Sonntag, 17. Dezember 2006

Einsame Silvretta

Durchquerung zu ungewöhnlicher Zeit (29.10. – 03.11.2005)

Auf 770 qkm verteilt sich eine Hochgebirgslandschaft, deren klingender Name "Silvretta" selbst denen geläufig sein dürfte, die mit Bergen normalerweise gar nichts am Hut haben. Die Ausrichtung der Silvretta folgt der des Alpenhauptkammes, und ihre Lage im Nordweststau hat in einem Gebirge, wo die Hochgipfel sich im unteren Dreitausenderbereich begrenzen, eine außergewöhnlich starke Vergletscherung geschaffen. 74 Gipfel kappen die Dreitausender – Grenze, der höchste ist der Piz Linard mit 3411 Metern, gefolgt vom Südlichen Fluchthorn mit 3399 Metern. Der allseits bekannte Piz Buin mit seinen 3312 Metern ist der höchste Gipfel des österreichischen Bundeslandes Vorarlberg. Das Große Seehorn mit 3121 Metern stellt den westlichsten Dreitausender der Ostalpen vor deren Absturz ins Rheintal dar. Die bei Bergsteigern äußerst beliebte und begehrte Dreiländerspitze drückt in der Namensgebung bereits aus, dass sich das Gebirge zwischen drei Ländern aufteilt. Im Nordosten ist dies Tirol, den Nordwesten darf Vorarlberg sein Eigen nennen, der Süden hingegen gehört dem schweizer Kanton Graubünden. Die Ostbegrenzung der Silvretta stellt der Fimbapaß und in Verlängerung das gleichnamige Tal gegen das Samnaun, im Westen ist es das Schlappiner Joch, unterhalb dessen das Gargellental die Abgrenzung zum südlichen Rätikon einschneidet. Die Haupttäler im Norden heißen Paznauntal östlich des Scheitelpunktes Bieler Höhe, sowie Montafon westlich davon, im Süden ist es das schweizer Engadin. Die geographische Unterteilung lautet wie folgt: Ostsilvretta vom Fimbapaß bis Futschölpaß, Mittelsilvretta zwischen Futschölpaß und Roter Furka, sowie Westsilvretta von Roter Furka zum Schlappiner Joch. Nördlich der Bieler Höhe, bis ans Zeinisjoch, fügt sich noch die völlig unvergletscherte Nordsilvretta an. Viele romanisch klingende Flurnamen, einschließlich der Name des Gebirges selbst, lassen den Lateiner aufhorchen, oft koexistieren sowohl eine alemannische als auch eine rätoromanische Bezeichnung. Während in vielen Teilen der Alpen eben nur noch die Flurbezeichnungen den Hinweis auf romanische Spuren geben, so ist das seltene Idiom Rätoromanisch auf der schweizer Silvrettaseite, dem Prättigau, zumindest teilweise noch lebendig.

"Besonders im Frühjahr zur Skitourenzeit musste die blaue Silvretta schon sehr hell leuchten, um das Hüttenerlebnis (Wiesbadener Hütte) zu verdrängen." Dieses Zitat stammt von Sepp Schnürer aus seinem Buch "Ötztaler Alpen Silvretta Verwall" aus der Reihe "Bergwandern und Bergsteigen –BLV – Verlag München". Daß die Silvretta im Sommer wie im Winter oft hoffnungslos überlaufen ist, dürfte kein Geheimnis sein. Die Gletscher des einst mit dem romantisch verklärten Namen "blaue Silvretta" belegten Gebirges seien im Zuge von deren rapidem Rückgang auch nicht mehr das, was sie mal waren. Auch dieses Zitat habe ich irgendwo einmal aufgeschnappt, und belastet mit diesen Aussagen, galt die Silvretta für mich bislang als ein Gebirge, welches wegen seiner renommierten und selbstverständlich auch besonders eleganten Hochgipfel ganz sicher noch den einen oder anderen Besuch wert sei, was aber wohl eher einer Pflichtkür à la Matterhorn, Mont Blanc oder anderer ähnlich renommierten Gipfel gleichkäme, die aufgrund ihrer herausragenden Schönheit und/oder Bedeutung bei guten Verhältnissen von Bergsteigerheerscharen erstürmt werden. Daß ich die Silvretta jetzt von einer ganz anderen Seite kennenlernen durfte, ist dann eher zufälligen Entwicklungen zu verdanken.

Da aus dem geplanten Familienurlaub in den bayrischen Alpen aus verschiedenen Gründen nichts wurde, hatte ich also eine Woche Urlaub zur Verfügung, die ich aufgrund der günstiger Wetterprognose nicht zurückgeben wollte. So schmiedete ich zunächst Pläne für eine Bergfahrt in den Allgäuern, als mein Freund Haydar Sanli mich Mitte Woche anrief und mir denVorschlag unterbreitete, gemeinsam das Silvrettahorn zu besteigen. Da das Herbstwetter bislang recht sanft war, und noch sehr wenig Schnee gefallen ist, wäre eine Hochtour auf einen "dezenteren" Dreitausender durchaus noch drin. Leider aber konnte Haydar, der an einer schweren Erkältung laborierte, zum Wochenende hin nicht genesen. Wir trafen somit die Übereinkunft, uns am folgenden Montag auf der Wiesbadener Hütte zu treffen. Mein Plan sieht nun folgendermaßen aus: die komplette Silvretta – Durchquerung mit Anreicherung durch einen Hochgipfel (eben Silvrettahorn, oder im Falle erschwerter Verhältnisse vielleicht die einfachere Dreiländerspitze), mit der Option, dass Haydar, falls er bis Montag nicht genesen ist, jederzeit auf einer der folgenden Hütten zu mir stoßen könnte, um von dort aus eine beliebige Hochtour zu starten, also beispielsweise Großlitzner oder Großes Seehorn ab Saarbrücker Hütte, bzw. Rückkehr von der Tübinger Hütte zum Vermuntsee und Autofahrt zu einem beliebigen Ausgangspunkt.

*

So treffe ich denn am Samstag Mittag um 12 in Ischgl im Paznauntal ein. Die Busfahrt ab Landeck durch das bekannte Alpental zeigte die Ausmaße der Hochwasserschäden vor rund 6 Wochen. Knapp drei Wochen zuvor waren wir anlässlich einer Klettertour an der Allgäuer Wolfebnerspitze durch die ebenfalls betroffenen Täler des Bregenzer Waldes und des Lech gefahren, aber mein Eindruck ist, dass das Paznauntal offensichtlich noch ärger von der Naturkatastrophe mitgenommen wurde. Gleichwohl aber sind die Reparatur- und Aufräumarbeiten im vollen Gange, der Straßenbau hat Hochkonjunktur. Es wird gebaggert, geschaufelt und planiert, was das Zeug hält. Bei der Anfahrt war übrigens zwischen Bludenz und Landeck der Schienenverkehr aufgrund der Hochwasserschäden gesperrt, und es wurden Busse für die Fahrt über den Arlberg bereitgestellt. Selbiges war mir auch unlängst zwischen Hergatz und Immenstadt, wieder mal auf dem Weg ins Allgäu, wiederfahren.

Ischgl – der Ort, wo Kindheitserinnerungen liegen. Ich glaube, als ich zwischen 8 und 10 Jahre alt war, verbrachten wir mit unseren Eltern zweimal einen Familienurlaub in einem alten Bauernhaus direkt im Ort, bei Pfeiffers, einem damals schon steinalten Ehepaar, bei dem meine Mutter selbst als junges Mädchen schon einmal einen Urlaub zugebracht hatte. Ischgl war damals ein Traum von einem Bergnest. Nie werde ich das rustikale Schlafzimmer mit dem Waschkrug und der Waschschüssel mit dem morgens eiskalten Wasser vergessen, genauso wenig, wie das morgendliche Kuhgebimmel, als wir noch in den Federn des riesengroßen, weichmatratzigen Himmelbetts lagen, und auch nicht die Szene, als mein "kleiner" Bruder Rolf heulend vor den Kühen flüchtete. In Ischgl gab es zu jener Zeit eine einzige Diskothek, sowie eine Kabinenseilbahn. Nichts von dem, was mich erinnert, ist geblieben. Anfang März war ich zusammen mit Tino Döring anlässlich eines mehrtägigen Aufenthaltes auf der Heidelberger Hütte zwecks Schneeschuhtouren dorthin zurückgekehrt, und außer der Heidelberger Hütte, zu der wir damals mit unseren Eltern per heute noch existierendem Hüttentaxi hinaufgefahren waren, fand ich mich um sämtliche Erinnerungen beraubt. Im Ort selbst existiert so gut wie nichts mehr, was einmal alt war und am Ortsausgang in Richtung Galtür ist ein Parkplatz mit nahezu den Dimensionen von dem in Täsch, der Ortschaft unmittelbar vor dem weltbekannten, autofreien Zermatt, zu "bewundern".

Heute wiederum ist es noch einmal anders in Ischgl. Nicht etwa, dass die alten Bauernhäuser plötzlich wieder dort stünden, und sämtliche Neubauten und Seilbahnen in der Sintflut ertrunken wären. Der Unterschied heute ist, dass die Gassen leer sind, die Durchgangsstraße kaum befahren ist und eine ungewöhnliche Ruhe im Dorf herrscht. Es ist jetzt die Zeit ohne Saison, für die meisten Wandertouristen und Bergurlauber ist der späte Herbst tabu, es gilt immer noch das Vorurteil von Schlechtwetter, erstem Schnee, häufigem Nebel, früher Dunkelheit. Die Wintersaison hingegen, die den Ort noch mehr als im Sommer mit Flutwellen von Touristen überschwemmt, lässt noch wohl einige Wochen auf sich warten. Ich gehe mal schnell ein paar Besorgungen im Supermarkt machen. Mein stattlicher Rucksack verrät ein größeres alpines Vorhaben, und so werde ich dort gleich zweimal angesprochen. Ein älterer Herr stellt sich mir als ehemaliger Skilehrer und Gastwirt vor, seine 82 Lebensjahre sieht man ihm nicht an. Er wünscht mir viel Glück bei meiner Durchquerung, ebenso wie der Herr mittleren Alters, der mich wenige Minuten später interviewt. Ich finde es einfach angenehm, wenn ich irgendwo als Fremder eintreffe und dort von den Einheimischen freundlich empfangen werde. Denn nicht nur lohnende Bergziele, sondern auch Kultur und Menschen machen eine Region beim Bergsteiger beliebt.

Den Weg durch´s ewig lange Fimbatal (15 Kilometer) habe ich im Frühjahr bereits mit Tino gemacht. Trotz dass es aufgrund des monotonen Fahrwegs, der zudem noch durch Skigebiet führt, ein verrufener Hatscher ist, erschien mir dieses Tal als landschaftlich schön. Jetzt aber suche ich nach einer Alternative, wo ich denn auch in Dieter Seibert´s Höhenwegführer "Zwischen Stubaier Alpen und Rätikon – Verlag J. Berg", welcher mir gleichzeitig auch als Anleitung für meine geplante Silvretta – Durchquerung dienlich ist, fündig werde. Dort wird der Weg von der Idalpe (2307 m), welche mit Seilbahnhilfe erreicht wird, über den Gratverlauf hoch über der Ostseite des Fimbatales, als Alternative vorgeschlagen. Bekanntlich gehöre ich zu der Fraktion, die Seilbahnen möglichst aus dem Weg geht, und auch deren Benutzung nach Möglichkeit vermeidt. In diesem Falle erübrigt sich das von selbst, denn außerhalb der Saison werden die Anlagen generalüberholt und lohnen ohnehin nicht, um täglich nur eine handvoll Touristen zu Berge zu tragen. Optimismus ist sicher eine Tugend, doch die Illusion, bei so einem späten Aufbruch (es ist inzwischen fast halb Eins geworden) eine fünfstündige Gratwanderung von der Bergstation ausgerechnet mit vollbepacktem Rucksack und zu einer Jahreszeit, wo es um 19 Uhr bereits stockdunkel ist, bei Tageslicht zu bewältigen, grenzt eigentlich schon an Dummheit. Ischgl liegt zwar auf über 1300 Metern, bis ich aber endgültig die Kammhöhe erreiche, sollen nahezu drei Stunden vergehen. Hier habe ich mich gewaltig verschätzt. Daß ich die Heidelberger Hütte nicht mehr bei Tageslicht erreichen werde, ist mir ab hier klar wie die Sonne am heute so blauen Himmel. Allzu besorgt deswegen bin ich dennoch nicht, denn laut Karte kann ich immer noch ins Fimbatal zurückkehren, und den Hüttenzustieg auf dem Fahrweg fortsetzen, was auch nachts kein Problem sein dürfte.

Der übliche Fahrweg, der vom Ort aus zunächst in steilen Kehren an der Ostseite des im Talausgang steil und scharf eingeschnittenen Fimbatals aufwärts zieht, wird über einen unscheinbaren Pfad verlassen, der zunächst schön durch Wald führt. Es folgt eine plattgewalzte Skipiste, dann weiter oben ein steiler Wiesenhang, der im Winter sicher auch als Abfahrtshang dient, aber wenigstens nicht umgepflügt wurde. Der mich begleitende Bach heißt Vellilbach. Abermals durch Wald, treffe ich hernach auf freier Fläche an der Oberen Vellilalpe (2061 m) ein, wo nach kurzem Fahrwegstück ein alpiner Wanderpfad in einen Sattel empor führt, wo ich der Illusion beraubt werde, es könne nun so weiter gehen. Denn jetzt stehe ich erst einmal in einem zugebauten Skigebiet. Allerdings führt mich die Markierung zunächst durch das verschneite Blockkar zwischen Bürkelkopf (3032 m), Flimjoch (2757 m) und Flimspitze (2929 m). Als ich im 2737 Meter hohen Viderjoch stehe und somit endgültig auf der Kammhöhe angekommen bin, zeigt die Uhr, wie gesagt, bereits halb Vier. Greitspitze (2871 m) und Palinkopf (2864 m) werden überschritten, der dazwischenliegende Salaaser Kopf (2744 m) westlich umgangen. Unbestritten schön ist dabei die Aussicht nach Ost, wo die bereits stark beschneiten Samnaunberge eine einsame und gottverlassene Bergwelt suggerieren. Störend ist aber, dass der gesamte Kammweg auf breitem Fahrweg verläuft, jeder Gipfel mit einer Bergstation verhunzt ist, und die Aussicht nach West über die unmittelbar nahen Hänge und Gipfel aufgrund des völlig verbauten Zustandes Trübsal aufkommen läßt. In Dieter Seibert`s Führer von 1993 endet das Skigebiet noch hinter der Greitspitze, so viel also zum schon vor mindestens 10 Jahren vereinbarten Neuerschließungsstop der Alpen. Vor dem Zeblasjoch (2539 m) sehe ich mich gezwungen, den Kammweg zu verlassen und ins Fimbatal zurückzukehren. Dies ist besonders insofern ärgerlich, als dass hinter dem Zeblasjoch der eigentlich interessante Teil der Wanderung begonnen hätte. Denn erst dort lässt man heutzutage endgültig das Skigebiet hinter sich und gelangt aussichtsreich auf einem Wanderpfad über alpine Matten zur Heidelberger Hütte. Ab dem Zeblasjoch verliefe der Weg dorthin konform mit dem Hüttenaufstieg aus dem schweizer Talort Samnaun. Samnaun hat übrigens den Status eines Zollausnahmegebietes, da die Ortschaft vom Rest der Schweiz abgeschnitten und nur von Tiroler Seite aus über Straße zugänglich ist. Es ist somit ein gleicher Fall wie einst das österreichische Kleinwalsertal vor Österreichs EU - Beitritt, welches ja auch nur von der bayrischen Seite her dem Verkehr geöffnet ist. Traditionsgemäß ein Schmugglerparadies, wird bis auf den heutigen Tag über das verbindende Skigebiet Patznaun/Samnaun Schwarzhandel betrieben, und zwar meist von die Seiten wechselnden Skitouristen. Doch aufgepasst, denn auch der Zoll ist des Winters auf schnellen Skiern unterwegs!

Am Palinkopf steige ich, anstatt weiterhin dem nun abwärts führenden Fahrweg zu folgen, über eine Skipiste und anschließend unangenehm über steile Buckelwiesen bis auf einen Pfad ab, der mich schließlich wiederum zurück auf den Fahrweg bringt. Jetzt wird es höchste Zeit, die Stirnlampe zu präparieren, denn den Fahrweg erreiche ich glücklicherweise gerade noch vor dem endgültigen Einbruch der Dunkelheit. Im Grunde genommen mache ich jetzt einen längeren Umweg, doch ich verspüre wenig Verlangen, einen Bergpfad in der Finsternis und noch dazu unter Schnee zu suchen, vom landschaftlichen Aspekt hätte es mir eh nichts gebracht, zumal in der Neumondphase die Nächte besonders schwarz sind. Kurz nach Erreichen des Fimbatalweges verkündet ein Schild die Grenze zwischen Österreich und der Schweiz, welche seltsamerweise über keinerlei geographische Barrieren, sondern einfach so durch´s Tal hindurch verläuft. Die Heidelberger Hütte (2264 m) und ihre alpine Umgebung liegen somit komplett auf Graubündner Boden, was sie wiederum zur einzigen Hütte des DAV macht, welche sich auf schweizer Gebiet befindet. Vom Frühjahr her weiß ich, dass von der Grenze aus immer noch ein gedehnter Hatscher zu bewältigen ist, und auch die Hütte erst kurz vor Ankunft sichtbar wird. Nach einer mir ewig erscheinenden Dackelei sehe ich endlich ein winziges Lichtlein durch die stockfinstere Nacht flunkern und denke zunächst, es sei wohl bereits jemand in der Hütte. Doch der Hüttenwirt hat vor dem Haupthaus das Licht brennen lassen, offensichtlich zur Orientierungshilfe für verirrte oder verspätete Bergfreunde. Im gemütlichen Winterraum steht mir nebst einem wärmenden Holzofen auch elektrisches Licht zur Verfügung. Halb Neun ist es geworden, bis ich endlich hier eintreffe, gut anderthalb Stunden hatte ich in der Dunkelheit zugebracht.

Um 8.20 Uhr am folgenden Morgen (nach Winterzeit, Zeitumstellung erfolgte vergangene Nacht) verlasse ich die Gemütlichkeit der Hütte, um in einen abermals fantastischen, sonnigen Spätherbsttag aufzubrechen. Der Beginn des Weges ist mir vom Winter her noch bekannt, als wir bei garstigem Wetter und 20 Miesen zum Piz Tasna (3179 m) unterwegs waren, dann aber aufgrund der zunehmend schlechten Wetterlage mit dem Piz Laver (2984 m) vorlieb nehmen mussten. In den Schwemmböden unmittelbar hinter dem als in der Karte mit Dösslung (2670 m) benannten Geländekopfes erfolgt dann die Abzweigung nach rechts (Nordost) hinauf durch angeschneiten Schutt bis in die geschlossene Firndecke über dem Vadret da Fenga. Dieser kleine Gletscher ist im Grunde genommen harmlos, an seinem Rand klafft dennoch eine offene Querspalte, der ich kurz über die rechte Moränenseite ausweiche, um mich dann wiederum mühevoll durch mit einem Harschdeckel belegten Pulver ins sogenannte Falsche Kronenjoch emporzuarbeiten. Vom Joch aus habe ich mir noch etwa Fleißarbeit vorgenommen, denn die Breite Krone (3079 m), die während des Aufstieges die ganze Zeit über mit einer wilden, schwer einnehmbaren Südwand protzt, offeriert von hier aus ihre sanfte Seite. Über die steilen, aber bei guten Verhältnissen harmlosen Grashänge wird dieser Berg Sommers wie Winters häufig bestiegen. Ich sehe, wie vor mir ein weiterer Alleingänger bedächtigen Schrittes zum Gipfel hinauf serpentiert. Das Panorama ist prächtig, nur im Südwesten verbaut der mächtige Tasna die Fernsicht dorthin. Roland, so der Name des unbekannten Berggehers, schlägt mir vor, gemeinsam noch der benachbarten Krone (3188 m) einen Besuch abzustatten. Dieser Berg ist laut AV – Führer "Silvretta alpin" in Einser – Kletterei vom Kronenjoch aus zu haben. Im Volksmund trägt er den Namen Spitzige Krone, welcher die geologischen Form dieses imposant erscheinenden Doppelgipfels trefflich wiedergibt. Er befindet sich in der Verlängerung des Fluchthorn – Kammes auf das Kronenjoch zu. Im Grat zwischen dem unmittelbar unterhalb des Südlichen Fluchthorns einschneidenden Zahnjoch und dem Kronenjoch ist die Spitzige Krone die höchste und eindrucksvollste Berggestalt. Der Anstieg ist meiner Ansicht nach mit 1 zu gering eingestuft, hinzu kommt noch viel Schutt und brüchiger Fels. Da wir nur zu Zweit am Berg unterwegs sind, hält sich die Steinschlaggefahr jedoch in Grenzen. Die Aussicht übertrifft jene von der kleineren Schwester um ein Weiteres! Neben der Bernina – Sicht, die auch die Breite Krone bietet, kann man von hier aus über den Tasna hinweg zum Ortler hinüberschauen. Hinterm Samnaun grüßen die Ötztaler und im Westen tut sich die gesamte Silvrettakette auf, mit der ich ja die kommenden Tage genauere Bekanntschaft zu schließen gedenke.

Nach sicherer Rückkehr von der Krone geht´s jetzt schnurstraks durch gleichbleibend hochalpines Terrain hinab ins wilde Tal des Futschölbaches, vorbei am markanten Finanzerstein (2476 m) mit seinem originell in den Felsen gebauten Unterstand, bis runter zum im scheinbar ewigen Schatten des wilden und engen inneren Jamtales weilenden, gleichnamigen Berghaus. Roland weist mich noch darauf hin, dass sich kurz unterhalb des Futschölpasses (2768 m) ein altes Zollwachhäuschen befindet, welches einfachst und klein, aber gemütlich mit Holz und Kanonenofen ausgestattet, eine interessante Unterkunft in völliger Bergabgelegenheit bietet. Ich sehe aber das Häuschen, trotz der Verlockung, als ungünstigen Ausgangspunkt für meinen morgigen Weiterweg an, und ziehe deshalb gleichfalls die Jamtalhütte (2165 m) als Bleibe vor. Kurz vor Erreichen des stattlichen Berghauses überholen wir eine Familie, die im Bereich der Hütte offensichlich einen Sonntagsausflug unternimmt. Wie es sich herausstellt, ist es die Wirtsfamilie, mitsamt Opa, der einst vor seinem Sohn hier oben als Hüttenwirt residierte. Mit meiner Frage an den Alten, von wo denn eigentlich "die" Lawine heruntergekommen sei, trete ich ins Fettnäpfchen. Ich hatte nämlich das Lawinenunglück vor wenigen Jahren in unmittelbarer Hüttennähe gemeint, wo eine Gruppe vom Summit – Club des DAV verschüttet wurde. Der alte Jamtalwirt erklärt mir aber, wie sich eine Lawine von den Hängen des Pfannknecht und den Augustenköpfen herab gelöst habe, die ins enge Futschöltal hineinfuhr, dort den Gegenhang ausgelöst habe, und anschließend die verheerenden Schneemassen aus beiden Lawinen durch die Talenge direkt in die Hütte hineinfegten. Hinterher erklärte mir Roland, dass bei diesem Unglück Familienangehörige des Wirtes ums Leben gekommen seien. Nebenbei erfahren wir, dass sich die Bezeichnung Augstenspitze und Augstenköpfe vom Monat August herleiten, da die Hänge unter diesen Bergen aufgrund des lange sich dort oben haltenden Schnees erst spät, nämlich im August, mit Vieh beschickt wurden.

Während die Umgebung der Heidelberger Hütte zwar auch schon wunderbare, wenn auch etwas sanftere, Hochgebirgseindrücke vermittelt, wird sie vom Standort der Jamtalhütte glatt in den Schatten gestellt. Denn was sich hier rings um die Hütte auftut, ist einfach fantastisch! Rassige, pyramidenförmige Felsgestalten, wie die Jamspitzen (3178m, 3156 m) oder die berühmte Dreiländerspitze (3191 m), welche, nebenbei bemerkt, der meistbestiegene Hochgipfel der Silvretta ist, ragen dort aus dem schneeweißen Bett des Jamtalgletschers empor, die in der Kühnheit und Schroffheit der Formen als exzellente Kunstwerke der Natur zu betrachten sind. Wo man auch hinblickt, man ist in diesem canyonähnlichen Talabschluß von wildesten Berggipfeln umzingelt, nichts für Klaustrophoben! Roland und ich sind die einzigen Gäste des gemütlichen Winterraumes. Wir verstehen uns Bestens und es folgt ein angenehmer Abend mit Plausch über Bergtouren in- und außerhalb der Alpen. Wir tauschen zum Abschluß noch unsere E-Mail – Adressen aus und verbleiben, im kommenden Sommer eine interessante Gratbegehung (Egghörner, Schattenspitze, Schneeglocke, bis zum Kulminationsgipfel Silvrettahorn) mit Biwak auf dem Kamm zu unternehmen, von der ich wirklich hoffe, dass diese zustande kommt.

Während Roland am nächsten Tag das Südliche Fluchthorn angeht, halte ich mich an den Rhythmus der Silvretta – Durchquerung, da ich ja mit Haydar verabredet bin. Ich bin aber jetzt schon darauf versessen, bezüglich Hochtouren in der Silvretta hoffentlich noch einiges in den kommenden Jahren abarbeiten zu können, und falls es jetzt noch zu keiner Hochgipfel – Begehung kommen sollte, die Durchquerung mir zugleich auch als große Kennenlerntour dienen wird, bei der ich mir zumindest einen groben Überblick über dieses faszinierende Gebirge verschaffen will. Nachdem ich bis in die Talsohle abgestiegen bin und dort das Ufer des Jambaches mangels Brücke mit behutsamen Sprüngen von Stein zu Stein gewechselt habe, zieht der Pfad nun, auf kurzer Distanz viel an Höhenmetern gewinnend, im gegenüberliegenden Steilhang aufwärts. Ich kann meinen gestrigen Übergang am Kronenjoch einsehen, gleichfalls beide Kronengipfel und selbstverständlich die drei Fluchthörner, wobei das Südliche Fluchthorn mit seinen 3399 Metern der zweithöchste Gipfel der Silvretta ist. Er wird nur noch durch den weit vom Hauptkamm nach Süden abgeschlagenen Piz Linard - aufgrund dieser Position durch und durch ein Schweizer - übertrumpft. Tief unter mir liegt die Jamtalhütte wieder mal im langen Morgenschatten, während sich die vom Weiß des ersten Schnees übergossene Gipfelwelt rings herum bereits im Licht der golddurchtränkten Sonne aalt, die vom tiefblauen Himmel eines traumhaft schönen Spätherbsttages herabstrahlt. Auf der gegenüberliegenden Talseite baut sich das Westliche Gamshorn (2987 m) wie eine mächtige Mauer auf. Dieser Wandergipfel gilt als exzellenter Aussichtsberg, den ich allerdings für die noch beeindruckendere Spitzige Krone gestern sausen lassen habe. Von der ersten Geländeterrasse aus, die ich erreiche, entfaltet die Augustengruppe im morgendlichen Gegenlicht ihre wahren Dimensionen, die man so von der Jamtalhütte aus gesehen nicht einmal erahnen kann. Auch weiter rechts, sprich West, die Chalausspitzen – was für ein Anblick! Direkt über mir strotzt die Madlenerspitze mit ihren Anhängseln als beeindruckender Felsengrat.

Der Aufstieg in die 2839 Meter hohe Gletscherscharte vollzieht sich unschwierig durch anregend felsiges Gelände und bleibt bis obenhin völlig aper. In der Scharte ändert sich dies jedoch, und nun geht es durch knietiefen Schnee steil hinab entlang des Madlenerferners. Weiter unten mäßigen sich dann Schneeauflage und Steilheit und über Pfadspuren ziehe ich vor einer mit einem Ombrometer besetzten Graskuppe ins Bieltal hinüber. Von der Gletschnerscharte aus sind übrigens zum ersten Mal der Silvretta – Stausee und die berühmte Bielerhöhe zu sehen. Wie viele Kaffeefahrten hat der Parkplatz am Nordende des Sees wohl schon über sich ergehen lassen! Doch wenn ich die zweifellos schöne Fahrt über die Silvretta – Hochalpenstraße bis zum Kulminationspunkt Bieler Höhe mit dem vergleiche, was der tief im Gebirgsinneren tourende Alpinist zu sehen bekommt, dann kommt mir das alte Liedlein von Bachman, Turner, Overdrive in den Sinn "You´ve ain´t seen nothing yet – Du hast noch nichts gesehen!"

Hinter dem Stausee bauen sich die kahlen, unvergletscherten Gipfel der Nordsilvretta auf, auch der Hochmaderer, ein Aussichtsberg, auf den ich später noch zu sprechen komme, und dahinter, mit auffallend hellem Fels, die Berge des Rätikon. Zunächst am Bielbach entlang aufwärts zieht das Steiglein schließlich nach rechts in den Radsattel hinauf, wo mit zunehmender Höhe auch wieder Schnee den Weg bedeckt. Diesmal ist aber gespurt, offensichtlich ist schon eine beträchtliche Zahl an Personen von der Bielerhöhe aus hier heraufgegangen. Die Spuren haben übrigens den Nachteil, dass sie gefroren und somit heikel rutschig sind. Im Radsattel treffe ich dann tatsächlich auf mehrere Tageswanderer, die sich in der Sonne baden. Ich stelle meinen schweren Rucksack am Wegweiser ab und begebe mich in die schattige Ostflanke des Hohen Rades (2934 m), wo mein Blick hinunter zum dunklen Spiegel des Radsees fällt. Da das Hohe Rad, wenn man, so wie ich, von der Jamtal- zu Wiesbadener Hütte unterwegs ist, praktisch auf dem Weg liegt und zudem einer der Paradeberge in puncto Silvretta – Aussicht ist, ist es für mich eine Selbstverständlichkeit, ihn auch zu besteigen. Der gut durchgespurte Weg führt zunächst auf die Radschulter, wo man dann in einfacher Kletterei dem Gipfel entgegenstrebt. Auf dem Weg nach oben kommen mir einige Personen entgegen, die bereits wieder im Abstieg sind. Als ich gegen 15 Uhr den Gipfel erreiche, bin ich allein dort oben. Die Aussicht ist wahrlich großzügig, wobei das Silvrettahorn dominiert. Östlich davon, weiter nach hinten versetzt, die beiden Buine (Name leitet sich übrigens vom romanischen "Ochsen" her), daneben die turmförmige Dreiländerspitze. Noch weiter im Osten die Fluchthörner und die beiden Kronen. Auf West bestimmen Großlitzner (3109m) und das Große Seehorn (3121 m) die Szenerie. Auch die Gletschnerscharte, über die ich heute morgen gekommen bin, ist gut einsehbar. Die Sonnenbader im Radsattel, die zuvor ebenfalls schon auf dem Gipfel waren, hatten von hier aus übrigens meinen Abstieg beobachtet. Wieder zurück im Radsattel, schultere ich meinen Rucksack für den letzten Gang hinunter zur Wiesbadener Hütte (2443 m). Im Radsattel steht übrigens ein Schild, welches anzeigt, dass sich hier die Landesgrenze zwischen Tirol und Vorarlberg befindet. Wohl denn, willkommen in Vorarlberg! Als ich endlich die Hütte erreiche, ist es bereits 17 Uhr, also eine Stunde vor Sonnenuntergang. Ein langer, prächtiger Tourentag liegt hinter mir.

In der Wiesbadener Hütte ist ganz schön was los, drei Familien und mehrere Bergsteiger haben sich eingenistet, aber Gott sei Dank ist der Winterraum dieser Bergunterkunft mit mehreren Schlafräumen ausgestattet, so daß auch für mich noch jede Menge Platz zum Ruhen bleibt. Gestern soll es übrigens wirklich eng zugegangen sein, denn wenn die Schlafplätze voll belegt sind, wird der kombinierte Koch- und Aufenthaltsraum eindeutig zu klein. Wie auch zuvor die Jamtalhütte, so steht auch dieses Haus inmitten prächtigster hochalpiner Kulisse. Hier befindet man sich sozusagen im Kernstück der Silvretta, und der nur zweistündige Anstieg von der Bieler Höhe aus verlockt auch so Manchen weniger Gehstarken, hier herauf zu kommen. Unter den Gästen befindet sich auch ein Alleingänger, der mit dem Mountainbike heraufgefahren ist und hier einen wahren Rundumschlag gemacht hat. Vier Hochgipfel (Silvrettahorn, beide Buingipfel, Dreiländerspitze) hat der allein abgegrast. Ich könnte mir diese Tour in Begleitung von ein paar bergstarken Kumpels als durchaus durchführbar vorstellen, aber alleine würde für mich eine solche Tour, da sie ja über mit Spalten gespickte Gletscher führt, nicht in Frage kommen. Bedauerlicherweise treffe ich Haydar unter den Hüttengästen nicht an. Das kann zwei Gründe haben: entweder er hat seine Erkältung noch nicht los, oder aber die vom Althüttenwirt im Jamtal vorherprognostizierte "Zwischeneintrübung" wird bereits morgen, und nicht erst am Mittwoch, eintreffen.

Als ich um 8 Uhr 30 die Hütte verlasse, ist es denn auch bereits wolkig und windig. Das Wetter kann noch nicht als schlecht bezeichnet werden, aber die Tendenz geht sicher dahin, dass eine weitere Verschlechterung im Laufe des Tages eintreffen wird. Bevor ich mich endgültig dem Fahrweg talauswärts ergebe, lasse ich nochmals das gewaltige Panorama im Talabschluß auf mich einwirken. Unter den dramatischen Gipfeln ziehen zwei recht unterschiedliche Gletscher herab. In sanftem Weiß fließt der Vermuntgletscher auf der Ostseite zu Tale, während der westliche Ochsentaler Gletscher eine wilde Zerrissenheit zeigt. Mein morgendlicher Weg führt mich zunächst ins Tal hinunter, bis kurz vor das Südufer des Silvretta – Stausees. Dort biege ich südwärts in das verlassene Klostertal ein. Die Kaskaden des glasklaren Klosterbaches, flachsgelbe bis nahezu orangefarbene Bergwiesenhänge, welche von mit grünspanähnlichen Moosflecken besprenkelten, grauen Felstrümmern übersät sind, zackige, dunkle Gipfel mit einem Hauch Schnee auf den schmalen Simsen ihrer ansonsten oft senkrechten Flanken, das alles ruft Erinnerungen an die von mir so oft schon besuchte Hohe Tatra herbei. Gipfel, wie die kreuzgekrönte Sonntagspitze (2882 m, wurde übrigens an einem Sonntag von Saarbrücker Bergfreunden vermutlich erstbestiegen) oder die kleinen Egghörner sind die besten Beispiele für den Tatra – Vergleich. Allerdings säumen auch hier im Klostertal, wenn auch nicht so großzügig, wie zuvor im Ochsental oder im Jamtal, Gletscher den einen oder anderen Hochgipfel, die Hohe Tatra hingegen ist heutzutage ein vollkommen unvergletschertes Gebirge. Der Talabschluß des Klostertales ist lange nicht so dramatisch, wie die der zuvor kennengelernten Silvrettatäler, die Dramatik spielt sich mehr in den Talflanken ab. Dieses Tal überzeugt mich vor allen Dingen durch seine völlig abgelegene und verlassene Erscheinung. Auf einer Anhöhe thront die sogenannte Klostertaler Umwelthütte (2366 m), die man wohl als denkmalgleiches Symbol für die Verlassenheit dieses schönen Tales betrachten darf. Hier sollte ein weiteres Berghaus als Großunterkunft für Bergtouristen entstehen. Doch wurde kurz vor Fertigstellung wegen Umweltbedenken ein Baustop verfügt. Die Hütte ist dennoch per AV – Schlüssel für Alpenvereinsmitglieder zugänglich. Laut Roland soll sie sich in einem etwas verlotterten Zustand befinden, die Räumlichkeiten sind nie ganz ausgebaut worden, und die Hütte soll inzwischen auch als Heim für Fledermäuse dienen. Dieses Haus wäre dann kommenden Sommer der Ausgangspunkt für unsere geplante Gratturnerei über die Egghörner, Schattenspitze, Schneeglocke bis Silvrettahorn. Eingeweihte wissen ja, wie sehr mir solch "dubiose" Unterkünfte am Herzen liegen!

Eine Wegverzweigung führt mich über´s jenseitige Ufer des Klosterbaches, dann steil hinauf gen West ins Verhupftäli, ein ungemein beeindruckendes, völlig verlassen und hochalpin erscheinendes Hochtal. Die eigenartige Schlechtwetterstimmung tut ihr Übriges dazu. Mein Blick fällt zurück ins wolkenverhangene Klostertal, welches am Ausgang durch die tiefgrüne Stauseefläche abgeschlossen wird. Die nun wiederum überblickbaren Silvretta – Hochgipfel haben ihre Köpfe bereits in Wolkenbäder getaucht, und ich kann zusehen, wie immer größere Teile von ihnen von Nebelwänden verschluckt werden. In dem nun schon beinahe unheimlich wirkenden, schneedurchsetzten Blockgelände des Litznersattels, wo etwas unterhalb der kleine Litznersee wie eine Badewanne für Trolle und Berggeister zwischen die Felsblöcke eingebettet ist, nehme ich einen letzten Eindruck vom Klostertal und seiner Gipfelwelt mit. So wird das Klostertaler Egghorn (3120 m) durch einen sanft geschwungenen Firnsattel von der Schattenspitze (3202m) getrennt. Jenseits der Scharte erwarten mich neue Eindrücke. So thront unter mir in exzellenter Lage die Saarbrücker Hütte auf 2538 Metern Höhe, was sie zur höchstgelegenen Berghütte in der Silvretta macht. Überragt wird sie von ihrem kreuzgeschmückten Hausberg, dem Kleinlitzner (2783 m), welcher für die zweite Tageshälfte noch einen anregenden Aufstieg für mich bereit hält. Während ich durch bereits gespurten Schnee in einen wilden Felskessel hinuntersteige, bauen sich spannende Bilder vor meinen Augen auf. Langsam kriechen Nebelschwaden wie schwebende Gespenster an den Talhängen zur Hütte empor. Die angeschneiten Gipfel um mich herum mit ihren gleichfalls weiß eingezuckerten Karen bieten ein Bild von eigenartiger Farbblässe. Das Ganze vermittelt eine seltsam faszinierende Monotonie eines Jim – Jarmusch – Films und ist eigentlich ein typisches Winterbild. Als ich schließlich vor der wunderschönen, schindelbedeckten Hütte stehe, kann ich gerade noch die waghalsige Nadel des Großlitzners und das protzige Große Seehorn direkt daneben in Augenschein nehmen, bevor der Nebel die gesamte Umgebung verschluckt und dem spannenden Schwarz – Weiß - Film ein vorzeitiges Ende bereitet. Die Saarbrücker Hütte und ihre Umgebung beeindrucken mich in ganz besonderer Weise, denn hier ist man so nah an den Hochgipfeln, wie bei keiner weiteren der von mir besuchten Silvrettahütten. Es sind dies zwar "nur" die erwähnten letzteren beiden, die in die Riege der "ganz großen" der Silvretta gehören, auch werden sie in puncto Höhe von vielen anderen übertrumpft, doch alle beiden zählen aus alpinistischer Sicht zu den "Schwereren" Gipfeln des Gebirges.

Während ich mit meinem Übergang von Hütte zu Hütte offensichtlich das richtige Timing erwischt habe, gerät die Besteigung des Kleinlitzners am frühen Nachmittag zu einer feuchten Nebelpartie. Trotzdem wird dieser Berggang über einen anregenden Klettersteig eine interessante Sache. Als ich schließlich das Gipfelkreuz erreiche, setzt ein nasser Schneefall ein, und ich schaue, dass ich schleunigst wieder herunterkomme. Um den Winterraum der Hütte zu erreichen, muß man über eine Leiter auf´s Vordach hinaufsteigen, wo sich ein gemütliches Quartier direkt unterm Dach befindet. Nachteilig ist allerdings, dass sich in der Küche zwar ein einfach zu bedienender Gasherd zum Kochen, jedoch keine Heizmöglichkeit befindet. Um 15.20 Uhr finde ich mich wieder in der Hütte ein. Als ich um 16.15 vor die Hüttentür trete, nieselt draußen ein ungemütlicher Sprühregen, der bei einem weiteren Kontrollgang um 17.15 Uhr bereits in Schneefall übergegangen ist.

Morgens um 7 kann ich aus dem Schlafsack heraus auf die beiden nun frisch angeschneiten Gestalten von Großlitzner und Seehorn blicken, und der dämmernde Morgenhimmel präsentiert sich in schönster Romantik. Ich begebe mich zum Frühstück in die Küche zu Müsli und heißem Kaffee. Dort spähe ich durch´s Fenster hinunter zum Vermunt – Stausee, dahinter bauen sich die Felskastelle des Verwall auf. Leider ist auch gestern kein Haydar über den Weg durch´s Kromertal zu mir herauf gekommen. So werde ich heute den Stellungswechsel zur letzten Silvrettaunterkunft, der Tübinger Hütte im äußersten Westen, vollziehen. Bevor ich die Hütte verlasse, nehme ich noch einmal Einsicht in ihre prächtige Umgebung. Links des Litznersattels stiehlt die 2863 Meter hohe Glötterspitze der mit 2957 Meter hohen Verhupftspitze glatt die Show und gehört neben Seehorn und Großlitzner unbestreitbar zu den Blickfängen der Saarbrücker Hütte. Die Kromerlücke (2729 m), die erste von vier heute von mir zu bewältigenden Scharten, ist von der Hütte ebenso gut einzusehen, wie die Seelücke weiter im Osten und natürlich die Litznerscharte, über die ich gestern gekommen war.

Die heutige Etappe ist für mich ein wenig die Zitterpartie der Durchquerung, da der Kromergletscher, den es hinter der gleichnamigen Lücke zu queren gilt, im Ruf steht, "ein paar Spalten" zu haben. Zum Glück stimmt heute Morgen das Wetter, denn davon hatte ich meine Entscheidung abhängig gemacht, entweder die hochalpine Route über vier Scharten und drei kleine Gletscher zu nehmen, oder mit der zwar längeren, aber braveren und weniger spannenden Möglichkeit, das Tal abwärts und anschließend wiederaufsteigend über´s Madererjoch die Tübinger Hütte zu erreichen. Als ich nach kurzer Zeit in der Kromerlücke stehe, ist die Angst noch vor Betreten des Gletschers genommen. Deutlich sehe ich eine Spur genau nach den Vorgaben meines Höhenwegführers "horizontal" über den Firn verlaufen, weiter unten kann ich die halboffenen Spalten, auf die sich die Warnung bezieht, ebenfalls ausmachen. Zur zusätzlichen Sicherheit kann ich im Zweifelsfall noch mit dem Pickel sondieren, was um diese Jahreszeit, wo eine Schneebrücke, wenn sie sich bereits aufgebaut haben sollte, sehr leicht durchstochen und erkannt werden würde. Die folgende Lücke ist unbenannt, bietet aber dennoch schöne Ausblicke. Das Große Seehorn zeigt dem Betrachter von hier aus eine besonders unnahbare Seite in Form einer supersteilen, plattenähnlichen Flanke. Wie eine Kirchturmspitze ragt der kreuztragende Gipfel des Großlitzners über den ihm vorangestellten Bergkamm. Es folgt die Querung des harmlosen Schweizer Gletschers mit anschließendem Aufstieg in die Schweizer Lücke (2744 m). Der Himmel über mir trägt neue, hochfliegende Wolken heran, ein paar Fönfische sind zu sehen. Hintenherum geht´s nun durch schweizer Territorium, hoch über einem faszinierenden Felskessel, in dem unten der Schottensee im fortgeschrittenen Morgenlicht glänzt. Vom gleißenden Firn des Seegletschers umkleistert, sprießt in etwa südwestlich des Hauptgipfels der imposante Doppelgipfel des Kleinen Seehorns (3032 m) gen Himmel. Im Plattenjoch (2728 m) angekommen, ist es wieder mal an der Zeit, den Rucksack beiseite zu stellen, um noch vor Ankunft an der Tübinger Hütte (2191 m) dem höchsten Gipfel des die Hütte umrahmenden Bergkessels, der Westlichen Plattenspitze (2883 m), auf´s Haupt zu steigen. Ich habe zwar seit Tagen keinen Menschen mehr gesehen, und im Einzugsbereich der Tübinger Hütte erwarte ich das am Allerwenigsten, trotzdem beschließe ich, den Rucksack nicht direkt im Joch abzustellen, sondern Selbigen weiter oben, bereits im Gipfelanstieg zu deponieren, damit nicht etwa ein paar überbesorgte Bergkameraden die Bergwacht rufen, wenn sie einen verlassenen Rucksack hier oben vorfinden. Unterm Gipfelkreuz bietet sich ein Rückblick der Sondergüte. Die Fluchthörner, die wohl immer zu sehen sind, egal wo man in der Silvretta gerade steht (ein Grund mehr, dort eine Besteigung zu versuchen!) und wiederum meine beiden Kronen – wenn auch im Gesamtsammelsurium recht unbedeutend geworden – und so ziemlich alles, was bis zu meinem jetzigen Standort an Bedeutsamem dazwischenliegt, bietet zum (fast-) Abschluß eine herrliche Parade. Gen Westen kann ich bereits das Rheintal mit den dahinter aufragenden Glarnern, Flumser Bergen und dem Säntisgebiet ausmachen, nordwärts zeigt sich das Rätikon, wo sich nun detailliert die bekannten Gipfel von Schesaplana, Sulzfluh, Drusenfluh und abseits die auffällige Zimba herausspitzen, daneben folgt der weite Taleinschnitt des Montafon, mehr auf Ost das Verwall und hinter dem Wallgau ragen die bleichfelsigen Lechtaler empor. Direkt unter mir glänzt auf der nächst unteren Gletscherterrasse unterhalb des Schottensees ein weiterer, kleinerer See, unterhalb dessen sich die Seetalhütte (2065 m), die von hier aus allerdings nicht zu sehen ist, befinden muß. Der scharfe Taleinschnitt darunter verbirgt den bekannten schweizer Talort Klosters. Zurück im Plattenjoch stapfe ich steil durch das schneegefüllte Kar bis in die flacheren Blockfelder hinunter, wo ich bald wieder auf den markierten Pfad stoße, der mich endgültig vor die Hüttentür führt.

Die folgende Disziplin ist eine Stunde Holz sägen und Spalten. Das Schlitzohr von Hüttenwirt stellt den Wintergast vor die Wahl, sich entweder der fabrikhergestellten Holzbriketts zu bedienen (Eine Lage = 6 Stück für 12 Euro), oder aber sich mit den halben Baumstämmen hinter der Hütte selbst das nötige Holz ofengerecht zu zerkleinern. Zu bemängeln ist, dass für solche Bengel die Axt viel zu klein ist. Nach getaner Arbeit und einer kleinen Vesper zieht es mich des frühen Nachmittags abermals auf einen Gipfel. Der Hochmaderer ist allerdings für behäbigere Wanderer schon fast eine Ganztagstour, da man, um ihn zu erreichen, zuerst die Flanken der Nördlichen Valgraggesspitze (2793 m) umrunden muß, um zum Anstieg des Hochmadererjochs (2505 m) zu gelangen. Diese Lücke dient als Übergang zum Vermuntsee und kann auch, wie bereits erwähnt, zur Erreichung der Saarbrücker Hütte benutzt werden. Kurz unterhalb des Sattels zweigt der Aufstiegspfad zum Hochmaderer ab. Dieser prächtige Aussichtsgipfel ist für jeden trittsicheren Wanderer zugänglich, der Ausblick von ihm einfach königlich, da auch er, wie das Hohe Rad bei der Wiesbadener- oder das Westliche Gamshorn bei der Jamtalhütte, dem Silvretta – Hauptkamm unmittelbar vorgelagert ist. Daß Hin- und Rückweg von der Hütte aus etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen, tut mir, der ich ja nun wiederum gepäcklos unterwegs bin, keinen Abbruch, im Gegenteil, auf dem Rückweg trödle ich noch ein wenig, um die hereinbrechende Dämmerung, eine Tageszeit, die ich besonders liebe, genießen zu können. Dennoch habe ich mir vorab für diesen Ausflug vorsorglich die Stirnlampe in die Jackentasche geschoben, man weiß ja nie!

Zurück in der Hütte, ärgert mich der Herd. Dieses gottverfluchte Ding kriegt einfach keinen Abzug über´s Kamin und anstatt eines Feuers entstehen nur furchtbar qualmende Schwelbrände. Mit tränenden Augen muß ich schließlich aus der Hütte flüchten, zuvor noch sämtliche Löcher aufreißend, damit der Rauch endlich wieder abzieht. Ich selbst stinke jetzt wie eine abgehangene Rauchwurst. Gottlob habe ich noch genügend Brot, Wurst und Käse, und somit wird eben heute Abend kalte Platte zu eiskalten Füßen serviert. Abgesehen vom Ofen, bietet die Tübinger Hütte, so wie bislang alle von mir auf dieser Tour besuchten Berghäuser, ein gemütliches und schönes Winterquartier. Im Schlafraum nehme ich selbstverständlich das Lager am Fenster, damit mir auch des Morgens wiederum der Bergblick aus dem Schlafsack heraus beschert ist. Ebenfalls günstig ist die Tatsache, dass die sehr ordentliche Toilette direkt neben dem Schlafraum anschließt und ich nicht erst in Unterhosen und Bergstiefeln mitten in der Nacht etwa ins Kalte hinausstolpern muß. Diesbezüglich waren die Erfahrungen unterschiedlich: die Heidelberger hatte ein altes Toilettenhäuschen hinter dem etwas entfernteren, riesigen Felsen östlich vom Haus, die von der Jamtal war abgeschlossen (war uns erst aufgefallen, als die Hüttenwirtsfamilie bereits wieder weg war), die der Wiesbadener befand sich seitlich im Vorraum und an der Saarbrücker konnte ich keine finden. Bezüglich Wasserversorgung gab es an der Heidelberger einen funktionierenden Brunnen direkt neben der Hütte, an der Jamtal bedienten wir uns vom etwa 150 Meter entfernten Futschölbach, an der Wiesbadener diente uns das Wasser aus dem Tiroler Gletscher, welches durch den hüttennahen Bach zu uns herunterrauschte, an der Saarbrücker musste ich wiederum ein gutes Stück dem Fahrweg aufwärts folgen, um an ein kleines Bächlein zu stoßen, und hier an der Tübinger sprudelt das frische Bergwasser aus einem Rohr unmittelbar neben der Hütte. Die Tübinger Hütte bietet mittels eines Zeitschalters, der allerdings erst nach Einbruch der Dunkelheit für drei Stunden funktioniert, elektrisches Licht im Aufenthaltsraum. In der Saarbrücker Hütte musste ich mein Buch bei Kerzenlicht lesen (diese waren dafür, zumindest für meinen Aufenthalt dort, ausreichend vorhanden), die Wiesbadener war sowohl im Aufenthaltsraum, als auch in den Schlafgemächern voll stromversorgt, auch in der Jamtaler stand unbegrenzt elektrisches Licht zur Verfügung, selbiges traf auch auf die Heidelberger Hütte zu.

Nachts kommt mir die Erleuchtung, morgen früh den Ofen weiter hinten und somit näher am Rohr zu entzünden. Als ich diese blendende Idee morgens nach 6 in die Tat umsetzen will, verreckt das dämlicher Feuerzeug. Also, Müsli, dazu kalter Kaffee. Bereits um 7.30 Uhr befinde ich mich wieder auf dem Weg. Anstatt direkt ins Tal oder über den Hochmaderersattel zum Vermuntsee abzusteigen, gönne ich mir eine interessantere Variante. Von der Tübinger Hütte aus umrunde ich zunächst das Garneratal durch ein steiniges Kar und erreiche so das Mittelbergjoch (2415 m). Von hier aus kommt die Schokoladenseite des Standortes Tübinger Hütte besonders malerisch zur Geltung. Das Haus steht am Rande des ehemaligen Gletschertisches, unmittelbar darunter macht das Garneratal einen steilen und scharfen Einschnitt. Aufgrund der hier nicht zu verleugnenden Lawinengefahr ist das Haus relativ flach gebaut. Die Umrahmung bilden wilde, zackige Felsgipfel mit steilen Karen, die nun, im angeschneiten Zustand, besonders alpin wirken. Zwar fehlen hier die Gletscher vollends, und somit ist die Tübinger Hütte auch kein Ausgangspunkt für Hochtouren, dafür bietet sie reichlich Ziele für Bergfreunde, die sich im Fels wohlfühlen, oder für Anhänger spritziger Höhenwege. Zu Letzteren zählt der von mir nun begangene Gratweg von der Hütte weg, dem nördlich ausgerichteten Grat folgend, bis vor zur Bergstation der Versettla – Seilbahn.

Hinter dem Mittelbergjoch umrunde ich ein weiteres einsames Kar, und steige empor in das Vergaldner Joch (2515 m). Hier nun habe ich den Grat erreicht, der das Gargellental im Westen vom unter mir im Osten einschneidenden Garneratal trennt. In Folge bleibt der Pfad ständig direkt auf dem Grat, oder aber in dessen Nähe, das unmittelbare Landschaftsbild und der Wegverlauf ähneln somit den typischen Höhenwegen der Allgäuer. Die Gratgipfel sind mit Felsen durchzogene Grasberge und in den Mulden und Einsattelungen sind zahlreiche kleine Bergseen verstreut. Während der gesamten Begehung sind mir großzügige Aussichten gewährt. Auch viele, in Anbetracht des nahenden Winters wohlgenährte Gemse stöbern hier durch´s Gelände und lassen hin und wieder einen erschreckten, pfiffähnlichen Schrei los, wenn sie mich sehen. Das im Nordosten so grün leuchtende Staubecken ist übrigens der Kops – Stausee, der Dritte im Bunde der von den österreichischen Illwerken hier betriebenen Stauanlagen. Den dramatischsten Anblick bietet wiederum die Silvretta, wobei ich mich hierfür, da ich mich ja nun von diesem Gebirge entferne, allerdings umdrehen muß. Folgende Stationen werden überschritten: Vorderberg (2553 m), Kuchenberg (2523 m), Matschuner Jöchli (2423 m), Matschunerjoch (2425 m), Nördlicher Matschunerkopf (2426 m), den Südlichen Matschunerkopf und den folgenden Kleingipfel umgehe ich, dafür nehme ich den kleinen Umweg zur hier herausragenden und mit einem von einer St. Gallenkircher Gastwirtsfamilie gestifteten Kreuz geschmückten Madrisella (2466 m). Dies war nun der letzte größere Anstieg, abgesehen von der weiter vorne noch zu überschreitenden Versettla (2372 m), so dass ich mich entschließe, vor Rückkehr in die Zivilisation wenigstens noch frische Klamotten anzuziehen. So stehe ich denn für mehrere Minuten, weit und breit allein auf weiter Flur, splitternackt unterm Gipfelkreuz der Madrisella, die angenehm warme Herbstsonne über meinen gebirgsgestählten Körper fließen lassend. Abermals ist mir ein letzter, großzügiger Rundumblick gegönnt, wobei die Aussicht gen Nord, hinüber zum in unmittelbarer Nähe liegenden, verbauten Skizirkus von Silvretta Nova vom baldigen Ende einer fabulösen Bergfahrt kündigt. Die, die dort drüben Skifahren gehen, und sich nur auf dieses Vergnügen beschränken, können getrost von sich behaupten "I´ve ain´t seen nothing yet!"

Unterhalb des felsigen Gipfels der Burg (2247 m) schlage ich den nach rechts hinabführenden Pfad ein, der Hauptweg würde zur Bergstation der zur Zeit sich ohnehin außer Betrieb befindlichen Versettlabahn führen. Die Karte zeigt nun einen Serpentinenabstieg zwischen den Lawinenverbauungen an, allerdings beeinträchtigt diese Tatsache den eigentlich ganz netten Abstieg hinunter nach Gaschurn weniger, als ich gedacht habe. Jetzt wird zusätzlich noch der Geruchsinn angeregt, denn es folgen herrlich duftende Alpenrosenmatten und aromatische Tannenwälder. Der erste Mensch, der mir im oberen Ortsteil Pfanges über den Weg läuft, ist das wilde Männlein von Gaschurn. Schulterlanges, graues Haar, in dem sich Strohhalme verfangen haben, ein ebenso langer Bart, in dreckige Stallklamotten gekleidet, mit dem hochroten Kopf des typischen Cholerikers. Er jagt gerade die Gänse von der Straße in den Hof zurück. Als ich ihn salopp grüße, geht er zunächst hoch wie eine Rakete, setzt Schwaben und Badener als "ein und dasselbe Pack" gleich und als ich immer noch amüsiert reagiere, beruhigt er sich und beginnt von seiner Silvrettadurchquerung von damals wasweißichwann zu erzählen, bis ein silbergrauer Geländewagen vorfährt, und der Rotkopf abermals noch röter wird. "Ah, do kummt da Viehhandlr, wart´, der krieagt was z´ höre!" Kaum ist der arme Viehhändler aus dem Fahrzeug gestiegen, beginnt eine theaterreife Brüllerei.. Zum Abschluß seines Wutausbruches, bei dem er mit den schlimmsten Flüchen und Beleidigungen nicht gegeizt hatte, befiehlt er noch, auf mich deutend: "Und den nimmscht mit auf Feldkirch, des sag´ dr!" Der arme Viehhändler beteuert vergebens, dass er doch zuerst noch Vieh laden und anschließend seine Frau in Schruns abholen muß. Ich trolle mich derweil davon, und bestätige noch, es sei kein Problem, ich kann ja auch den Bus nehmen. Ein paar Häuser weiter hat der Viehhändler erneut angehalten. Er ruft mich und macht mir den Vorschlag, wenn ich noch etwas Geduld hätte und schnell beim Einladen behilflich wäre, könne er mich nach Schruns zum Bahnhof bringen. Ruckzuck sind ein halbes Dutzend Schafe auf den Hänger geladen und der sympathische Mann, mit dem ich unterwegs eine anregende Unterhaltung über Deutschland, Österreich, die EU, die Berge und die Entwicklung des Montafon von seiner Kindheit an bis heute führe, bringt mich schließlich wie abgemacht zum Bahnhof, wo ich sogleich flüssigen Zuganschluß über Bludenz, Lindau, Friedrichshafen und Radolfzell nach Singen bekomme.

Keine Kommentare: