Fünftägiges Trekking über ausgesetzte Grate in Bergeinsamkeit (26.06.-01.07.2006)
Das Tessin hatten wir ja bereits vergangenes Jahr. Nicht vergessen blieb unser Zusammentreffen mit drei Tessiner Bergfreunden unterhalb des Pizzo di Claro. Von ihnen hörte ich zum ersten Mal von der Via Alta della Verzasca. Zwei Tage später, in der Capanna di Cava, hoch über dem Blenio – Tal, wurden wir im SAC – Führer "Alpines Wandern südlich des Gotthardes" unserer beiden Mitübernachter aus St. Gallen einer genaueren Beschreibung dieses spektakulären Treks zwischen dem Verzasca- und dem Leventinatal fündig. Nur ein Jahr ist seither vergangen, und daß ich dieses Projekt nun so schnell in Angriff nehmen konnte, hätte ich mir nicht einmal eine Woche vorher noch denken können. Im Betrieb wurde kurzfristig die Arbeit knapp, eine Woche Urlaub zu nehmen war erwünscht. Der Wanderführer aus dem Rother – Verlag "Klettersteige Schweiz" von Iris Kürschner, den ich unlängst aus den Regalen unserer Stadtbücherei gefischt hatte, trug mit zu der schnellen Umsetzung dieses "Bergtraumes" bei. Obwohl diese Tour in einem Klettersteigführer eigentlich nichts verloren hat, bin ich trotzdem dankbar darüber, hier eine ausreichend verwertbare Anleitung gefunden zu haben.
Somit sind wir schon bei der Klassifizierung: wie bereits angedeutet, diese in fünf Tagesetappen unterteilte Bergtour ist kein Klettersteig, und schon gar keine bloße Bergwanderung. Es handelt sich um eine sogenannte alpine Route, d.h. solide Bergerfahrung, absolute Trittsicherheit und Schwindelfreiheit, sowie problemlose Beherrschung des zweiten Grades in freier Begehung sind Voraussetzungen für eine sichere und genußreiche Bewältigung dieser großartigen Trasse. Zumindest für die 2. und die 4. Etappe sind zudem beste Verhältnisse erforderlich. Die Route ist seit Sommer 2004 zwar bestens markiert, bei Nebel in diesem Gelände die Wegzeichen zu verlieren, wäre allerdings fatal. Des weiteren sollte die Jahreszeit so weit fortgeschritten sein, daß die Route schneefrei ist (ansonsten Probleme bei der Wegfindung und Absturzgefahr auf steilen Altschneefeldern!). Neuschnee und Vereisungen würden in diesem Gelände sicher unappetitliche Situationen erzeugen. Man bewegt sich stundenlang meist völlig ausgesetzt auf dem Grat, bzw. in Gratnähe, obendrein ist die Route gelegentlich mit Eisen "abgemildert", daher lasse man sich keinesfalls von einem Gewitter überraschen! In der Literatur wird die Mitnahme eines 25-Meter-Seils empfohlen, ich selbst brauchte keines, aber für Gruppen mit dem einen oder anderen nicht ganz so sicheren Mitgeher kann es durchaus sinnvoll sein. Das Klettersteigset kann man getrost zu Hause lassen, es macht auf dieser Route keinen Sinn. Die 2-er-Passagen sind frei zu begehen, es gibt nur wenige Stellen, wo mal ein Fixseil angebracht ist, in welches man sich einhängen könnte.
*
Zwischen Zugankunft in Bellinzona (277 m) und Weiterfahrt mit dem Bus nach Monte Carasso (260 m) reicht die Zeit gerade noch so, um die nötigen Einkäufe zu tätigen. Zum Schluß fehlt noch die Wanderkarte, auch das Brot könnte in den kommenden fünf Tagen knapp werden. Ich will aber nicht noch mehr Zeit verlieren, es muß auch so gehen. Die Uhr zeigt bereits kurz vor Eins, als ich in Monte Carasso eintreffe, die Sonne sticht erbarmungslos vom Himmel herab. Wäre ich in den Morgenstunden dort eingetroffen, so wäre ich den schönen Serpentinenaufstieg gegangen, der teilweise über Natursteintreppen durch herrlichen Kastanienwald hindurch in die schnuckelige Almsiedlung Mornera (1347 m) hinaufführt. Als Tribut an die gnadenlose Mittagshitze zahle ich die 18 Franken für die unter der Woche mittels Selbstbedienung funktionierende Seilbahn. Die vier mit mir auffahrenden älteren Damen aus der welschen Schweiz begeben sich unverzüglich ins Restaurant neben der Bergstation, während ich zunächst eine Ehrenrunde drehe. Ich war wieder mal etwas zu schnell und bin dem Schild "Sentiero" nach rechts gefolgt, der nach einem kurzen Anstieg gleich wieder runtergeht. Ich erkenne jedoch noch rechtzeitig, daß ich mich auf der Abstiegsroute befinde und kehre um. Ich grüße abermals die Damen, die ganz nach französischer Lebensart beim Wein zur reich gedeckten Tafel sitzen, und gehe nun links durch angenehm schattigen Wald aufwärts. Auf einer Lichtung bietet sich ein herrlicher Blick zurück auf den Lago Maggiore, die Fernsicht ist allerdings ein wenig diesig. Über gleichbleibend berückenden Bergpfad lasse ich Bergwald und Latschenbewuchs hinter mir und nach anderthalb Stunden ist die schöne Capanna Albagno (1870 m) erreicht. Laut Beschreibung im Buch ist kurz hinter der Hütte von der roten auf die blaue Markierung zu wechseln, welche nach links führen soll. Hinter dem Viehstall finde ich auch prompt eine neue Blaumarkierung, die scharf nach links, also gen West, führt. Die Wegführung ist wunderbar wild, die Aussichten beeindruckend. Der Aufstieg in eine Scharte wird durch Drahtseilversicherung und eine Eisenleiter erleichtert, dahinter geht es hinab. So langsam schöpfe ich Verdacht, die Richtung irritiert mich, denn sie führt vom Hauptkamm weg, noch dazu immer weiter abwärts. Als mein Höhenmesser nur noch 1700 Meter zeigt, schaue ich noch einmal im Buch nach. Demnach müßte ich eigentlich durch drei Scharten passieren, die Höhen zwischen 2100 und 2200 Metern aufweisen, davon ist hier weit und breit keine Spur. Ich muß hier völlig falsch sein, hege aber bei der Rückkehr noch die Hoffnung, daß ich vielleicht nur eine Abzweigung übersehen habe. Diese Illusion geht spätestens mit dem Wiederauftauchen der Albagno-Hütte flöten. Zwei satte Stunden war ich in die falsche Richtung gegangen, abermals knappe zwei Stunden benötigte ich für die Korrektur des Fehlers. Die vier Damen sind natürlich inzwischen schon an der Hütte angekommen, ich denke, die müssen mich ja für einen völligen Dillettanten halten. Das kommt davon, wenn man keine Karte hat! Also, die Weggabelung findet sich etwas weiter oben, man soll sich somit keinesfalls dazu hinreißen lassen, der neuen Markierung scharf links zu folgen. Hinterher soll sich noch herausstellen, daß selbst in den guten schweizer Wanderkarten im Maßstab 1:25.000 dieser Weg noch nicht vollständig eingezeichnet ist.
Da mir noch länger Tageslicht zur Verfügung steht, und das Wetter trotz der schon früh aufgezogenen Bewölkung zu halten scheint, wage ich die Fortsetzung des Weges. Drei Stunden sind von der Albagno aus bis hinüber zur Borgna angegeben. Schnurstracks ziehe ich nun bergan, von den sicherlich verwunderten Augen der vier Damen verfolgt, denen ich erneut zuwinke. Obwohl ich vorhin bei der Rückkehr auf dem verkehrten Weg reichlich demoralisiert und verärgert war, spüre ich nun ein Wiederaufflammen meiner Energie und die Rückkehr der Lebensgeister. Der Pfad führt durch ein prächtiges Blumenmeer, insbesondere die Blüte der Alpenrosen ist jetzt im Frühsommer ein besonders eindrucksvolles Phänomen. In der Bocchetta d´Erbea sind 2190 Meter erreicht, die Umgebung hat sich hier in eine alpine Wildnis verwandelt! Hinter der Scharte führt mich die Markierung in ein rauhes Kar hinein, ein erstes Schneefeld ist zu queren, Schafsglocken und die Rufe und Pfiffe der Hirten dringen aus der Tiefe zu mir hinauf. Durch das Kar hindurch geht es wiederum aufwärts in eine weitere Scharte, die Bocchetta della Cima dell´Uomo (2200 m). Es ist eine Wonne, in der milden Abendsonne diese grandiose Bergeinsamkeit zu durchschreiten. Bei der Abzweigung zum Uomo-Gipfel weist die rote Markierung den Abstieg hinab zur ehemaligen Borgna-Alm (1912 m), welche zwischenzeitlich zu einer hochromantischen Selbstversorgerhütte in traumhafter Umgebung umgebaut wurde.
Es ist bereits halb Zehn, die schon Anwesenden haben nicht mehr mit einer weiteren Ankunft gerechnet. Zwei junge Walliserinnen, drei Ex- Stundenten aus Tübingen, eine vierköpfige Gruppe aus Regensburg und ein Pärchen aus Peißenberg sind schon da, wir werden von nun an öfter zusammentreffen. Zu meiner Entlastung will ich noch erwähnen, daß der Regensburger Gruppe der selbe Fehler wiederfahren ist, wie mir, doch sie hatten dies offenbar viel später bemerkt, als ich. Fakt ist, daß man auch über jenen Pfad zur Borgna-Hütte gelangen kann, allerdings außen herum und viel umständlicher. Da die Anderen bereits gegessen haben, gibt es für mich am Herd keine Engpässe. Die Regensburger stehen am nächsten Tag bereits um fünf Uhr auf. Die heutige Etappe gilt, zusammen mit der für übermorgen, als die anspruchsvollste, zudem sind abendliche Gewitter angekündigt. Ich bin der Letzte, der die Hütte verlässt und kehre zunächst, gemäß der Wegbeschreibung in meinem Buch, auf dem gestrigen Weg zurück, als ich Stefan und Heidi, das Pärchen aus Peißenberg, weiter drüben emporsteigen sehe. Beim genaueren Hinschauen erkenne ich dort drüben im Gelände blaue Markierungen, ich wechsle also querfeldein hinüber. Somit gelange ich korrekterweise hinauf in die Bocchetta Cazzane (2104 m), über die ich gestern eigentlich absteigen hätte sollen. Vermutlich existieren zwei Abstiegsvarianten zur Borgna-Hütte, dies erklärt auch, warum ich gestern statt drei nur zwei Stunden zwischen Albagno und Borgna unterwegs war.
Die erste anspruchsvollere Stelle ist die Querung abschüssiger Felsplatten, hernach wird der Gipfel der Poncione di Piotta (2439 m) erklommen. Nach ausgiebiger Rast beginnt eine herrliche Gratkraxlerei, die eine oder andere Stelle ist mit Eisentritten, die manchmal eher als Haltegriffe gedacht scheinen, versehen. Eine abzukletternde Passage ist mit einem Fixseil begleitet, ansonsten ist überwiegend frei und ohne Absicherungen auf- und abzuklettern. In einem Grassattel überhole ich die vier Frühaufsteher. Während zwei dieser Gruppe diesem Gelände gewachsen zu sein scheinen, habe ich bei den beiden anderen den Eindruck, sie seien überfordert. Zusammen mit Heidi und Stefan mache ich noch den Abstecher auf den Pincione dei Laghetti (2445 m), danach gehen wir gepäcklos von hinten die Poncione dell Venn (2477 m) an. Hier können wir noch einmal Einsicht über den von uns begangenen Grat nehmen, der sich scharf geschnitten im wilden Zickzack über mehrere Kilometer hinwegzieht. Der Einstieg zum Poncione dell Venn war nicht gar so leicht, weshalb wir dankbar die leichtere Überschreitung zur anderen Seite in Anspruch nehmen, um diese Schlüsselstelle nicht abklettern zu müssen, obwohl wir nun abermals ein Stück weit über den bereits gegangenen Pfad zu unseren Rucksäcken zurückkehren müssen. Schon auf dem Gipfel wurden wir dem drohenden Gewitter gewahr, weshalb von nun ab Eile geboten ist. Hurtig steigen wir auf eine von einem Minisee verzierte Terrasse ab, dann erneut ein Stockwerk tiefer, wo sich auf einer weiteren Geländestufe die malerische Cornavosa-Alpe befindet. Die Cornavosa ist eine typische Hochalm der Tessiner Alpen, komplett aus Trockengemäuer des hiesigen Gesteins gebaut, selbst das Dach ist aus aschgrauen Steinziegeln, weshalb diese Gebäude aus der Ferne besehen so gut getarnt sind, daß man sie oft nur schwerlich von den umliegenden Felsen unterscheiden kann. Die meisten dieser Almen sind zwischenzeitlich aufgelassen, manche bereits völlig zerfallen. Alpi di fame – Hungeralpen, so werden sie im Volksmund genannt, und diese Bezeichnung spiegelt wieder, in welchem Elend ihre einstigen Bewirtschafter zu subsistieren hatten. Das supersteile Terrain der Tessiner Alpen taugte jediglich zur Schafzucht, die engen Täler neigten im Sommer zu Überschwemmungen, im Winter lauerte Lawinengefahr. Heute werden diese niedlichen Steinhäuschen unten im Tal, in denen die früheren Bewohner in Hunger und Elend hausten, für Unsummen an betuchte Klienten verkauft, oder gewinnbringend an Touristen als Ferienhäuschen vermietet. So ändern sich die Zeiten, die Enkel und Urenkel der einstigen Hungerleider sind durch das bescheidene Erbe ihrer Vorfahren zu gut situierten Leuten geworden.
Da die Cornavosa als Etappenziel noch nicht fertiggestellt ist, müssen wir nochmals etwa eine halbe Stunde um einen Hang herum queren, ehe wir zur Alpe Fümegna (1810 m) gelangen, welche derzeit noch als Unterkunft dient. Hat man bereits auf der Borgna den Vorgeschmack auf die ansonsten allesamt herrlich rustikalen und urgemütlichen Selbstversorgerhütten gekostet, welche in Abständen von Tagesetappen die Via Alta della Verzasca säumen, so ist man vom Quartier auf der Fümegna zunächst einmal enttäuscht. Das Unterkunftshaus ist innen düster, die Einrichtung praktisch, aber unschön. Dennoch bleibt zu sagen, daß die Fümegna eine immer noch bestoßene Alm ist, auf der im August die Eigner selbst hausen. Eine funktionierende Alm ist eben kein Feriendomizil, sondern ein Ort der Arbeit, und wenn die Eigner keinen Hang zur Romantik haben, dann bleibt sie eben nüchtern und dem Verwendungszweck dienlich. Der Standort der Alm ist hingegen unbestreitbar zauberhaft. Im Hintergrund stürzt malerisch ein Wasserfall über steilen Fels herab, tief unter uns schneidet sich ein für die Tessiner Alpen so typisches, übersteiles und enges Waldtal, das Val Pincascia, ein. Die Ursache für diese zwar kurzen, aber dennoch derart tief und steil eingeschnittenen Täler sind eiszeitliche Gletscherschliffe, welche im Falle des Lago Maggiore sogar bis unter Meeresniveau ausgehobelt haben.
Das erwartete Unwetter bricht erst nachts los, es entpuppt sich als Frontgewitter und zieht ein Tief hinter sich her. Die beiden Schweizerinnen sind die ersten, die sich des Morgens wieder in Richtung Grat begeben. Nicht einmal zwanzig Minuten vergehen seit deren Aufbruch, da zuckt erneut ein Blitz vom Himmel, gefolgt von einem ehrfurchtgebietenden Knall, und nur wenig später finden sich die Beiden wiederum unterm Dach der sicheren Fümegna ein. Die vier Regensburger haben ohnehin schon den Rückzug ins Tal beschlossen und auch die drei Ex-Tübinger wandern später ins Tal ab. Wir Verbliebenen versuchen es, nachdem sich das Gewitter offenbar verzogen hat, erneut. Wir haben noch nicht einmal die Kammhöhe erreicht, da brauen sich abermals graue und schwarze Wolken über unseren Köpfen zusammen. Ich kehre mit den beiden Schweizerinnen zur Alm zurück, Stefan und Heidi wollen hingegen erst umkehren, wenn es richtig brenzlig wird. Mein Respekt vor Gewittern im Gebirge ist hierfür zu groß, besonders dann, wenn die Tour noch auf einen Grat führt, die beiden Schweizerinnen sehen das genauso. Sie beschließen nun aber den Abgang ins Tal. Per Bus wollen sie das Verzasca-Tal aufwärts fahren, um an anderer Stelle wiederaufzusteigen. Ich habe zunächst vor, eine weitere Nacht auf der Fümegna zuzubringen. Die Wetterlage könnte einen zum Wahnsinn treiben, ständig beobachte ich den Himmel, der zwar bewölkt bleibt, allerdings scheint die Gewittergefahr nun gebannt, und ab und an gelingt es auch der Sonne, den einen oder anderen Strahl durch´s Gewölk zu senden. Gegen 12 Uhr mittags verliere ich die Geduld, ich will´s nochmal probieren, allerdings mit der Option, beim geringsten Anzeichen eines erneuten Gewitters unverzüglich wieder umzukehren. Des weiteren habe ich zuvor mit der guten 1: 25.000er-Karte der beiden Schweizerinnen einen Notabstieg für unterwegs auserkoren, der nach etwa zwei Gehstunden, ergo in etwa Wegmitte, zu einer Alm hinabführen würde. Die ersten ein bis eineinhalb Stunden bin ich noch mit einem unguten Gefühl unterwegs, dann gewinne ich langsam Vertrauen in die Wetterlage und beginne, die Tour zu genießen. Der ständige ein- und wieder abziehende Nebel und ein brausender Wind verleihen dieser Etappe eine schaurig-schöne Rauheit, immer wieder öffnet mir der Nebelvorhang links und rechts des Grates göttliche Blicke hinab über von Bergseelein und tosenden Wildbächen durchzogene Hochtäler, schroffe Felswände, schuttige Kare, tief zerklüftete Waldschluchten, oder über wie unregelmäßig gezahnte Sägeblätter erscheinende Gipfelketten. Mit der Cima di Rierna (2461 m) und der Cima di Gagnone (2518 m) überschreite ich zwei Gipfel, der lange Grat zwischen den beiden Bergspitzen läßt sich mit einer genußvollen Lässigkeit nahezu überspringen. Vom Grat herab sehe ich dann plötzlich Stefan und Heidi über einen steilen Bergrücken absteigen. Auch sie haben mich offenbar erkannt, wir winken uns zu. Zu meiner Überraschung zieht der Grat aber weit über die Abstiegsflanke der Beiden hinaus nach hinten, weshalb schon erste Zweifel in mir nagen, ob ich vielleicht eine Abzweigung übersehen habe. Doch endlich stoße ich in der Bocchetta di Scaiee (2453 m) auf den in der Buchbeschreibung angekündigten, rot markierten Pfad. Zuerst denke ich, Stefan und Heidi seien wohl versehentlich auf die falsche Seite abgestiegen, glücklicherweise ist in meinem Buch aber auch erwähnt, daß die Route hoch über dem Efra-See verläuft. Da sich ein See von erwähnenswerter Größe nur auf dieser Seite befindet, kann der Abstieg folglich nur dort hinüber führen. Später soll sich herausstellen, daß es Heidi und Stefan ähnlich wie mir ergangen war, und sie sogar ein Stück weit in die falsche Richtung abgestiegen sind. Die Beiden haben übrigens unterwegs einen Wiesenhang entdeckt, der über und über mit Edelweiß übersät war. Dieser war mir leider entgangen.
Die Capanna Efra thront auf 2039 Metern, gut hundert Höhenmeter überhalb des gleichnamigen Sees, inmitten eines dramatischen Bergkessels. Die Besitzer sind heute auch anwesend, zusammen mit ihrem etwa 4-jährigen Sohn und einem verspielten Labrador. Außer uns Dreien ist nur noch ein Angler als weiterer Gast zugegen. Dieser hat heute schon ein halbes Dutzend Forellen aus dem See gezogen. Irgendwann in der Nacht wache ich auf und checke, daß in der Dunkelheit noch zwei weitere Gäste eingetroffen sind. Frühmorgens knallt ein erneutes Gewitter los, was uns nun allerdings nicht mehr beunruhigt, denn der freundliche Hüttenwart hat uns bereits mit den neuesten Wetterprognosen versorgt. Das Zwischentief soll heute relativ rasch abziehen und einem bis über´s Wochenende anhaltenden Hoch Platz machen. Dies bedeutet, daß der vollständigen Begehung der Alta Via nun aus meteorologischer Sicht nichts mehr im Wege steht. Wir lassen uns nach dem Frühstück so lange Zeit, bis es wenigstens zu regnen aufgehört hat. Als wir endlich aufbrechen, ist der Himmel über uns zwar immer noch grau, doch die ersten blauen Streifen reißen bereits am westlichen Horizont auf. Aufgrund der Abkühlung - auch im Schlafsaal war diese vergangene Nacht zu spüren - sind zunächst Fliesjacke und lange Hosen empfohlen. Stefan muß unterwegs nochmals umkehren, er hat sein T-Shirt auf der Hütte vergessen. Ich steige mit Heidi bis in eine Scharte hinauf, wo wir hinter vor Wind schützenden Felsen auf Stefan warten. Zwei verlassene Almen passierten wir auf dem Weg hierher, die erste war völlig verfallen, die zweite, die Alpe di Furnà (2148 m) schien noch nicht gar so lange verwaist zu sein. Die immer noch nassen Felspassagen lassen sich problemloser bewältigen, als ich das zunächst vermutet habe. Mehr Aufmerksamkeit verdienen Stellen, an denen ständig Wasser fließt, denn dort haben sich gefährlich rutschige Algenschichten gebildet. Als wir schließlich auf dem Gipfel des Pizzo Cramosino (2718 m) stehen, hat sich das Wetter endgültig zum Guten gewandt. Mit dem Abstieg in den Passo di Gatto (2615 m) gewinnt der Weg an Spannung, da nun wieder geklettert werden muß, wenngleich sich hier unterstützende Sicherungen befinden. Wir steigen mit Sicherheitsabständen in das geröllgefüllte Couloir ein. Mit dem Madom Gröss (2742 m) erreichen wir den höchsten Gipfel des Tages, wo wir unsere beiden schweizer Freundinnen wiedertreffen, die nun in umgekehrter Richtung unterwegs sind. Auch hier wird durch eine knackige Rinne abgeklettert. Vor dem Abstieg zur Cógnora-Hütte erklimmen wir einen weiteren Gipfel. Der mit einem metallenen Gipfelkreuz geschmückte Pizzo di Medozzi (2705 m) gewährt unter anderem einen Blick auf die Autobahnbrücke, sowie einen Zugtunnel der Gotthard-Traverse. Der Abstieg zur 1938 aufgegebenen, ehemaligen Alpe Cógnora erweist sich als harmlos. Auch die Cógnora hat einen äußerst idyllischen Standort, die Hütte selbst ist urgemütlich. Harald aus Bonn hat sich bereits einquartiert, er war heute vom Rifugio Barone aus hier hermarschiert. Etwas unterhalb der Hütte kann man sich bis zum Rande des Wiesenplateaus vorwagen, um den herrlichen Tiefblick ins Vergonèss- und ins Verzascatal zu genießen. Praktisch im Loch, dort wo die drei Täler Redorta, Vergonèss und Versazca zusammentreffen, schlummert pittoresk die Ortschaft Sonogno (918 m), deren urige Häuser sich um ein schönes Kirchlein häufen. Später können wir eine freche Gemse beobachten, die ungeniert um die Hütte herumstreunt, ohne von unserer Anwesenheit beeindruckt zu sein.
Von der Cógnora aus kann man in drei bis vier Gehstunden problemlos zum Rifugio Barone, dem letzten Quartier auf der Alta Via, gelangen. "Etwas schwieriger" sei die Route über den Grat hinweg, so ist bei Iris Kürschner nachzulesen. Diese Titulierung würde ohne weiteres zutreffen, wenn diese Variante entweder markiert wäre, oder man sich von einer des Weges kundigen Person führen ließe. Die eigentliche Schwierigkeit liegt hier in der Wegfindung. Die Ungewissheit darüber, ob man nun richtig ist, sowie die Befürchtungen, sich zu versteigen führen dazu, daß man beginnt, an Zweier-Stellen zu zaudern, auch im Hinblick darauf, daß man im Falle einer Irrung wieder abklettern muß. Alles in allem ist es interessant, zu erfahren, was es bedeutet, wenn der Weg eben nicht mehr durch Markierung vorgegeben ist. Immerhin schaffen wir es, den ersten Gipfel, Pizzo dei Laghetti (2443 m), zu erreichen. Die ständige Unsicherheit über den Fortgang der Route, und auch die Aussicht auf brüchigen Fels am Pizzo della Bedeia (2666 m) lässt uns die Entscheidung treffen, über die Ostflanke, die weniger steil ist, als die Westflanke, nach gründlichem Studium des Geländes, abzusteigen. Wir schaffen es schließlich, sicher auf den rot markierten Weg zu kommen, welcher vom Passo di Piatto (2108 m) hinab ins Leventina-Tal bzw. hinüber zur Capanna Sponda führt. Als wir wiederum im Passo de Piatto stehen, sind fünfeinhalb Stunden seit dem Aufbruch von der Cógnora vergangen. Dennoch sind wir uns einig, daß sich unser Versuch gelohnt hat. Zum einen war´s lehrreich und spannend, zum anderen auch landschaftlich attraktiv, insbesondere der unter uns liegende Lago di Porchierisc bot uns immer wieder einen faszinierenden Blickfang. Bis zur Barone sind es nun drei Stunden in harmlosem Auf und Ab, unterwegs sind uns riesige Teppiche von weißen Lilien beschert.
An der Barone ist nur noch das kleine Nebengebäude mit den Notschlafplätzen Original Alm. Das Hauptgebäude wurde hingegen erst in den 80er-Jahren errichtet. Auch wenn die neue Hütte mit den anderen Refugien (ausgenommen Fümegna) bezüglich romantischer Gemütlichkeit nicht ganz mithalten kann, ist auch sie bestens für Selbstversorger ausgestattet, ganz zu schweigen von der traumhaften Lage im Kessel des Talabschlusses des Val Vergonèss. Nach dem Essen wandere ich noch etwa 200 Höhenmeter aufwärts, um die Ruhe und Einsamkeit am malerischen Barone-See auf mich einwirken zu lassen. Unterwegs stoße ich in flagranti auf flüchtende Murmeltiere. Deren Pfiffe sind zwar unterwegs auf den Etappen ständig zu hören, die scheuen Tiere zeigten sich uns bislang aber nur selten. Das Fenster im Schlafraum unterm Dach geht bis auf den Boden, ich ergattere diesen Platz, um am folgenden Morgen mit Bergblick zu erwachen.
Ursprünglich war die Besteigung des Pizzo Barone (2865 m) noch für den Ankunftstag am gleichnamigen Refugium vorgesehen. Da aber unser Versuch am Grat viel Zeit und noch mehr Kraft gekostet hat, haben wir die Besteigung auf heute Morgen verschoben. Noch drei weitere Gäste verbrachten die Nacht auf der Hütte. Während der Schweizer die Besteigung der Corona di Redorta (2804 m) bevorzugt, steigen der junge Bursche aus Dortmund und sein Offenburger Patenonkel mit uns zum Barone auf. Unterwegs werden wir einer Dreiergruppe von Steinböcken ansichtig. Der höchste Punkt unserer Trekking-Tour erweist sich gleichzeitig auch als exzellenter Panoramaberg. Der Abzug des Zwischentiefs hatte uns bereits gestern klare Fernsichten beschert, ein Zustand, der auch heute noch vorhält, wenngleich eine Dunstglocke aus der Poebene die Luft in zwei Schichten zu zerteilen scheint. Gerade mal 8 Uhr ist es, als wir den Gipfel erreichen. Die Nordseite bricht steil hinunter in ein urwildes, noch völlig im Schatten schlummerndes Hochtal. Dort unten irgendwo befindet sich die Capanna Soveltra, die als Unterkunft theoretisch eine Option zu Fortsetzung der Bergtour bieten würde. Gegenüber recken sich Pizzo Penca (3038 m) und der Pizzo Campo Tencia (3072 m) in die Morgenluft. Letzterer ist der höchste Berg auf rein Tessiner Boden, er hat eine (von hier aus nicht sichtbare) vergletscherte Nordseite. In der Ferne grüßen eis- uns schneebedeckt die 3000er- Gipfel der östlichsten Walliser, dahinter die Berner, in der mächtigen Bergkette im Südwesten vermute ich entweder die Weißmiesgruppe oder gar Monte-Rosa-Ost. Auf Nordost sehen wir die Gotthard-Berge, noch mehr im Osten, im morgendlichen Gegenlicht, die Schatten der Adula-Gruppe, allesamt schon Graubündner-Gipfel. Auf dem Barone läßt sich ein ausgedehntes Plateau umwandern, welches ständig neue Perspektiven eröffnet. So wird auch ein Blick auf die Seite möglich, auf welche wir gestern vom Grat hinuntergestiegen sind. Inmitten des Gegenhanges, dessen plattige Felsen im gleißenden Sonnenlicht glänzen, findet sich eine weitere Selbstversorgerhütte, die Capanna Sponda. Auch sie würde für eine Fortführung der Trekkingtour als Etappenziel geeignet sein. Der Porchieriscsee bleibt allerdings durch einen grünen Bergrücken unseren Blicken entzogen. Der Baronesee bildet von oben besehen die Form eines Herzens.
Zurück im Refugio bereiten wir uns zunächst eine Mahlzeit. Man merkt, daß heute Samstag ist, noch dazu bestes Bergwetter. Bereits am Baronesee tummeln sich schon einige Wanderer. Weitere berglustige Zeitgenossen treffen wir an der Hütte, bzw. auf dem Rückweg, dennoch hält sich die Zahl der Touristen, verglichen mit manch anderen Gebieten, in erträglichen Grenzen. Traumhaft ist auch die Rückkehr ins Tal, die uns aus der rauhen und unwirtlichen Felsenlandschaft des Hochgebirges langsam hinein in immer grünere und sattere Vegetation führt. Schließlich wandeln wir durch schattigen, aromatisch duftenden Lärchenwald, die Versazca wirft verführerische Kaskaden über steile, ausgewaschene Felsen, bildet darunter türkisgrüne Auffangbecken. Bei den wenigen, malerischen Häuslein von Cabei (1079 m) erreichen wir zum ersten Mal wieder eine menschliche Siedlung, hier endet auch die vom Verzascatal heraufkommende Fahrstraße. Dieser folgen wir noch hinunter nach Sonogno. Beide Orte, die Straße, der Parkplatz und sogar die Wasserfälle konnten wir bereits gestern und vorgestern von unseren hohen Standpunkten aus einsehen, wie Spielzeug waren sie uns von dort droben erschienen.
Der Bus bringt uns endgültig in die Zvilisation zurück. Von Stefan und Heidi muß ich mich bereits in Vogorno verabschieden, sie haben ihr Auto dort weit oberhalb geparkt, so daß Stefan noch ein etwa zweistündiger Aufstieg bevorsteht. Unten in Locarno haut mich die Hitze schier aus den Socken. Erst jenseits des Gotthard dringt endlich halbwegs erfrischende Luft durch das Fenster ins Zugabteil. Ach ja, mit neuen Ideen kehre ich natürlich auch in die Heimat zurück: eine Durchquerung mit Ausgangspunkt nördliches Leventinatal bis hinüber ins Maggiatal. Und da lägen schließlich noch ein paar attraktive Gipfel, wie der Campo Tencia, am Weg . . .
Das Tessin hatten wir ja bereits vergangenes Jahr. Nicht vergessen blieb unser Zusammentreffen mit drei Tessiner Bergfreunden unterhalb des Pizzo di Claro. Von ihnen hörte ich zum ersten Mal von der Via Alta della Verzasca. Zwei Tage später, in der Capanna di Cava, hoch über dem Blenio – Tal, wurden wir im SAC – Führer "Alpines Wandern südlich des Gotthardes" unserer beiden Mitübernachter aus St. Gallen einer genaueren Beschreibung dieses spektakulären Treks zwischen dem Verzasca- und dem Leventinatal fündig. Nur ein Jahr ist seither vergangen, und daß ich dieses Projekt nun so schnell in Angriff nehmen konnte, hätte ich mir nicht einmal eine Woche vorher noch denken können. Im Betrieb wurde kurzfristig die Arbeit knapp, eine Woche Urlaub zu nehmen war erwünscht. Der Wanderführer aus dem Rother – Verlag "Klettersteige Schweiz" von Iris Kürschner, den ich unlängst aus den Regalen unserer Stadtbücherei gefischt hatte, trug mit zu der schnellen Umsetzung dieses "Bergtraumes" bei. Obwohl diese Tour in einem Klettersteigführer eigentlich nichts verloren hat, bin ich trotzdem dankbar darüber, hier eine ausreichend verwertbare Anleitung gefunden zu haben.
Somit sind wir schon bei der Klassifizierung: wie bereits angedeutet, diese in fünf Tagesetappen unterteilte Bergtour ist kein Klettersteig, und schon gar keine bloße Bergwanderung. Es handelt sich um eine sogenannte alpine Route, d.h. solide Bergerfahrung, absolute Trittsicherheit und Schwindelfreiheit, sowie problemlose Beherrschung des zweiten Grades in freier Begehung sind Voraussetzungen für eine sichere und genußreiche Bewältigung dieser großartigen Trasse. Zumindest für die 2. und die 4. Etappe sind zudem beste Verhältnisse erforderlich. Die Route ist seit Sommer 2004 zwar bestens markiert, bei Nebel in diesem Gelände die Wegzeichen zu verlieren, wäre allerdings fatal. Des weiteren sollte die Jahreszeit so weit fortgeschritten sein, daß die Route schneefrei ist (ansonsten Probleme bei der Wegfindung und Absturzgefahr auf steilen Altschneefeldern!). Neuschnee und Vereisungen würden in diesem Gelände sicher unappetitliche Situationen erzeugen. Man bewegt sich stundenlang meist völlig ausgesetzt auf dem Grat, bzw. in Gratnähe, obendrein ist die Route gelegentlich mit Eisen "abgemildert", daher lasse man sich keinesfalls von einem Gewitter überraschen! In der Literatur wird die Mitnahme eines 25-Meter-Seils empfohlen, ich selbst brauchte keines, aber für Gruppen mit dem einen oder anderen nicht ganz so sicheren Mitgeher kann es durchaus sinnvoll sein. Das Klettersteigset kann man getrost zu Hause lassen, es macht auf dieser Route keinen Sinn. Die 2-er-Passagen sind frei zu begehen, es gibt nur wenige Stellen, wo mal ein Fixseil angebracht ist, in welches man sich einhängen könnte.
*
Zwischen Zugankunft in Bellinzona (277 m) und Weiterfahrt mit dem Bus nach Monte Carasso (260 m) reicht die Zeit gerade noch so, um die nötigen Einkäufe zu tätigen. Zum Schluß fehlt noch die Wanderkarte, auch das Brot könnte in den kommenden fünf Tagen knapp werden. Ich will aber nicht noch mehr Zeit verlieren, es muß auch so gehen. Die Uhr zeigt bereits kurz vor Eins, als ich in Monte Carasso eintreffe, die Sonne sticht erbarmungslos vom Himmel herab. Wäre ich in den Morgenstunden dort eingetroffen, so wäre ich den schönen Serpentinenaufstieg gegangen, der teilweise über Natursteintreppen durch herrlichen Kastanienwald hindurch in die schnuckelige Almsiedlung Mornera (1347 m) hinaufführt. Als Tribut an die gnadenlose Mittagshitze zahle ich die 18 Franken für die unter der Woche mittels Selbstbedienung funktionierende Seilbahn. Die vier mit mir auffahrenden älteren Damen aus der welschen Schweiz begeben sich unverzüglich ins Restaurant neben der Bergstation, während ich zunächst eine Ehrenrunde drehe. Ich war wieder mal etwas zu schnell und bin dem Schild "Sentiero" nach rechts gefolgt, der nach einem kurzen Anstieg gleich wieder runtergeht. Ich erkenne jedoch noch rechtzeitig, daß ich mich auf der Abstiegsroute befinde und kehre um. Ich grüße abermals die Damen, die ganz nach französischer Lebensart beim Wein zur reich gedeckten Tafel sitzen, und gehe nun links durch angenehm schattigen Wald aufwärts. Auf einer Lichtung bietet sich ein herrlicher Blick zurück auf den Lago Maggiore, die Fernsicht ist allerdings ein wenig diesig. Über gleichbleibend berückenden Bergpfad lasse ich Bergwald und Latschenbewuchs hinter mir und nach anderthalb Stunden ist die schöne Capanna Albagno (1870 m) erreicht. Laut Beschreibung im Buch ist kurz hinter der Hütte von der roten auf die blaue Markierung zu wechseln, welche nach links führen soll. Hinter dem Viehstall finde ich auch prompt eine neue Blaumarkierung, die scharf nach links, also gen West, führt. Die Wegführung ist wunderbar wild, die Aussichten beeindruckend. Der Aufstieg in eine Scharte wird durch Drahtseilversicherung und eine Eisenleiter erleichtert, dahinter geht es hinab. So langsam schöpfe ich Verdacht, die Richtung irritiert mich, denn sie führt vom Hauptkamm weg, noch dazu immer weiter abwärts. Als mein Höhenmesser nur noch 1700 Meter zeigt, schaue ich noch einmal im Buch nach. Demnach müßte ich eigentlich durch drei Scharten passieren, die Höhen zwischen 2100 und 2200 Metern aufweisen, davon ist hier weit und breit keine Spur. Ich muß hier völlig falsch sein, hege aber bei der Rückkehr noch die Hoffnung, daß ich vielleicht nur eine Abzweigung übersehen habe. Diese Illusion geht spätestens mit dem Wiederauftauchen der Albagno-Hütte flöten. Zwei satte Stunden war ich in die falsche Richtung gegangen, abermals knappe zwei Stunden benötigte ich für die Korrektur des Fehlers. Die vier Damen sind natürlich inzwischen schon an der Hütte angekommen, ich denke, die müssen mich ja für einen völligen Dillettanten halten. Das kommt davon, wenn man keine Karte hat! Also, die Weggabelung findet sich etwas weiter oben, man soll sich somit keinesfalls dazu hinreißen lassen, der neuen Markierung scharf links zu folgen. Hinterher soll sich noch herausstellen, daß selbst in den guten schweizer Wanderkarten im Maßstab 1:25.000 dieser Weg noch nicht vollständig eingezeichnet ist.
Da mir noch länger Tageslicht zur Verfügung steht, und das Wetter trotz der schon früh aufgezogenen Bewölkung zu halten scheint, wage ich die Fortsetzung des Weges. Drei Stunden sind von der Albagno aus bis hinüber zur Borgna angegeben. Schnurstracks ziehe ich nun bergan, von den sicherlich verwunderten Augen der vier Damen verfolgt, denen ich erneut zuwinke. Obwohl ich vorhin bei der Rückkehr auf dem verkehrten Weg reichlich demoralisiert und verärgert war, spüre ich nun ein Wiederaufflammen meiner Energie und die Rückkehr der Lebensgeister. Der Pfad führt durch ein prächtiges Blumenmeer, insbesondere die Blüte der Alpenrosen ist jetzt im Frühsommer ein besonders eindrucksvolles Phänomen. In der Bocchetta d´Erbea sind 2190 Meter erreicht, die Umgebung hat sich hier in eine alpine Wildnis verwandelt! Hinter der Scharte führt mich die Markierung in ein rauhes Kar hinein, ein erstes Schneefeld ist zu queren, Schafsglocken und die Rufe und Pfiffe der Hirten dringen aus der Tiefe zu mir hinauf. Durch das Kar hindurch geht es wiederum aufwärts in eine weitere Scharte, die Bocchetta della Cima dell´Uomo (2200 m). Es ist eine Wonne, in der milden Abendsonne diese grandiose Bergeinsamkeit zu durchschreiten. Bei der Abzweigung zum Uomo-Gipfel weist die rote Markierung den Abstieg hinab zur ehemaligen Borgna-Alm (1912 m), welche zwischenzeitlich zu einer hochromantischen Selbstversorgerhütte in traumhafter Umgebung umgebaut wurde.
Es ist bereits halb Zehn, die schon Anwesenden haben nicht mehr mit einer weiteren Ankunft gerechnet. Zwei junge Walliserinnen, drei Ex- Stundenten aus Tübingen, eine vierköpfige Gruppe aus Regensburg und ein Pärchen aus Peißenberg sind schon da, wir werden von nun an öfter zusammentreffen. Zu meiner Entlastung will ich noch erwähnen, daß der Regensburger Gruppe der selbe Fehler wiederfahren ist, wie mir, doch sie hatten dies offenbar viel später bemerkt, als ich. Fakt ist, daß man auch über jenen Pfad zur Borgna-Hütte gelangen kann, allerdings außen herum und viel umständlicher. Da die Anderen bereits gegessen haben, gibt es für mich am Herd keine Engpässe. Die Regensburger stehen am nächsten Tag bereits um fünf Uhr auf. Die heutige Etappe gilt, zusammen mit der für übermorgen, als die anspruchsvollste, zudem sind abendliche Gewitter angekündigt. Ich bin der Letzte, der die Hütte verlässt und kehre zunächst, gemäß der Wegbeschreibung in meinem Buch, auf dem gestrigen Weg zurück, als ich Stefan und Heidi, das Pärchen aus Peißenberg, weiter drüben emporsteigen sehe. Beim genaueren Hinschauen erkenne ich dort drüben im Gelände blaue Markierungen, ich wechsle also querfeldein hinüber. Somit gelange ich korrekterweise hinauf in die Bocchetta Cazzane (2104 m), über die ich gestern eigentlich absteigen hätte sollen. Vermutlich existieren zwei Abstiegsvarianten zur Borgna-Hütte, dies erklärt auch, warum ich gestern statt drei nur zwei Stunden zwischen Albagno und Borgna unterwegs war.
Die erste anspruchsvollere Stelle ist die Querung abschüssiger Felsplatten, hernach wird der Gipfel der Poncione di Piotta (2439 m) erklommen. Nach ausgiebiger Rast beginnt eine herrliche Gratkraxlerei, die eine oder andere Stelle ist mit Eisentritten, die manchmal eher als Haltegriffe gedacht scheinen, versehen. Eine abzukletternde Passage ist mit einem Fixseil begleitet, ansonsten ist überwiegend frei und ohne Absicherungen auf- und abzuklettern. In einem Grassattel überhole ich die vier Frühaufsteher. Während zwei dieser Gruppe diesem Gelände gewachsen zu sein scheinen, habe ich bei den beiden anderen den Eindruck, sie seien überfordert. Zusammen mit Heidi und Stefan mache ich noch den Abstecher auf den Pincione dei Laghetti (2445 m), danach gehen wir gepäcklos von hinten die Poncione dell Venn (2477 m) an. Hier können wir noch einmal Einsicht über den von uns begangenen Grat nehmen, der sich scharf geschnitten im wilden Zickzack über mehrere Kilometer hinwegzieht. Der Einstieg zum Poncione dell Venn war nicht gar so leicht, weshalb wir dankbar die leichtere Überschreitung zur anderen Seite in Anspruch nehmen, um diese Schlüsselstelle nicht abklettern zu müssen, obwohl wir nun abermals ein Stück weit über den bereits gegangenen Pfad zu unseren Rucksäcken zurückkehren müssen. Schon auf dem Gipfel wurden wir dem drohenden Gewitter gewahr, weshalb von nun ab Eile geboten ist. Hurtig steigen wir auf eine von einem Minisee verzierte Terrasse ab, dann erneut ein Stockwerk tiefer, wo sich auf einer weiteren Geländestufe die malerische Cornavosa-Alpe befindet. Die Cornavosa ist eine typische Hochalm der Tessiner Alpen, komplett aus Trockengemäuer des hiesigen Gesteins gebaut, selbst das Dach ist aus aschgrauen Steinziegeln, weshalb diese Gebäude aus der Ferne besehen so gut getarnt sind, daß man sie oft nur schwerlich von den umliegenden Felsen unterscheiden kann. Die meisten dieser Almen sind zwischenzeitlich aufgelassen, manche bereits völlig zerfallen. Alpi di fame – Hungeralpen, so werden sie im Volksmund genannt, und diese Bezeichnung spiegelt wieder, in welchem Elend ihre einstigen Bewirtschafter zu subsistieren hatten. Das supersteile Terrain der Tessiner Alpen taugte jediglich zur Schafzucht, die engen Täler neigten im Sommer zu Überschwemmungen, im Winter lauerte Lawinengefahr. Heute werden diese niedlichen Steinhäuschen unten im Tal, in denen die früheren Bewohner in Hunger und Elend hausten, für Unsummen an betuchte Klienten verkauft, oder gewinnbringend an Touristen als Ferienhäuschen vermietet. So ändern sich die Zeiten, die Enkel und Urenkel der einstigen Hungerleider sind durch das bescheidene Erbe ihrer Vorfahren zu gut situierten Leuten geworden.
Da die Cornavosa als Etappenziel noch nicht fertiggestellt ist, müssen wir nochmals etwa eine halbe Stunde um einen Hang herum queren, ehe wir zur Alpe Fümegna (1810 m) gelangen, welche derzeit noch als Unterkunft dient. Hat man bereits auf der Borgna den Vorgeschmack auf die ansonsten allesamt herrlich rustikalen und urgemütlichen Selbstversorgerhütten gekostet, welche in Abständen von Tagesetappen die Via Alta della Verzasca säumen, so ist man vom Quartier auf der Fümegna zunächst einmal enttäuscht. Das Unterkunftshaus ist innen düster, die Einrichtung praktisch, aber unschön. Dennoch bleibt zu sagen, daß die Fümegna eine immer noch bestoßene Alm ist, auf der im August die Eigner selbst hausen. Eine funktionierende Alm ist eben kein Feriendomizil, sondern ein Ort der Arbeit, und wenn die Eigner keinen Hang zur Romantik haben, dann bleibt sie eben nüchtern und dem Verwendungszweck dienlich. Der Standort der Alm ist hingegen unbestreitbar zauberhaft. Im Hintergrund stürzt malerisch ein Wasserfall über steilen Fels herab, tief unter uns schneidet sich ein für die Tessiner Alpen so typisches, übersteiles und enges Waldtal, das Val Pincascia, ein. Die Ursache für diese zwar kurzen, aber dennoch derart tief und steil eingeschnittenen Täler sind eiszeitliche Gletscherschliffe, welche im Falle des Lago Maggiore sogar bis unter Meeresniveau ausgehobelt haben.
Das erwartete Unwetter bricht erst nachts los, es entpuppt sich als Frontgewitter und zieht ein Tief hinter sich her. Die beiden Schweizerinnen sind die ersten, die sich des Morgens wieder in Richtung Grat begeben. Nicht einmal zwanzig Minuten vergehen seit deren Aufbruch, da zuckt erneut ein Blitz vom Himmel, gefolgt von einem ehrfurchtgebietenden Knall, und nur wenig später finden sich die Beiden wiederum unterm Dach der sicheren Fümegna ein. Die vier Regensburger haben ohnehin schon den Rückzug ins Tal beschlossen und auch die drei Ex-Tübinger wandern später ins Tal ab. Wir Verbliebenen versuchen es, nachdem sich das Gewitter offenbar verzogen hat, erneut. Wir haben noch nicht einmal die Kammhöhe erreicht, da brauen sich abermals graue und schwarze Wolken über unseren Köpfen zusammen. Ich kehre mit den beiden Schweizerinnen zur Alm zurück, Stefan und Heidi wollen hingegen erst umkehren, wenn es richtig brenzlig wird. Mein Respekt vor Gewittern im Gebirge ist hierfür zu groß, besonders dann, wenn die Tour noch auf einen Grat führt, die beiden Schweizerinnen sehen das genauso. Sie beschließen nun aber den Abgang ins Tal. Per Bus wollen sie das Verzasca-Tal aufwärts fahren, um an anderer Stelle wiederaufzusteigen. Ich habe zunächst vor, eine weitere Nacht auf der Fümegna zuzubringen. Die Wetterlage könnte einen zum Wahnsinn treiben, ständig beobachte ich den Himmel, der zwar bewölkt bleibt, allerdings scheint die Gewittergefahr nun gebannt, und ab und an gelingt es auch der Sonne, den einen oder anderen Strahl durch´s Gewölk zu senden. Gegen 12 Uhr mittags verliere ich die Geduld, ich will´s nochmal probieren, allerdings mit der Option, beim geringsten Anzeichen eines erneuten Gewitters unverzüglich wieder umzukehren. Des weiteren habe ich zuvor mit der guten 1: 25.000er-Karte der beiden Schweizerinnen einen Notabstieg für unterwegs auserkoren, der nach etwa zwei Gehstunden, ergo in etwa Wegmitte, zu einer Alm hinabführen würde. Die ersten ein bis eineinhalb Stunden bin ich noch mit einem unguten Gefühl unterwegs, dann gewinne ich langsam Vertrauen in die Wetterlage und beginne, die Tour zu genießen. Der ständige ein- und wieder abziehende Nebel und ein brausender Wind verleihen dieser Etappe eine schaurig-schöne Rauheit, immer wieder öffnet mir der Nebelvorhang links und rechts des Grates göttliche Blicke hinab über von Bergseelein und tosenden Wildbächen durchzogene Hochtäler, schroffe Felswände, schuttige Kare, tief zerklüftete Waldschluchten, oder über wie unregelmäßig gezahnte Sägeblätter erscheinende Gipfelketten. Mit der Cima di Rierna (2461 m) und der Cima di Gagnone (2518 m) überschreite ich zwei Gipfel, der lange Grat zwischen den beiden Bergspitzen läßt sich mit einer genußvollen Lässigkeit nahezu überspringen. Vom Grat herab sehe ich dann plötzlich Stefan und Heidi über einen steilen Bergrücken absteigen. Auch sie haben mich offenbar erkannt, wir winken uns zu. Zu meiner Überraschung zieht der Grat aber weit über die Abstiegsflanke der Beiden hinaus nach hinten, weshalb schon erste Zweifel in mir nagen, ob ich vielleicht eine Abzweigung übersehen habe. Doch endlich stoße ich in der Bocchetta di Scaiee (2453 m) auf den in der Buchbeschreibung angekündigten, rot markierten Pfad. Zuerst denke ich, Stefan und Heidi seien wohl versehentlich auf die falsche Seite abgestiegen, glücklicherweise ist in meinem Buch aber auch erwähnt, daß die Route hoch über dem Efra-See verläuft. Da sich ein See von erwähnenswerter Größe nur auf dieser Seite befindet, kann der Abstieg folglich nur dort hinüber führen. Später soll sich herausstellen, daß es Heidi und Stefan ähnlich wie mir ergangen war, und sie sogar ein Stück weit in die falsche Richtung abgestiegen sind. Die Beiden haben übrigens unterwegs einen Wiesenhang entdeckt, der über und über mit Edelweiß übersät war. Dieser war mir leider entgangen.
Die Capanna Efra thront auf 2039 Metern, gut hundert Höhenmeter überhalb des gleichnamigen Sees, inmitten eines dramatischen Bergkessels. Die Besitzer sind heute auch anwesend, zusammen mit ihrem etwa 4-jährigen Sohn und einem verspielten Labrador. Außer uns Dreien ist nur noch ein Angler als weiterer Gast zugegen. Dieser hat heute schon ein halbes Dutzend Forellen aus dem See gezogen. Irgendwann in der Nacht wache ich auf und checke, daß in der Dunkelheit noch zwei weitere Gäste eingetroffen sind. Frühmorgens knallt ein erneutes Gewitter los, was uns nun allerdings nicht mehr beunruhigt, denn der freundliche Hüttenwart hat uns bereits mit den neuesten Wetterprognosen versorgt. Das Zwischentief soll heute relativ rasch abziehen und einem bis über´s Wochenende anhaltenden Hoch Platz machen. Dies bedeutet, daß der vollständigen Begehung der Alta Via nun aus meteorologischer Sicht nichts mehr im Wege steht. Wir lassen uns nach dem Frühstück so lange Zeit, bis es wenigstens zu regnen aufgehört hat. Als wir endlich aufbrechen, ist der Himmel über uns zwar immer noch grau, doch die ersten blauen Streifen reißen bereits am westlichen Horizont auf. Aufgrund der Abkühlung - auch im Schlafsaal war diese vergangene Nacht zu spüren - sind zunächst Fliesjacke und lange Hosen empfohlen. Stefan muß unterwegs nochmals umkehren, er hat sein T-Shirt auf der Hütte vergessen. Ich steige mit Heidi bis in eine Scharte hinauf, wo wir hinter vor Wind schützenden Felsen auf Stefan warten. Zwei verlassene Almen passierten wir auf dem Weg hierher, die erste war völlig verfallen, die zweite, die Alpe di Furnà (2148 m) schien noch nicht gar so lange verwaist zu sein. Die immer noch nassen Felspassagen lassen sich problemloser bewältigen, als ich das zunächst vermutet habe. Mehr Aufmerksamkeit verdienen Stellen, an denen ständig Wasser fließt, denn dort haben sich gefährlich rutschige Algenschichten gebildet. Als wir schließlich auf dem Gipfel des Pizzo Cramosino (2718 m) stehen, hat sich das Wetter endgültig zum Guten gewandt. Mit dem Abstieg in den Passo di Gatto (2615 m) gewinnt der Weg an Spannung, da nun wieder geklettert werden muß, wenngleich sich hier unterstützende Sicherungen befinden. Wir steigen mit Sicherheitsabständen in das geröllgefüllte Couloir ein. Mit dem Madom Gröss (2742 m) erreichen wir den höchsten Gipfel des Tages, wo wir unsere beiden schweizer Freundinnen wiedertreffen, die nun in umgekehrter Richtung unterwegs sind. Auch hier wird durch eine knackige Rinne abgeklettert. Vor dem Abstieg zur Cógnora-Hütte erklimmen wir einen weiteren Gipfel. Der mit einem metallenen Gipfelkreuz geschmückte Pizzo di Medozzi (2705 m) gewährt unter anderem einen Blick auf die Autobahnbrücke, sowie einen Zugtunnel der Gotthard-Traverse. Der Abstieg zur 1938 aufgegebenen, ehemaligen Alpe Cógnora erweist sich als harmlos. Auch die Cógnora hat einen äußerst idyllischen Standort, die Hütte selbst ist urgemütlich. Harald aus Bonn hat sich bereits einquartiert, er war heute vom Rifugio Barone aus hier hermarschiert. Etwas unterhalb der Hütte kann man sich bis zum Rande des Wiesenplateaus vorwagen, um den herrlichen Tiefblick ins Vergonèss- und ins Verzascatal zu genießen. Praktisch im Loch, dort wo die drei Täler Redorta, Vergonèss und Versazca zusammentreffen, schlummert pittoresk die Ortschaft Sonogno (918 m), deren urige Häuser sich um ein schönes Kirchlein häufen. Später können wir eine freche Gemse beobachten, die ungeniert um die Hütte herumstreunt, ohne von unserer Anwesenheit beeindruckt zu sein.
Von der Cógnora aus kann man in drei bis vier Gehstunden problemlos zum Rifugio Barone, dem letzten Quartier auf der Alta Via, gelangen. "Etwas schwieriger" sei die Route über den Grat hinweg, so ist bei Iris Kürschner nachzulesen. Diese Titulierung würde ohne weiteres zutreffen, wenn diese Variante entweder markiert wäre, oder man sich von einer des Weges kundigen Person führen ließe. Die eigentliche Schwierigkeit liegt hier in der Wegfindung. Die Ungewissheit darüber, ob man nun richtig ist, sowie die Befürchtungen, sich zu versteigen führen dazu, daß man beginnt, an Zweier-Stellen zu zaudern, auch im Hinblick darauf, daß man im Falle einer Irrung wieder abklettern muß. Alles in allem ist es interessant, zu erfahren, was es bedeutet, wenn der Weg eben nicht mehr durch Markierung vorgegeben ist. Immerhin schaffen wir es, den ersten Gipfel, Pizzo dei Laghetti (2443 m), zu erreichen. Die ständige Unsicherheit über den Fortgang der Route, und auch die Aussicht auf brüchigen Fels am Pizzo della Bedeia (2666 m) lässt uns die Entscheidung treffen, über die Ostflanke, die weniger steil ist, als die Westflanke, nach gründlichem Studium des Geländes, abzusteigen. Wir schaffen es schließlich, sicher auf den rot markierten Weg zu kommen, welcher vom Passo di Piatto (2108 m) hinab ins Leventina-Tal bzw. hinüber zur Capanna Sponda führt. Als wir wiederum im Passo de Piatto stehen, sind fünfeinhalb Stunden seit dem Aufbruch von der Cógnora vergangen. Dennoch sind wir uns einig, daß sich unser Versuch gelohnt hat. Zum einen war´s lehrreich und spannend, zum anderen auch landschaftlich attraktiv, insbesondere der unter uns liegende Lago di Porchierisc bot uns immer wieder einen faszinierenden Blickfang. Bis zur Barone sind es nun drei Stunden in harmlosem Auf und Ab, unterwegs sind uns riesige Teppiche von weißen Lilien beschert.
An der Barone ist nur noch das kleine Nebengebäude mit den Notschlafplätzen Original Alm. Das Hauptgebäude wurde hingegen erst in den 80er-Jahren errichtet. Auch wenn die neue Hütte mit den anderen Refugien (ausgenommen Fümegna) bezüglich romantischer Gemütlichkeit nicht ganz mithalten kann, ist auch sie bestens für Selbstversorger ausgestattet, ganz zu schweigen von der traumhaften Lage im Kessel des Talabschlusses des Val Vergonèss. Nach dem Essen wandere ich noch etwa 200 Höhenmeter aufwärts, um die Ruhe und Einsamkeit am malerischen Barone-See auf mich einwirken zu lassen. Unterwegs stoße ich in flagranti auf flüchtende Murmeltiere. Deren Pfiffe sind zwar unterwegs auf den Etappen ständig zu hören, die scheuen Tiere zeigten sich uns bislang aber nur selten. Das Fenster im Schlafraum unterm Dach geht bis auf den Boden, ich ergattere diesen Platz, um am folgenden Morgen mit Bergblick zu erwachen.
Ursprünglich war die Besteigung des Pizzo Barone (2865 m) noch für den Ankunftstag am gleichnamigen Refugium vorgesehen. Da aber unser Versuch am Grat viel Zeit und noch mehr Kraft gekostet hat, haben wir die Besteigung auf heute Morgen verschoben. Noch drei weitere Gäste verbrachten die Nacht auf der Hütte. Während der Schweizer die Besteigung der Corona di Redorta (2804 m) bevorzugt, steigen der junge Bursche aus Dortmund und sein Offenburger Patenonkel mit uns zum Barone auf. Unterwegs werden wir einer Dreiergruppe von Steinböcken ansichtig. Der höchste Punkt unserer Trekking-Tour erweist sich gleichzeitig auch als exzellenter Panoramaberg. Der Abzug des Zwischentiefs hatte uns bereits gestern klare Fernsichten beschert, ein Zustand, der auch heute noch vorhält, wenngleich eine Dunstglocke aus der Poebene die Luft in zwei Schichten zu zerteilen scheint. Gerade mal 8 Uhr ist es, als wir den Gipfel erreichen. Die Nordseite bricht steil hinunter in ein urwildes, noch völlig im Schatten schlummerndes Hochtal. Dort unten irgendwo befindet sich die Capanna Soveltra, die als Unterkunft theoretisch eine Option zu Fortsetzung der Bergtour bieten würde. Gegenüber recken sich Pizzo Penca (3038 m) und der Pizzo Campo Tencia (3072 m) in die Morgenluft. Letzterer ist der höchste Berg auf rein Tessiner Boden, er hat eine (von hier aus nicht sichtbare) vergletscherte Nordseite. In der Ferne grüßen eis- uns schneebedeckt die 3000er- Gipfel der östlichsten Walliser, dahinter die Berner, in der mächtigen Bergkette im Südwesten vermute ich entweder die Weißmiesgruppe oder gar Monte-Rosa-Ost. Auf Nordost sehen wir die Gotthard-Berge, noch mehr im Osten, im morgendlichen Gegenlicht, die Schatten der Adula-Gruppe, allesamt schon Graubündner-Gipfel. Auf dem Barone läßt sich ein ausgedehntes Plateau umwandern, welches ständig neue Perspektiven eröffnet. So wird auch ein Blick auf die Seite möglich, auf welche wir gestern vom Grat hinuntergestiegen sind. Inmitten des Gegenhanges, dessen plattige Felsen im gleißenden Sonnenlicht glänzen, findet sich eine weitere Selbstversorgerhütte, die Capanna Sponda. Auch sie würde für eine Fortführung der Trekkingtour als Etappenziel geeignet sein. Der Porchieriscsee bleibt allerdings durch einen grünen Bergrücken unseren Blicken entzogen. Der Baronesee bildet von oben besehen die Form eines Herzens.
Zurück im Refugio bereiten wir uns zunächst eine Mahlzeit. Man merkt, daß heute Samstag ist, noch dazu bestes Bergwetter. Bereits am Baronesee tummeln sich schon einige Wanderer. Weitere berglustige Zeitgenossen treffen wir an der Hütte, bzw. auf dem Rückweg, dennoch hält sich die Zahl der Touristen, verglichen mit manch anderen Gebieten, in erträglichen Grenzen. Traumhaft ist auch die Rückkehr ins Tal, die uns aus der rauhen und unwirtlichen Felsenlandschaft des Hochgebirges langsam hinein in immer grünere und sattere Vegetation führt. Schließlich wandeln wir durch schattigen, aromatisch duftenden Lärchenwald, die Versazca wirft verführerische Kaskaden über steile, ausgewaschene Felsen, bildet darunter türkisgrüne Auffangbecken. Bei den wenigen, malerischen Häuslein von Cabei (1079 m) erreichen wir zum ersten Mal wieder eine menschliche Siedlung, hier endet auch die vom Verzascatal heraufkommende Fahrstraße. Dieser folgen wir noch hinunter nach Sonogno. Beide Orte, die Straße, der Parkplatz und sogar die Wasserfälle konnten wir bereits gestern und vorgestern von unseren hohen Standpunkten aus einsehen, wie Spielzeug waren sie uns von dort droben erschienen.
Der Bus bringt uns endgültig in die Zvilisation zurück. Von Stefan und Heidi muß ich mich bereits in Vogorno verabschieden, sie haben ihr Auto dort weit oberhalb geparkt, so daß Stefan noch ein etwa zweistündiger Aufstieg bevorsteht. Unten in Locarno haut mich die Hitze schier aus den Socken. Erst jenseits des Gotthard dringt endlich halbwegs erfrischende Luft durch das Fenster ins Zugabteil. Ach ja, mit neuen Ideen kehre ich natürlich auch in die Heimat zurück: eine Durchquerung mit Ausgangspunkt nördliches Leventinatal bis hinüber ins Maggiatal. Und da lägen schließlich noch ein paar attraktive Gipfel, wie der Campo Tencia, am Weg . . .
Anmerkung: die Fotos zu diesem Bericht wurden mir freundlicherweise von Stefan und Heidi Enders aus Peißenberg zur Verfügung gestellt, bei denen sämtliche Urheberrechte verbleiben.
2 Kommentare:
Ganz herzlichen Dank für diesen tollen Bericht!!
Ich habe diesen Bericht mit sehr viel Freude und immer wieder mitkehrenden Erinnerungen meinerseits gelesen.
Er ist spannend,erlich und sehr informativ gehalten und ich würde zu gerne einmal mit dieser Person unterwegs sein.
Ich bin sein Jahren während der Sommerzeit im Tessin unterwegs und schätze die einsamen Wanderungen sehr.
Wobei gewisse Routen nicht alleine begangen werden sollten.
Für das 2013 plane ich nun die Via Alta Valle Maggia.
Hat da jemand Erfahrungen weiter zu geben'???
Mara Verdun, Wallenried
verdunmara@gmx.ch
Ganz herzlichen Dank für diesen tollen Bericht!!
Ich habe diesen Bericht mit sehr viel Freude und immer wieder mitkehrenden Erinnerungen meinerseits gelesen.
Er ist spannend,erlich und sehr informativ gehalten und ich würde zu gerne einmal mit dieser Person unterwegs sein.
Ich bin sein Jahren während der Sommerzeit im Tessin unterwegs und schätze die einsamen Wanderungen sehr.
Wobei gewisse Routen nicht alleine begangen werden sollten.
Für das 2013 plane ich nun die Via Alta Valle Maggia.
Hat da jemand Erfahrungen weiter zu geben'???
Mara Verdun, Wallenried
verdunmara@gmx.ch
Kommentar veröffentlichen