Zwei Frühjahrsrunden im sonnigen Tessin (05.05. –08.05.2005)
Nördlich des Alpenhauptkammes ist heuer nichts zu holen. Regen und eine bis auf 1200 Meter herabsinkende Schneefallgrenze, so lautet die Prognose für die kommenden Tage. Schwarzwald, Vogesen, Bayrischer Wald, nichts zu machen! Südlich des Alpenhauptkammes sollen die Dinge allerdings anders aussehen. So werden dem Tessin und dem Engadin Sonne vorhergesagt. In aller Eile disponieren wir um, und lassen unsere geplante Ostallgäu – Tour fahren. Aus den Regalen der Stadtbibliothek greife ich mir geschwind den momentan einzigen dort verbliebenen Tessin – Wanderführer heraus, besorge mir noch rasch eine Gebietswanderkarte Valle Maggia/Val Versasca und schustere in einer knappen Stunde eine 4 –Tages – Tour im Tessin zusammen.
Trotz der frühen Abfahrt um 7 Uhr ab Singen werden uns vor dem Gotthard – Tunnel gut anderthalb Stunden Wartezeit beschert. Kein Wunder, Feiertag, Brückentag, Schulferien, dazu noch die miserable Wetterlage im Norden und ein verlockendes Hoch auf der Alpensüdseite lassen die Zugvögel gen Süden flattern. Leider konnte ich auf die Schnelle keine zusammenhängende Tour für die 4 Tage ausfindig machen, weshalb wir uns für zwei je zwei Tage in Anspruch nehmende Runden in der südlichen Adulagruppe entschieden haben, zumal es in unserem zur Verfügung stehenden Wanderführer an mehrtägigen Vorschlägen mangelt und die Wanderkarte keine vernünftigen Übergangsmöglickeiten aufzeigt.
Claro (250 m) ist ein sympatisches Städtchen mit adretten Häuschen und blumenreichen Gärten nur wenige Kilometer nördlich von Bellinzona. Die Ortschaft wird von dem schmucken Kleinod des Klosters Sta. Maria Assunta überragt. Unser erster Weg gilt dem nächstbesten Straßencafé, wo wir uns mit Käse – Schinkentoasts und Capuccino die letzte Impfung für den Aufstieg ins Gebirge verpassen. Nachdem wir vom Kellner den Tip erhalten haben, unser Auto unten am Sportplatz kostenfrei zu parken, geht es von dort aus mit den großen Tourenrucksäcken zu Berge. Der Spaziergang durch die engen Kopfsteinpflastergassen von Claro vermittelt bereits erste Eindrücke. Wer wie wir den Gotthardtunnel durchfährt oder eine der anderen Übergänge zur Alpensüdseite, wie z.B. den San Bernhardino nimmt, dem wird bereits durch´s Autofenster der krasse Szenenwechsel nicht entgehen. Hatte man noch auf der Nordseite Holzhäuser im Walserstil, Bauernhöfe mit schindelgedeckten Außenwänden oder Lüftlbemalungen auf kalkgetünchtem Mauerwerk bewundert, so diente und dient hier überwiegend grauer, unverputzter Naturstein als Baumaterial für Kirchen, Bauernhäuser oder Almgebäude. Aber auch zahlreiche Casas in frohen Leuchtfarben mit hohen Balkonfenstern und den markanten, niedrigen Eisenballustraden fügen sich in die Ortschaftsbilder und suggerieren typisch italienisches Flair, inclusive aushängender Wäscheleinen. Die bekannte schweizer Ordnung und Sauberkeit geht augenscheinlich auch im Tessin nicht verloren. Und wenngleich man im schweizerischen Tessin die besten Chancen hat, mit deutsch zumindest verstanden zu werden, ist die Sprache der Bewohner italienisch. Mit der Kultur hat sich aber auch das Landschaftsbild verändert: die grünen Almwiesen des Nordens sind ausgedehnten Laubwald- und Ginstergürteln gewichen, auf der einen oder anderen Piazza der tiefergelegenen Ortschaften räkeln sich gar die Strubelköpfe vereinzelter Palmen in den blauen Sonnenhimmel. Á propos Wetter: wohl kaum sonst noch in den Alpen gibt es ein Gebiet mit mehr Sonnenstunden, wie im Tessin.
Unser Pfad führt über Serpentinen durch Kastanienwald. Die Erde ist mit reichlich trockenem Laub bedeckt. Dies dürfte ein Hinweis auf länger währende Trockenheit sein. Im Winter wurde das Laub unter der kalten Schneedecke konserviert, und jetzt im Frühjahr hatte es offenbar kaum geregnet, so daß bislang kein Vermoderungsprozess einsetzen konnte. Zwischen die Kastanien mischen sich bald Haselnußbäume, und mit dem Erscheinen der ersten Birken und Buchen wird die vorgehende Vegetationsstufe langsam verdrängt. Am Weiler Cavri (769 m) bestätigt sich unsere Vermutung, daß wir dabei sind, die Runde in umgekehrter Richtung zu machen , als im Buch beschrieben. Dies ist jedoch nur insofern von Bedeutung, daß, wollten wir das Monastero Santa Maria Assunta jetzt schon besuchen, wir etwa hundert Meter absteigen müßten. Wir beschließen, auf dem bereits eingeschlagenen Weg zu bleiben und die Klosterbesichtigung auf den Rückweg zu verschieben. Häufig stoßen wir unterwegs auf alte und neue intakte oder bereits verfallene Steinhäuslein. Manch eines der zusammengestürzten Almgebäude dürfte wohl schon Jahrhunderte auf dem Buckel haben. Ebenfalls meist im traditionellen Stil gehalten sind die geschmackvollen, neuen Ferienhäuschen, die sich auf verschiedenen Waldlichtungen verteilen. An einem dieser Anwesen treffen wir auf eine aufgeschlossene Familie, einschließlich Großvater, die uns erklären, daß wir an der Capanna Brogoldone, unserem Tagesziel, unter der Treppe den Schlüssel zum Winterraum finden würden, wo wir uns auch an den dort vorrätigen Getränken vergreifen könnten, eine Kasse befände sich im Gebäude. Die Parusciana auf etwa 1100 Metern ist eine aussichtsreiche Lichtung mit einer Ansammlung aus vielleicht zwei Dutzend Ferienhütten und Almgebäuden. Auf dem Weg nach oben fasziniert immer wieder der Tiefblick hinab ins vom Ticino durchflossene Leventinatal mit der verkehrsreichen Gotthard – Autobahn und den dennoch pittoresken Ortschaften. Bald wirkt alles unter uns wie eine Modelleisenbahn, winzige Hausdächer, auf der parallel zur Autobahn verlaufenden Gleisstrecke zieht ein ewig langer Güterzug durch´s Tal ("Udo, nimm´mal die Lok vom Gleis!"), im Süden bilden Bellinzona und das nördlich angewachsene Arbeco die Metropole im dort sich weitenden Tal. Die sich dahinter ausbreitende Magadino – Ebene ist ein Produkt nacheiszeitlicher Aufschüttungen, die der Fluß mit seinem herbeigeführten Geröll verursacht hat. Somit ist diese Ebene der verlandete Teil des Gletschersees Lago Maggiore, der einst eine weit größere Ausdehnung aufbot, als heutzutage. Dieser keine 20 Kilometer Luflinie von unserem Standort entfernte See wird allerdings durch die ihn umgebenden Berge unserer Blicke entzogen. Die andere Talseite wird durch die prächtige Bergkulisse der von der Cima dell´Uomo (2238 m) dominierten Kette gestellt. Fast sämtliche Gipfel überschreiten die 2000er – Marke, tragen auf ihren Gipfeln auch malerische Schneekronen, dennoch für diese frühe Jahreszeit für uns Nordälpler im ungewohnt bescheidenen Ausmaß, was uns Hoffnung für die Möglichkeit eines weiten Vordringens in verhältnismäßig große Höhen macht. Weitere, nicht minder imponierende Felsschilder- und zacken ragen im Süden empor, die ich leider nicht benennen kann, da sie nicht mehr auf der Karte sind, und ich bezüglich Bergtouren ein Gebietsneuling bin.
Oberhalb des aussichtsreichen Monti Savorù (1233 m), welcher auch mittels Seilbahn von Lumino aus erreicht werden kann, lassen wir uns zu einer Vesper nieder, bevor wir die uns verbleibenden 700 Höhenmeter unter die Sohlen nehmen. Just als wir den zuletzt aus Tannen bestandenen Waldgürtel heraustreten, erblicken wir einen Fahnenmast, der uns anzeigt, daß sich hinter dem Hügel die Capanna Brogoldone (1910 m) befinden muß. Das Kamin raucht bereits, und ein paar Kinder tollen um die Hütte. Da der Winterraum klein ist und bereits von zwei Familien und einer dreiköpfigen Bersteigergruppe okkupiert wird, beschließen wir, unser mitgeführtes Zelt zum Einsatz zu bringen. Das flache Wiesenstück unterhalb der Felswand des nahen Klettergartens scheint uns dafür am besten geeignet. Die Hütte steht in einer herrlichen Umgebung, und nachdem wir uns mit einem üppigen Abendessen für den heftigen Anstieg von immerhin gut 1600 Metern belohnt haben, widmen wir uns bis Sonnenuntergang der herrlichen Umgebung, indem wir auf die aussichtsreichen umliegenden Felsen steigen und den um diese Jahreszeit wieder langen Abend zu genießen. Die Fernsicht reicht sprichwörtlich fast bis zum Mittelmeer: im Südwesten ragt entfernt, aber deutlich auszumachen, der markante Gran Paradiso weit aus seiner Umgebung heraus, ja sogar die südlich davon sich hinziehenden Ketten sind noch zu erkennen. Direkt über uns thront als höchster Punkt der unmittelbaren Umgebung der Gipfel des Pizzo de Molinera (2288 m), auf welchem die winzige Figur eines einzelnen Bergsteigers zu erkennen ist. Während sich Udo bereits ins Zelt verzogen hat, harre ich noch im letzten Dämmerlicht auf einem der Aussichtsfelsen aus, und lasse die Großartigkeit meiner Umgebung förmlich in mich einfließen. Oberhalb der Hütte auf einem exponierten Hügel hebt sich die dunkle Silhouette einer weiteren Person vor dem rötlichen Abendhimmel ab, welche sich sicher mit den gleichen Gefühlen und Eindrücken wie ich noch hier draußen herumtreibt.
Die Nacht war, trotz der frühen Jahreszeit in beträchtlicher Höhe, recht mild, so daß wir unser Frühstück in einer bereits angenehm wärmenden Morgensonne einnehmen können. Gegen halb zehn brechen wir schließlich auf, einer schon arg verwitterten Markierung in Richtung Kammhöhe folgend. Der Gratverlauf zieht vom Pizzo de Molinera in etwa Nordrichtung auf den mächtigen Pizzo di Claro zu und bildet gleichzeitig die Grenze zwischen den beiden schweizer Kantonen Tessin und Graubünden. Das gestrige Kartenstudium hatte mich auf die Idee gebracht, einen Übergang zwischen den beiden Wandergebieten um die Capanna Brogoldone einerseits und der Capanna Cava andererseits zu versuchen, der uns zunächst auf Bündner Gebiet hinabführen und anschließend über zwei Pässe von etwa 2400 Metern zur Capanna Cava hinüberbringen sollte. Hierzu müßten wir wohl zwei Tage mit einer Zwischenübernachtung fernab von Berghütten und Talorten veranschlagen. Doch der Blick von der Grathöhe hinüber nach Graubünden verheißt nichts Gutes, denn reichlich verteilen sich dort noch ausgedehnte Altschneefelder, die uns das Leben sicher schwer machen würden. Dafür scheint uns nun der Pizzo di Claro als frohlockendes Ziel.Dieser Berg läßt sich sowohl von der Tessiner Seite von Westen, als auch von Graubünden aus über Ost angehen. Letzteres und die sich anbietende Überschreitung kommen für uns nicht in Frage, wohl aber scheint auf der Tessiner Seite ungewöhnlich wenig Schnee zu liegen. Es wäre schon fast zu schön, um wahr zu sein, um diese Jahreszeit mit herkömmlicher Wanderausrüstung bereits einen Gipfel von solcher Höhe zu besteigen. Selbst auf der Alpensüdseite ist es normalerweise für Gipfel solchen Ausmaßes noch zu früh.
Wir folgen also weiterhin der Markierung direkt auf dem Grat, schnurstracks auf den 2720 Meter höhen Südgipfel zu. Im Rückblick erkennt man die direkte Verbindung de Grates mit dem Gipel des Pizzo de Molinera und ich bereue schon, einen so einfachen Gipfel nicht "mitgenommen" zu haben. Der Warnpfiff eines Murmeltieres schallt durch die Morgenluft und macht uns auf ein gutes Dutzend seiner Artgenossen aufmerksam, die weit unter uns auf einem Schneefeld trotz der Distanz zu uns sichtlich nervös hin und her flitzen. Um zum Anstiegsweg des Hauptgipfels zu gelangen, müssen wir den Pizzo di Claro in dessen Westflanke umgehen, wobei uns ein paar kleinere Wächten und zwei Erdrutschpassagen ein wenig aufhalten und zur Vorsicht gemahnen. Die eigentliche Aufstiegsroute soll dann laut Karte oberhalb des Lago di Canee zum Nordgipfel emporziehen. Das sonnige Wetter bleibt uns erhalten, es ist jetzt allerdings aufgrund der Höhe recht frisch geworden, und gepaart mit einem kalten, harten Wind ist es erst mal vorbei mit Sommergefühlen. Der prächtig im Felskessel eingeschliffene Bergsee Lago di Canee indessen schlummert noch unter einer vollständig geschlossenen Eisdecke. Zu unserer Enttäuschung ist die gesamte Aufstiegsroute noch schneegefüllt. Wir rasten an einem sonnenbeschienenen und somit halbwegs angenehmen Plätzchen oberhalb des auf 2198 Meter hoch gelegenen Sees und beobachten eine Gruppe von drei Personen im Abstieg, die gerade behutsam über das steile Schneefeld oberhalb der senkrecht ins Kar hinunterbrechenden Felsmauer balancieren. Wie wir zunächst vermuten, sind es tatsächlich die drei jungen Tessiner, die bereits in der Brogoldone – Hütte genächtigt hatten. Zwei Mann sind mit Steigeisen, einer mit Schneeschuhen ausgerüstet, doch auch sie konnten den Gipfel nicht erreichen. Zu spät, so erklären sie, der Schnee sei schon zu weich, und die letzte Flanke unterhalb des Gipfels wartet mit immerhin 45 Grad Steilheit auf! Jediglich mit unseren Eispickeln ausgestattet, hätten wir also so oder so keine Chance gehabt, den Gipfel zu erreichen. Sei es wie´s will, der Ausflug bis hierher hat sich dennoch gelohnt, denn oberhalb des Gletschersees und zu Füßen des mächtigen Pizzo di Claro sind wir in eine großartige hochalpine Szenerie vorgedrungen, die Eindrücke hinterläßt. Der hartnäckige Wind beginnt uns auszukühlen, weshalb wir es den drei Tessinern gleichtun, und uns an den Abstieg machen. Unterhalb des Sees werden die silbernen Bänder mehrerer klarer, wild rauschender Gebirgsbäche durchwatet, der Blick hinauf zum Pizzo di Claro zieht uns immer wieder in dessen Bann. Auf 1745 Metern ist an der Alpe Peurett die Baumgrenze erreicht. An diesem idyllischen Ort läßt es sich die Frühjahrssonne bereits wieder genießen, und nach einer kurzen Rast tauchen wir in die aromatische Duftwolke schattigen Bergtannen hinein. Leider sind die Markierungen in dieser Gegend nicht immer durchgehend erhalten, ganz zu Schweigen von den Angaben unserer Kompaß – Karte, in der viele markierte als nichtmarkierte Wege verzeichnet oder scheinbar überhaupt nicht existent sind. Ausgerechnet an einer Weggabelung fehlt jedes Wegzeichen und die Karte zeigt gleich gar nichts auf. Aus dem Bauch heraus entscheiden wir uns für den nach unten ziehenden Pfad. Dieser bleibt witerhin unmarkiert, d.h. wir befinden uns auf einem Hirtenpfad, und nicht etwa auf dem markierten Wanderweg, der uns zur Alpe Domas (1666 m)n hätte bringen sollen. Zahlreiche Bachläufe mit schönen Kaskaden halten aber auch diesen Wegabschitt kurzweilig, und ein junges Gemsenkitz steht für Udo bereitwillig Pose zum Erinnerungsfoto, ehe es dann doch noch die Flucht ergreift. An der halbverfallenen Alpe di Provei (1323 m) finde ich schließlich wieder Übereinstimmung mit unserer Wanderkarte. Wir steigen weiterhin hinab, bis wir wiederum den Kastanienwald erreichen. Der verschiedene kleine Ferien- und Almhütten verbindenende Weg bildet oft nur Pfadspuren unter dichtem Laubwerk aus, was die Wegfindung recht spannend gestaltet. Auf etwa 700 Metern erreichen wir die Schäferhütte Roréd. Die Lichtung bietet ein flaches Wiesenstück, eine intakte Wasserleitung, und einen romantischen Blick auf das etwas unterhalb uns gegenübergestellte Monasterio di Santa Maria. Wir beschließen, hier das Nachtlager einzurichten. Von der Wiese aus bietet sich uns keine Aussicht. Doch weiter vorn befindet sich ein ausgesetzter Felssporn, der übrigens auch von Claro aus gut auszumachen ist, der uns die idyllische Klosteransicht und den prächtigen Tiefblick hinunter nach Claro und über Bellizona hinaus zur Magadino – Ebene beschert. Hoch überhalb der gegenüberliegenden Talseite erheben sich die messerscharfen Felsschneiden des Uomo – Massivs. Nachdem wir reichlich Pasta, Brot und Käse verzehrt und den Wasserhaushalt im Körper wiederaufgetankt haben, halte ich es noch lange auf der durch die Sonne des Tages aufgewärmten Felsplatte aus. Erst als unten im Tal schon die Lichter bereits brennen, kehre ich zum Zelt zurück.
Rasch vollzieht sich der morgendliche Abstieg hinunter nach Claro. Mit dem Auto ist es nur ein Katzensprung bis in´s etwa 15 Kilometer weiter nördlich gelegene Biasca. Die Kleinstadt wird von einer mindestens hundert Meter hohen, aalglatten Felswand überragt, welche am oberen Rand von einer engen Schlucht aufgespalten ist. Hier stürzt ein tosender Bergbach senkrecht über die Wand bis in den Talgrund hinab. Biasca schmückt sich auch gerne mit dem Namen "Stadt der drei Täler", denn tatsächlich verzweigen sich hier gen Nordwesten das vom Gotthard herabkommende Leventinatal und nach Nordosten das Val di Blenio, welches zum Lukmanierpaß (Passo de Lucomanio, 1910 m) hinaufzieht. Das dritte Tal ist dann die Vereinigung der beiden Vorgenannten, welches gen Süden bis ans Nordufer des Lago Maggiore hinunterführt. Nach einer Einkehr in einem Café mit typisch Tessiner oder, wenn man so will, italienischem Flair, wo wir uns mittels zwei kräftigenden Capuccini den erwünschten Koffeinschub einverleiben, begeben wir uns zur Wiederverproviantierung in den Supermarkt, dessen Parkplatz uns als kostenfreies Autodepot für die kommenden zwei Tage geeignet erscheint. Dann geht´s schnurstracks wieder bergwärts. Bereits die unmittelbare Umgebung von Biasca erweckt einen deutlicheren Eindruck von herber, alpiner Szenerie, als die fast schon mediterrane Züge tragende Landschaft um Claro. Auch der Wiederaufstieg bestätigt diese Impression. Die Aussicht ist zunächst dem Val di Blenio zugewandt, welches uns wesentlich ruhiger und verklärter erscheint, als das Leventinatal. Bis zur schönen Alpe Svall (1407 m) erhalten wir Beistand von einem Wanderer aus Basel, etliche Höhenmeter später wird der Weg dann wirklich hart, denn es erwarten uns noch reichlich gedeckte Schneefelder. Der Schnee ist klatschnass und somit butterweich. Zwei Deutsche und ein Schweizer Pärchen kommen uns nacheinander entgegen. Beide Gruppen prophezeihen uns einen beschwerlichen Weiterweg. Wir befinden uns zwar ungünstigerweise im Aufstieg, unser Vorteil jedoch ist, daß wir die Spuren der Herabkommenden nutzen können, was zum Einen das Gehen etwas erleichtert, und zum Anderen, und dies besonders wichtig, uns den Wegverlauf vorgibt. Das Wegstück zwischen der Alpe Sgiopa und der Forcarella di Cava (2090 m) liegt unter einer komplett geschlossenen Schneedecke und abverlangt einen ungeheueren Aufwand an Kraft. Wir brauchen etwa dreimal so lange, wie man bei sommerlichen Verhältnissen benötigen würde, ganz zu Schweigen vom erhöhten Energie- und Kalorienverbrauch! Der eigentlich traumhafte Ausblick in das unter uns einschneidende, weltvergessene Val Pontirone läßt uns unter den gegebenen Umständen gleichgültig. Wir hatten zu Hause nicht einmal Gamaschen in den Rucksack gepackt, so daß wir unsere Schlampigkeit nun mit klatschnassen und unterkühlten Füßen bezahlen müssen. Doch hinter der Paßhöhe wissen wir um die Rettung: dort nämlich erwartet uns die Capanna Cava, auf der um diese Zeit zwar noch kein Wirt - übrigens ein Major der Schweizer Armee und Bekannter einer der drei jungen Tessiner vom Pizzo di Claro - anwesend ist, aber die Hütte soll dennoch zur Benutzung zugänglich sein, was uns auch die beiden entgegengekommenen Gruppen bestätigt hatten. Vom breiten Sattel der Forcarella di Cava herab erblicken wir schließlich die ersehnte Bergunterkunft. Es scheinen dort schon mindestens zwei Personen anwesend zu sein, die gerade am Ufer des kleinen, zugefrorenen Seeleins, welches sich direkt hinter der Hütte befindet, tätig sind. Mit einem letzten Kraftaufwand überwinden wir den Naßschneehang hinauf zur Hütte, in der tatsächlich bereits ein sehr umgängliches Pärchen aus St. Gallen Quartier bezogen hat. Anders, als wir das sonst gewohnt sind, steht dem Wanderer hier nicht etwa nur ein Winterraum zur Disposition, sondern die gesamte Hütte. Die Capanna Cava ist eine wunderschöne, urgemütliche Unterkunft, die von einer schroffen, hochalpinen Umgebung umschlossen ist. Ein offenes Kamin und jede Menge Holzreserven, sowie ein Gasofen, eine Gasküche mit Geschirr und Kochutensilien, als auch eine Zeitschaltuhr für elektrischen Strom stehen uns zu Diensten und ermöglichen einen gemütlichen Hüttenabend. Im Schlafsaal okkupieren wir die Betten am Fenster, was uns den Ausblick direkt vom Schlafgemach aus auf den hier alles dominierenden Torent Basso (2820 m) ermöglicht. Immer wieder, auch nach Einbruch der Nacht, zieht es mich hinaus vor die Hüttentür, um mich am erhebenden Anblick der schroffen Bergriesen zu ergötzen. Hinter dem bereits erwähnten, äußerst eleganten Felskegel des Torent Basso recken die Giganten des Torent Alto (2950 m) und des Pizzo da Termin (2903 m) ihre Köpfe in den Himmel. Der verstorbene Bergsteiger Jürgen Brenneis bezeichnet den Torent Alto auf seiner immer noch existenten Webseite als den schwersten von ihm begangenen markierten Aufstieg nach der Parseierspitze. Hintergründig im Osten zieht eine lange, noch mit reichlich Schnee gesegnete Bergkette von Süd nach Nord, die Kantonsgrenze zwischen Tessin und Graubünden auf ihrem wilden Gratrücken tragend. In dieser befinden sich auch der eine und andere Dreitausender. Unterhalb der Hütte verteilen sich die malerischen Steinhäuschen der Alpe di Cava. Durch den scharfen Taleinschnitt weiter unten ist das Pärchen aus St. Gallen nach eigenem Bekunden in etwa zweieinhalb Stunden problemlos hierher aufgestiegen. Sie sind mit ihrem Fahrzeug bis in den Talabschluß des Val Pontirone vorgedrungen und haben am winzigen Kirchweiler Fontana (ca. 1300 m) geparkt.
Nachts bringt ein Fönsturm die Fensterläden der Hütte gehörig zum Klappern, in den frühen Morgenstunden legt sich der Wind langsam wieder.Bereits um halb Sieben sitzen wir beim Frühstück. Wir werden unseren Aufbruch nicht allzu lange hinauszögern, denn zum einen wollen wir den Stau des Rückreiseverkehrs meiden, und zum anderen den durch die kühle Nacht wiedererhärteten Firn für unseren Aufstieg in die Forcarella di Lago (2256 m) nutzen. Dieser Übergang ist zwar höher, als die Forcarella di Cava, die andere Seite soll jedoch weitgehend schneefrei und somit gut begehbar sein, so die Auskunft der uns gestern begegneten Gruppen, die schließlich beide diese Übergänge benutzt hatten. Ein Leichsinnsfehler manövriert uns in eine gefährliche Situation, als wir über eine kritische Schnee- und Eisflanke auf ein Felsband geraten, welches wir dummerweise für den Abstiegsweg gehalten haben. Wir stehen nun direkt in einer senkrecht abfallenden Wand. Mit aller Vorsicht steigen wir zurück auf die Paßhöhe, und nach kurzem Suchen stoßen wir auf den richtigen Pfad. Dieser ist tatsächlich weitgehend schneefrei, was unser Glück ist, denn er führt durch steiles, ausgesetztes Gelände, wo noch existente Schneefelder aufgrund der Hangsteilheit ein echter Horror wären! Bald schon erreichen wir die Alpe di Lago (2089 m). Die Szenerie ist ergreifend. Wir befinden uns inmitten eines wilden Felskessels, in dem die Cima di Biasca (2503 m) mit ihrem supersteilen Rücken und dem schneegefüllten Kar die Dominanz an sich reißt. Sehnsüchtig und mit ein wenig Bedauern betrachte ich die eindrucksvollen Gipfel im Bewußtsein, daß diese sich doch verhältnismäßig einfach von der Capanna di Cava aus überschreiten ließen. Das Schweizer Pärchen hat sich diese Bergfahrt für heute auf den Plan geschrieben, wobei von der Hütte aus in eine Scharte neben dem Torent Basso aufgestiegen wird. Von der guten Begehbarkeit konnten wir uns augenscheinlich überzeugen, da wir die beiden von der Paßhöhe aus bei ihrem flotten Aufstieg beobachten konnten. Sie werden nach Überschreitung der vom Lago aus so unnahbar erscheinenden Gipfelhöhen in die Forcarella di Lago hineinsteigen und von dieser aus die Runde komplettieren, indem sie über den höchsten Gipfel der Mottone di Cava (2371 m) in die Forcarella die Cava absteigen und von dort aus den Rückweg ins Tal nehmen werden. Aus den oben erwähnten Gründen suchen wir jedoch den schnellstmöglichen Rückweg nach Biasca, so daß wir auf Gipfelsiege diesmal leider verzichten müssen. Unser gestriger Aufstieg gepaart mit dem heutigen Abstieg ergibt übrigens eine Runde um das Massiv der Mottone di Cava und dem vorgelagerten Pizzo Magn (2329 m). Das Panorama dieser großartigen Runde gebührt aber weniger diesem Massiv, als vielmehr den großartigen Bergen und Tälern, die diesem gegenübergestellt sind. Es mag sein, daß wir zu nahe in den Flanken des Massivs marschieren, jedenfalls bietet jediglich der Pizzo Magn bei der Rückkehr nach Biasca und zuvor bereits beim Aufstieg eine attraktive Ansicht auf seine schneefreie, spitz zulaufende Felsnadel. Allemal großartig bleibt der weitere Abstieg entlang des tobenden Bergbaches, der an einer Stelle, wo er eine wilde, mächtige Klamm ausbildet, umgangen wird. An der Alpe di Compiett (1516 m) blicken wir nochmals zurück auf die nun schon etwas entrückte urtümliche Berglandschaft, die wir nun zurücklassen. Hinter der Alpe stürzt abrupt ein Waldtal supersteil hinunter, darüber verteilen sich wie auf einem grünen, runden Tisch die Steinhäuslein einer weiteren Alpe. Der Bergbach braust hier wild tosend zu Tale, bildet dabei einen zig Meter hohen Wasserfall. Am Ende soll er dann über besagte Felsmauer nach Biasca herabstürzen, wo sein Weg in den Fluten des Ticino endet. Steile Talabhänge und ungewöhnlich lange Auf- und Abstiege scheinen eine Sepzialität des hiesigen Gebiets zu sein, wovon wir uns bereits bei Claro, aber im ganz besonderen Maße hier im Biascagebiet überzeugen konnten. Lange zieht sich sadann noch der Abstieg nach dem nur etwa 300 hoch gelegenen Biasca hinaus, dabei wird es mit den fallenden Höhenmetern wärmer und wärmer, bis in Bisaca wohl gut 30 Grad Sommertemperatur erreicht sind. Die zu Verweil einladenden, hochromantischen Restaurants der Grotti de Biasca, welche allesamt mit den Schatten herrlicher Kastanienbäume bedacht sind, hatten wir bereits im Aufstieg gestreift, weshalb wir sie diesmal über den etwas kürzeren, oberhalb durch die Bergflanke führenden Pfad umgehen.Erwähnung verdienen sicher noch die beiden historischen Kirchen San Pietro und San Carlo, Letztere in Form eines griechischen Kreuzes erbaut und beide aus den grauen Steinen der Region gemauert. Um dem Rückreisestau am Gotthardtunnel zu entgehen, wählen wir die Fahrt über den Lukmanierpaß, ein kleiner Tip des St. Gallener Pärchens. Die Fahrt wird so zwar um einiges länger, aber anstatt entnervt in einer Blechlawine zu verharren, genießen wir so eine schöne Rückfahrt über den Lukmanierpaß und das rätoromanisch geprägte Vorderrheintal, inclusive Südansicht des Tödi.
Sonntag, 17. Dezember 2006
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