesamte Gruppe zuvor gemeinsam erfolgreich gemeistert. Der Sindelfinger will sich übrigens nach der Tour für mehrere Wochen zur Meditation in ein buddhistisches Kloster zurückziehen, die fehlenden drei haben ihre Tour auf die Annapurna – Umrundung beschränkt, und sind bereits wieder auf dem Rückweg nach Deutschland. Wenig später wird uns abermals ein Treffen mit einem alten Bekannten zuteil: der Engländer aus unserer Lodge in Chomrong. Nach eigenem Bekunden war er Lehrer, und sah sich irgendwann an dem Punkt, wo er sich selber fragte: Irrenhaus oder Flugticket nach Indien? Und so treibt er sich schon seit anderthalb Jahren auf dem indischen Subkontinent herum. Jetzt sitzt er mit seiner Stafette mitten im Wald und malt. Sein extravertiertes Wesen, mit einem kleinen Schuß Crazyness versetzt, machen ihn zu einem sympathischen Zeitgenossen. Er ist kein großer Wandersmann, lange Etappen würde er gar nicht packen, aber er hat jede Menge Zeit, die er eben derart verbringt, malend, den Kontakt zu anderen Leuten suchend, und sich mindestens einmal am Tag den Rauch eines gewissen Pflänzleins gönnend. Diese Flucht ist wohl der Irrenanstalt vorzuziehen, aber sicherlich keine dauerhafte Lösung. Egal, vielleicht fällt ihm ja noch eine ein!
Nach dem Ort Bamboo häufen sich wieder die Gegenanstiege und die nicht enden wollenden Stufen hinauf nach Chomrong und zu unserer Lodge „Panorama Point“ geraten schließlich zu einer Passion auf der Via Dolorosa. Bereits um 12 Uhr 45 treffen wir dort ein, und haben somit den gesamten Weg vom MBC aus bis hierher in einer Etappe zurückgelegt und nach diesem wunderschönen Frühlingsmorgen, an dem wir aus der kalten Schneeregion in herrlicher Abwechslung zurück in die Subtropen gekehrt sind, ziehen jetzt wieder die ersten Wolken auf, nachmittags ist es dann stark bewölkt und diesig. Zwei Engländerinnen treffen noch ein, wobei einer ihrer Träger das Kleinkind einer der beiden Frauen im landesüblichen Tragekorb mit Stirnriemen durch die nepalesische Berglandschaft trägt.
Nach einer endlich wieder milden Nacht ist es um 7 Uhr 45 beim Frühstück bereits bewölkt. Im Teehausweiler Jhinu Danda (1780 m) lassen wir unser Gepäck in einer Lodge zurück, um bequem zu den dortigen heißen Quellen am Ufer des Modhi Khola hinunterzusteigen. Der Pfad führt uns durch urwüchsigen Tropenwald und das Pfeifen exotischer Vögel wird im Laufe unseres Abstiegs immer mehr überdeckt durch das Tosen des Flusses, der wild zwischen riesigen Felsbrocken hindurchprescht. Bei 35 Grad Badewannentemperatur genießen wir schließlich die wilde Ursprünglichkeit der Umgebung. Wir haben das Badebecken und die verzaubernde Umgebung zunächst für uns alleine, bis sich schließlich noch ein amerikanisches Pärchen hinzugesellt. Als wir von unserem Badeausflug zurückkehren, hat man in der Lodge bereits das Daal Bhaat für uns zubereitet, und es gibt zu meinem Entzücken wieder frischen Pfefferminztee. Die exponierte Lage von Jhinu Danda gewährt uns eine herrliche Aussicht in die beiden Flußtäler des Modi Khola und des Kyumnu Khola, die weit unter uns aufeinandertreffen. Reich bepflanzte Terrassenfelder schmiegen sich an die umliegenden Hänge, auf deren Rücken sich zahlreiche, teils sehr abgelegene Behausungen verteilen. Ein Leben dort oben kann nur ein ewiges Auf und Ab zu Fuß bedeuten, meist mit Agrarprodukten oder Werkzeugen schwer beladen, wobei die Früchte der Arbeit für die dort lebenden Menschen sehr dürftig ausfallen. Die Fernsicht zu den Eisgipfeln, wo jetzt die Annapurna Süd dominiert, ist heute aufgrund der Bewölkung eher bescheiden. Unterwegs treffen wir Frauen mit Kopftüchern und goldenen Ringen in Nase und Ohren, die hinduistisch geprägte Seite Nepals tritt hier wieder stärker zutage. Zwischen Haferterrassen und durch Regenwald hindurch gelangen wir schließlich hinunter zum Fluß, den wir auf einer Brücke queren, um schließlich auf der anderen Uferseite wieder empor zu klimmen. Das uns umgebende subtropische Bergland ist stark bewaldet und durch Klammen zerklüftet, bald säumen Bananenbäume unseren Weg und elektrische Strommasten begleiten uns hinauf zu unserem Etappenziel Landruk (1565 m). Laut Shankar war dieses Tal vergangenes Jahr noch nicht elektrifiziert. Die Ortschaft indes präsentiert sich mir als ein sehr originelles, in seinen Traditionen verbliebenes Bergdorf, in dem der Broterwerb durch Landwirtschaft vor dem durch den Tourismus rangiert. Wir nehmen Quartier in einer Lodge, die von einer hinduistischen Brahmanenfamilie geführt wird. Vom auffälligen, pagodenförmigen Turm aus läßt sich vorzüglich das Dorfleben beobachten. Die schönen, traditionellen Häuser sind entweder mit Schiefer oder mit Stroh gedeckt, ich sehe viele Stallungen, in denen hauptsächlich Büffel untergebracht sind, Mais wird auf Bambusstangen gelagert, und viel Brennholz gehortet. Im Hof gegenüber beobachte ich einen alten Mann, der sich dort, nur im Sarong bekleidet, wäscht. Ich soll ihm später, geschniegelt und in Schale geworfen, im Dorf bei einem Plausch mit Nachbarn wiederbegegnen. Mehrere Frauen sind mit der Wäsche beschäftigt, eine düngt das Feld, indem sie einen Korb mit Mist füllt und diesen auf diese Art in gleichmäßigen kleinen Haufen über dem Feld verteilt. Die Büffel dienen in der nepalesischen Landwirtschaft übrigens ausschließlich dazu, für guten Dung zu sorgen. Mein Blick schweift wieder mehr in die Ferne, wo sich nach Norden und nach Süden das enge Tal des Modi Khola erstreckt. Am gegenüberliegenden Ufer, ganz oben auf einem Berg, liegt malerisch Ghandruk, wo sich übrigens das ACAP – Hauptquartier befindet. Gegen halb vier setzt Regen ein, was einen kleinen Jungen vor einer über uns gelegenen Behausung nicht vom Holzhacken abhält. Ich bewundere seine Behändheit, wo ich als Stadtmensch beim Ausführen einer solchen Tätigkeit doch ziemlich deppert dastehen würde. Auch die Frauen lassen sich nicht von ihrem Tagwerk abhalten: wie wandelnde Büsche kommen sie, über und über mit Viehfutter beladen, den Berg hinunter. Zum Abendessen gibt es im Speiseraum einen Videofilm, sozusagen ein nepalesischer Heimatfilm, der in einem Gurung – Dorf spielt. Der Film läuft auf Gurung - Dialekt mit nepalesischen Untertiteln, und nur auf diese Weise verstehen die Gastgeber und die anwesenden Führer - alle sind Nicht –Gurung - die Handlung. Obwohl, wie gesagt, die Anzahl der Hindu in diesem Gebiet, bedingt durch Zuzug, vergleichsweise größer ist, als in den Dörfern der höheren Lagen, befinden wir uns hier in einer traditionellen Gurung – Region, wobei jene dann auch immer noch die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Nachts belle ich mit den Dorfhunden um die Wette, ein Relikt von der Thorong – La – Überquerung, wo ich mir in jener arktischen Nacht in der zugigen Paßhütte eine Erkältung zugezogen habe, mit der ich immer noch laboriere.
Nach einem deliziösen Sonnenaufgang über der Südannapurna und dem Hiunchuli machen wir uns auf den Weg zu unseren vorletzten Etappe, wobei wir mehrere Dörfer im Stile von Landruk durchwandern. Wir verlassen nun das Tal des Modi Khola, indem wir einen weiteren Paß überwinden, der letzte auf unserer Tour. Hinter der Paßhöhe kann man bei klarem Wetter bis nach Pokhara hinuntersehen, uns bleibt diese Aussicht aufgrund der heute recht trüben Atmosphäre aber leider verwehrt, und am Himmel zeichnet sich bereits ein drohendes Unwetter ab. Als wir um 10 Uhr 15 die Ortschaft Pothana (1900 m) erreichen, ist der Himmel über uns bereits rabenschwarz und kaum haben wir unter dem sicheren Dach einer Lodge Einkehr gehalten, da bricht auch schon die Sintflut über uns herein. Selten habe ich ein Unwetter von solch biblischem Ausmaß erlebt. Ein Gemisch aus Regen und Hagel prasselt vom Himmel herab, daß es einem Angst und Bange werden könnte. Gegen 11 Uhr können wir dann gottlob unseren Weg wieder fortsetzen. Nichtsdestotrotz hat das Unwetter der jetzt nassen Erde einen herrlich frischen Geruch entlockt, der uns nun wie das Aroma eines frischen Kaffees in die Nasen steigt und die Sinne betört. Shankar erklärt mir, daß wir uns hier in der regenreichsten Zone Nepals befinden, was wohl auch das üppige Vorkommen riesiger Farne am Wegesrand erklärt. Unter uns öffnet sich das Tal weitflächig in Richtung Pokhara, ein Anblick, den wir nach wochenlangen Märschen durch enge Schluchten gar nicht mehr gewohnt sind. Dieses Tal hat auch wesentlich weichere Konturen, die Hänge mit ihren reich bepflanzten Terrassen fallen hier sanfter ab und die umrahmenden Vorberge haben gleichfalls an Höhe verloren. Nach einem halbstündigen Marsch erreichen wir schließlich Dhampus (1650 m), wo wir die letzte Nacht auf unserer Trekkingtour verbringen werden. Erneut setzen gewittrige Regenschauer ein, und während die Temperatur zunächst noch recht angenehm bleibt, beginnen wir gegen Abend doch wieder zu frösteln. Wegen Strommangels nehmen wir unser letztes Daal Bhaat auf unserer Tour bei Kerzenschein in der gemütlichen Gaststube zu uns. Damphus hat indes wieder Straßenanschluß, wenngleich es sich nur um eine holprige, kaum befahrene Piste handelt, die laut Shankar im vergangenen Jahr noch nicht existiert hat. So wird dann das knatternde Moped, das sich auf dieser soeben nach oben quält, das erste Motorfahrzeug, dem wir seit dem Traktor und den Buschflugzeugen von Jommossom, wieder begegnen.
Als ich mich um 6 Uhr 30 zum Frühstück begebe, erkenne ich, trotz Bewölkung, Südannapurna, im Hintergrund Annapurna I und Hiunchuli. Doch vor allem dominiert der Machapuchare, dessen Fishtail von hier aus gesehen zwei sich im oberen Bereich kreuzenden Gipfeln gleicht, und mich somit an meine Trekkingtour durch die Pyrenäen im vergangenen Jahr erinnert, wo sich mir der Pic du Midi in der selben Form präsentierte. Beim Frühstück spazieren schnatternde Hühner zwischen unseren Füßen herum, was einem bei einem Aufenthalt im ländlichen Nepal nicht weiter stören sollte. Im Übrigen habe ich während meines gesamten Nepalaufenthalts nicht einmal den Anflug von Durchfall oder Magenverstimmung verspürt. Mein Tip: Daal Bhaat oder andere, gut durchkochte, landestypische Speisen, sowie das Trinkwasser, welches ich stets nach Belieben aus jedem Wasserhahn oder Bach abgefüllt habe, wenn es sein mußte, sogar vom Wasserschlauch in der Toilette, mit Entkeimungstabletten behandeln. Aber sicherlich gehört auch immer etwas Glück dazu, um vor derartigen Erkrankungen verschon zu bleiben. Dieses Glück wurde mir auf manch anderer Reise, trotz Vorsichtsmaßnahmen, nicht immer zuteil.
Unser Abstieg führt uns dann durch eine liebliche, sonnenbeschienene Landschaft, und weit unter uns können wir den Verlauf des Phokara – Baglung Highways verfolgen, über den wir heute noch die Stadt Pokhara erreichen werden. Weiter oben schlängelt sich dieser über die Hänge zu den im Westen liegenden Tälern, wo er dann auch irgendwann die Stadt Baglung erreichen wird. Hier verlief einst eine Trekking – Route, die mit dem Bau der Straße praktisch gestorben ist. Bald entschwinden die gigantischen Schneegipfel unserem Sichtfeld und wir erreichen bei Phedi (1130 m) die Straße, wo wir in einem der dort haltenden Busse Platz finden. Die Fahrzeuge meist indischer Herkunft sind reichlich geschmückt und bemalt und vor allem im Führerbereich mit religiösen Reliquien versehen, aber wahrhaft alte Schüttler. Trotzdem bringen sie einen meist sicher an den vorgesehenen Ort.
Wir befinden uns nun in einem breiten, fruchtbaren Tal, das von harmlosen Mittelgebirgshügeln eingerahmt ist, die einem Berg – Tal Verhältnis wie etwa dem im Hochschwarzwald oder in den Südvogesen entsprechen.
Wir verbringen schließlich zwei Tage in Pokhara, der neben Kathmandu wohl bekanntesten Stadt Nepals. Wer auf Kunstschätze und Kulturstudium aus ist, wird von Pokhara eher enttäuscht sein. Was die zweitgrößte Stadt Nepals dennoch sehenswert macht, sind vor allem die landschaftlichen Highlights in ihrer nächsten Umgebung, sowie die für eine Großstadt, noch dazu der Dritten Welt, außergewöhnliche Ruhe, besonders dann, wenn man vorher bereits Kathmandu kennengelernt hat. Da wir aus der Ruhe der Bergdörfer kommen, bedürfen wir dieser eigentlich weniger. Um so verlockender ist hier aber das kulinarische Angebot, das nach der zwar nahrhaften, aber nicht gerade abwechslungsreichen Kost in den Trekkinggebieten von vielen Wandertouristen mit Freudentränen in den Augen angenommen wird. Phokara liegt an einem malerischen See mit dem Namen Phewa Tal, und so ist es auch die sogenannte Lakeside, wo sich der touristische Rummel abspielt. Hier reiht sich ein Restaurant an´s andere und noch immer schallen uns, wie zu Zeiten, als die Hippies als erste westliche Touristen die Stadt in Beschlag genommen hatten, Jimmi Hendrix´ verschrobene Gitarre, und Jim Morrison´s Aufforderung, man möge ihm sein Feuer entzünden, aus den Lautsprecherboxen der CD – Shops, in denen selbstverständlich auch die aktuellen Renner als preisgünstige Raubkopien zu haben sind. Man kann sich mit dem Ruderboot auf ein Inselchen herausfahren lassen, wo sich ein kleiner Hinduschrein befindet, der oft zahlreiche Pilger, auch aus Indien, anzieht, oder aber sich ans andere Ufer bringen lassen, von wo aus man den kleinen Fußmarsch über einen schattigen Waldweg hinauf zur Friedenspagode antreten kann, wo sich einem abermals ein Panorama vom Feinsten bietet, die vom Daulaghiri über die bedeutendsten Gipfel des Annapurna – Massivs bis hinüber zum Manaslu reicht. Die Aussicht von hier oben übertrifft diejenige der sogenannten Damside an der Verjüngung des Sees, die in allen Reiseführern empfohlen und hochgelobt wird, zumal einem von der Friedenspagode aus zusätzlich noch der gesamten See und die Stadt sowie die Umgebung im Süden, wo eine verschlungene Straße hinunter ins Terai und zur indischen Grenze führt, als auch der Westen und natürlich das gesamte Tal von Pokhara zu Füßen liegen. Shankar und ich leihen uns Fahrräder und wir begeben uns auf Erkundungsfahrt durch die Stadt und deren näheren Umgebung. Auf diese Weise besuchen wir unter anderem die etwas enttäuschenden Devin Falls, danach eine Tropfsteinhöhle, wo ein Stalagmit, der als ein von Schlangen umschlungenes Phallus – Symbol erscheint, als Shiva - Heiligtum verehrt wird, dann das alte newarische Viertel Purano Bazaar, wo immer noch viele alte Ziegelhäuser zu sehen sind, wie man sie in Kathmandu, das ja newarisch geprägt ist, zuhauf antrifft. Am Bindyabasini Mandir, einem auf einem Hügel nördlich des altehrwürdigen Stadtviertels gelegenen Hindu – Heiligtum genieße ich die Ruhe und die mystische Atmosphäre, während sich die angenehmen Gerüche von Sandal und Jasmin der dargebrachten Räucherkerzen in der Luft ausbreiten. Von diesem Ort aus soll der Großbrand vom Jahre 1949, verursacht durch ein wohl zu üppig geratenes Brandopfer, ausgegangen sein, welcher die Ursache dafür ist, daß es heutzutage in Pokhara so wenig Altes zu sehen gibt. Auf dem Rückweg halten wir noch Einhalt in einer eingezäunten Parkanlage, wo der Seti Khola eine tiefe Klamm gegraben hat. Er macht seinem Namen „weißer Fluß“ alle Ehre, sein helles, klares Wasser wird am Besichtigungsort zum Teil in künstliche Kanäle geleitet. Da sich die Sehenswürdigkeit im Stadtgebiet befindet, ist sie leider arg vermüllt.
Als ich am folgenden Morgen einen Abschlußspaziergang durch die noch schlafende Lakeside mache, toben noch die Bandenkriege der Straßenhunde in den Gassen. Sogar eine der etlichen, sich im Stadtgebiet herumtreibenden heiligen Kühe wird Opfer einer Treibjagd. Gestern habe ich übrigens vom Balkon aus zugeschaut, wie eine Kuh in Seelenruhe einen auf der Straße herumliegenden alten Karton verspeiste. Um 7 Uhr fährt schließlich unser Bus los in Richtung Kathmandu. Während mir die Hinfahrt vor gut drei Wochen noch recht langweilig erschien, stellt sich nun alles ganz anders dar. Das hat verschiedene Ursachen: Statt auf der Bergseite, habe ich diesmal einen Sitzplatz zum Tal hin ergattert, das Wetter ist sonnig und klar und ich bin lange nicht so schläfrig, wie auf dem Hinweg. Ich muß somit meinen ersten Eindruck berichtigen, denn diese Wegstrecke ist unter guten Bedingungen, wie sie jetzt herrschen, wunderschön. Jetzt erst kann ich vom Busfenster aus in die faszinierenden Flußschluchten hinuntersehen, die zum Rafting geradezu einladen. Der Fensterplatz zur Talseite bei der kurvigen Strecke, wo sich oftmals direkt unterhalb der Busreifen der gähnende Abgrund auftut, kombiniert mit der landesüblichen Fahrweise, ist dennoch nichts für Sensibelchen. Unterwegs kaue ich Betelnuß, welche angeblich eine dem Kaffee vergleichbare, anregende Wirkung haben soll, ich verspüre jedoch keine Effekte.
Shankar ist es gelungen, mich davon zu überzeugen, die letzten beiden Nächte abermals im Hotel Kharma zu verbringen, diesmal verlange ich jedoch Treuerabatt, so daß der Zimmerpreis jetzt fast um die Hälfte billiger wird. Ich bin jetzt richtig neugierig auf Kathmandu, jene Stadt, deren Klang in westlichen Ohren oft erregende Assoziationen von der Mystik Südasiens weckt. Zunächst heißt es jedoch Abschied nehmen von Shankar, der mit der Ankunft in Kathmandu seinen Kontrakt erfüllt hat. Wir haben eine lange Zeit miteinander verbracht, in der wir doch einiges gemeinsam erlebt haben und er wird mir, trotz unseres kleinen Streits auf der Basecamp – Route und seiner gelegentlichen Schlitzohrigkeiten, als netter Kerl in Erinnerung bleiben, von dem ich doch so Manches an Information über Land und Leute mit nach Hause nehmen kann.
Mein erster Weg führt mich zur bekanntesten Sehenswürdigkeit Kathmandus, dem Durbar Square. Auch wer sich nur kurz in Kathmandu aufhält, sollte die Besichtigung des alten Königspalastes (durbar) keinesfalls versäumen. Außer dem Palastgebäude finden sich hier zahlreiche Tempel (mandir) und der Kumari Chowk, hinter dessen Mauern eine „lebendige“ Göttin wohnt, ein Mädchen im vorpubertären Alter, das als Reinkarnation der Hindugöttin Durga verehrt wird.
Überhaupt begegnet man in Kathmandu, anders als in Pokhara, auf Schritt und Tritt stummen Zeugen aus vergangener Zeit: wunderschöne, antike Hinduschreine, an denen vor allem die unzähligen kleinen Details von Interresse sind, und gelegentlich auch buddhistische Chorten finden sich an nahezu jeder größeren und kleineren Straßenkreuzung, alte Häuser die mit filigranen Holzschnitzarbeiten verziert sind, säumen enge, oft staubige Gassen. All diese Herrlichkeiten wecken in mir eine nostalgische Sehnsucht in die Zeit, als hier die ersten Hippies ankamen und Kathmandu noch nichts anderes als ein Großdorf war, ohne Verkehr, ohne Hektik, ohne Touristennepper und – schlepper. Gerade der furchtbare Verkehr ist es, der diese Stadt in der Zwischenzeit auf die Dauer unerträglich macht, woraus auch die manchmal fast zu Tränen reizende Luftverschmutzung resultiert und so mancher Einwohner trägt auf dem Weg zur Arbeit oder anläßlich von Besorgungsgängen eine Staubmaske oder ein Tuch vor dem Gesicht. Als Fußgänger ist man hier ständig in Gefahr, über den Haufen gefahren zu werden und das ständige Geknattere und Gehupe kann einem tierisch auf den Wecker gehen.
Am folgenden Tag mache ich mich frühmorgens auf den Weg zur Tempelanlage Swayambu, im Touristenjargon auch „Affentempel“ genannt, da es dort von rotzfrechen Makaken nur so wimmelt. Der auch von Hindus besuchte, prachtvolle buddhistische Tempelkomplex ist gleichfalls ein Muß bei einem Kathmandu – Besuch. Während sich Swayambu am westlichen Ende der Stadt befindet, liegt Pashupatinath, mein nächstes Ziel, am Ostende. Ich habe mir vorgenommen, die Stadt komplett zu Fuß erkunden, was ich im Nachhinein aber nicht wirklich weiterempfehlen kann, denn das bereits vorhin erläuterte Verkehrschaos macht einem dabei derart zu schaffen, daß man sich ständig im Streßzustand befindet. Die einzige Rettung bietet sich einem unterwegs, indem man sich gelegentlich in ein Restaurant zur Erfrischung und Erholung von Gestank , Krach und Bedrohung durch alle Arten von Vehikeln zurückzieht.
Die Tempelanlage Pashumpati ist ein ganz besonderer Ort, der einem Außenstehenden einen außergewöhnlichen und sehr intimen Einblick in die hinduistische Religion und Denkweise ermöglicht. Hier finden nämlich Totenverbrennungen statt, das Mitverfolgen eines solchen Kultes ist allerdings nicht unbedingt jedermanns Sache. Wer sich aber bereit fühlt, eine derartige Zeremonie ohne nachträgliches Trauma überstehen zu können, dem empfehle ich unbedingt den Besuch dieser dem Gott Shiva geweihten Stätte. Um einer Verbrennung beiwohnen zu können, muß man entweder zu einem günstigen Zeitpunkt eintreffen, oder etwas Geduld und Zeit mitbringen, denn derartige Zeremonien finden hier laufend statt. Als ich ankomme, liegt bereits im umliegenden Viertel Rauch in der Luft und auf den großen Steintischen am Ufer des Bagmati – Flusses lodern mehrere Feuer. Ich widme mich zunächst der Besichtigung der gesamten Anlage, wobei der Zutritt zum Haupttempel Pashumpati Mandir allen Nicht – Hindus verwehrt ist. Allerdings kann man von der gegenüberliegenden Seite einen guten Blick auf diesen und die darin versammelten Pilgerscharen erhaschen. Bei meiner Besichtigung werde ich von einem Sadddhu angesprochen, der sich mir gegenüber als Lehrer gebärdet. Ganz offensichtlich gehört er zur Richtung des sogenannten linkshändigen Pfades, wo das Rauchen von Ganja als Hilfsmittel zur Erlangung der Erkenntnis ein oft verbreiteter Usus ist, denn er bietet mir auch an, mit ihm zusammen „einen durchzuziehen“. Nun, da ich der Überzeugung bin, meine eigene Erleuchtung besser ohne fremde Hilfe zu finden, lehne ich dankend ab. Als ich wieder zur Verbrennungsstätte zurückkehre, wird soeben die Leiche einer Frau aufgebahrt. Somit werde ich Augenzeuge der gesamten Zeremonie von der Trauer der Angehörigen über das Trinken aus dem heiligen Fluß bis hin zum Abschied durch die Anverwandten und der anschließenden Entzündung des Leichnams. Daß man bei so einem Vorgang Pietät walten lassen sollte, versteht sich von selbst. So bleibt der Fotoapparat in der Tasche und ich verfolge das Ganze mit ernstem, nachdenklichem Schweigen. Was mich bedenklich stimmt, ist der gebräuchliche Trunk vom Wasser des Basmati. Der Fluß ist in der jetzigen Jahreszeit nur ein verschmutztes Rinnsal von der Größe eines Baches. Die Asche der Verblichenen wird zum Schluß dort hineingekehrt, was die endgültige Erlösung aus dem Zirkel der Wiedergeburten bewirken soll. Ich glaube jedenfalls, daß das Trinken des Flußwassers die Chancen einigermaßen erhöht, schon bald selbst als Leiche auf einem der Verbrennungstische zu liegen.
Ich trete noch am selben Nachmittag eine weitere Stadtwanderung durch die fußgängerfeindlichen Straßen Kahmandus an. Diesmal geht es direkt nach Süden, wo sich jenseits des Bagmati die Stadt Patan anschließt, wobei die beiden Städte zwischenzeitlich miteinander verwachsen und nur durch Fluß und Brücke voneinander getrennt sind. Den Besuch von Patan sehe ich aufgrund seiner Kürze eher als ein Hineinschmecken. Die Stadt ist auf alle Fälle einer gründlicheren Besichtigung würdig, und wer, wie ich, aus dem Verkehrschaos Kathmandus hierhergelangt ist, wird diesen Ort als ruhige Oase empfinden, allerdings nur im Vergleich zum herrschenden Chaos in Kathmandu. Auch Patan hat einen Durbar Square, der allerdings nicht so groß ist, wie der Pendant in der Nachbarstadt. Ich treffe am Spätnachmittag auf diesem entzückenden Platz ein, gerade rechtzeitig, um seine gemächliche Aura im köstlichen Licht der Abendsonne genießen zu können. Während ich so zwischen Hinduschreinen und Palastbauten herumlungere, überquert eine kleine Prozession den Platz, die durch Flötenspieler, Trommler und kleine Metallteller im Rhythmus schlagende Musiker begleitet wird. Ich verspüre beim Einsaugen dieser Atmosphäre eine tiefgreifende Zufriedenheit, und nehme mir vor, sollte ich jemals wieder einmal nach Nepal zurückkehren, würde ich mich mehr dieser Stadt an Stelle von Kathmandu widmen. Der Rückweg findet abermals zu Fuß statt. Ich bin jetzt am vorletzten Tag meiner Nepalreise angelangt, ich weiß nicht wann oder ob ich jemals wieder hierher zurückkehren werde und ich will diese fremde Welt Südasiens nochmals intensiv erleben. Insofern sehe ich in einer Erkundung der Stadt zu Fuß eine gute Möglichkeit, in dem ganzen hier herrschenden Chaos mitzuschwimmen, ja sogar darin aufzugehen. Vor allem die Menschen sind es, die faszinieren und deren Aussehen, Kleidung, die Art ihrer Handlungen lassen einem die Distanz zur eigenen Heimat spüren. So treibe ich förmlich in den Wogen der Menschenmassen von einer Straßenkreuzung zur anderen, oft durch geistesgegenwärtige Seitensprünge einem herannahenden Auto, Trolley oder Fahrrad ausweichend, und dabei den schnell pochenden Puls einer typischen südasiatischen Metropole fühlend.
Am Abreisetag lasse ich mein Gepäck an der Rezeption des Hotels zurück und beschränke meine Aktivitäten auf den Bereich der Altstadt Kathmandus, d.h. zwischen Thamel, Jhochhen Tol (Freakstreet), Durbar Square und Indrachowk (alte Handelsstraße nach Tibet). Auf dem für eine Kapitale recht kleinen Flughafen Tribhuvan treffe ich mit dem ersten Donnerschlag des sich bereits vorhin durch tiefschwarze Wolken angekündigten Gewitters ein. Am Flughafenschalter fällt mir ein Europäer auf, der eine Blumengirlande um den Nacken trägt, ein Zeichen dafür, daß er gute Freunde im Land zurückläßt. Um so unrühmlicher scheint jetzt die Rückkehr in die Heimat vonstatten zu gehen. Offensichtlich hat ihn niemand über die fällige Flughafengebühr aufgeklärt, denn als er nach langem Schlangestehen sein Gepäck einchecken will, muß er sich erst an den Bankschalter im gegenüberliegenden Ende des Gebäudes zum erneuten Geldwechseln begeben, um dann anschließend an einem weiteren Schalter die fällige Gebühr zu bezahlen. Ich werde später mit ihm ins Gespräch kommen. Frank ist ein erfahrener Höhenbergsteiger, der in Nepal mit seinen Menschen und der einzigartigen Bergwelt sein liebstes Reiseziel gefunden und schon mehrmals im Land verweilt hat. Seine diesjährige Tour führte ihn ins Everest – Gebiet, allerdings abseits der gängigen Routen. Er hat seinen Führer, mit dem er schon etliche Male vor allem im Everest – Gebiet getourt hatte, an der durch Militärposten abgeriegelten Flughafenzufahrt in aller Eile verabschieden und ihn im strömenden Regen des soeben ausgebrochenen Gewitters zurücklassen müssen, was ihn sichtlich verärgert hat.
So verlasse ich Nepal in der Hoffnung, daß es diesem Land, in dem sich derzeit alle Anzeichen hin zu einem drohenden Bürgerkrieg verdichten, doch noch gelingen wird, seine Probleme auf friedliche Weise zu lösen, und ich hoffe auch, daß ich eines Tages für weitere großartige Unternehmungen hierher zurückfinden werde.
Sonntag, 17. Dezember 2006
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