Vom südlichen Inlandeis hinauf ins Seengebiet
Patagonien? Wo liegt das doch gleich? So oder ähnlich verhielt es sich um den Wissensstand zahlreicher Bekannter, wenn ich ihnen das Ziel meiner bevorstehenden Reise nannte. Selbst diejenigen, die diesen Begriff noch geographisch einzuordnen wußten, waren danach schnell mit ihrem Latein am Ende. Zu letzterer Gruppe habe auch ich noch bis vor nicht allzu langer Zeit gehört. Pampas, Gauchos, überdimensionale Rinderfarmen, südliches Ende Amerikas, Feuerland, so lauteten die klischeehaften Etiketten in meiner Vorstellungswelt, und das war´s dann auch schon. Bis mir vor etwa drei oder vier Jahren ein Buch in die Hände fiel, das den vielversprechenden Titel "Die schönsten Trekkingtouren der Welt" trug. Unter Anderem fand sich da der mehrseitige Reisebericht "Sturmgepeitschtes Patagonien", verfasst von dem Briten Derek Walker. Dieser Erlebnisbericht war mit einigen touristischen Informationen versehen, dazu ein paar Bilder. Diese zeigten Berge und wilde Felstürme mit derart vollendeten Formen, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Dazu noch in azurblaue Seen herabbrechende Gletscher, wie ich sie mir allenfalls in der Antarktis vorgestellt hätte. Damals hatte ich nicht daran geglaubt, jemals die Gelegenheit zu finden, dorthin zu reisen. So weit weg, da muß ja allein der Flug schon ein Vermögen kosten! Und wenn man hernach noch etwas anderes zu tun gedenkt, beispielsweise sich Feuerland anzuschauen (vom Fitzroy - Massiv hatte ich zu dem Zeitpunkt noch nie etwas gehört), muß man noch in das sackteuere Argentinien reisen. Und dann noch das Wetter: fast immer schlecht soll es sein, meist hängen die Berge unter zähen Nebelglocken, während ein eiskalter, immerwährender Wind einem rheumafördernde Regenfontänen ins Gesicht peitscht. Vor etwa zwei Jahren wurde ich in der städtischen Bücherei abermals fündig. Diesmal war es ein topaktueller Trekkingführer, der neben dem Paine - Massiv noch 19 weitere Mehrtagestouren in Patagonien und Feuerland vorstellte. Jeder Tourenvorschlag war mit Fotos garniert, die ihre Wirkung nicht verfehlten. Mir wurde vorgeführt, daß Patagonien, außer dem Paine - Massiv, noch unzählige weitere, an Attraktivität kaum zu übertreffende Berglandschaften bietet. Kurz darauf ließ die argentinische Wirtschaftskrise das wohlhabendste Land Südamerikas über Nacht verarmen. Durch die Währungsabkoppelung vom US – Dollar wurde das teuerste jedoch auch plötzlich zum preisgünstigsten Land Südamerikas. Diese Erkenntnis war schließlich der Ausschlag dafür, eine Reise nach Argentinien zu planen. Da meine Frau und meine Tochter einen Familienbesuch in ihrer Heimat Mexiko bevorzugten, stand dann rasch fest: wenn ich allein gehe, wird sich die Reise hauptsächlich aus Bergtouren zusammensetzen. Sicher wußte ich auch seit dem Erdkundeunterrricht in der 5. Klasse, daß Argentinien ein riesengroßes Land ist. Wie groß die Dimensionen wirklich sind, merkte ich dann bei der Planung. Der Besuch der unglaublich anziehenden Bergmassive und Gletscher Patagoniens schien für mich unabdingbar. Wie aber kombiniert man das mit einer Aconcagua - Besteigung und dem anschließenden Besuch der Iguazu - Wasserfälle? Der höchste Berg Amerikas ist mit seinen 6959 Metern ein absoluter Rekordgipfel: höchster Berg Amerikas, höchster Berg der südlichen Hemisphäre, höchster Berg außerhalb der zentralasiatischen Gebirgsmasse (sprich: Himalaya mit seinen Nachbarn), und - schier unglaublich, bei all diesen Auszeichnungen - auf der Normalroute ohne technische Schwierigkeiten ersteigbar. Das Fazit nach Einholung der wesentlichsten Fakten für eine Besteigung lautete jedoch: mindestens zwei, eher drei Wochen nimmt die Besteigung mit Akklimatisation in Anspruch, selbstverständlich ohne Gipfelgarantie. Höhenkrankheit, strengste Kälte, teuflischer Wind, gefährlich schnelle Wetterumschwünge können einem dabei schnell einen Strich durch die Rechnung machen, ja sogar Leib und Leben gefährden. Auch die Iguazu - Wasserfälle zählen zu den großen Naturwundern unseres Planeten: Neben den Niagara- Fällen in den USA und den Viktoria - Fällen im Süden Afrikas reihen sich die Iguazu - Fälle in die Parade der gigantischsten Kataraktgebilde der Erde, ja von den Dreien sind sie sogar die Größten! Schaut man auf die Landkarte, stellt man fest, die Wasserfälle befinden sich in der äußersten Nordecke Argentiniens, an der Grenze zu Brasilien, sprich: Feuerland bzw. Südpatagonien befindet sich am einen, Iguazu - Fälle am anderen Ende des größten Landes Hispanoamerikas. 5 Wochen sind allerhöchstens drin, und ich zerbreche mir den Kopf, die Wahl wird zur Qual. Ziemlich schnell wird mir klar: wenn, dann musst Du dich auf Patagonien konzentrieren, und auch hier müssen klare Auswahlen getroffen werden. Zunächst fällt meine Entscheidung dahingehend, meinen Aufenthalt nur auf die argentinische Seite zu begrenzen. Das hieße aber, auf das Paine - Massiv zu verzichten. Nein, keinesfalls! Ich komme zum Schluß, daß meine Reise mich nicht in ein durch Staatsgrenzen limitiertes Gebiet führen soll, sondern in eine Landschaft, und die trägt sowohl auf der argentinischen als auch auf der chilenischen Seite den Namen Patagonien.
Um diese Landschaft begreiflich zu machen und um ein grobes Bild von ihr zu zeichnen, halte ich es für angebracht, eingangs einige Fakten über Patagonien zusammenzutragen. Da wäre zunächst der Name. Die Portugiesen waren es, die vermutlich als erste Europäer auf der Suche nach neuen Seewegen vor den Küsten des australen Südamerika aufkreuzten. Patagones, Großfüßler nannten Magellan und seine Begleiter die ersten Indianer, die sie dort antrafen. Von den Ureinwohnern des Landes, deren größte Stämme die Tehulche, die Araukanier und die Mapuche bildeten, blieb nach der immer weiter fortschreitenden Besiedlung durch Europäer bald nicht mehr viel übrig. Nachdem viele von ihnen bereits eingeschleppten Krankheiten oder Scharmützeln zum Opfer fielen, wurde in der sogenannten Campana del Desierto (Wüstenfeldzug), die nichts anderes als ein Genozid war, ihre Kultur und Identität fast vollkommen ausgelöscht. Zu behaupten, in Patagonien gäbe es gar keine Indianerkultur mehr, wäre dennoch falsch. Entsprechende Hinweise will ich später im Text aufführen. Allgemein scheint jedoch der Mensch in den unendlichen Weiten und schwer zugänglichen Bergen Patagoniens eine sehr untergeordnete Rolle zu spielen. Patagonien gehört zu den am dünnsten besiedelten Gebieten des Kontinents. Die Region Santa Cruz im äußersten Süden dürfte in etwa das Gebiet der alten Bundesrepublik Deutschland füllen, hat jedoch nur 200.000 Einwohner. Rio Gallegos, die Provinzhauptstadt, bringt es noch auf 70.000 Einwohner, weitere Städte wie San Julian, Perito Moreno oder Calafate hingegen nur noch auf wenige Tausend. Ansonsten teilen sich die riesigen Pampaflächen ein paar wenige sogenannte Estancias, das sind riesige Farmen, deren Herren sich speziell hier, im tiefen Süden, der Schafzucht widmen. Die durch zig oder gar hundert und mehr Kilometer lange Drahtzäune abgeteilten Weidegebiete haben für einen Europäer Dimensionen von nur schwer vorstellbarem Ausmaß. Auf den Estancias selbst leben nur wenige Menschen. Die Besitzer residieren in oft sehr feudalen Farmhäusern, selbst in Zeiten der Wirtschaftskrise scheinen sie zu den Wenigen zu gehören, deren Wohlstand nur wenig gelitten hat. Ansonsten leben auf dem Farmgelände, meist in unmittelbarer Nähe des Hauptgebäudes, die Bediensteten. Gelegentlich findet man noch eine Tankstelle, oder gar ein Motel mit Restaurant, falls die Estancia sich an einem einigermaßen frequentierten Verkehrsknotenpunkt befinden sollte. Selten sind die Straßen geteert, meistens braust man über staubige, mehr oder weniger schlaglochgespickte Pisten. Insofern bin ich bereits bei der Beschreibung der vorherrschenden Landschaftsform Patagoniens gelangt, nämlich der Pampas. Kein weiterer Landschaftstyp dominiert und prägt Patagonien in dem Maße, wie diese einsame, öde Steppenlandschaft, und will man ein reelles Bild von Patagonien zeichnen, so kommt man um die Pampas nicht herum, auch nicht als Bergsteiger, oder als Freund der faszinierenden Küstenfauna, die Welt der Pinguine, Seelöwen und Kormorane. Die ursprüngliche Pampalandschaft kennt keine Bäume. Dort, wo man sie findet, beispielsweise in unmittelbarer Nähe der Farmhäuser, sind sie von Menschenhand angepflanzt. Harte Gräser und struppige Buscharten bestimmen die Flora. Dieser karge Bewuchs wurde zudem noch durch die bereits anderthalb Jahrhunderte währende Schafzucht zusätzlich dezimiert. Dort, wo die Grasflächen durch die Weidetiere unwiederbringlich erodiert sind, gedeiht jediglich eine dunkelfarbene, genügsame Buschart, die Mata Negra. Das Klima der Pampas steht in Übereinstimmung mit deren Flora. Hart, rauh, unwirtlich. Im Sommer bläst eigentlich immer der Wind, meist in heftigen Böen, er bringt jedoch sehr wenig Regen. Im Winter gehen die dann stark zunehmenden Niederschläge in Form von Schnee herunter. Zu dieser Jahreszeit kann es auch mal windstill sein, Temperaturen bis Minus 15 Grad sollen vorkommen. Da wir uns hier auf der Südhalbkugel befinden, verlaufen die Jahreszeiten umgekehrt als bei uns, d.h. wenn bei uns Winter herrscht, ist in Patagonien Sommer und umgekehrt. In Patagonien leben übrigens um ein Vielfaches mehr Schafe, als Menschen, nämlich gut 15 Millionen. Die Schafzucht wurde Ende des 19. Jahrhunderts durch überwiegend wallisische Siedler eingeführt. Noch häufig vorkommende wilde Tierarten sind der Nandu, ein Laufvogel, der zur Familie der Strauße gehört, sowie das Guanako. Letzteres ist das am südlichsten verbreitete der amerikanischen Kamelarten, dessen weiter nördlich lebenden Verwandten allgemein besser bekannt sind: Lama, Alpaca und Vicuna. Während diese oft als Zuchttiere gehalten werden, sind die Guanakos normalerweise nicht domestiziert.
Zum Baden lädt die patagonische Atlantikküste sicher nicht ein, auch oder weswegen man dort mit die einsamsten Strände der Welt findet. Zu den äußerst frischen Wassertemperaturen gesellt sich auch hier ein immerwährender Wind. Der Wind ist das bestimmende Element Patagoniens, die Küsten sind sturmumtost und menschenleer, und damit wiederum idealer Lebensraum für Wasservögel. Die bekanntesten dürften die Magellan - Pinguine sein, die entlang der patagonischen Küsten in riesigen Kolonien siedeln. Weitere bemerkenswerte Meeresbewohner sind Wale und Delphine. Die Strände werden, außer von Pinguinen und anderen Wasservögeln, von lärmenden Seelöwenvölkern und deren nächsten Verwandten, wie den Seehunden, belagert.
Bricht man von der Atlantikküste in Richtung Westen auf, wird man irgendwann nach stundenlanger, staubiger Fahrt durch meist flache, gelegentlich aber auch hügelige, karge Pampasteppe Berge am Horizont sichten, und wenn man an der richtigen Stelle auf sie trifft, noch dazu welche, die Profile präsentieren, die den Betrachter in Staunen versetzen. Die patagonischen Anden sind oft der Hauptgrund für viele Naturfreunde, die Reise an dieses so unwirtliche Ende der Welt anzutreten. Rundheraus gesagt, wer für sich in Anspruch nehmen möchte, die schönsten Gebirgslandschaften der Welt erkunden zu wollen, kommt um die patagonischen Anden nicht herum. Die Massive von Fitzroy und Torres del Paine sind vielleicht das Schönste und Vollendetste, was unser Planet bezüglich Berglandschaft zu bieten hat. Da jedoch berüchtigt für ihr schlechtes Wetter, wird dort dem Besucher oft tagelange Geduld abverlangt, bis sich die dichten Wolkenvorhänge öffnen. Was er aber dann zu sehen bekommt, ist wirklich einzigartig!
Nicht weniger sensationell werden dem Reisenden die enormen Eismassen und türkisfarbenen Gletscherseen erscheinen. Im südlichen Patagonien befinden sich zwei riesige kontinentale Eisfelder. Das größere der beiden ist das sogenannte südpatagonische Inlandeis mit einer Fläche in etwa so groß wie das Bundesland Hessen, das nördliche dürfte in etwa ein Drittel dieser Fläche aufweisen. Die patagonischen Eisfelder sind die größten zusammenhängenden Glazialflächen außerhalb der Polarzonen und ihre Eismasse, inklusive der Auslaßgletscher, entspricht in etwa dem sechsfachen aller zusammengenommenen Eisvorkommen der Alpen. Die enormen Auslaßgletscher fließen, besonders im Süden, hinunter bis auf Höhen, die nur noch wenige Meter oberhalb des Meeresspiegels liegen, wo sie oft unmittelbar an der Grenze zum (kalten) Regenwald enden. In Patagonien hat der normale Wanderer die einmalige Chance, Gletscher derartigen Ausmaßes über einfache Bergpfade zu erreichen und zu bewundern. In den Alpen sind vergleichbare Dimensionen, wenn überhaupt, dann nur in den Westalpen zu bewundern, wobei diese Spektakel den Hochtourengehern vorbehalten sind, die, ausgerüstet mit Seil, Pickel und Steigeisen, oft auch gefährlich und/oder technisch anspruchsvoll, in die Welt der dortigen Drei- und Viertausender vordringen.
Die in Nord - Süd - Richtung verlaufende Andenkordillere zieht eine scharfe Klimagrenze zwischen den östlichen, sehr trockenen Pampagegenden und den niederschlagsträchtigen Gebieten im Westen. Die Klimagrenze kann oft ohne Weiteres in einer Tageswanderung überschritten werden. Während man morgens noch in den macchiaartigen Büschen und Gestrüppen der Pampalandschaft aufgebrochen ist, findet man sich gegen Nachmittag bereits im üppig wuchernden Grün des sogenannten kalten Regenwaldes. Um diesen Unterschied zu verdeutlichen, will ich die jahresdurchschnittlichen Regensäulen der beiden Extreme anführen: argentinische Pampasteppe 300 Millimeter, chilenischer Regenwald 4000 Millimeter. Der den Pampas zugewandte Südbuchenwald erhält einen Jahresdurchschnitt von etwa 1000 Millimeter, weshalb er sich von den westlichen Wäldern wiederum unterscheidet. Er weist so gut wie keinen Unterbewuchs auf und ist sehr licht bestanden, während der kalte Regenwald meist einem schier undurchdringlichen Dschungel gleicht.
Wie aus meinen Ausführungen bereits hervorgeht, bezeichnet der Begriff Patagonien nicht einen Staat, sondern eine Großlandschaft, die von einer Staatsgrenze durchzogen wird, die in etwa über die höchsten Grate der Andenkordillere verläuft, wobei der östliche, flächenmäßig weit größere Teil, zu Argentinien gehört, während der Westen chilenisches Territorium ist. Die geographische Gliederung wird von Ost nach West folgendermaßen vorgenommen: patagonische Atlantikküste, Zentralpatagonien (Pampas), Andenkordillere, Pazifikküste. Im Norden hingegen differenziert sich die Unterteilung: das argentinische und das chilenische Seengebiet darf man wohl als eine Landschaft betrachten, obwohl auch hier Pampaausläufer und Regenwaldzone eine Ost - West - Einteilung nahelegen. Auf der chilenischen Seite schiebt sich noch zwischen Kordillere und Pazifikküste das ewig lange Längstal ein, das in etwa bei Santiago seinen Anfang nimmt, und in Puerto Montt buchstäblich im Meer versinkt. Südlich davon stürzt die Andenkette unmittelbar ins Meer, und zersplittert in eine von unzähligen Fjorden und Inselarchipeln zerrissene Landschaft. Von Puerto Montt aus kann man auf abenteuerliche Weise über die berühmte carretera austral bis nach Puerto Yungai, oder sogar, falls die geplante Fortsetzung der Piste bereits vollendet sein sollte, bis nach Villa O´Higgins gelangen, dann endet die Verlängerung der Panamericana endgültig, es existiert auf der chilenischen Seite kein Landweg mehr. Will man von hier aus dennoch auf der chilenischen Seite weiter gen Süden reisen, so bleiben nur Flugzeug oder Seeweg. Ansonsten ist die Fahrt über argentinisches Territorium obligatorisch.
Die Definition von Patagonien hinsichtlich seiner Ausdehnung wird allgemein wie folgt vorgenommen: Im Norden beginnt Patagonien südlich des Rio Colorado, im Süden endet es an der Magellan - Straße, Feuerland wird, trotz vieler Ähnlichkeiten, nicht hinzugezählt. Im Westen wie im Osten umspülen das Land jeweils die Ozeane Pazifik und Atlantik.
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So schnell war ich noch nie eingecheckt: um 16.04 Uhr trifft mein Zug am Flughafen Stuttgart ein, um 16.15 Uhr hebt die Maschine ab und ich sitze drin! Mein regulärer Flug war kurzfristig ausgefallen, die Dame vom Flughafen hatte mich zuhause angerufen, gerade in dem Moment, als ich bereits den Rucksack geschultert hatte, um mich zum Bahnhof zu begeben. In Buenos Aires werde ich gleich nach meiner Ankunft vom Flughafenpersonal gesucht, man teilt mir mit, daß mein Gepäck in Europa verblieben sei. Ich hab´s geahnt! Man beruhigt mich jedoch, das Gepäck werde morgen in Buenos Aires eintreffen, man werde es dann unverzüglich nach Rio Gallegos weiterschicken, wo ich es morgen Abend in Empfang nehmen könne.
Meine Route erscheint zunächst etwas unkonventionell. Von Buenos Aires aus werde ich heute noch per Inlandsflug nach Rio Gallegos reisen, um meine Tour dort, im äußersten Süden des amerikanischen Kontinents, zu beginnen, und dann langsam nach Norden "zurückzukehren". Für den Inlandsflug muß ich vom internationalen Flughafen zum sogenannten Aeroparque wechseln, der sich am anderen Ende der Metropole befindet. Mit den Buses Tienda Leon ist das eine schnelle, sichere und preisgünstige Sache. Die Fahrt vermittelt etwas von den Dimensionen der argentinischen Kapitale. Obwohl wir den größten Teil der Strecke auf einer schnellen Autopista zurücklegen, dauert die Fahrt eine geschlagene Stunde. Ein kurzer Halt im Zentrum, ich komme mir vor, wie in einer spanischen Großstadt, das Klischee "die europäischste aller lateinamerikanischen Hauptstädte" scheint zumindest auf den ersten Blick zuzutreffen. Meine persönliche Lateinamerikaerfahrung beschränkt sich bislang auf Mexiko, das Land, welches ich schon zweimal besucht habe, und welches ich, durch meine von dort stammende Frau und meine Tochter, im besonderen Maße auch von innen her kennenlernen durfte. Während man in den mexikanischen Großstädten fast nur die riesigen Schiffe amerikanischer Bauart, wie Buick oder Cadillac sieht, fahren hier in Buenos Aires auffallend viele europäische und japanische Modelle, auch sieht man hier nicht gar so viele Rostbeulen. Auch etliche Hochhäuser stehen noch sehr gut im Putz. Die Wirtschaftskrise ist eben erst zwei Jahre alt, und Dekadenz ist ein langsam fortschreitendes Geschwür, darum verstellen diese scheinheiligen Fassaden vermutlich den Blick auf die wahre derzeitige Situation der Mehrheit der Portenos, so nennen sich die Einwohner von Buenos Aires. Hastige, flüchtige Eindrücke nur für eine Stadt, die berühmt ist für ihre bizarren, lebhaften Viertel, eine Stadt, wo der Tango noch auf der Straße, über alle Altersgrenzen hinweg, getanzt wird, eine Stadt, die eigentlich einen mindestens zwei – bis dreitägigen Aufenthalt gerechtfertigt hätte. Doch wie Eingangs bereits erwähnt, hatte ich schon bei der Reiseplanung eine strenge Auswahl zu treffen, und somit mußte auch Buenos Aires von der Wunschliste gestrichen werden.
Der Aeroparque liegt direkt an einem offensichtlich vom Schlamm braun gefärbten Gewässer, das einem riesigen See gleicht, zahlreiche Segelboote und - yachten verstreuen sich über die Wasserfläche bis hin zum Horizont, ein gegenüberliegendes Ufer ist nicht in Sicht. Kein Wunder, denn die engste Stelle dieser enormen Bucht beläuft sich auf 50 Kilometer, an der breitesten misst sie sogar 220 Kilometer! Hier ist er also, der Rio de la Plata, Namensgeber einer aus drei Ländern gebildeten Region. Wenn man von den La - Plata - Ländern spricht, so heißt das: Argentinien, Uruguay und Paraguay, der Ausdruck „ Cono Sur“ (dt.: Südkegel) hingegen schließt Chile mit ein. Eigentlich handelt es sich beim Rio de la Plata (dt.: Silberfluß) gar nicht um einen Fluß, er ist vielmehr ein riesiger Mündungstrichter in den Atlantik, der seine Wasser durch den Zusammenfluß von Rio Uruguay und Rio Parana erhält. Auch die uruguayische Hauptstadt Montevideo liegt am Ufer dieser gewaltigen Mündung. Die geographische Begründung, warum auch Paraguay zu den La - Plata - Ländern gezählt wird, erklärt sich daraus, daß die Hauptwasseradern des Landes, wie der Rio Paraguay oder der Rio Pilcomayo (Grenze zu Argentinien) in den Rio Parana einmünden, welcher wiederum in den Rio de la Plata fließt. Außer der Tatsache, daß die drei Länder vor ihrer Unabhängigkeit im sogenannten Virreino (Vizekönigreich) Rio de la Plata eine Einheit bildeten, weisen sie, trotz vieler typischer Eigenheiten, gewisse kulturelle Gemeinsamkeiten auf, die sie von den anderen südamerikanischen Ländern eindeutig unterscheiden.
Der nächste Schreck läßt nicht lange auf sich warten: mein Reisebüro hat mir den Inlandsflug nicht rückbestätigt, ich muß auf die Warteliste. Vor mir warten bereits zwei Personen, es sieht schlecht aus. Praktisch in letzter Minute dürfen alle Drei doch noch zusteigen. Patagonien von oben zeigt sich als eine riesengroße, ebene Landmasse, auf der nirgends eine Siedlung auszumachen ist. Sie wird von ein paar Flüssen durchschnitten, zahlreiche größere und kleinere Seen glitzern unter mir. Das Flugzeug folgt der Küstenlinie, wo ich immer wieder große Flußmündungen ausmachen kann. Da der Aeroparque von Rio Gallegos ein paar Kilometer außerhalb der Stadt liegt, muß ein Taxi genommen werden. Der Fahrpreis ist überraschend billig, er beträgt nur 9 Pesos, was nicht einmal 2,50 Euro entspricht. Obwohl mein Reiseführer aktuell ist, d.h. die Preisrecherchen nach dem Wirtschaftszusammenbruch vorgenommen wurden, war offensichtlich noch der alte Preis angegeben, als der Peso noch im Verhältnis 1:1 zum US - Dollar stand. Im Hotel "Cabo Virgenes" komme ich für 45 Pesos (etwa 13 Euro) unter. Im Nachhinein soll sich diese Übernachtung als eine der teuersten der gesamten Reise herausstellen.
Rio Gallegos war einst der Hauptluftwaffenstützpunkt der Argentinier im Falklandkrieg. Auf spanisch heißen die Falklandinseln Malvinas, und in Argentinien scheint man immer noch darauf zu bestehen, daß die Inseln eigentlich zu Argentinien gehören. "Las Malvinas son argentinas" (die Falkland - Inseln sind argentinisch), diese Parole soll mir nicht nur in Rio Gallegos begegnen. Generell stößt man in den Städten des argentinischen Südens immer wieder auf Heldenmonumente, die den im Kampf gefallenen argentinischen Piloten gedenken. Rio Gallegos ist eine typisch südpatagonische Stadt. Sie zeichnet sich durch Langeweile und Mangel an Sehenswürdigkeiten aus. Das Stadtbild ist eintönig in Schachbrettform angelegt, prächtige Bauten aus der spanischen Kolonialzeit sucht man vergebens, dafür vermitteln die meisten Häuser einen für südamerikanische Verhältnisse sehr guten und wohlhabenden Eindruck. Der Baustil will ebenfalls nicht in das Klischee von Südamerika passen, statt Flachdächern überwiegen moderne Giebel in den verschiedensten Winkeln, steingemauerte Kamine, und rasenbepflanzte Gärten werden durch bunte Blumen verziert. Das alles wirkt sehr nordamerikanisch, mit einem Hauch Großbritannien. Man sollte sich dennoch davor hüten, die Städte Patagoniens als für Südamerika untypisch zu bezeichnen, denn schließlich hat der riesige Halbkontinent viele Facetten. Wenigen ist beispielsweise bekannt, daß sich ausgerechnet im tropischen Regenwald Venezuelas ein von Deutschen gegründeter Ort mit Fachwerkhäusern im Schwarzwaldstil befindet.
Ich unternehme einen abendlichen Spaziergang entlang der Uferpromenade. Hier ist wirklich etwas los! Die Uferstraße wird der ganzen Länge nach von Jugendlichen belagert, die, mit Bierflaschen in den Händen, um ihre Autos herumlungern, aus der laute Popmusik, meist aus der Latino - Rock - Szene, aber auch aus dem anglophonen Bereich, dröhnt. Rio Gallegos ist eine Stadt, die nicht ganz am Meer, sprich dem Atlantik liegt. Sie ist ein paar Kilometer hinter die Flußmündung des gleichnamigen Rio Gallegos gebaut, zu dessen anderen Ufer man vom Malecon aus hinübersehen kann, wo, wie überall, sobald man der Stadt verläßt, nur noch das wüstenhaft karge Braun der Pampasteppe regiert.
Zurück im Zentrum schlendere ich die Avenida Pte. Roca hinunter. In dieser Straße pulsiert das eigentliche Leben der Stadt, sie ist Einkaufsstraße und Flaniermeile, und bietet zudem ein Sammelsurium von Restaurants und Imbißbuden. Verläßt man die Avenida Roca, und begibt sich in eine der Nebenstraßen, so findet man sich sofort in halbausgestorben scheinenden, eintönigen Wohngegenden. Das Restaurant "18 horas" entspricht genau meinem Geschmack. Es handelt sich um ein typisches Volkslokal, wo in schlichter Einrichtung zu günstigen Preisen deftige Landesküche geboten wird.
Für Leute, die aus irgendwelchen Gründen dazu verdammt sind, mehrere Tage in Rio Gallegos zu verbringen, empfiehlt sich ein Tagesausflug zum etwa 120 Kilometer weiter südlich gelegenen Cabo Virgenes. Diese Halbinsel ist sozusagen die Eingangspforte der Magellanstraße. Es gibt dort eine Kolonie von etwa 30.000 Magellan - Pinguinen. In Rio Gallegos gibt es mehrere Reiseveranstalter, die diese Tour anbieten. Gestern war allerdings Sonntag, und sämtliche Agenturen blieben geschlossen. So oder so wäre dieser Ausflug für mich nicht machbar gewesen, da ich gegen Mittag mit Buenos Aires telefonieren muß, um die Bestätigung über Ankunft und Weiterversand meines Gepäcks einzuholen. Ich bin erleichtert, als man mir sagt, daß der Rucksack mit der Maschine um 19.00 Uhr am Aeroparque eintreffen wird. Ursprünglich war mir versprochen worden, daß man mir das Gepäck bis ins Hotel nachliefert, doch ich insistiere nicht darauf. Lieber will ich es selbst abholen, bevor noch ein Unglück geschieht. Am Flughafen lerne ich einen Tschechen kennen, der mit der selben Maschine, wie mein Gepäck angekommen ist. Er wartet auf den Bus, der ihn vom Flughafen aus direkt nach Calafate und somit ins Fitzroy - Gebiet bringen wird. Gut abgecheckt, denke ich, und ich beneide ihn beinahe für seine effiziente Planung, die ihm einen unnötigen Tag in Rio Gallegos erspart. Hinterher soll ich jedoch noch froh darüber sein, mich zuerst für den Besuch der Torres del Paine und erst anschließend für die Reise zum Fitzroy entschlossen zu haben.
Den ganzen Tag habe ich mit Bummeln in der Stadt zugebracht. Der unvorhergesehene Aufenthalt hatte sicher den Vorteil, daß ich genügend Zeit fand, mich logistisch zu versorgen. Lebensmittel sind auf der argentinischen Seite sicher billiger als drüben in Chile, ich hüte mich aber vor dem Einkauf von Fleisch- und Wurstwaren, sowie frischem Obst, da beide Staaten in dieser Beziehung strenge Einfuhrverbote erlassen haben, denn sowohl Argentinien als auch Chile reklamieren für sich, BSE – freie Länder zu sein und wollen dies ganz offensichtlich bleiben. Auch einen Gaskocher habe ich erworben. Die Produkte des Herstellers sind auch in Europa weit verbreitet, es handelt sich sogar um das selbe Modell, welches bei mir zu Hause im Keller lagert. Der Transport von Gaskartuschen in Flugzeugen ist bekanntlich verboten, und da ich nicht sicher war, ob Kartuschen eben dieses Herstellers in Südamerika verbreitet sind, hatte ich bereits zu Hause beschlossen, vor Ort einen neuen Kocher zu erwerben. Mein Stadtbummel führt mich auch zu den wenigen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Am Malecon befindet sich ein Schild, welches die Geschichte des alten Landestegs erklärt, von dem nur noch ein paar verfaulte Stümpfe aus dem morastigen Uferbereich ragen. Die sogenannte "Muelle de Frigorificos" wurde während der Gründerzeit errichtet, um tiefgefrorenes Fleisch zu verschiffen. Auf der diagonal von der Promenade weglaufenden Avenida General Sureda verliefen früher die Geleise, die die einstige fleischverarbeitende Fabrik mit dem Landesteg verband. Die Existenzberechtigung der Stadt hat sich somit bis zum heutigen Tag nicht wesentlich geändert: der Hafen von Rio Gallegos dient immer noch in erster Linie zur Verschiffung der im Landesinneren gewonnenen Viehzuchtprodukte, wie Schafswolle oder Fleisch. Der alte Landesteg fand übrigens sein vorzeitiges Ende während eines besonders kalten und langen Winters, in dem die Stadtverwaltung beschloss, das Holz zur Verheizung an die notleidende Bevölkerung freizugeben. Es war geplant, den Steg bei guter Gelegenheit wieder aufzubauen, was bis zu heutigen Tag nicht geschehen ist. Ein paar hundert Meter weiter vorn befindet sich der neue Hafen. Der relativ niedrige Wasserstand hat ein weitläufiges Schwemmland freigelegt, auf dem hunderte von Kormoranen und Möwen sich versammeln. Ich begebe mich auf eine kleine Wanderung durch´s Marschland, und vertreibe mir ein wenig die Zeit als Laienornithologe.
Zurück im Stadtzentrum verdient das kleine Kirchlein gegenüber der Plaza San Martin aufgrund seiner Holzverkleidung im Inneren ebenfalls einen kurzen Besuch. Wie bereits gestern, herrscht auch heute wieder Picknickstimmung auf der parkähnlich angelegten Plaza. Überall lagern Familien, Gruppen von Jugendlichen oder verliebte Pärchen unter den schattigen Bäumen, ein kleiner Elektroautoverleih ermöglicht die ersten Fahrversuche des Nachwuchses, von stolzen, aber auch manchmal etwas ungeduldigen Vätern begleitet.
Auch ich habe es mir zwischenzeitlich im Schatten bequem gemacht, als mir der Gedanke kommt, daß ich eigentlich den ganzen Tag ungeschützt in der über 30 Grad heißen Sonne zugebracht habe. Durch den frischen, böigen Wind, der vor allem am Flußufer geblasen hatte, hatte ich die Gefahr nicht so richtig wahrgenommen. Als ich jetzt meine Arme betrachte, sind diese bereits rot, Gesicht und Nacken haben´s übrigens auch voll abgekriegt. Ich hatte eigentlich nicht mit solch warmen und sonnigen Temperaturen in Südpatagonien gerechnet. Auch hier spricht man heuer von einem Jahrhundertsommer, und auch die Winter seien nicht mehr das, was sie mal waren, hatte mir der Taxifahrer auf dem Rückweg vom Flughafen zum Hotel erklärt. Früher hatte man drei Monate lang eine geschlossene Schneedecke, zwischenzeitlich bliebe der Schnee meist nur noch im Juni liegen.
Normalerweise ist es möglich, von Rio Gallegos aus mit einem Direktbus bis nach Puerto Natales in Chile zu reisen. Das funktioniert täglich, außer Montags. Aber der Taxifahrer hatte mich gestern bereits aufgeklärt, daß es dennoch möglich sei, auch Montags von hier aus nach Puerto Natales zu gelangen. Ich solle einfach den Bus um 14.00 Uhr nach Rio Turbio nehmen. Von diesem Grenzort aus würden Colectivos nach Puerto Natales verkehren, der Letzte allerdings um 20.00 Uhr, d.h. der Bus sollte bei der Ankunft möglichst keine Verspätung haben. Wenn doch, dann müsste ich halt in Rio Turbio übernachten, und könnte dann frühmorgens gleich nach Chile weiterreisen.
Auf der Fahrt soll ich die typische Pampalandschaft kennenlernen. Eine nahezu geschlossene Wolkendecke hängt über der Ebene. Flachsfarbene Grassteppe zeigt sich bald flach, bald mit Hügeln durchsetzt. Durchgehend sind Drahtzäune links und rechts der Straße gezogen. Die Estanciabesitzer legen großen Wert darauf, ihr Eigentum zu umgrenzen, wie ich überhaupt auf meiner Patagonienreise eine besondere Sensibilität der Grundeigner in Bezug auf privates Besitztum feststellen soll. Die eingeschnittene Schlucht (Canadon) des Rio Gallegos ist meist nicht allzu weit von der Straße entfernt, und gelangt immer wieder ins Blickfeld. Die Weiten der Pampas können über Stunden hinweg langweilig sein, erinnern mich dann an die Karoo - Halbwüste in Südafrika, die ich 1995 mit meinem Freund Udo Acker durchfahren habe, um dann aber schlagartig wieder interessant zu werden, in Form eines besonders beeindruckenden Canadons, einer zerklüfteten Hügellandschaft, steil abbrechender Mesetas (Hochebenen od. Tafelberge) oder eines scheinbar träge durch die Ebene mäandrierenden, breiten Flußlaufes.
Haltepunkte unterwegs, wie "La Esperanza" (Die Hoffnung) oder der Puesto Fijo (Stützpunkt) "Tapi Aike" bestehen meist aus einer Tankstelle, einem Restaurant mit Hotel, sowie einem oder zwei Wohngebäuden. In Tapi Aike sieht man bereits deutlich die bizarren, teils schneebedeckten Gipfel der Südanden aus der Ebene herausragen. Einen großen Teil der Strecke legt der Bus auf Schotterpisten zurück, gelegentlich passieren wir eine Baustelle, wo die Arbeiter sich mit Brillen und Schutzmasken gegen die gewaltigen Staubwolken der vorbeirumpelnden Fahrzeuge schützen. Vor den Rasthäusern der Stützpunkte stehen oft mehrere Busse, die alle mehr oder weniger auf denselben Pisten verkehren, allzu viele Möglichkeiten gibt es hier nicht. Die Raststätten liegen meist an den Kreuzungen, wo mehrere Reiserouten aufeinandertreffen. Die Fahrzeuge mit unversehrten Windschutzscheiben sind mit riesigen Käfigen zum Schutz vor Steinschlag versehen, alle anderen weisen einige oder viele Sprünge auf, Tribut an die Schotterpisten, wo vorausfahrende oder entgegenkommende Fahrzeuge wie Steinschleudern dergleichen Schäden verursachen. Der letzte Teil der Strecke ist übrigens der interessanteste. Vom Busfenster aus kann ich häufig Nandus beobachten, das sind hier in den Pampas beheimatete Laufvögel, die mit den afrikanischen Straußen verwandt sind. Bäume, deren Wuchs deutlich vom patagonischen Wind geprägt ist, besiedeln plötzlich die Landschaft. Der Wuchs der Zweige und sogar der Stämme fügt sich exakt der Windrichtung, als wären sie mit einem Kamm zurechtfrisiert worden. Bevor wir Rio Turbio erreichen, fährt der Bus zu einer Ortschaft mit dem Namen 28. de Noviembre. Wir passieren unterwegs eine Abbauanlage für Kohle, womit die Identität von 28. de Noviembre und Rio Turbio geklärt ist: Es handelt sich um zwei weltvergessene Bergarbeiternester, Rio Turbio nimmt zudem noch die Funktion eines Grenzortes an der Paßstraße nach Chile ein.
Als ich in Rio Turbio aussteige, komme ich mit Massimo in Kontakt. Ich habe ihn bereits auf dem Busbahnhof in Rio Gallegos gesehen. Aufgrund seines Aussehens und seines sehr flüssigen, schnell gesprochenen Spanisch ging er bei mir zunächst als Argentinier durch. Wie es sich nun herausstellt, ist er Italiener, und Manager eines Vier - Sterne - Hotels auf der ägyptischen Halbinsel Sinai, der allerdings keinen allzu großen Bock auf Urlaub der Marke "All Inclusive" hat, wenn er privat unterwegs ist. Die Zeit dazu scheint er öfters zu finden, was auch die argentinischen Zöllner an der Anzahl seiner im Reisepaß gesammelten Stempel erkennen müssen, weshalb er ihnen die Seitenzahl nennt, wo der aktuelle Einreisestempel zu finden ist, um das Verfahren ein wenig abzukürzen.
Rio Turbio liegt, wie bereits erwähnt, kurz unterhalb eines Straßenpasses, und beim Verlassen des klimatisierten Busses macht sich sofort eine Klimaänderung bemerkbar, die nicht nur durch den zwischenzeitlich einsetzenden Regen verursacht wird. Auch an den Haltepunkten der Pampaebene hatte uns stets ein böiger Wind empfangen, der hier ist allerdings richtig kalt. Da ich immer noch im T- Shirt umherschleiche, genieße ich ab sofort die Bewunderung meines neuen italienischen Freundes als Naturbursche, da er offensichtlich ein wesentlich sensibleres Kälteempfinden hat, als ich.
Beim Ausfindigmachen des Microbusses nach Chile war uns übrigens eine junge Dame behilflich, die hierbei die Gelegenheit nicht ungenützt läßt, uns die Adresse einer Hosteria in Puerto Natales mit dringender Empfehlung zu nennen. Die Herberge "Danicar" ist vermutlich in Familienbesitz, und sie wohl die Tochter des Hauses. Als der Microbus nach Erledigung der Einreiseformalitäten endlich in chilenisches Territorium einfährt, könnte der Empfang nicht beeindruckender sein. Hinter der Paßhöhe öffnet sich die Wolkendecke, und die goldgelben Strahlen der Abendsonne beleuchten die unter uns sich ausbreitende Ebene, welche von einer riesigen, fjordähnlichen Meeresbucht eingeschnitten wird. Wir haben den Pazifik erreicht. Auf dem gesamten amerikanischen Doppelkontinent gibt es nur zwei Gebiete, wo man in einer nicht einmal einen Tag dauernden Busfahrt vom Atlantik zum Pazifik gelangen kann, nämlich auf der schmalen Landbrücke Mittelamerikas und hier, im äußersten Süden Patagoniens. Hinter dem Fjord, der übrigens den ominösen Namen "La ultima Esperanza" (die letzte Hoffnung) trägt, spitzen sich durch die Wolkendecke schneebefleckte Berge von auffälliger Eleganz heraus. Die besonders ins Auge fallende Bastion rechts hinten ist das erste große Ziel meiner Patagonienreise und gleichzeitig eine der Topattraktionen des amerikanischen Kontinents bezüglich Natur und Trekking: Das Paine - Massiv.
Es hat sich mit dem Grenzübertritt nach Chile jedoch nicht nur die Landschaft verändert. Auffallend hier sind die schönen aus Lattenholz und/oder aus Wellblech gebauten, in verschiedensten Farben gestrichenen Häuser, die zwar etwas schlichter und ärmlicher erscheinen, als die argentinischen, dafür aber eine besondere Gemütlichkeit vermitteln und stark dem traditionellen Baustil in den skandinavischen Ländern ähneln.
Die Kleinstadt Puerto Natales mit ihren 20.000 Einwohnern lebt von den nahegelegenen Naturwundern. Jedes zweite Haus ist eine Herberge und/oder eine Agentur für Abenteuerausflüge. Alles, was mit Trekking, Rafting, Boots- und Schiffsausflügen durch die Fjorde oder zu den berühmten Gletschern zu tun hat, sowie Fahrten nach Punta Arenas an der Magellanstraße - mit oder ohne Ausflug zur Pingüinera (Pinguinkolonie), Bus- oder Flugverbindungen nach Ushuaia (Feuerland), der südlichsten Stadt der Welt, oder nach Calafate in Argentinien, all das kann ohne Probleme an jeder Straßenecke und beinahe zu jeder Tages- und Nachtzeit organisiert werden. Hauptanziehungspunkt ist aber sicher der Parque National Torres del Paine, der 110 Kilometer nordöstlich der Ortschaft liegt, dessen Felsenkastell jedoch, wie gesagt, bereits von der Paßhöhe auf der chilenisch - argentinischen Grenze aus zu sehen ist.
Ich bin etwas überrascht über die mangelnde Vorbereitung meines neuen Mitreisenden. Nach Quartiernahme im Danicar begeben wir uns gleich in den Ort, um verschiedene Dinge wie Geldwechsel, Provianteinkauf usw. zu tätigen. Es ist mir nicht entgangen, daß unsere Herberge auch, wie übrigens die meisten Unterkünfte hier, gleichzeitig als Reisebüro fungiert. Aus meinen vergangenen Reiseerfahrungen weiß ich, daß man in diesen Häusern schon Wert darauf legt, daß die Gäste dort auch ihre Ausflüge buchen. Massimo verblüfft mich zunächst mit der Bemerkung: "Laß uns sehen, wie wir Trekking machen können!" Da ich extra zu diesem Zweck nach Patagonien gekommen bin, habe ich bereits eine klare Vorstellung darüber, wie ich meine Trekkingtour rings um´s Paine - Massiv angehe. Für mich stellt sich nur noch die Frage des Hinkommens. Ich glaube im Nachhinein, daß es Massimo besser getan hätte, hier in Puerto Natales erst einmal einen Tag zur Ruhe zu kommen, anstatt die Sache heute noch über´s Knie zu brechen. Er stürmt in eine x-beliebige Agentur, ich hintendrein. Dort läßt er sich über mögliche Routen im Nationalpark aufklären. Natürlich versucht man, ihm dabei die kostspieligste zu vermitteln, die zur Busanfahrt noch eine Bootsfahrt über den Lago Pehoe beinhaltet. Bereits zu Hause habe ich mich dafür entschieden, die komplette Runde um´s Paine - Massiv inclusive des sogenannten W zu machen. Der von der Agentur unterbreitete Vorschlag kommt für mich nicht in Frage und ich tue dies auch gleich kund. Schließlich einigen wir uns darauf, daß Massimo und ich bei guten Verhältnissen die erste Etappe gemeinsam gehen werden, indem wir die für gewöhnlich zuletzt angegangenen Torres del Paine gleich zu Beginn der Tour anstreben, was ich ohnehin so geplant hatte, da die Wetterverhältnisse in den patagonischen Anden oft problematisch sind und ich nicht weiß, wie die Begebenheiten sein werden, wenn ich an der letzten Etappe meiner Wanderung angelange. Von der Laguna Amarga aus besteht die Möglichkeit, die Torres - Etappe dem eigentlichen Beginn der klassischen Paine - Umrundung vorzuziehen, da die Laguna sich sowohl als Ausgangspunkt für die Torres, als auch gleichzeitig als Einstieg für den Circuito Paine eignet.
Das nächste Problem, das sich stellt, ist die Tatsache, daß Massimo über keinerlei taugliche Ausrüstung für eine mehrtägige Wildnistour verfügt. Also werden wir in den nahegelegenen Outdoor - Laden verwiesen, der alles vom Zelt über Handschuhe und Rucksäcke bis hin zur Sonnenbrille und wetterfester Kleidung vermietet. Der Nationalpark Torres del Paine gilt als teuer, weshalb empfohlen wird, möglichst autark ausgerüstet zu sein, solange man sich dort aufhält. Das Schicksal erhöhter Unkosten ereilt jedoch auch Trekker, die sich in Puerto Natales erst noch die entsprechende Ausrüstung leihen müssen, so daß Massimo gleich mal einen rechten Batzen los wird, um wenigstens mit den notwendigsten Utensilien ausgestattet zu sein. Zwischenzeitlich ist es sehr spät geworden, uns knurrt der Magen eigentlich schon seit unserer Ankunft in Puerto Natales. Nachts um Eins betreten wir noch eine Gaststätte. Die Einrichtung ist typisch chilenisch/patagonisch, d.h. viel Holz und ein großer, gemauerter Kamin, dessen Feuerstelle allerdings jetzt im Sommer nicht lodert. Die touristische Infrastruktur in Patagonien ist sehr gut, lange Öffnungszeiten, rasche Abwicklung und auch in puncto Verlässlichkeit absolut vertrauenswürdig, und wo kann man sonst noch auf der Welt um 12 Uhr nachts Trekkingausrüstung leihen, eine Busfahrt für morgen früh um 7.00 Uhr buchen und anschließend noch ein üppiges Abendmal einnehmen?
Während wir zu unserer Herberge zurückkehren, pfeift ein kalter Wind durch die inzwischen menschenleeren Gassen, die Blechschilder der Hosterias und Restaurants schaukeln quietschend im Wind und geben uns das Gefühl, wir befänden uns in einer Geisterstadt. Es herrscht eigentlich eine klassische patagonische Stimmung. Im Danicar scheint man etwas verschnupft darüber, daß wir unsere Tour bei der Konkurrenz organisiert haben. Da uns in der anderen Agentur jedoch keine Bustickets ausgehändigt wurden, sondern nur zugesagt wurde, man würde uns morgen früh vor der Herberge abholen, entschließe ich mich noch schnell, im Haus einen Busfahrschein zu lösen, Massimo folgt meinem Beispiel. Bis wir dann auf die Schnelle noch Massimo´s Rucksack gepackt haben, geht die Uhr bereits auf halb Drei zu.
Es ist in den touristisch gut erschlossenen Orten Patagoniens üblich, daß die Fahrgäste von ihren Herbergen abgeholt werden, ein Prozedur, die zwar bequem, aber auch zeitraubend ist, weshalb wir schließlich erst um 7.50 Uhr Puerto Natales verlassen. Die Anfahrt zum Nationalpark ist landschaftlich äußerst reizvoll ,wenngleich das Wetter heute nicht optimal ist, starke Bewölkung und Nieselregen. Ich bin jedoch mental darauf vorbereitet, in Patagonien keine Traumverhältnisse vorzufinden, die hier oft vorherrschenden klimatischen Kapriolen sind schließlich bekannt. Das Massiv wird von Nebelschwaden umspielt, ist jedoch gut zu sehen, die Bergspitzen sind allerdings durch ein düsteres Wolkenband abgeschnitten. Es besteht aber durchaus die Chance, daß es heute noch aufklart. Ich lasse mich von der allgemeinen pessimistischen Stimmung im Bus nicht beeindrucken und bleibe bei meiner Theorie, daß es sicher noch im Laufe des Tages aufklaren wird. Ich entschließe mich somit, heute zu den Torres del Paine zu gehen, denn wer weiß, was auf dem Rückweg ist! Nach Passieren des Fjordes "Ultima Esperanza" gelangen wir in eine vorandine Landschaft, wo noch trockene Pampasteppe dominiert, die Umgebung aber schon recht bergig ist, und landschaftliche Attraktivität nicht missen läßt. Der Bus macht einen Zwischenstopp in Cerro Castillo, einem Stützpunkt inclusive Artesanialaden, wo man auf einer staubigen Schotterpiste die Grenze nach Argentinien passieren kann.
In der Nähe des Parkeingangs weiden große Guanakoherden. Die Laguna Amarga, die wir um 10 Uhr erreichen, hat eine türkisgrüne Farbe und enthält ganz offensichtlich Salz, eine Schlußfolgerung, die ich angesichts des blendendweißen Strandes ziehe. Der Vergleich dafür stammt von meiner ersten Mexikoreise, als ich in der Provinz Guanajato, in der Umgebung der Ortschaft Valle de Santiago, mehrere Seen vulkanischen Ursprungs besuchte, von denen einer ebenfalls salzhaltig war, und dessen Ufer die selben weißen Sandbänke aufwies.
Am Parkeingang ist im Büro der Guardaparques (Parkwächter) die Eintrittsgebühr zu entrichten, danach besteht die Möglichkeit, entweder direkt von dort aus loszumarschieren, oder sich mit einem Colectivo weiter bis zur Hosteria las Torres bringen zu lassen. Da der Weg von der Laguna Amarga aus hauptsächlich über die Fahrpiste führt, entschließen wir uns zur Weiterfahrt mit dem Colectivo, zumal der Fahrpreis eine kostenfreie Übernachtung in einem der gebührenpflichtigen Campamentos einschließt und die Fahrt inclusive dieser Übernachtung nur unerheblich mehr kostet, als die übliche Übernachtungstaxe in den Campamentos.
Das Wetter hat sich zwischenzeitlich gebessert, und es scheint, daß ich richtig spekuliert habe. Nach einem zweiten Frühstück im Gras in der Nähe der noblen Hosteria las Torres machen wir uns schließlich auf den Weg. Der von einer schrägen Schneeflanke bedeckte Cerro Paine Chico dominiert von hier aus die Perspektive, dahinter kann man aber bereits die durch Neuschnee mit weißen Zuckerhäubchen überzogenen Turmspitzen der Torres sich hervorspitzeln sehen. Nachdem wir den Rio Ascensio mittels einer Hängebrücke überquert haben, zieht der schmale Pfad einen Bergrücken hinauf, bis er schließlich mit abgeschwächteren Steigungen weiterläuft. Das ist ein Bergweg ganz nach meinem Geschmack, unter uns tost wild schäumend das milchige Gletscherwasser, während sich vor uns bereits vereiste Berggestalten gen Himmel recken. Um zum Campamento Chileno zu gelangen, müssen wir den Rio Ascensio über ein kleines Holzbrückchen queren, kurz nachdem dieser sich dem Höhenniveau des in der Bergflanke der Schlucht verlaufenden Pfades angeglichen hat. Zum Campamento gehört eine gemütliche Blockhütte, die, wie derzeit alle Berghütten auf dem Circuito Paine, ausgebucht ist, der Grund, warum auch Massimo ein Zelt mitführt. Andernfalls hätte er sich wegen des leichteren Gepäcks für eine Hüttentour entschieden. Er hat noch nie ein Zelt aufgebaut, weshalb ich ihm Instruktionen gebe. Ich selbst beabsichtige, im weiter oben gelegenen Campamento Torres zu nächtigen. Der Grund hierfür ist, daß, falls wir nachher, wenn wir die Torres erreichen, keine gute Sicht haben sollten, ich es von dort aus noch einmal in den frühen Morgenstunden probieren könnte, wohingegen mich der erneute Anmarsch vom Campamento Chileno doch viel Zeit kosten würde. So setzen wir nach einer ausgiebigen Rast am wunderschön gelegenen Campamento Chileno unseren Weg fort, ich weiterhin mit schwerem Rucksack, Massimo ohne, worüber dieser buchstäblich erleichtert ist. Er ist ein durchtrainierter Sportler, hat aber im Leben noch nie eine Trekkingtour unternommen, und somit auch noch nie einen Rucksack, der mit Equipment und Lebensmitteln für mehrere Tage gepackt ist, getragen. Diese Erfahrung ist für jeden Trekking - Neuling beschwerlich und hat wohl schon so Manchen verdrossen, weitere Touren dieser Art zu unternehmen. Zunächst gehen wir direkt am Ufer des Rio Ascensio, dann führt der Pfad durch wunderschönen Südbuchenwald. Diese Art Wälder, wie man sie in Patagonien findet, läßt sich mit den europäischen Wäldern nicht vergleichen. Der Begriff Südbuchen vereint etwa ein halbes Dutzend Buchenarten, die alle ausschließlich auf der Südhalbkugel vorkommen, genauer gesagt, außer in Patagonien nur noch in Neuseeland und in Australien. Auffällig ist, daß Stämme und Äste über und über mit flechtenartigen, langhaarigen Moosen überzogen sind. Umgestürzte oder abgestorbene Bäume verrotten nicht, sondern nehmen die aschgraue Farbe ausgebleichter Knochen an. Die Beschaffenheit der Wälder in Patagonien differiert jedoch stark, was Dichte, Unterbewuchs sowie Stammhöhe- und stärke anbelangen, und zwar sowohl in Folge der sich unterscheidenden Jahresdurchschnittstemperaturen zwischen Nord- und Südpatagonien, als auch der Differenz bezüglich der durchschnittlichen Regenfälle. Die Paine - Umrundung veranschaulicht in beeindruckender und lehrreicher Weise die Unterschiede zwischen regenarmer Pampalandschaft und den regenreichen Urwaldgebieten im Westen des Massivs. Hier, am Rio Ascensio, ist der Wald, was den Unterbewuchs anbelangt, noch relativ aufgelockert. Schließlich treten wir aus dem Wald heraus und verlassen das Tal des Rio Ascensio in Richtung Westen. Es beginnt ein anstrengender Aufstieg durch einen steilen Blockhang. Irgendwann realisiere ich, daß wir offensichtlich das Campamento Torres bereits übergangen haben müssen. Ich möchte jetzt aber nicht extra wieder umkehren, und da auf dieser Route ein erheblicher Durchgangsverkehr herrscht, will ich auch meinen Rucksack nicht zwischen den Felsen zurücklassen. Somit steige ich mitsamt meinem Expeditionsgepäck die mühevollen Höhenmeter hinauf bis zur Laguna Torres. Ein älterer Engländer kann sich mit seiner Bemerkung "Du hast ja heute den leichten Rucksack dabei!" nicht zurückhalten. Auch werde ich gefragt, ob ich wohl oben campieren will.
Auf jeden Fall dürfte jedem Besucher in dem Moment der Atem stocken, wenn er die letzten Meter über den Moränenwall hinaufgekraxelt ist, und sich ihm auf einen Schlag die mächtigen, unvergleichlichen Himmelssäulen der Torres del Paine präsentieren, wie sie sich monströs über der grünfarbenen Lagune emporrecken. Vorraussetzung für dieses großartige Panorama ist selbstverständlich, daß die Torres nicht in Wolken gehüllt sind, was ja leider Gottes in dieser berüchtigten Gegend öfter zu- als nichtzutreffend ist. Wir haben ein Affenglück, über uns liegt schwer eine dichte, undurchdringliche Wolkendecke, allerdings in einer Höhe, die die Gipfel des Massives nicht beeinträchtigen. Somit zeigen sich uns die drei Paine - Türme in ihrer vollen Schönheit und Eleganz. Von links nach rechts gesehen postieren sich der Torre Sur (2850m), der Torre Central (2800m), der Torre Norte (2600m), sowie der nicht mehr schlanke, dafür aber wuchtige und gleichfalls steilwandige Cerro Nido del Condor (2243m). Die drei Türme ragen wie überdimensionale Finger in den Himmel, wobei der Mittlere von hier aus gesehen den imposantesten Eindruck macht. Wie ein ringsum abgeschliffener Kegel scheint er ambitionierten Besteigern keinerlei Griffe zu bieten. Unterhalb der Felstürme zieht der Hängegletscher über ein Schrägdach hinunter bis zum Rand einer senkrechten, aalglatten Felswand, über die wiederum die Wasser des Eises wie ein Netz von Silberfäden in die kleine Lagune hineinstürzen. Wenn ich zurückblicke in Richtung der Ascensio - Schlucht, so kontrastiert zum Eis und zum hellen Granit der Torres der seltsam dunkelbraun gefärbte Bergrücken der östlichen Schluchtbegrenzung. Er ist völlig vegetationslos, besteht hauptsächlich aus Erde und Schiefer und erscheint mir wie aus einer Marslandschaft herausgeschnitten.
Lange kosten wir dieses einzigartige Schauspiel aus. Trotz einer nicht abreißen wollenden Besuchermenge - ständig kommen neue Wanderer den Moränenwall herauf, während andere wiederum den Rückmarsch antreten - ist es möglich, im Gewirr der riesigen Felsblöcke eine Nische der Ruhe zu finden, wo man meditierend die Eindrücke auf sich wirken lassen kann. Als wir ankamen, war es etwa 16.00 Uhr, um 17.15 treten wir schließlich den Rückmarsch an. Im Wald, unmittelbar bevor die Steigung durch´s Blockfeld beginnt, stoßen wir prompt auf das Campamento Torres. Vermutlich sind wir während des Anstiegs auf einen Nebenpfad geraten und haben den Zeltplatz somit nur knapp verfehlt. Von hier aus besteht übrigens die Möglichkeit, dem Lauf des Rio Ascensio weiter nach oben zu folgen, in Richtung der weit hinten das Tal abschließenden Berge. Man würde dann das Campamento Japones erreichen, das allerdings als reines Bergsteigerlager ausgewiesen ist. Im Vorfeld wurde uns gesagt, daß der Marsch dorthin nichts bringen würde, das Campamento läge mitten im Wald und böte keine Aussicht. Somit belassen wir es also beim Besuch der Torres und kehren zurück ins schöne Campamento Chileno, da eine Nächtigung im ohnehin weniger attraktiven Campamento Torres mir nun wenig sinnvoll erscheint. Gegen 19.00 Uhr treffen wir im Chileno ein, kurz darauf geht der Hüttenwirt von Zelt zu Zelt, um die Gebühren abzukassieren, bzw. die Gutscheine über eine Freiübernachtung einzusammeln, im Gegenzug dafür stehen uns die sanitären Anlagen einschließlich einer heißen Dusche zur Verfügung. In der späten Dämmerung sitze ich am Ufer des rauschenden Rio Ascensio, genieße den Augenblick, und führe mir zu Bewußtsein, mich endlich wieder an einem Ort zu befinden, der jenen Bildern in meinen Tagträumen entspricht, wie sie mir vor meinem inneren Auge erscheinen, wenn ich bei der Arbeit bin oder sonstwie fern von Berg und Natur und die Sehnsüchte wieder mal in mir aufsteigen. Mein erster Tag in den Anden geht somit zu Ende. Daß mir dabei bereits die Knochen weh tun, wäre allerdings wirklich nicht nötig gewesen.
Um 7.30 haben wir schon die Rucksäcke geschultert, da Massimo den Pickup um 9.00 Uhr unten an der Hosteria la Torres möglichst nicht verpassen sollte. Weil er aus Zeitmangel und auch aufgrund seiner fehlenden Erfahrung nur das sogenannte W gehen will, wird er die ihm in der Agentur angebotene Variante machen. Das Fahrzeug wird ihn nämlich bis zum Lago Pehoe bringen, von wo aus er per Boot über den See gebracht wird, um heute noch das Tal zum Lago Grey hinaufzumarschieren. Die W (span.: doble – u) - Wanderung führt den Begeher entlang des Südrandes des Paine - Massivs, wobei Abstecher zu drei sensationellen Hochtälern eingeschlossen werden. Das erste ist gewöhnlich das von der am Nordufer des gleichnamigen Sees gelegenen Hosteria Pehoe hinauf zum Campamento Grey führende, wo man gewöhnlich eine Nacht in unmittelbarer Nähe der in den See hineinfließenden gigantischen Gletscherzunge des Ventisquiero Grey verbringt. Man kehrt dann wieder zurück auf den Basisweg, um danach einen abermaligen Abstecher hinauf ins Valle del Frances zu machen, und dann abschließend, nachdem man wiederum dem Hauptweg gen Osten gefolgt ist, den Aufstieg durch das Tal des Rio Ascensio zu den Torres anzutreten. Die Wanderung wird für gewöhnlich in dieser Richtung durchgeführt, da man dann die überwiegend aus Westen blasenden, und mitunter sehr lästigen Winde im Rücken hat. Die Bezeichnung W rührt von der W - Form des kartographierten Wegverlaufs.
Nach einem flotten Abstieg durch den regnerischen Morgen erreichen wir, ziemlich durchnäßt, um 8.45 die Hosteria. Zwischenzeitlich hat der Regen aufgehört, es wird sonnig und ich beginne mit der Vorbereitung des Frühstücks. Der Pickup kommt pünktlich, und ich verabschiede mich von Massimo, derweil bereits mein Mate - Tee kocht. Ich übergebe mich hiermit dem ersten Selbstversuch mit dem in den Anden so weit verbreiteten Getränk. Leider verfüge ich weder über ein Mate - Gefäß, noch dem zugehörigen Trinkröhrchen, der sogenannten Bombilla, und ich habe auch kein Matekraut bei mir, sondern führe das gesunde, tonisch wirkende Getränk nur in aufkochbaren Teebeuteln mit.
Der Einstieg in die Paine - Runde beginnt unspektakulär. Ruhe und Beschaulichkeit prägen die erste Etappe bis zum Campamento Seron, sozusagen das Preludium einer bald schon klanggewaltigen Sinfonie. Etwa 500 Meter von der Hosteria entfernt befindet sich ein Campingplatz, dahinter ein auch als Refugio dienliches Farmhaus, hinter dem der schmale Wanderpfad einen Bergrücken hinaufklettert. An einem kleinen Bächlein fülle ich meine Wasserflasche und labe mich am frischen Naß. Ein Reiter in landestypischer Tracht trabt vorbei. Unter landestypisch verstehe ich die einer Baskenmütze ähnliche Kopfbedeckung und das auffallende Halstuch. In Chile nennt man den Gaucho übrigens Guaso. Der Reiter setzt zum Galopp an und prescht den Hügel hinauf. Ich passiere das eine oder andere Viehgatter, durchquere schütteren Wald und richte meinen Blick hin und wieder zurück über weite Buschlandschaft, aus der bläulich - grün mehrere Seen und der sich dahinschlängelnde Rio Paine schimmern.Weit hinten erkenne ich die Laguna Amarga, sowie rechterhand den großen Lago Nordenskjöld. Weiter führt der Weg an mit Totholz übersäten Hängen vorbei. Markant, im Vergleich mit den "echten" Paine – Gipfeln jedoch harmlos, erhebt sich der Cerro Paine (1508 m). Auch über ausgedehnte Wiesen führt mich der Pfad, auf welchen sich einem Teppichmuster gleich abertausende von Margeriten versprenkeln. Das erste größere Euphoriefeuer entfacht in mir, als ich von einer Anhöhe aus der engen Serpentinen des träge dahinfließenden Rio Paine ansichtig werde. Durch dieses weit ausladende Flußtal wird mein Weiterweg führen. Zunächst steige ich abwärts, um abermals über Margeritenwiesen zu schlendern, bis der Pfad sich dem schilfigen und sumpfigen Flußufer nähert. Den Rio Paine darf man sich als recht breiten Strom vorstellen, seine Ufer liegen gut und gerne im Durchschnitt 50 Meter auseinander. Er bildet weite Kurven aus und umfließt Sandbänke und kleine Inselchen. Die Anzahl der Wasservögel erstaunt mich, auch lassen sich die Tiere bei behutsamer Annäherung gut beobachten und wirken überhaupt nicht scheu. Offensichtlich werden sie hier schon über längere Zeit nicht mehr bejagt. Da ich kein Vogelkundler bin, will ich gar nicht erst den Versuch wagen, die hier vorkommenden Arten benennen zu wollen. Auf jeden Fall sind es sehr schöne Tiere, die auf vielfältige Weise schnattern und quaken. Das Campamento Seron liegt einsam inmitten dieser lauschigen Landschaft. Im Umkreis des romantischen Hosteriagebäudes kann gezeltet werden, und es sind einige Picknickbänke vorhanden. Hier mache ich Mittagspause. Nachdem ich mir etwas gekocht habe, lege ich mich zu einer kleinen Siesta ins Gras, die Sonne wärmt mich angenehm. Außer mir rastet noch eine kleine Gruppe von Wanderern, die vor mir bereits eingetroffen waren, kurz danach erscheint der junge Mann, den ich vorhin auf der Anhöhe getroffen habe. Er und der Reiter waren die einzigen Personen, denen ich unterwegs begegnet war, was ich sehr genossen habe, da mir gestern an den Torres entschieden zu viel los war. Allgemein soll es auf dem Circuito Paine wesentlich ruhiger zugehen, als auf dem W. Die Torres selbst werden hinzu noch von Tagesausflüglern erwandert. Aber was soll man denn erwarten, schließlich ist man auf dem berühmten Balkonweg im Angesicht des Montblanc hoch über Chamonix, oder meinetwegen im Cirque de Gavarnie mit dem höchsten Wasserfall der Pyrenäen auch so gut wie nie allein. Wer nämlich glaubt, in den patagonischen Anden der erste Deutsche seit Alexander von Humboldt zu sein, wird sich getäuscht sehen. Besonders die Torres del Paine und das Fitzroy - Massiv haben sich in den letzten Jahren zu wahren Touristenmagneten entwickelt, und machen zwischenzeitlich, was die Besucherzahlen anbelangt, dem Inkaweg nach Macchu Picchu Konkurrenz. Glücklicherweise ist in den patagonischen Nationalparks bislang keine Umweltverschmutzung zu beklagen, wie man es vom berühmten peruanischen Pendant zu hören bekommt. Die Verhältnisse in puncto saubere Natur kann man getrost als mitteleuropäisch bezeichnen.
Ich habe einen deutschen Traveller die Bemerkung machen hören: "Ich will auf jeden Fall nochmal nach Südamerika reisen. Aber nicht mehr nach Patagonien, das ist mir bereits zu überlaufen!". Auch dieser Ansicht muß ich wiedersprechen Er wird auf den ausgetretenen Gringopfaden Lateinamerikas immer wieder zu dieser Feststellung gelangen, aber fast überall ist es mit ein wenig Fantasie und frischen Mutes möglich, die gängigen Routen zu verlassen, wo er dann kein Wort englisch mehr hören wird, und wo er vielleicht der einzige Gringo unter oft erstaunten Einheimischen sein wird. Außerhalb der bekannten Nationalparks bietet gerade Patagonien einen besonders großen Spielraum für Individualisten. Dann endet allerdings die sonst so gut funktionierende Logistik, man muß bereits bei der Anfahrt improvisieren und hierfür vielleicht schon ein paar Tage Mehrzeit einkalkulieren, da der Zugang in solche Gebiete praktisch nicht mehr mit Hilfe der öffentlichen Verkehrsmittel möglich ist. Auch ist man dort meist völlig auf sich allein gestellt, keine Hosteria mit warmem Essen, keine Tienda, wo man Lebensmittel nachkaufen kann, kein Guardaparque, den man um Rat fragen kann, und im Notfall auch keine Hilfe von außen. Doch wer kann schon, wenn er zum ersten Mal in Patagonien ist, auf das Paine - und das Fitzroy - Massiv verzichten? Den Perito - Moreno - Gletscher oder den Volcan Lanín einfach links liegen lassen? Zuerst die wenig oder unbekannten Gebiete besuchen, das hieße doch, das Pferd von hinten aufzuzäumen! Also, entweder ich habe genügend Zeit, das hieße dann 10 Wochen oder mehr, oder ich muß mir die ausgefalleneren Trips für eine oder mehrere weitere Patagonienreisen aufsparen. Ich hätte für mich persönlich da schon eine große Favoritentour: die komplette Umrundung das San - Lorenzo - Massivs. Diese Tour ist genau das Richtige für den individuellen Trekker: kaum begangen, dürfte man hier tagelang, wenn nicht gar während der gesamten Tour völlig alleine sein, autarke Ausrüstung und Lebensmittelreserven für gut 14 Tage sind obligatorisch. Sie ist konditionell anspruchsvoll, nicht ganz ungefährlich und garantiert ein grandioses Wildnisabenteuer! Doch will ich jetzt nicht zu stark ausschweifen, also zurück ins Campamento Seron!
Nach Verlassen des Campamentos folgt der Weg noch ein kurzes Stück entlang der bezaubernden Flußauen, bis er schließlich wieder aufwärts zieht, wo ich an eine glasklare Lagune gelange. Viele Gewässer in Südpatagonien verfügen über eine beeindruckende, milchig-türkisgrüne Farbe, was daher rührt, daß diese Gewässer einen relativ hohen Sandanteil haben. Die köstliche Farbe entsteht durch die Lichtbrechung der Sonneneinstrahlung. Man trifft aber auch auf zahlreiche Gewässer, die sehr klar sind, wo man durch den manchmal schwärzlich scheinenden Seespiegel bis auf den Grund hinabschauen kann. Besonders eindrucksvoll sind die unmittelbaren Vergleiche der beiden Gewässerarten, wobei man häufig über einen klaren See hinweg auf einen sandhaltigen blicken kann, im jetzigen Fall ist es das türkisleuchtende Band des Rio Paine. Der Weg zieht weiterhin aufwärts in eine kleine Paßhöhe. Bald zeigt sich die Lagune als durch eine Halbinsel zweigeteilt, darüber befindet sich eine weitere, kleinere Lagune. Im Sattel angekommen, erschallt in der Paine - Sinfonie der erste richtige Paukenschlag. Hinter dem Paß ändert der Pfad seinen Verlauf nun gen Westen zu, und der Blick in diese Richtung erhöht buchstäblich meine Herzfrequenz! Seit meiner Lappland - Tour 1995 habe ich eine derart urgewaltige Vorzeitlandschaft nicht mehr gesehen. Mein Blick schweift über eine weit offene Ebene, durch die der Rio Paine hindurchmäandriert, wie eine riesige Anakonda, die soeben mehrere Kleinsäuger verschlungen hat, welche nun ihren langen, schlauchartigen Körper an mehreren Abschnitten weit aufwölben. Man kann kaum mehr unterscheiden, was nun Fluß und was See ist. Ganz eindeutig als See gibt sich jedoch unter mir der riesige Lago Paine zu erkennen, an dessen unterem, sprich westlichen Ende sich mein kommendes Nachtlager befinden soll. Das von grünen Urwäldern bestandene Tal ist nach drei Seiten hin von beeindruckenden Bergketten gesäumt, die sich in scharfgewetzte Felszacken untergliedern und die allesamt mit weiß reflektierenden Gletschern und Firnfeldern überzogen sind. Nur der Bergrücken am gegenüberliegenden Seeufer trägt dieselbe schwarze Erdfarbe wie die Schluchtbegrenzung des Rio Ascienso, er sieht aus, als wäre er von Vulkanasche überzogen. An einem kleinen Wasserfall setze ich nochmals mein Gepäck ab, und genieße abermals die Aussicht auf diese hochdramatische Landschaft, während ich mir das kalte, frische Bergwasser die Kehle hinunterrinnen lasse. Fast schon würde ich mich nicht mehr wundern, wenn jetzt vor meinen Augen noch eine Dinosaurierherde durch´s Tal galoppieren würde.
Bereits von der Paßhöhe aus konnte ich eine kleine Gruppe von Verfolgern ausmachen. Die Vier holen mich schließlich ein, während ich immer noch an meinem kleinen Wasserfall raste. Gary ist Engländer, Alex ist ein in den USA lebender Tico, so nennt man in Lateinamerika die Leute aus Costa Rica, sowie Christof und sein deutscher Kollege. Wir sollen uns im Verlauf der Paine - Umrundung noch des öfteren über den Weg laufen. Kurz nachdem die Vier nach einem kleinen Plausch weitergezogen sind, sattle auch ich wieder meinen Rucksack und begebe mich auf das letzte halbe Wegstündchen bis zum Campamento Coiron. Fortgeschrittene Spanischkundige werden wohl schon erkannt haben, daß Coiron ein Indianerwort sein muß. Es ist die Bezeichnung einer vor allem in den Pampas florierenden, harten Grasart. Man hätte das Campamento jedoch passender nach den hier zu Hunderttausenden vertretenen Mücken benennen sollen. Gott sei Dank gibt es hier keine Malaria, denn nach einer Nacht im Coiron wäre man unter Garantie hochgradig verseucht! Bei meiner Ankunft lerne ich Rainer kennen, sowie Buffalo Bill. Ich nenne ihn so, weil ich seinen richtigen Namen nicht weiß und er tatsächlich wie Buffalo Bill aussieht. Weißer Vollbart, längeres, zurückgekämmtes, weißes Haar, dazu der Cowboyhut, vielleicht könnte er auch noch als General Custer durchgehen. Zum Schluß jedenfalls soll ihn jeder von uns kennen, die wir mehr oder weniger zeitgleich auf dem Circuito Paine unterwegs sind und uns immer wieder Abends im nächsten Campamento wiedertreffen. Buffalo Bill kommt aus Arizona, und heimscht sich die Bewunderung von uns allen ein, indem er ausgedehnte Tagesetappen marschiert, obwohl er schon gut die Mitte der sechsten Lebensdekade erreicht haben dürfte. Gerne würde ich nach dem Essen noch ein Weilchen draußen vor dem Zelt verweilen, da das Campamento Coiron wirklich schön gelegen ist. Ringsum traumhafte Berge, üppiger Urwald, in einiger Entfernung kann man einen imposanten Wasserfall ins grüne Tal stürzen sehen, und bis zum schilfbewachsenen Seeufer ist es auch nicht weit. Doch, wie gesagt, die Mückenschwärme machen einem den Garaus und vergällen einen längeren Aufenthalt vor dem Zelt.
Um 9.20 Uhr bin ich am folgenden Morgen abmarschbereit. Es ist nicht nötig, im patagonischen Sommer allzu früh aufzustehen. Es geht auf Mitte Februar zu, was auf der Nordhalbkugel Mitte August entsprechen würde, und bis etwa 22.00 Uhr kann man immer noch mit Tageslicht rechnen. Die Etappe führt mich auf flach verlaufendem Pfad durch das gestern vom Paß aus überblickbare, weite, lange Tal. Die reiche Vegetation besteht aus Wald, Büschen und Naßwiesen. Im Westen mache ich die erste Inlandeissichtung. Es handelt sich um die südpatagonische Inlandeisfläche, die auf 13.500 Quadratkilometern fast alle Berge sowie sämtliche Täler unter ihrem riesigen Eispanzer begräbt. Nur noch vereinzelte Gipfel ragen aus dem grenzenlos wirkenden Weiß. Mein Pfad verliert sich öfter mal im Sumpf, eine Gegebenheit, auf die man beim Wandern in Patagonien immer gefaßt sein sollte. Ausweichen bringt auf die Dauer gesehen nichts, irgendwann holt sich jeder nasse Füße, also nichts wie durch!
Bald schon geht´s wieder aufwärts über einen Bergrücken. Vom obersten Punkt aus bietet sich mir eine prächtige Ansicht auf den Lago Dickson und seinem im Hintergrund bläulich schimmernden Gletscher, der von der Inlandeisfläche bis in den See hinab zieht. Beeindruckend ist aber auch, zuzusehen, wie der Rio Paine direkt unter mir aus dem Lago Dickson herausfließt, als würde das Wasser durch eine unsichtbare Saugpumpe angezogen. Unmittelbar vor dem Auslauf greift eine kleine Halbinsel in den See hinein, auf der sich das Campamento Dickson befindet. Dieses Campamento gehört zu den besser ausgestatteten am Circuito Paine. Verfügt beispielsweise das Campamento Coiron über keinerlei Infrastruktur (geschissen wird im Wald!), so befinden sich hier eine gemütliche Hosteria und ein Kiosk, an dem Süßigkeiten und Grundnahrungsmittel erworben werden können. Toilette und Warmwasserduschen sind sowohl für die Gäste der Hosteria als auch für die Benutzer des gebührenpflichtigen Campingplatzes verfügbar.
Ich lasse mich auf einer der Picknickbänke nieder, im Hintergrund grasen friedlich die Pilcheros, so nennt man in Patagonien die Packpferde. Nach kurzer Zeit trifft auch Rainer ein. Er ist Unternehmensberater, und man merkt ihm ein bißchen den Managertypen an. Jung, dynamisch, erfolgreich, auch beim Trekking! Er ist ein angenehmer Kerl und ich freue mich immer wieder, ihn abends, nach vollbrachter Tour, im nächsten Campamento für ein Schwätzchen anzutreffen. In seiner Freizeit läuft er übrigens Marathon, woraus seine gute Kondition resultiert. Bei unserer Ankunft am Lago Dickson ist es gerade 12 Uhr, also Zeit für ´s Mittagessen. Ich war in Bezug auf´s Essen auf vielen Trekkingtouren oft etwas nachlässig, vorübergehende Gewichtsverluste bis zu 8 Kilo waren keine Seltenheit. Diesmal habe ich mir vorgenommen, mich ausreichender zu ernähren, die Konsequenz ist natürlich ein sauschwerer Rucksack.
Während Rainer noch ein wenig im Lager verweilt, ziehe ich schon weiter. Der Weg ändert nun die Richtung nach Süden und steigt steil durch die waldige Schlucht des Rio de los Perros hinauf. Perro heißt auf deutsch Hund, und der Name bezieht sich auf bei einem Überquerungsversuch einst in diesem Fluß ertrunkene Schäferhunde. Von einer Anhöhe aus eröffnet sich mir ein sagenhaftes Panorama. Über Nord zurückblickend, sehe ich den sattgrünen, dichten Wald sich bis ans Seeufer hinabziehen, der Dickson - Gletscher ist in seinen vollen Ausmaßen zu bewundern, wie er sich aus dem Inlandeis heraus runterwärts bis in den See hineinwälzt. Im Südwesten ist bereits ein imposanter Berg mit Eisflanke auszumachen. Der Cerro Catedral (2168 m) soll den Rest des Tages mit seiner eleganten Erscheinung dominieren. Noch mehr auf Süd gedreht erscheinen mir bizarre Felstürme, während direkt vor mit auf Süd der Cabeza del Indio (Indianerkopf, 2230 m) und seine unmittelbaren Nachbarn hinter dichten Wolken ihr Antlitz verhüllen. Aber noch ist nichts verloren, denn ich soll diese Berggruppe in ein paar Tagen nochmals zu sehen bekommen, und zwar von der anderen Seite her.
Es geht nun praktisch ohne nennenswerte Höhengewinne bzw. -verluste weiter durch üppigen Wald. Dann und wann wird ein Bachtal gequert, auch ein tosender Wasserfall liegt am Weg, zu dessen näherer Betrachtung allerdings ein Stück vom Pfad heruntergeklettert werden muß, da die dichte Vegetation die Sicht zu stark einschränkt. Ich überhole zwei Gruppen junger Chilenen, sie waren vom Campamento Dickson aufgebrochen, kurz nachdem ich dort eingetroffen war und sie haben sich nun in einen schnelleren und einen langsameren Trupp aufgeteilt. Plötzlich zerschneiden gellende Pfiffe die Waldesruh´, und schon sind die dumpfen Hufschläge der sich im geschwinden Galopp nähernden Packpferde zu hören. Der voranreitende Gaucho hat die schrillen Pfiffe als Warnung für mich ausgestoßen. Die sich auf dem Circuito Paine befindlichen Campamentos werden allesamt mittels kleiner Pferdekarawanen versorgt, bis auf die überall sicht- und riechbaren Pferdeäpfel ein sehr naturverträgliches und auf diesen Wildnispfaden wohl auch das einzig mögliche Verkehrsmittel. Sie bringen Lebensmittel und Gebrauchsartikel, und beim Herausreiten wird der Abfall abtransportiert. Dies gilt jedoch nur für die beaufsichtigten und gebührenpflichtigen Lager. Man hüte sich davor, seinen Müll in einem der freien Campamentos zurückzulassen, den nimmt niemand von dort mit. Ich habe ein schlechtes Beispiel im Campamento Coiron gesehen, wo irgendwelche Trottel eine Plastiktüte mit Abfall in einen Baum gehängt haben. Glauben die denn, es käme einmal pro Woche die Müllabfuhr vorbei? Wie bereits erwähnt, sind die Nationalparks Südpatagoniens Gott sei Dank bisher weitestgehend von Verschmutzung verschont geblieben, und man kann nur hoffen, daß das auch so bleibt.
Mein Tagesziel ist nun nicht mehr weit, und mittels einer abenteuerlichen Hängebrücke quere ich über wild schäumende Wassermassen, um dann abrupt vor einem Moränenwall zu stehen. Als ich diesen erklommen habe, liegt mir eine schöne, kleine Gletscherlagune zu Füßen, in die sich das Eis des Glaciar los Perros ergießt, über dem sich wiederum die elegante Spitze des Cerro Catedral erhebt. Mein heutiges Nachtlager, das Campamento los Perros, dürfte nur noch wenige Gehminuten entfernt sein, deshalb halte ich auf dem Moränenwall hinter einem Windschutz bietenden Felsen inne, und genieße die Ruhe und das erquickende Landschaftsgemälde an der smaragdgrünen Gletscherlagune. Kleine Eisbrocken treiben in ihr, wie Eiswürfel in einem Whiskyglas.
Wie alle Campamentos in den südpatagonischen Nationalparks befindet sich auch das Los Perros windgeschützt in einem Wäldchen, und zwar unmittelbar am Zusammenfluß zweier Wildbäche. Meine neuen Zeltnachbarn kommen, wie ich, aus dem süddeutschen Raum. Ich soll sie im Verlauf meiner Reise wiedertreffen, nämlich am letzten Tag meiner Patagonientour, auf dem Gipfel des Vulkans Villarica in Chile, etwa 1500 Kilometer nördlich von hier! Auch mit den zwischenzeitlich eingetroffenen und wiedervereinigten Chilenen konversiere ich längere Zeit. Natürlich treffen auch nach und nach Rainer, sowie Christof und seine Gruppe, und auch Buffalo Bill ein. Im Durchschnitt sind es immer an die zwei Dutzend Zelte, die sich im Laufe eines Abends in den Campamentos sammeln. Auch im „Los Perros“ bietet es sich an, sich abends noch ein wenig mit einem guten Buch am Flußufer niederzulassen, der Sinfonie des Wildwassers zu lauschen, und die oft nur schwer in Worte zu fassende Pracht der südandinen Urlandschaft zu genießen.
Die heutige Etappe ist die schwierigste und verrufendste auf dem gesamten Circuito Paine. Die Überschreitung des Paso John Garner führt hinauf auf 1300 Meter und veranschaulicht somit einen der grundlegenden Unterschiede zwischen den Alpen und den südpatagonischen Anden. Ohne Witz, dieser Paßübergang ist hochalpin und kann, auf Alpenverhältnisse übertragen, mit einem Gang auf etwa 2800 Metern verglichen werden. So ist es dann auch üblich, daß im Campamento los Perros im Allgemeinen früher aufgestanden wird, als in den anderen Lagern, trotzdem zeigt die Uhr bereits 9.10 Uhr, als ich endlich abmarschbereit bin. Der Pfad beginnt gleich mit Unannehmlichkeiten, indem ein ausgedehntes Sumpfgebiet durchquert werden muß. Auch hier gilt die Devise, einfach durch, ohne Rücksicht auf Verluste, selbst wenn man gelegentlich befürchten muß, der Schuh bleibe im Morast stecken beim Versuch, ihn wieder einmal aus der knietiefen, modrig riechenden Pampe herauszuziehen, denn sich hier die Füße trocken oder gar noch sauber zu halten, ist völlig unmöglich. Ich hoffe, daß sich die Parkverwaltung eines Tages die Mühe machen wird, die sumpfigen Teilstücke auf dem Circuito mit Holzbohlen auszulegen, wie das auf der Südseite, auf dem vielbegangenen W, bereits schon geschehen ist. Auch in Skandinavien wird diese Art von Naturschutz auf stark frequentierten Pfaden, wie z.B. dem lappländischen Kungsleden, praktiziert. Es geht nicht darum, daß die armen Touristen keine matschigen Füße mehr bekommen sollen, eine Sumpfdurchquerung auf die herkömmliche Weise hat meiner Ansicht sogar was abenteuerliches, auch wenn man es im diesen Momenten vielleicht nicht einsehen will und sich stattdessen in gottslästerlichen Flüchen ergibt. Problematisch ist allerdings, daß hier jeder versucht, irgendwie noch eine Möglichkeit herauszufinden, den ärgsten Matschlöchern auszuweichen. Dadurch wird die Vegetation immer mehr in Mitleidenschaft gezogen und die zertretenen Morastflächen immer weiter ausgedehnt. Man kommt in einem derartigen Gelände natürlich nur sehr langsam voran und mitunter ist auch die Orientierung etwas problematisch, da hier praktisch kein Pfad mehr existiert, und die als Markierung ausgehängten Bändel fehlen meist dann, wenn man sie gerade nötig hätte.
Nach dem Austritt aus dem sumpfigen Wald ist anschließend noch eine Wildbachdurchwatung zu meistern, die aufgrund der starken Strömung nicht ganz einfach ist. In solchen Fällen sollte man nie vergessen, vor der Durchwatung Hüft- und Brustgurt des Rucksacks zu öffnen, damit man im Falle eines Sturzes diesen sofort abstreifen kann, um nicht jämmerlich wie einst die armen Schäferhunde in der reißenden Strömung des Rio de los Perros abzusaufen. Bald zieht der Pfad steil in Serpentinen zur Paßhöhe hinauf. Auf etwa 1000 bis 1100 Metern ist bereits die alpine Zone erreicht, wo keinerlei Vegetation mehr gedeiht. Die Bedingungen für die Paßüberquerung sind heute sehr günstig, strahlender Sonnenschein ist mir auch am dritten Tag meiner Paine - Umrundung beschert. Das ist für hiesige Verhältnisse ungewöhnlich. Im Normalfall überwiegen Nebel, Regen- oder Schneeschauer und knallharte Winde. Die Sonne scheint zwar auch öfter, allerdings mit ständigen Unterbrechungen. Wechselhaftigkeit ist die wohl verbreitetste Anwandlung, die das patagonische Wetter aufweist. Die Paßhöhe ist der höchste Punkt auf der Paine - Runde und sie erhebt sich direkt über dem Inlandeisfeld. Die Nähe zum Eisfeld macht hier das Wetter allgemein noch schlechter und noch unberechenbarer. Im häufig und schnell aufwallenden Nebel besteht Verirrungsgefahr, wenig erfahrene Wanderer können hier mit Windstärken bisher ungekannten Ausmaßes, kombiniert mit höllischem Chilleffekt (Chilleffekt = das Kälteempfinden des menschlichen Körpers bei Wind) konfrontiert werden, Schneefall und Vereisungen sind auch im Sommer keine Seltenheit.
Im Sattel treffe ich eine Gruppe Spanier, die mir gleich etwas von ihrem Turron anbieten. Selbst bei den heute besonders günstigen Bedingungen pfeift hier oben ein Lüftchen, das einen die Ohren anlegen läßt. Wenn man von der Paßhöhe aus hinüber zur Inlandeisfläche und über den gigantischen Eisstrom des Glaciar Grey blickt, könnte man meinen, man sei in der Antarktis. Die Dimensionen dieser ehrfurchtgebietenden Eismassen können, auf die Alpen bezogen, nur noch mit dem Aletsch - Gletscher verglichen werden, wobei der Glaciar Grey mit seinen knapp 20 Kilometern Länge unter den zahlreichen Auslaßgletschern des patagonischen Inlandeises nur mittlere Ausmaße hat.
Supersteile 700 Höhenmeter geht es von nun an wieder bergab, wobei ich über die trockene Witterung abermals froh bin, denn der Pfad taucht bald in wilden Buchenwald ein, wo er in teilweise extremen Gefällen als staubiger Erdweg zwischen Wurzeln und Baumstämmen hinunterführt. Dabei darf man sich glücklich schätzen, wenn man keine Knieprobleme hat. Ist es regnerisch, so sollte man sich auf eine kritische Rutschpartie gefasst machen. Die Bedingungen dürften dann in etwa denen an den Allgäuer Grasbergen, wie z.B. der Höfats, entsprechen, wobei man allerdings beim Ausrutschen nicht voll abgeht, sondern der Sturz wohl an einem der vielen Baumstämme enden dürfte, was unter Umständen nicht minder gefährlich ist. Wie gesagt, heute sind die Bedingungen hervorragend, trotzdem bin ich froh, nach diesem "Knieschnackerl" endlich das Campamento Paso erreicht zu haben. Prompt kommt auch schon einer mit ´ner dicken Lippe daher, nach eigenem Bekunden ist er Kopf voraus auf einen Baum gestürzt. Das Campamento Paso fristet eine Existenz als tristes, mückenübervölkertes Urwaldlager, um diese Uhrzeit ist es noch fast verlassen. Von allen sich auf dem Circuito befindlichen Camps erscheint es mir als das am wenigsten Einladende. Christof, Alec (so heißt der Costaricaner) und Konsorten treffen kurz nach mir ein, aus der Gegenrichtung stößt ein junger Tiroler zu uns. Ihn soll ich Wochen später am Villarica in Chile wiedertreffen.
Bei meiner Ankunft im Lager "El Paso" war es gerade mal 12.45 Uhr, ich habe folglich die Paßüberschreitung in dreieinhalb Stunden bewerkstelligt, offiziell sind etwa 6 Stunden hierfür angegeben! Ich muß aber einräumen, daß die Dauer der Wegzeit stark von den jeweiligen Bedingungen abhängt. Nach einem kleinen Mittagsmahl fühle ich mich wieder blendend und auch die Gruppe "Christof" hält es hier nicht, und so brechen wir zunächst gemeinsam auf, und zwar mit dem Ziel Campamento Grey. Um bis dorthin zu gelangen, sind laut Wegzeiten der Parkverwaltung weitere 6 Stunden zu veranschlagen, die wir aber sicher nicht benötigen werden, davon sind wir überzeugt. Den Aufenthalt im Campamento Grey hatte mir bereits ein Spanier, der im Campamento Chileno unterhalb der Torres mein Zeltnachbar war, angeraten und auch Alec ist daran gelegen, heute noch dieses Camp zu erreichen Wir marschieren nun in einem forschen Tempo, Alec geht voraus. Seine gute Konditon und die feste Trittsicherheit verraten den vielgeübten Bergsteiger. Tatsächlich hat er bereits den Aconcagua erstiegen, und weitere Hochgipfel nahe der 6000-er – Marke, wie Chimborrazo und Cotopaxi stehen mit in seinem Tourenbuch.
Ein durch Waldbrand in Mitleidenschaft gezogenes Teilstück (selbst der Gletscher ist an der Seite schwarz angerußt) sorgt zwar für gute Aussicht über die von beeindruckenden Spalten zerrissene Eisfläche, wirkt aber insgesamt etwas bedrückend. Zweimal müssen wir in ein Bachtal hinunter- und auf der anderen Seite wieder hinaussteigen, einmal auch mit Hilfe eines Fixseiles und einer Holzleiter. Am zweiten Bach halte ich an, um eine Wasserpause zu machen, während die anderen weitergehen. Gary, der Engländer und Christof´s deutscher Kollege (seinen Namen habe ich leider vergessen, bei den vielen Leuten!) sind ohnehin schon längst weit zurückgefallen. Es ist bei den momentan sehr trockenen, feinsandigen Pfaden auch unangenehm, direkt hinter jemandem herzugehen, denn man marschiert dann ständig in einer Staubwolke. Zudem genieße ich das Alleingehen, und gebe mich viel lieber abends im Campamento wieder gesellig. Die Wahrnehmung für die Umgebung ist beim Alleingang weit intensiver, außerdem genieße ich abends gerne das zufriedenstellende Gefühl, die Etappe wieder mal autark gemeistert zu haben.
Zwischenzeitlich habe ich wieder Anschluß zu den beiden Vorauseilenden. Das Campamento Las Guardas wird von uns förmlich überrannt, weshalb uns auch entgeht, daß Rainer hier bereits sein Zelt aufgebaut hat. Er war von uns allen der disziplinierteste und bereits in den frühen Morgenstunden aufgebrochen. Eigentlich hatten wir ursprünglich alle das "Las Guardas" als Tagesziel avisiert, aber da die Dinge heute so gut gelaufen sind, zieht es uns doch noch weiter. Bei der Ankunft im „Grey“ werden wir allerdings etwas enttäuscht. Die sensationelle Lage des Campamentos hält zwar, was sie verspricht, jedoch herrscht hier ein Rummel, den wir nach den vergangenen, geruhsamen Tagen auf dem Circuito nur wiederwillig ertragen. Hier treffen die W - Wanderer, die Circuito - Umrunder und die Tagesausflügler, die mit dem Boot über den See gekommen sind, zusammen. Entschieden zu viel, so denken wir. Dennoch machen wir es uns unten am feinen Sandstrand gemütlich. Plötzlich vernehmen wir ein langgezogenes Donnern, wenig später schlagen Wellen an´s Ufer. Der Gletscher hat wieder einmal gekalbt, was er eigentlich stets tut, doch diesmal war es ein außergewöhnlich großes Abbruchstück, das wir jetzt blauschimmernd im See schwimmen sehen. Buffalo Bill als Augenzeuge soll uns später noch berichten. Er war noch unterwegs auf dem Pfad, wo man über den Gletscher und den See blicken kann. Eine riesige Fontäne muß da hochgegangen sein, und anschließend sei der ganze Eisberg, der beim Herunterstürzen für wenige Sekunden völlig unter die Wasseroberfläche getaucht sei, wie ein Stehaufmännchen aus dem Wasser herausgeschossen sein. Ich begebe mich noch kurz vor Sonnenaufgang hinaus zum Aussichtspunkt, der etwa 20 Gehminuten vom Lager entfernt ist. Zunächst bin ich dort völlig allein, erst später taucht noch jemand unten am Ufer auf, während ich auf dem Felsenhügel herumkraxle, von dem aus sich der Blick zu allen Seiten hin öffnet. Rechterhand befindet sich eine kleine Bucht, in der sich zahlreiche kleinere Eisbrocken angesammelt haben, zur anderen Seite hin sieht man die größeren Eisberge vor der senkrechten Eismauer der in den See abbrechenden Gletscherzunge schwimmen. Das frisch abgebrochene Stück hat sich bereits relativ weit vom Gletscher entfernt. Die überhalb des Sees sich erhebenden schönen Felsgipfel werden jetzt golden von der späten Abendsonne angeleuchtet. Erst kurz vor Einbruch der Dunkelheit kann ich mich von diesem herrlichen, ruhigen Flecken trennen und kehre ins überbevölkerte Camp zurück. Die warme Dusche entpuppt sich als Flopp. Wenn in der Kabine nebenan geduscht wird, verbrühe ich mich in kochend heißem Wasser. Stellt der Nachbar oder die Nachbarin das Wasser ab, so dusche ich hingegen eiskalt. Buffalo Bill regt sich gehörig darüber auf, auch über die tagsüber schlecht und nachts überhaupt nicht funktionierende Toilettenspülung. What´s up man, you´re in Southamerica!
Ich frühstücke bereits um halb Acht, während ein traumhaftes Morgenlicht den Lago Grey überflutet. Im Campamento herrscht um diese Uhrzeit noch Ruhe, und als ich um 9 Uhr den Tornister schultere, gehöre ich zu den Ersten, die das Camp verlassen. Auch die heutige Etappe soll kein Schongang werden, denn ich habe mir vorgenommen, die Nacht im Campamento Britanico, im oberen Valle del Frances zubringen zu wollen, was mir nach offizieller Lesart achteinhalb Gehstunden einbrocken soll, wobei die letzten viereinhalb im steilen Aufstieg zu bewältigen sind. Der Pfad verläuft ansteigend oberhalb des Seeufers, mit reichlich Aussicht über den smaragdfarbenen Wasserspiegel, sowie dem Gletscher bis hinauf zum Inlandeis und der sich aus der geschlossenen Eisfläche heraushebenden Schneegipfel. Ein schöner Wasserfall stürzt tosend ins Bachbett. Eine Brücke führt über eine superenge Klamm, in der der Wildbach wie eine Furie tobt. Von einem Aussichtspunkt aus bewundere ich die Spaltung der Gletscherzunge durch eine Halbinsel., die den indianischen Namen Nunantac trägt. Ein genauerer Blick in die Karte bringt mich zur Einsicht, daß die herrlichen Felsgipfel, welche ich gestern Abend noch bewundert habe, zur Rückansicht des Cerro Paine Grande gehören. Dieser mächtige Berg ist beinahe schon ein Massiv für sich, denn er verfügt über vier Gipfel. Von Nord nach Süd sind dies die Cumbre Norte (2750 m), die besonders eindrucksvolle Cumbre Principal (3050 m), die Cumbre Central (2730 m) und schließlich, sozusagen als Eingangsportal zum Valle del Frances, die Punta Bariloche (2600 m). Von meiner momentanen Aussichtskanzel aus schindet der in verschieden steilen Stufen in den See hinabstürzende, gewaltige Bergrücken mächtig Eindruck, besonders schön sind hierbei die miteinander kontrastierenden schroffen Fels- gegen die sattgrünen Waldflanken, darüber lugt die Spitze der Cumbre Principal mit ihrer Eisspitze hervor, als hätte man sie mit einem Eimer weißer Farbe übergossen. Bis hinunter zum Campamento Pehoe verläuft der Pfad durch ein Trockental, vorbei an einer glasklaren, kleinen Lagune.
Das Refugio Pehoé wird gerade baulich erweitert, selbstverständlich ist an diesem Ort auch Zelten möglich. Ich mache mich auf einer Picknickbank neben dem Kiosk breit, wo ich mit einer Gruppe Chilenen ins Gespräch komme. Als ich ihnen eröffne, daß ich gedenke, die Gesamtumrundung einschließlich der Nebentäler voraussichtlich morgen, also mit der 6. Tagesetappe, abzuschließen, wollen sie mir zunächst nicht glauben. Sie werden für dasselbe Unternehmen vermutlich 12 Tage benötigen. Erst als sie durch Hinterfragen von "Insiderdetails" erkennen, daß ich die Strecke auf jeden Fall gegangen sein muß, und ich ihnen versichere, daß ich sehr häufig in den Bergen unterwegs und aufgrund dessen wohl außergewöhnlich gut durchtrainiert bin, scheinen sie überzeugt. Trotzdem bin ich auf dem Circuito kein Einzelfall, auch Rainer oder Christof und Co. dürften wohl spätestens am 7. Tag abschließen. Mir ist allerdings auch ein "Leistungsgefälle" zwischen Europäern und Nordamerikanern einerseits, und einheimischen Wanderern andererseits aufgefallen, welches sich auch drüben in Argentinien noch bestätigen soll. Dies ist aber nicht negativ oder gar verächtlich zu bewerten, sondern ergibt sich aus unterschiedlichen Grundeinstellungen. Beide Länder haben selbstverständlich auch gute und leistungsstarke Bergsteiger. Auf den Wanderrouten trifft man aber meist Leute, die oft weder Sportler noch Alpinisten sind. Wie in vielen Ländern mit sogenannter „südlicher Mentalität“, so ist es auch hier üblich, daß man in großen Gruppen unterwegs ist, wobei das Zusammensein und die gemütlichen Abende einen viel höheren Stellenwert haben, als körperliche Leistung und die Erweiterung des persönlichen Tourenbuchs. Während man aus den Gringozelten oft schon vor Sonnenuntergang lautes Schnarchen vernehmen kann, sitzen die Chilenen und Argentinier noch lange lachend und tratschend vor ihren Zelten, und wenn unsereins nach den ersten vier Wanderstunden zur Mittagsrast einhält, verlassen die Südamerikaner gerade mal ihren Biwakplatz.
Auf dem Weiterweg in Richtung Valle del Frances rücken nun erstmals die berühmten Cuernos del Paine ins Blickfeld. Sechs besonders elegant geformte Felsriesen stehen Spalier und grenzen dieses Tal nach Osten hin ab. Dem Cuerno Norte (2400 m) und dem Cuerno Principal (2600 m) sind schwarze Schieferköpfe auf die mächtigen, hellbeigen Granitleiber aufgesetzt, was besonders den Cuerno Principal erscheinen läßt, als hätte man eine schwarze Wollmütze über seine Gipfelkuppe gestülpt. Man sollte nicht zögern, rechtzeitig das Foto von der Gesamtansicht der Cuernos zu schießen, damit es einem nicht so wie mir ergeht. In der Fortsetzung des Weges rücken die erhabenen Gipfel zwar immer näher, aber die besonders galante La Espada (das Schwert, 2500 m), sowie La Hoja (das Blatt, 2200 m) verschwinden bald aus dem Panorama. Mit der Rückkehr zur Südseite des Paine - Massivs befinde ich mich auch wieder in der schattenlosen Pampalandschaft, was bei den momentanen Temperaturen nicht gerade angenehm ist. Vier Guardaparques kommen mir entgegen, eine Sänfte mit einer großen Kiste schleppend. Ich frage sie, ob sie etwa eine Leiche da drin haben, was die arg schwitzenden Herren sichtlich amüsiert. Der wunderschöne See zu meiner Rechten ist der Lago Scottsberg. Um ins Zeltlager Campamento Italiano zu gelangen, wird der Rio del Frances auf einer abenteuerlichen Hängebrücke überquert, ein Schild weist darauf hin, daß die Brücke von nur jeweils einer Person betreten werden darf. Da der beste Rastplatz unmittelbar vor der Brücke bereits belegt ist, mache ich´s mir am gegenüberliegenden Ufer bequem, direkt neben den ohrenbetäubend tosenden Fluten des Rio del Frances. Alec hatte gestern abend noch die Losung ausgegeben, wenn irgendwie möglich, nicht im Italiano zu bleiben, sondern in dem im oberen Valle del Frances gelegenen Campamento Britanico zu nächtigen. Mehrere gute Gründe liegen hierfür vor: da nicht allzu viele Trekker gewillt sind, mit dem ganzen Marschgepäck den steilen und anstrengenden Weg hinauf ins Britanico zu nehmen, dürfte es dort viel ruhiger zugehen, als im arg bevölkerten Italiano. Zudem kann man den hochinteressanten Talabschluß des Valle del Frances in den frühen Morgenstunden in aller Ruhe erkunden, und bereits wieder zurück sein, ehe die Pilgerflut vom Italiano her eintrifft. Der anstrengende Anmarsch vom Vortag zahlt sich zudem insofern aus, daß man anderntags ruckizucki über die Baumgrenze hinweg ist und nicht erst noch zweieinhalb Stunden das Tal hinaufschnaufen muß.
Nach der Pause im Campamento Italiano fühle ich mich auch wieder gestärkt, so daß ich meinen Weg fortsetzen kann. Der Aufstieg durch das Valle del Frances beeindruckt mich in unbeschreiblichem Maße. Für mich persönlich ist es das schönste Tal auf dem Circuito. Der Cerro Paine Grande zeigt von hier aus seine imposanteste Seite. Als eisstrotzender, von einem kühn geformten, firngekrönten Hauptgipfel überragter Berggigant thront er majestätisch über dem engen Hochtal. Er ist mein persönlicher Favorit im Paine - Massiv, ich preferiere ihn vor den Torres und den Cuernos, ohne Zweifel gehört er für mich zu den schönsten Bergen der Welt. Während des Aufstieges dröhnt ständig das Donnern des durch die Wärme des Tages immer noch heftig „arbeitenden“ Glaciar Frances zu mir herüber. Bei jedem Donnergrollen sucht mein Blick den gerade abgehenden Eissturz. Ein eindrucksvolles Schauspiel, wie die Eislawinen über supersteile Felswände und klaffende Gletscherspalten hinwegfegen, und mit Schaudern denke ich daran, wie gefährlich es sein muß, den Berg über diese extreme Südseite besteigen zu wollen. Der Cerro Paine Grande bietet ein exzellentes Anschauungsbeispiel für einen der großen Unterschiede der Südanden im Vergleich mit den Alpen und anderen Hochgebirgen der Nordhalbkugel: die Schattenseite und somit auch die größten Vergletscherungen ist immer südlich, d.h. die schwierigsten Herausforderungen, die ja in den Alpen für gewöhnlich die Nordwände darstellen, bieten hier die Südwände (Beispiel auch: Aconcagua - Südwand). Und dann noch das Wasser: der Rio del Frances stürzt mit Unmengen des nassen Elements zu Tal und begeistert mit gischtenden Kaskaden. Genährt wird er unter anderem von den vielen Wasserfällen, die unterhalb des Hängegletschers wie Silberfäden über die naßglänzenden, schwarzen Felsen schießen. Als ich bereits eine gewisse Aufstiegshöhe erreicht habe, bietet sich mir nach hinten hin ein Wahnsinnsüberblick über den Lago Pehoe, die Laguna Amarga, und weit im Südwesten, in einer Entfernung von gut 50 Kilometern über Luftlinie, erhebt sich ein schneebedecktes Massiv, das von hier aus gesehen einen ähnlich imposanten Eindruck wie das Paine - Massiv macht, wenn man Letzteres aus der Distanz betrachtet. Den Zustieg zum Campamento Britanico kann man als recht unwegsam bezeichnen, unterwegs erlebe ich aber noch eine kleine Überraschung. Der Tscheche vom Flughafen in Rio Gallegos kommt mir entgegen. Es ist immer wieder amüsant, im Verlauf der Reise "alte Bekannte" wiederzutreffen. Sein nächster Programmpunkt sieht die Besteigung des Aconcagua vor, der Hauptgrund und Höhepunkt seiner Reise zum Cono Sur.
Nach Überschreiten einer sumpfigen Wiese erreiche ich schließlich das genial im Wald neben dem Flußufer, direkt zu Füßen der Cuernos gelegene Campamento Britanico. Und wen sehe ich da? Rainer war heute morgen in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, hatte das Campamento Grey bereits hinter sich gelassen, während ich mich noch im Schlafsack wälzte, und überrascht mich somit mit seiner Anwesenheit im Campamento Britanico. Wir essen noch gemeinsam zu Abend, von Christof und den anderen fehlt bis kurz vor Sonnenuntergang jede Spur. Wir gehen davon aus, daß sie offenbar doch unten im Italiano hängengeblieben sind. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit jedoch, ich muß bereits ein paar Minuten geschlafen haben, ertönt plötzlich Christof´s Stimme vor meinem Zelt: "Alter, kannst Du mir mal eben Deine Lampe leihen?" Die Gruppe hatte scheinbar unterwegs Streß, der Eine wollte weitermarschieren, der Nächste im Italiano verweilen, und Gary war anscheinend ganz verloren gegangen. Auf jeden Fall war Christof schließlich zusammen mit Alec noch zur fortgeschrittenen Stunde das Tal hochgezuckelt. Die Beiden sind somit gerade noch mit Einbruch der Nacht hier eingetroffen, und, ausgehungert, wie sie zu sein scheinen, beginnen sie nun mit länger währenden Kochtätigkeiten.
In der Morgendämmerung breche ich bereits auf, um den Talabschluß des Valle del Frances zu erkunden. Im Lager herrscht noch Totenstille. Da sich auch im Zelt von Rainer noch nichts regt, ziehe ich alleine los. Die Erkundung des Talabschlusses ist eine Tour ohne feste Grenzen, d.h., es liegt im eigenen Ermessen, wie weit oder in welche genaue Richtung man zu gehen gedenkt. Mir jedenfalls erscheint die Einsattelung zwischen dem Cerro Espada und dem Cerro Fortaleza am interessantesten, so daß ich nun diese Richtung anpeile. Die Fortaleza ist in Bergsteigerkreisen kein unbeschriebenes Blatt. Ihre 1600 Meter hohe Ostwand soll die höchste Felswand Südamerikas sein.
Der offizielle Mirador ist bereits nach 20 Minuten erreicht, bis hinauf in den Sattel benötige ich gut 2 Stunden durch wegloses, hin und wieder mit Steinmännchen markiertes Gelände, zum Schluß mühe ich mich durch ein steiles Blockfeld. Die Sensation ist groß, als ich oben ankomme, und es ist, wie ich es vermutet habe: direkt vor mir erheben sich hinter einem weiten Schotterfeld die Torres del Paine. Es wäre von hier aus also kein Problem, bis direkt unter die Torres weiterzugehen, vielleicht wäre sogar ein Übergang ins Tal des Rio Ascensio möglich. Sicher gibt es irgendwo eine Lücke, die ohne größere Schwierigkeiten zu bewältigen ist, man muß ja nicht gleich über den Hängegletscher absteigen!
Ich jedoch setze an diesem prächtigen Aussichtspunkt, der selbstverständlich die Herrlichkeiten des Valle del Frances mit einschließt, meinem morgendlichen Ausflug ein Ende, denn schließlich erwartet mich noch eine mühevolle Tagesetappe. Ein gerne gegangener Weg ist auch der geradeaus, auf die Gletschermoräne zu, wo man angeblich zu einer Lagune gelangt. Beim Abstieg treffe ich zuerst auf Rainer und Alec, danach folgen Christof und sein deutscher Freund. Von allen Vieren verabschiede ich mich, da sich nun unsere Reisewege trennen. Zurück im Britanico bereite ich mir ein ausgiebiges Frühstück und brühe einen extrastarken Matetee auf, denn der Tag soll lang und deftig werden. Im Abstieg Richtung Campamento Italiano treffe ich auf etwa halbem Weg Buffalo Bill. Der alte Haudegen läßt sich also auch nicht unterkriegen, Respekt! Vom Italiano aus führt der Weg hoch über dem Ufer des langgestreckten Lago Nordenskjöld entlang. Schließlich geht es bis hinunter zum Strand, wo ich ein paar Badende antreffe. Zumindest die Lufttemperaturen animieren hierzu. Kurz darauf stehe ich im Campamento "Los Cuernos". Es liegt direkt unter dem riesigen Felstor, das der Cuerno Principal und der Cuerno Este (2200 m) bilden, direkt darunter fließt ein schöner Wasserfall ab Im Refugio kaufe ich die teuerste Schokolade meines Lebens. 3500 Pesos entsprechen 5 Euro, dafür ist es eine 400 - Gramm - Tafel von Nestle. Ich hätte für das gleiche Geld auch eine komplette Mahlzeit bekommen, aber der Energieschub durch Zucker ist jetzt genau das, was ich benötige, um zum Finale meiner großen Paine - Umrundung anzusetzen. Der lange Weg überhalb des Lago Nordenskjöld ist ohne Zweifel prächtig. Nach den hinter mir liegenden Etappen bin ich aber bereits so verwöhnt, daß ich zur Feststellung gelange, es ist die wohl am wenigsten interessante auf der gesamten Runde. Die üppigen Pampabüsche erinnern mich an die mediterrane Macchia, nicht nur des Aussehens, auch der köstlichen Gerüche wegen. Da der staubige Weg weiterhin kaum Schatten bietet, komme ich mir beinahe vor wie bei einem Marsch durch die Wüste. Bald schon erspähe ich einen alten Bekannten, nämlich den Cerro Paine Chico Sur, dem ich ja eingangs schon begegnet bin, als ich zusammen mit Massimo von der Hosteria Las Torres aus losmarschiert war. Auch der schwarzgefärbte, wüstenhaft erscheinende Taleinschnitt des Rio Ascensio taucht jetzt vor mir auf. Nochmals führt der Weg an einer glasklaren, schwarzwässrigen Minilagune vorbei, die sich hoch über dem türkisgrünen Lago Nordenskjöld in die Pampalandschaft einschmiegt, kurz danach geht´s abwärts. Ich folge zunächst einem falschen Pfad, in der Annahme, daß auch dieser, wie der Hauptpfad, über eine Brücke führen würde. Wie denn auch, in einer Wildnis, wo man froh sein kann, wenn überhaupt eine Brücke pro Flußlauf vorzufinden ist. Meist balanciert man über glitschige Baumstämme und so manches Mal gelangt man über kritische Watstellen mit triefend nassen Füßen an´s andere Ufer. An der Hängebrücke über den Rio Ascensio schließt sich jedenfalls der Kreis meiner Paine - Umrundung, jetzt ist es nur noch ein Katzensprung bis hinunter zur Hosteria Las Torres. Hier warten bereits zahlreiche Wanderer auf die letzte Rückfahrmöglichkeit aus dem Park, aber kein Grund zur Panik, es werden alle mitgenommen. So füllt sich ein Pickup nach dem anderen, während viele der Wartenden ihre strapazierten Bein- und Rückenmuskeln mit Dehnübungen beschwichtigen. Am Parkeingang bei der Laguna Amarga treffen innerhalb kurzer Zeit die Busse sämtlicher hier verkehrender Gesellschaften ein. Da wohl alle Trekker die Hin - und Rückfahrt bereits in Puerto Natales gebucht haben, ist eine problemlose Rückkehr gewährleistet.
Die Fahrt durch die langsam in der Abenddämmerung ertrinkende vorandine Pampalandschaft ist herrlich, auch die Guanakos am Parkeingang sind wieder da. Immer wieder recken sich die Köpfe der Rückkehrer in Richtung Paine - Massiv, bis schließlich die Umgebung endgültig von der Nacht verschluckt wird. Bei der Ankunft in Puerto Natales ist es dann auch schon wieder 22 Uhr. Als ich im Zentrum aussteige, habe ich Schwierigkeiten, das Danikas wiederzufinden. Ein Taxifahrer empfiehlt mir eine Albergue, die preislich noch günstiger ist, und die seiner Tante gehört. Dort komme ich in einem Mehrbettzimmer unter, das mir aber ganz allein zur Verfügung steht. Zum Essen gehe ich in´s "Massai", ein Tip von einer Gruppe Chilenen, mit denen ich beim Warten auf den Bus ins Gespräch gekommen war. Die Sandwiches dort sind wirklich phänomenal, wie versprochen! Ich saß allein am Tisch, die Chilenen hatten mein Kommen nicht bemerkt, und ich wollte nicht stören. Doch beim Gehen trete ich an ihren Tisch und werde sofort aufgefordert, Platz zu nehmen. Wir belassen es aber bei einem kurzen Plausch, denn morgen in aller Frühe werde ich meine Weiterfahrt ins argentinische Calafate antreten. Auch diese Busfahrt wurde mit Hilfe des Taxifahrers schnell noch organisiert, der Bus wird mich sogar von der Herberge abholen.
Das Frühstück gerät zum internationalen Frühschoppen. Außer mir sind der Hausherr, sprich der Onkel des Taxifahrers, ein chilenischer Camionero (LKW - Fahrer) sowie ein Spanier aus Madrid Namens Nacho anwesend. Hauptthema des politschen Forums ist das Baskenland. Nacho hatte ich bereits am Vorabend kennengelernt. Ich hatte mich in mein Zimmer eingeschlossen, ohne zu berücksichtigen, daß sich die Tür nur von Außen, aber nicht von Innen wieder aufschließen läßt (so sind die Dinge eben manchmal in Südamerika!). Ich konnte allerdings durch eine unverschlossene Tür in den Hinterhof gelangen, wo ich an Nacho´s Fenster klopfte, da dort noch Licht brannte. So wurde ich schließlich aus meiner mißlichen Situation befreit.
Um 8 Uhr werde ich abgeholt, und wie gewohnt kurvt der Bus noch eine gute Stunde durch Puerto Natales, um weitere Reisende von ihren Unterkünften abzuholen. Abermals geht´s vorbei am romantischen kleinen Fjordhafen mit den wenigen Fischerbooten, die dort vor sich hindümpeln, bis zum Grenzübergang Cerro Castillo. Bei der Zollabfertigung pfeift den Fahrgästen wieder einmal der patagonische Wind um die Ohren, der Ofen in der Wachstube der Argentinier hat selbst im Sommer gelegentlich seine Daseinsberechtigung. Über eine Schotterstraße scheppern wir durch die Pampalandschaft, zur Abwechslung lassen sich dann und wann ein paar Guanakos, einige Nandus, flüchtige Hasen (übrigens eine durch einen italienischen Diplomaten eingeführte Landplage), vor allem aber Schafe blicken. Auf den Zaunpfählen thronen immer wieder Raubvögel, denn die Pfähle sind die höchsten Punkte in der Umgebung. Schlagartig wird´s auch landschaftlich wieder interessant, in Form einer Bergpiste, einem weiten Flußtal, und einer mit Flamingos bevölkerten Lagune. Wir passieren eine schön gelegene Estancia mit einem auffallend verrosteten Dach, ab und zu erspähe ich ein Windrad in der Weite der Landschaft, Gerippe verendeter Tiere sieht man immer wieder am Straßenrand, gelegentlich werden derartige Kadaver als eine Art Zierde für Einfahrtstore oder Viehgatter gebraucht, wo die oft noch fellbehangenen, bleichen Knochen wie indianische Marter an einem Holzpfosten baumeln. Der Busfahrer und sein Kompagnion steigen mehrere Male aus, um den Zustand der Reifen zu überprüfen. Als wir schließlich die Fahrt auf einer Asphaltstraße fortsetzen, muß ich feststellen, daß an dem Fahrzeug offenbar die Spur kaputt ist. Wie ein Schlachtschiff in den Wogen schwankt das Gefährt auf der Straße herum, kein Wunder also, warum die vorhin auf der Schotterpiste ständig dachten, wir hätten eine Reifenpanne. Jedenfalls bin ich dann ganz froh, daß wir wohlbehalten in Calafate eintreffen. Bezeichnend für patagonische Käffer, hat auch Calafate keine besonderen Sehenswürdigkeiten, die Kleinstadt liegt aber dennoch schön am riesigen Lago Argentino, mit steppenartigen Pampahügeln im Hintergrund. Der Lago Argentino ist mit 1600 Quadratkilometern dreimal so groß wie der Bodensee, und somit der größte See Argentiniens und der drittgrößte Südamerikas. Seine durchschnittliche Tiefe beträgt 250 Meter, an den tiefsten Stellen sogar bis zu 1000 Meter. Trotz seiner Seelage ist Calafate eigentlich nur eine Zwischenstation für die meisten Reisenden, wobei der Ort eben daraus seine Daseinsberechtigung saugt. Zum Einen ist Calafate der Ausgangspunkt zu den Ausflügen in die Welt der Riesengletscher wie Perito Moreno oder Upsala, zum Anderen gelangt man von hier aus in das noch kleinere, vollkommen abgelegene El Chalten, zu Füßen der weltberühmten Massive von Fitzroy und Cerro Torre.
Unweit des Busbahnhofes befindet sich die Herberge "Buenos Aires", wo man bei Miguel, einem Pfundskerl, den man ungehemmt mit allen möglichen Fragen durchlöchern kann, für 20 Pesos im Mehrbettzimmer nächtigt. Das Haus ist sehr sauber und geschmackvoll eingerichtet. Hier lerne ich einen älteren Franzosen kennen, der am Vortag vom Fitzroy zurückgekehrt war. Zehn Tage hatte er dort mit ein paar Freunden zugebracht, und dies nicht zum ersten Mal. Für ihn sind die Berge um den Fitzroy undiskutabel die schönsten der Welt. Mit glänzenden Augen schwärmt er in den höchsten Tönen und gibt mir reichlich Empfehlungen mit auf den Weg, von denen ich in der mir zur Verfügung stehenden Zeit allerdings schwerlich alle befolgen kann. Er begleitet mich sogar in´s Zentrum, um mir die beste Karte zu zeigen, die es von diesem Gebiet zu kaufen gibt, er selbst hat nur die zweitbeste, doch er empfiehlt mir dringend den Erwerb der besseren. Die Karte ist für argentinische Verhältnisse sicherlich teuer, für westeuropäische aber immer noch günstig. Es ist sicherlich nicht zwingend nötig, beim Begehen der Standardrouten eine Karte mitzuführen. Dennoch ist es vorteilhaft und es versetzt mich zusätzlich in die Lage, die geographischen Gegebenheiten, wie Berge, Flüsse oder Seen, besser benennen zu können. Mein Aufenthalt in Calafate dient aber auch zur Wiederverproviantierung für weitere fünf Tage in der Wildnis, sowie zum Frönen kulinarischer Genüsse in den Restaurants und Cafés des Ortes, da man sich ja später im Gebirge diesbezüglich wieder recht bescheiden geben muß.
Bei der Abfahrt nach El Chalten um 8 Uhr morgens fällt mein Blick zurück nach dem unter dem Glanz des goldenen Morgenlichts erwachenden El Calafate, und ich muß sagen, dieser Ort kann einem durchaus attraktiv erscheinen. Die zwischen den beiden Ortschaften verkehrenden Busse sind allesamt Klapperkisten in technisch bedenklichem Zustand, der Unsere macht da keine Ausnahme. So kommt es auch, daß sich unsere Frühstückspause am Parador um eine gute Stunde verlängert. Während der Fahrer ölverschmiert bis zu den Ellbogen unterm Fahrzeug liegt, vertreiben sich die Fahrgäste die Zeit, indem sie mit dem jungen Guanako spielen, das den Leuten vom Parador gehört. Gezähmte Guanakos sind, im Gegensatz zu ihren verwandten Artgenossen, eher selten. Eine viel kleinere Sensation krabbelt zwischenzeitlich durch´s Pampagras: Ein Argentinier hat eine Schwarze Witwe entdeckt. Diese winzige Spinne ist eine der giftigsten der Welt, ihr Biß wirkt binnen weniger Minuten tödlich. Ansonsten gibt es in Patagonien, abgesehen von den dem Menschen aus dem Weg gehenden Pumas, keine gefährlichen Tiere. Ich kann mir zudem nur schwer vorstellen, daß in den klimatisch besonders strengen Gebirgsregionen, in denen ich ja auschließlich meine Wandertouren unternehme, weitere Exemplare der Schwarzen Witwe vorkommen.
Schließlich wird die Fahrt fortgesetzt, und auch hier bietet die Pampalandschaft, trotz langwieriger öder Abschnitte, immer wieder landschaftliche Überraschungen. Der in weiten Mäandern dahinschlängelnde Rio la Leona wird mehrfach überquert. Dieser Fluß verbindet übrigens den ebenfalls riesigen Gletschersee Lago Viedma im Norden mit dem weiter südlich gelegenen Lago Argentino. Der Bus hält erneut oberhalb des typisch grünfarbenen Lago Viedma. Bei gutem Wetter hat man ein wunderschönes Panorama über den See hinweg zum sich hinter dem nördlichen Seende erhebenden Fitzroy - Massiv. Heute ist aber kein schönes Wetter, das Massiv versteckt sich hinter Wolken. Als ich mich beim Gang zum Aussichtshügel nochmals umdrehe, sehe ich den Fahrer bereits wieder mit dem Radmutterschlüssel um den Bus herumschleichen. Mir schwant Übles, aber glücklicherweise bleibt es nur beim Nachziehen einiger Schrauben und wir gelangen somit nach 5 Stunden effektiver Fahrzeit, die fast ausschließlich über schlaglochreichen Schotter führte (eine Asphaltstraße ist allerdings derzeit im Bau), wohlbehalten nach El Chalten. Die winzige Ortschaft liegt wunderschön am Taleingang des Valle de las Vueltas, durch welches der gleichnamige Fluß strömt. Wir erhalten eine kurze Unterweisung von den Guardaparques, der Eintritt in den Park ist übrigens kostenfrei. Allerdings ist ein freiwilliger Obolus zugunsten der Parkerhaltung erwünscht. Inzwischen regnet es in Strömen, und ich ziehe mich zunächst in´s Restaurant "Pangui" zurück, wo ich ein Rindersteak vom Allerfeinsten vorgesetzt bekomme. Nach dem abschließenden Kaffee hat der Regen zumindest etwas nachgelassen, und ich mache mich auf den Weg. Zwischenzeitlich ist es halb Fünf, die Zeit reicht also aus, um noch bei Tageslicht zum Campamento Maestri zu gelangen. Die Ortschaft El Chalten gefällt mir, sie ist, wie gesagt, äußerst adrett gelegen, recht wohlhabend, und viele schöne Holzhäuser sind dort zu finden. Bei Regenwetter vermittelt der Ort ein nordisches Flair, besonders, wenn aus den Schornsteinen der niedlichen Häuschen Rauch emporsteigt, dessen Geruch mir angenehm in die Nase dringt und entsprechende Assoziationen noch bestärkt.
Nach Durchschreiten des Ortes geht ein Weg linkerhand steil bergauf. Ich durchquere eine grasige, von Büschen und Bäumen bestandene, und mit regennass glänzenden Felsen durchsetzte Berglandschaft. Herrliche Gerüche nach Pflanzen und nasser Erde, die man so nur bei Regenwetter genießen kann, stimulieren den Geruchsinn. Ich denke unwillkürlich an Korsika. Ich bin auf dieser Insel zwar schon gewandert, den berühmten GR 20 habe ich jedoch noch nicht begangen. So wie hier stelle ich mir die Wege auf dem GR 20 aber vor. Bald taucht der Rio Fitzroy unter mir auf. Dicke, graue Regenwolken verhüllen das Massiv des Cerro Torre, weshalb mir nur die Bewunderung für die periphere Landschaft bleibt. Hier bestätigt sich, was mir bereits am Paine - Massiv oft in den Sinn gekommen ist: selbst wenn in den südpatagonischen Anden die Hauptattraktionen, sprich die besonders hervorstechenden Berge, Seen und Gletscher, fehlen würden, bliebe doch noch eine Berglandschaft von einer Anmut und Vielfalt, nach der man als Naturfreund lechzt und die immer noch eine lange Anreise rechtfertigen würde. Durch die betörenden Auftritte der Hauptakteure ist man allerdings oft derart hingerissen, daß man den wundervollen Darbietungen der Statisten zu wenig Beachtung schenkt.
Der Weg führt, nachdem er sich etwas gesenkt hat, am Fluß entlang. Langsam entfesselt sich vor meinen Augen ein hochdramatisches Naturschauspiel. Zuerst zerstäuben weiße Wolken wie nach einer Dampfexplosion, geben die ersten Blicke auf eisüberzogene Berge frei, dann stechen urplötzlich Sonnenstrahlen durch diese Waschküche und leuchten die vergletscherte Nordostflanke des Cerro Solo (2121 m) aus. Dieser elegante Berg steht wie ein Eingangswächter im Südwesten des oberen Fitzroytales. Mein französischer Freund hat ihn zusammen mit seinen Kameraden bestiegen, es war sozusagen das alpinistische (oder besser andinistische) Sahnehäubchen ihrer zehntägigen Bergfahrt. Grundsätzlich sind alle 2000-er sowohl im Paine - als auch im Fitzroy - Massiv nur als kombinierte Hochtouren Eis/Fels zu besteigen, man muß, um den Vergleich zu den Alpen herzustellen, mindestens 1000 Höhenmeter hinzurechnen, um in etwa die selben Verhältnisse anzutreffen. Für mich als Alleingänger ohne alpines Werkzeug besteht somit leider keine Möglichkeit einer derartigen Besteigung, zumindest noch nicht hier in Südpatagonien. Das Wetter bessert sich zusehends, bald schon ragt die schlanke Säule des Cerro Torre (3102 m) vor mir auf, die Spitze hält sich allerdings weiterhin bedeckt. Auch die naßglänzenden Felsberge zu meiner Rechten wissen sich in Szene zu setzen. Nach gut 3 Stunden ist das Basislager des Cerro Torre (600 m) erreicht. Es trägt seit Neuestem den Namen Campamento de Agostini, zuvor hieß es Bridwell. Beide Herren haben sich bei der Erschließung des Massives als Pioniere einen Namen gemacht. Besonders zur Person des Pater Alberto Maria Agostini möchte ich später noch ein paar Anmerkungen machen.
Rasch baue ich mein Zelt auf, denn mir bleibt immer noch Zeit , auf die Moräne der Laguna Torre zu steigen. Der Anblick der zwischenzeitlich in voller Pracht sich emporreckenden Torre - Gruppe mit seinem unmittelbaren Nachbarn Cordon Adela, ist unbeschreiblich. Immer noch ziehen wilde Wolkenschwaden einher und öffnen und verdecken das Schauspiel, wie ein außer Kontrolle geratener Theatervorhang. Lediglich der Cerro Torre will seinen Gipfelbereich dem willigen Betrachter einfach nicht preisgeben. Seine extraordinär schlanke Form hat mich dennoch bereits voll für sich eingenommen. Mein tschechischer Freund hatte übrigens Pech am Fitzroy - Massiv, denn vom Cerro Torre bekam er gar nichts zu sehen, und am Fitzroy soll das Wetter auch mehr schlecht als recht gewesen sein. Ich gehe noch eine gute Stunde auf dem Moränenwall in Richtung Cerro Torre, bis zum Aussichtspunkt Campamento Maestri, bei dem es sich jediglich um einen Biwakplatz für Bergsteiger handelt. Früher konnte man bis fast unter den Turm des Cerro Torre vormarschieren, ein gewaltiger Erdrutsch hat dies inzwischen vereitelt. Zur jetzt bereits fortgeschrittenen Stunde könnte ich ohnehin nicht mehr viel weiter gehen, ich möchte schließlich nicht durch die Dunkelheit zurückkehren müssen. Trotzdem verharre ich noch eine gute Weile vor diesem einzigartigen Bergpanorama. Um diese Uhrzeit treibt sich hier fast niemand mehr herum, nur ein Pärchen klettert weiter unten noch durch die Felsen. Rings um die grünfarbene, mit Eiswürfeln bespickte Lagune erhebt sich ein Sammelsurium der Superlative. Von links angefangen reckt sich zunächst der bereits erwähnte Cerro Solo, der von der Kette des Cordon Adela durch den Paso Solo Grande abgetrennt ist. Letzterer setzt sich aus einem guten Dutzend Gipfeln zusammen, von denen der Cerro Adela (2938 m) der Höchste ist. Der Col de la Esperanza trennt den Cordon Adela wiederum von der Gruppe des Cerro Torre, die sich durch besonders kühn gestaltete Gipfel auszeichnet. Mich fröstelt, ich mache mich langsam auf den Rückweg, doch immer wieder drehe ich mich entzückt um, kann mich nur schwer lösen von den Eindrücken. Dann aber, mit einem Mal ziehen die Wolken von der Bergspitze weg und nun steht er vor mir, der weltberühmte, in seiner Erscheinung wirklich unvergleichliche Cerro Torre. Von zahlreichen bergverwöhnten und - erfahrenen Betrachtern wurde er bereits als der schönste Berg der Welt gefeiert, von den vielen, die ihn zu besteigen versucht haben und den wenigen, denen dieses Wahnsinnsunternehmen tatsächlich geglückt ist, erhielt er das Prädikat "der schwierigste Berg der Erde". Jetzt gibt er sich die Ehre, und als ob die Situation nicht schon dramatisch genug wäre, fliegt plötzlich der Kondor einher, gleitet direkt am Turm vorbei, ehe dieser abermals seine Spitze hinter düsteren Wolken versteckt. Nicht einmal zwei Minuten dauerte die Darbietung, doch gehört sie zu jenen Augenblicken, die man hinterher in Worten nur schwer übermitteln kann. "Nein, du kannst es dir nicht vorstellen!" so entgegnete mir der Franzose in Calafate, als ich zu seinen schwärmerischen Schilderungen eines Sonnenaufgangs im Fitzroy - Massiv ein höfliches "Das kann ich mir vorstellen!" angefügt habe. Er hat Recht, nicht nur in Bezug auf den Sonnenaufgang.
Kurz vor 8 Uhr morgens befinde ich mich abermals auf dem Weg zum Mirador Maestri, jetzt unter Prachtbedingungen. Die Morgensonne überstrahlt den Cerro Solo wie ein Scheinwerferlicht. Es gibt übrigens noch eine Möglichkeit, wie man immer noch zum Bergfuß des Cerro Torre gelangen kann, allerdings viel umständlicher und beschwerlicher, als über den alten Pfad. Wenige hundert Meter vom Campamento entfernt fließt der Rio Torres aus der Laguna hinaus. Kurz unterhalb dieser Stelle kann man mittels einer Drahtseilrolle (span.: Tirolesas) zum anderen Ufer queren. Diese Überquerung sollte aber nur mit Hüftgurt und Karabiner erfolgen. Ein Schild warnt ausdrücklich vor Mißbrauch mit dem Hinweis, daß hier vor Kurzem eine Frau beim Versuch einer unsachgemäßen Überquerung ihr Leben lassen mußte. Ist man auf der anderen Seite angekommen, so setzt sich der Weg am anderen Ufer der Laguna Torre, entlang des Cerro Solo - Bergfußes, fort. Will man dann wirklich zum Cerro Torre gelangen, so muß der spaltenreiche Glaciar Grande gequert werden. Jedenfalls verhält es sich derzeit wohl so, daß diese Tour nur von Wanderern in Begleitung eines Führers, der auch Steigeisen und Pickel für seine Kunden stellt, oder durch handfeste Profibergsteiger auf dem Weg zu den Einstiegen angegangen wird. Am Ausfluß aus der Lagune bietet sich übrigens eines der besten Fotomotive im Bereich des Campamentos. Bis weit in das Hochtal des Glaciar Torre kann man von dort aus hineinblicken. Die nördlichen Satelliten des Cerro Torre sind komplett einsehbar. Allesamt tragen sie die Bezeichnung "Aguja" (Nadel) vorab, welche sich auf die dramatischen Formen dieser Berge bezieht. Im Einzelnen sind dies: Egger (2850 m), Philippe Herron (2750 m), Standhardt (2730 m) und die Bifida (2394 m), aufgrund ihrer Form auch Perfil del Indio genannt. Da dieses Profil ein sehr karrikaturistisches Bild eines Indianergesichts mit hervorstehender Unterlippe und Hakennase wiedergibt, erscheint mir diese Bezeichnung etwas rassistisch, auch im Hinblick darauf, daß das Wort "Indio" in Lateinamerika despektierlich gebraucht wird. Hinter der Einsattelung Punta Phillipe setzt sich die Kette der Gipfel fort, wo sie in der abgerundeten Eiskuppe des Cerro Domo Blanco ihren Abschluß findet. Herausgreifen möchte ich hierbei nur noch einen Berg, und zwar aufgrund seines Namens: der Inti Pachamama (2122 m) trägt den Namen der "Mutter Erde". Dieses Wort kenne ich aus dem in Peru, Ecuador und Bolivien verbreiteten Cuetchua, der Sprache der einst so mächtigen Inka. Ob die patagonischen Tehuelche die selbe Bezeichnung für die Gottheit Mutter Erde verwenden und diesen Gipfel bereits in präkolumbianischer Zeit so benannt haben, oder ob die Namensgebung durch weitgereiste Bergsteiger erfolgte, konnte ich bislang noch nicht in Erfahrung bringen. Der sich in die Lagune hineingießende Glaciar Grande wird im Übrigen durch den kurvenhaft von der gleichnamigen Bergkette herunterfließenden Glaciar Adela, sowie vom riesigen Glaciar Torre gespeist.
Auf meiner Rückkehr ins Lager begegnet mir Nacho, mein spanischer Freund von der Herberge in Puerto Natales. Um 11.40 Uhr verlasse ich das Campamento Agostini. Ich gehe zunächst den Weg vom Vortag zurück. Was habe ich bloß für ein Glück, denn es herrschen bereits wieder optimale Wetterkonditionen, weshalb mir das Panorama des Cerro – Torres - Massivs noch lange erhalten bleibt, obwohl ich mich zur Betrachtung ständig umdrehen muß. Ich gelange schließlich zu einer Abzweigung, die ich bei meinem gestrigen Anmarsch zum Campamento Agostini sozusagen rechts liegengelassen habe. Hier führt ein Verbindungsweg, vorbei an drei Lagunen, hinüber ins Tal des Rio Blanco und somit vor die Kulisse des sagenhaften Fitzroy - Massivs. Dieser Weg war für lange Zeit gesperrt, da man sich dort eine dauerhafte Ansiedlung des seltenen Huemul (Andenhirsch) erhoffte. Ob diese Projekt erfolgreich war, weiß ich nicht, jedenfalls ist die "Senda Madre e Hija" (Mutter und Tochter - Pfad) wieder für Wanderer zugänglich, so daß man nach dem Besuch des Cerro Torre nicht wieder erst nach El Chalten zurückkehren muß, wie das früher üblich war, wenn man beabsichtigte, das Basislager des Fitzroy zu besuchen. Der Pfad führt bergauf in nördliche Richtung und gewährt mir zunächst eine fantastische Aussicht hinüber zum Torres - Massiv, wobei ich jetzt nur nach links zu schauen brauche. Bald jedoch verschwindet der Weg in einem lichten Wald, in dem mir der Reichtum an Vögeln auffällt, die hier wenig scheu sind und sich daher gut beobachten lassen. Angenehm ruhig geht es auf dem Mutter und Tochter - Weg zu, denn natürlich sind die Zugangswege zu den beiden Basislagern aufgrund ihrer weltberühmten Attraktionen und ihrer leichten Zugänglichkeit stark frequentiert. Viele Wanderer haben eine feste Unterkunft in El Chalten, von wo aus sowohl die Laguna Torre, als auch die Laguna de los Tres zu Füßen des Fitzroy ohne weiteres in Tageswanderungen erreichbar sind. Mit dem weiteren Aufstieg durch den von Totholz und Sümpfen geprägten Wald verschwindet schließlich die Aussicht. Mit dem Erreichen der zauberhaften Laguna Hija taucht ein neues, nicht weniger sensationelles Panorama im Westen auf: Das Massiv des Fitzroy mit seinen gleichfalls spektakulären Satelliten. Auch hier handelt es sich um riesige, mit außergewöhnlicher Eleganz geformte Granittürme. Schwer vorstellbar, daß der mit 3441 Metern alles dominierende Fitzroy vulkanischen Ursprungs ist, ja sogar unter der Erde entstand. Durch komplizierte geologische Vorgänge war in der Erde ein granitischer Magmaklotz entstanden, der schließlich durch Emporhebung bei der Gebirgsbildung, sowie durch Erosion und Gletscherschliff seine jetzige, so verblüffende Form erhielt. Er läßt sich ausschließlich über extrem schwierige Routen besteigen. Die bekannteste dürfte wohl die durch die sogenannte Supercanaleta (West- Nordwest - Couloir) sein. Bei einer Gesamtkletterlänge von 2400 Metern fallen 1300 Meter allein an die Durchsteigung der Canaleta. Die Bewertung der Tour liegt bei ED- (extreme difficile minus). Die Tehuelche nannten den Berg Chalten. Der Patagonienforscher Francisco "Perito" Moreno war es, der ihm den Namen Fitzroy verlieh. Robert Fitzroy war der Kapitän des Forschungsschiffes "Beagle", dessen berühmter Passagier niemand anders als der Naturwissenschaftler Charles Darwin war. Es darf davon ausgegangen werden, daß Darwin und Fitzroy wohl die beiden ersten Europäer waren, die diesen fantastischen Berg zu sehen bekamen.
Der angenehm ruhige Pfad führt mich zunächst zum Strand des Südendes der Laguna Hija. Wenn ich nach rechts hinten blicke, kann ich dort die winzige Laguna Nieta (nieta = Enkelin) erspähen. Der Pfad führt entlang des Ostufers der Laguna Hija und passiert schließlich, ebenfalls ostseitig, die noch größere Laguna Madre, wobei der Weg sich bereits wieder emporgezogen hat und weit oberhalb des Seeufers mit Traumblick hinüber zum Fitzroy - Massiv verläuft. Schließlich senkt sich der Weg wieder und führt voll in den Schlamassel mittels einer morastigen Wiese. Wer sich dort noch keine nassen Füße geholt hat, bekommt eine neue Chance beim Durchwaten des Chorrillo del Salto, einem aus der Laguna Madre herausfließenden Wildbach. Nun ist es nicht mehr weit bis zum Campamento Poincenot (750 m), das, wie die meisten Zeltlager in Südpatagonien, im windgeschützten Wald liegt, überragt vom atemberaubenden Fitzroy - Massiv. Endlich kann ich mich meines schweren Rucksacks entledigen, und, nachdem das Zelt steht und ein kleiner Imbiss genommen ist, gepäcklos den steilen und mühsamen Weg hinauf zur Laguna de los Tres angehen. Direkt unterhalb des Lagers fließt der Rio Blanco vorbei, der über eine Holzbrücke gequert wird, dann beginnt der Aufstieg. Nach wenigen Minuten erreicht man ein weiteres Campamento mit dem Namen "Rio Blanco", welches nur Bergsteigern vorbehalten ist. Es würde sich auch nicht lohnen, hier zu übernachten, denn das Massiv ist von diesem Lager aus nicht zu sehen. Ich steige etwa eine Stunde lang den steilen Moränenwall hinauf, unterwegs kommen mir Massen von Besuchern entgegen. Das Panorama an der Laguna de los Tres ist nur schwer zu beschreiben. Das besonders Faszinierende ist, daß man hier dem Massiv noch viel näher ist, als drüben am Cerro Torre. Die Tageswanderer aus El Chalten befinden sich bereits alle wieder auf dem Rückweg, und auch diejenigen, die im Poincenot nächtigen, sind größtenteils schon umgekehrt, weshalb sich nur noch wenige Personen im Bereich der Lagune aufhalten. Leider ist der Gipfel momentan durch Wolken verdeckt, aber ich habe ja noch etwas Zeit. Zuerst klettere ich den Moränenwall hinunter zum Seeufer. Ich begebe mich nach links, wo eine Felswand in die Tiefe stürzt. Da unten breitet sich die im Unterschied zur Laguna de los Tres, smaragdgrüne Laguna Sucia im engen Tal aus, Wasserfälle stürzen von den umliegenden Hängegletschern über glatte Felswände nach unten. Einen Moment lang überlege ich, ob ich es wagen soll, den gut gestuften, aber recht bröckeligen Fels zur Laguna Sucia hinunterzuklettern, da ich ja ohnehin vorhabe, anschließend noch diese Lagune zu besuchen. Ich lasse es dann aber doch bleiben. Ich komme an der Lagune mit einer Gruppe Argentinier ins Gespräch, und schließlich haben wir doch noch Glück, die wabbelnden, ständig sich in Bewegung befindlichen Nebelschwaden haben uns lange Hoffnung gemacht, und gewähren uns nun prompt eine Vollansicht des Fitzroy, wenngleich diese auch nur von kurzer Dauer ist. Ich bin´s zufrieden und wandere wieder abwärts, wobei ich abermals Nacho treffe. Kurz unterhalb des Campamento Rio Blanco schlage ich den unscheinbaren Pfad in Richtung Laguna Sucia ein, der flußaufwärts entlang des schäumenden Rio Blanco führt. Außer mir ist hier niemand mehr zugegen. Kurz vor Erreichen der Lagune versperrt ein Felsriegel den Weiterweg, und man muß zum anderen Ufer hinüberwaten. Die Strömung ist jedoch so stark, daß mir eine Querung zu gefährlich erscheint. Nichts zu machen, ich muß umkehren. Die tagsüber intensive Sonneneinstrahlung hat dem Gletscher einfach zu viel Wasser entlockt, sicherlich wäre eine Querung in den frühen Morgenstunden möglich und weitaus ungefährlicher. Trotzdem hat sich dieser Abstecher gelohnt und ich trete den einsamen Rückweg durch die Abenddämmerung ins Campamento Poincenot an. Dort hat Nacho sein Zelt in unmittelbarer Nachbarschaft zu mir aufgebaut. Auch er ist bereits wieder von der Laguna de los Tres zurückgekehrt und wir verbleiben noch etwas beim Bergsteigerlatein, während die Nacht über das Lager hereinbricht.
Um 9.40 Uhr breche ich auf, nachdem ich mich von Nacho verabschiedet habe. Wir werden uns von nun ab nicht mehr begegnen, denn er wird heute nach El Chalten zurückkehren und schließlich nach Buenos Aires weiterreisen. Ich jedoch werde heute das Territorium des Nationalparks verlassen, und in das Gebiet des Rio Electrico vordringen. Es ist bewölkt, die Aussicht zum Massiv ist dennoch akzeptabel. Zunächst folge ich in Nordrichtung dem erdrutschgeschädigten Ufer des Rio Blanco flußabwärts, wobei ich mir den kleinen Abstecher hinauf zur Laguna Piedras Blancas nicht entgehen lasse, wo ich nach einer guten Wanderstunde eintreffe. Hier fließt der eindrucksvolle Piedras - Blancas - Gletscher bläulich schimmernd in das gleichnamige Gletscherseelein hinein. Zunächst bin ich allein, später tauchen noch zwei weitere Personen zwischen den mächtigen Felsblöcken auf. Die Bergkulisse über dem spaltenzerrissenen Gletscher bilden die Aguja Val de Biois (2653 m) und die Aguja Mermoz (2732 m). Linkerhand ragt noch die Spitze des Fitzroy hervor. Rechts, hinter einem Vorgipfel, erhebt sich der Cerro Electrico (2257 m), einen mächtigen Gletscher auf seinem Ostrücken tragend. Dahinter dann der aus zwei auffälligen Gipfelzacken bestehende Cerro Electrico Nordeste (2183 m, 2155 m).
Das Tal des Rio Blanco öffnet sich bald in eine weite Ebene, in deren Hintergrund schneeweiß die Gipfel des Cordon del Bosque aufragen. Den Nationalpark habe ich durch Überklettern eines Zauns bereits hinter mir gelassen, ich befinde mich von nun an auf Privatgelände. Man muß sich zunächst ein Stück weit pfadlos im Pampagestrüpp zurechtfinden. In einem Busch finde ich schließlich ein Holzschild mit dem Hinweis "Camping Piedra del Fraile". Der Besitzer heißt Ricardo Arbilla, ihm gehört das ganze Gebiet im Tal des Rio Electrico. Bald schon stoße ich zum Rio Electrico, dem ich nun in sein von Westen in´s Massiv einschneidende Tal hineinfolge. Ich gehe an einer eindrucksvollen Felswand vorbei, die wohl jeden guten Kletterer heiß machen würde. Ich kann allerdings keine Bohrhaken erkennen, vermutlich läßt der Estanciabesitzer das Anbringen Selbiger nicht zu. Durch schönen Buchenwald folge ich weiterhin dem Flußlauf, bis ich schließlich das direkt unterhalb des bewaldeten Hügels der Piedra del Fraile gelegene Campamento "Los Troncos" erreiche. Die Gesamtgehzeit vom Poincenot bis hierher ist offiziell mit 5 bis 6 Stunden angegeben. Seit der Lagune waren mir nur zwei weitere Wanderer, sowie ein Führer (vermutlich Richardo Arbilla selbst) mit mehreren Touristen auf Reitausflug begegnet.
"Piedra del Fraile" bedeutet übrigens "Stein des Mönchs", wobei wir wieder bei unserem ehrwürdigen Salesianerpater Agostini angelangt wären. Der Priester Agostini hatte sich bereits in Europa einen Namen als Bergsteiger und Landschaftsfotograf gemacht. Als Missionar wurde er ab 1912 in Feuerland und in Patagonien tätig, wobei seine mit großem Eifer betriebenen geographischen Forschungen seitens der Kirche glücklicherweise keine Einschränkungen fanden. So tätigte der Pater zahlreiche Erstbesteigungen, Inlandseiserforschungen, karthographische Gebietserfassungen und ethnographische Studien. Im Jahre 1931 entdeckte er das Tal des Rio Electrico, wohin er im patagonischen Sommer 1935/36 in Begleitung zweier weiterer Bersteiger zurückkehrte und dort verschiedene Erstbegehungen für sich verbuchen konnte, sowie umfangreiche geographische Benennungen vornahm. Man begegnet auf einer patagonischen Bergreise allenthalben dem Lebenswerk dieses umtriebigen Kirchenmannes, auch oben in Nordpatagonien, im Gebiet von Bariloche und dem Volcan Lanin, stößt man auf seine Spur. Sein größter alpinistischer Erfolg war wohl die im Jahre 1943 erfolgte Erstbesteigung des Cerro San Lorenzo, dem mit 3706 Metern höchsten Berg Südpatagoniens. Zu dem Zeitpunkt hatte der gute Pater immerhin schon 60 Jahre auf dem Buckel.
"Los Troncos" schmiegt sich direkt an den Westabhang der Piedra del Fraile und wird nördlich von den Gestaden des Rio Electrico begrenzt. Südlich fließt ein kleines Bächlein um den Zaun des Zeltplatzes herum. Es existieren ein paar schöne Feuerstellen, sowie mehrere überdachte, mit Tischen und Bänken ausgestattete Unterstände, unter denen man kochen und es sich gemütlich machen kann, auch wenn das patagonische Wetter wieder einmal Windböen und Regenfontänen durch´s Tal schickt. Gegen eine kleine Gebühr kann man zelten und eine warme Dusche genießen. Im Haupthaus lebt die Familie Arbilla, ein Schild weist kurz vor Ankunft darauf hin, daß es Pflicht sei, sich dort registrieren zu lassen. Dies gilt auch für Tagesausflügler, die ebenfalls einen kleinen Obolus zu entrichten haben. Man sollte dieser Aufforderung unbedingt nachkommen, ich habe Eingangs schon erwähnt, daß in Patagonien offensichtlich ein inniges Verhältnis der Besitzer zu ihren Grundstücken besteht. Es steht der Familie Arbilla theoretisch frei, den Zugang für das gesamte Gebiet zu untersagen.
Bis ich das Zelt aufgebaut und in aller Ruhe gegessen habe, ist es etwa halb Fünf. Anbetrachts der langen patagonischen Sommertage steht demnach einem kleinen Ausflug nichts im Wege. Ich werde dem Rio Electrico folgen, um dann das Hochtal des Rio Pollones zu erkunden. Pollones ist übrigens ein kleines Dorf in Norditalien, und der Geburtsort von Pater Agostini. Das Wetter hat sich noch etwas verschlechtert. Zu einem scharfen Wind, der durch das ausgesetzte Tal jagt, gesellt sich feiner Nieselregen. Vor mir öffnet sich eine fast schon unheimlich wirkende Szenerie: die den Talabschluß bildende Kette des Cordon Marconi liegt unter düsteren, schwarzen Wolken, von denen sich schaurige Nebelfetzen lösen, um den gigantischen Glaciar Marconi herunterzukriechen. Hinter dieser Bergkette beginnt übrigens das Inlandeis, weshalb die Piedra del Fraile ein traditioneller Ausgangspunkt für Expeditionen dorthin ist. Der Rio Electrico bildet an der Piedra del Fraile ein weites Trogtal, Pferde weiden auf den ausgedehnten Sumpfwiesen. Ich folge dem Pfad am Flußufer entlang, bis ich an einen Felsriegel gelange. Hier weitet sich der Flußlauf und bildet den Lago Electrico aus. In einfacher Kletterei arbeite ich mich durch die Felsen nach oben. Ich muß allerdings vorsichtig sein, denn durch den anhaltenden Nieselregen sind die Felsen bereits unangenehm glitschig geworden. Ich erspähe vor mir zwei Bergsteiger, die es mir gleichtun, und sich ebenfalls ihren Weg durch den Felsrücken suchen. Die anregende Kletterei hoch über dem See, und die betörende Landschaft entfachen in mir euphorische Gefühlswallungen. Das Tal wird beidseitig durch eindrucksvolle Granit - und Schieferberge begrenzt, die am Lago Electrico bis an beide Ufer heranrücken. Während die Bergsteiger auf der anderen Seite herabsteigen, bleibe ich in der Flanke des Pollones - Tals, welchem ich nun aufwärts folge. In völliger Einsamkeit genieße ich den Anstieg neben dem schäumenden Rio Pollones, welcher mich geradewegs zu einer in hochalpiner Kulisse sich befindlichen kleinen Lagune führt.
Nachdem ich ausgiebig die Einsamkeit an der Lagune auf mich einwirken lassen habe, mache ich mich auf den Rückweg. Der Rio Pollones bildet bei der Einmündung in den Lago Electrico ein kleines Delta aus mehreren Bacharmen. Ich erkenne die beiden Bergsteiger, die auf dem Hinweg vor mir gestiegen waren, und ganz offensichtlich bereitet ihnen das Durchwaten der Bacharme Schwierigkeiten. Ich denke an mein Erlebnis vom Vortag, als ich zur Laguna Sucia gelangen wollte. Was von hier oben betrachtet so harmlos aussieht, entpuppt sich bei Annäherung schnell mal als gefährlich tobender Wildbach, dessen Überquerung mit absoluter Vorsicht zu genießen ist. Die Sicht auf den Cordon Marconi ist jetzt etwas besser, der sich nun häufiger öffnende Nebelschleier genehmigt kurze Blicke auf Firngipfel und Ausschnitte des Inlandeises. Das Gebiet westlich des Lago Electrico bis hin zum Glaciar Marconi ist in meiner Karte als "Terreno muy peligroso" (sehr gefährliches Terrain) klassifiziert, weshalb ich, trotz Verlockung, auf eine Exkursion dorthin verzichte. Auf dem Rückweg stoße ich auf einen Pfad, der hinter dem Felsrücken, über den ich zuvor geklettert war, herumführt, so daß mir ein unangenehmes Abklettern durch regennassen Fels erspart bleibt. Kurz bevor ich "Los Troncos" erreiche, hole ich mir an der letzten Watstelle noch nasse Füße, nachdem ich durch einen Sprung den nächsten Stein zwar erreiche, dann allerdings das Gleichgewicht verliere, und nach hinten in den Bach zurückstolpere.
Heute morgen ist es milder, als ich das bislang gewohnt war. Um 7.55 Uhr breche ich, mit nur leichtem Tagesgepäck ausgestattet, auf. Ziel soll der 1772 m hohe Paso del Cuadrado sein, was in diesen Gefielden bereits einer kleinen Hochtour gleichkommt. Die Piedra del Fraile befindet sich auf 530 Metern, so dass mich auch ein sportlicher Anstieg erwartet. Zunächst folge ich den Steinmännchen von der Piedra del Fraile aus, bis ein steiler Bergpfad zwischen den beiden herrlichen Wasserfällen, welche vom Zeltplatz aus bereits ins Auge fallen, aufwärts führt und schon bald nach Erreichen einer gewissen Höhe mich das gesamte Tal des Rio Electrico mit dem gleichnamigen See, den das Tal abgrenzenden Bergen, und den weit hinten sich erhebenden Cordon del Bosque, sowie sattgrünen Wäldern und lieblich aus der Pampaebene hervorschimmernden Seen und sich durchschlängelnden Flußläufen überblicken läßt. Es bleibt weiterhin steil in felsigem Gelände, bis ich in Gletschernähe auf einen Biwakfelsen stoße, bei dem sich gerade ein Bergsteiger die Zähne putzt. Sein Kamerad hatte sein Nachtlager etwas unterhalb in etwa 200 Meter Entfernung, wo sich ein weiteres Felsbiwak befindet. Ob sie heute ihr Gipfelziel erreichen, hängt eigentlich fast nur vom Wetter ab. Hier im Fitzroy - Gebiet sei man es gewohnt, sich immer wieder schnellstens bei Wetterumschwung abseilen zu müssen, um dann am nächsten Morgen einen erneuten Versuch zu starten. Besonders optimistisch hört sich die Aussage des Argentiniers jedenfalls nicht an!
Zwischenzeitlich muß ich feststellen, daß mein Aufstiegsweg zum Schluß hin noch über Gletscher führen wird. In meinem Buch wird davon nichts erwähnt. Sicher ist es in den meisten Fällen kein Problem, diesen Gletscher zu queren, ja man wird sich vielleicht nicht einmal gewahr, daß man sich auf einem solchen befindet. Dieser Sommer war und ist jedoch eine Jahrhundertausnahme in Patagonien, so daß es sich nun so darstellt, daß der untere Teil des Gletschers bereits aper hervorlugt. Mein französischer Freund war diese Tour vor kurzem noch gegangen, und hatte mich jediglich darauf hingewiesen, daß in frostigen Morgenstunden eventuell Steigeisen vonnöten wären. Er und seine Kameraden hätten allerdings gut gespurt. Die Spur ist noch sichtbar, jedoch durch Regen und Sonneneinstrahlung bereits in Mitleidenschaft gezogen. Kurz und Gut, die Firndecke hat jedenfalls an Dicke und Stabilität stark nachgelassen.
Ich klettere durch Blockwerk hinunter zur blauschimmernden Wasserlache, wo die Eisströme zusammentreffen. Ich übersteige den Ausfluß des Wildbaches, um schließlich über einen vom Gletscher abgeschliffenen Felsrücken aufwärts zu klettern. Der Granit ist zwar rundgeschliffen, bietet aber dennoch gute Griffe. Allerdings muß ich Sorgfalt walten lassen aufgrund der zahlreichen kleinen Wasserrinnen, die den Fels gefährlich rutschig machen. Schließlich schwinge ich mich auf das Firnfeld, welches durch die Wärme leicht angetaut und somit problemlos begehbar ist. Wäre es gefroren, so wäre aufgrund des Steigungswinkels die Benutzung von Steigeisen unerläßlich. Kurz vor Erreichen der Scharte wird mir allerdings mulmig: neben mir, längs zur Aufstiegsrichtung, klafft bereits eine lange, leicht geöffnete Spalte. Noch nervenaufreibender wird´s nur wenige Meter unterhalb des Ziels, wo eine querverlaufende Spalte mir den Weg versperren will. Angeseilt mit einer Gruppe würde ich hier nicht zögern, und das Hindernis mit einem kleinen Sprung oder einem weit ausladenden Schritt überwinden. Jetzt aber bin ich völlig allein, die beiden Bergsteiger dürften zwischenzeitlich mit ihrem eigenen Aufbruch beschäftigt sein, ansonsten ist niemand mehr auszumachen. Einen Spaltensturz halte ich immer noch für sehr unwahrscheinlich, er wäre aber fatal und absolut tödlich. Ich nähere mich, auf dem Bauch kriechend, der Spaltenöffnung, um die Dicke des Firns festzustellen. Mit einem raschen Schritt überwinde ich das gefährliche Hindernis und klettere die wenigen Meter hinauf in die felsige Scharte des Paso del Cuadrado. Sein Name rührt übrigens von dem sich zu meiner Linken befindlichen riesigen, quadratisch geformten Felsblock, der das Ziel schon von Weitem erkennen läßt.
Der Paso del Cuadrado dient ambitionierten Bergsteigern als Übergang zur Fitzroy - Westwand und bietet begeisterten Wanderern eine entzückende Ansicht seiner Nordwand. Mir ist diese aufgrund der Bewölkung nicht vergönnt, dafür erhebt sich vor mir, gleichwohl imposant, Spitze und Ostwand der Aguja Pollone (2313 m). Ich befinde mich inmitten eines hochalpinen Terrains, welches man, im Vergleich zu den Alpen, dort erst ab 3000 Metern aufwärts vorfindet. Es ist weniger der garstige Wind, als vielmehr das Bangen wegen der abermals zu passierenden Spalte, die mich zu einer baldigen Rückkehr drängt. Nachdem ich die große Spalte problemlos überwunden habe, sinke ich weiter unten mit dem rechten Fuß in eine Minispalte ein. Eigentlich harmlos, aber der Schock sitzt tief, denn wer weiß, ob sich vielleicht doch noch etwas Größeres unter dem offenbar doch schon labilen Firnfeld verbirgt. Als ich mich wieder auf Fels befinde, spüre ich eine ungemeine Erleichterung. Im Abstieg treffe ich auf einen Einzelwanderer und ein Pärchen. Sie alle kennen den Paso del Cuadrado nicht und wollen von mir wissen, wo ich herkomme und wie weit man aufsteigen kann. Ich empfehle ihnen, auf alle Fälle wegen des Panoramas bis zu den Biwakfelsen weiterzugehen und weise sie darauf hin, daß der Gang bis hinauf in die Scharte nicht mehr als sicher einzustufen ist.
Bevor ich ins Lager absteige, lege ich nochmals eine kleine Aussichtspause ein. Der Cerro Electrico Oeste (1882 m) präsentiert sich als scharfe Nadelspitze, gegenüber ragt leicht schräg, wie ein abgespreizter Daumen, der Cerro Electrico (2257 m) in die Luft, bei dem auffälligen Gipfel mit der gebogenen Nase könnte es sich um die Aguja Guillaumet (2579 m) handeln. Eine allerletzte Rast lege ich unter einem Biwakfelsen ein, um von dort aus nochmals windgeschützt das prächtige Tal einsehen zu können. Unter mir wird der Rio Electrico durch eine Sandbank in zwei Arme geteilt, wobei die Bank wiederum von kleinen Nebenarmen durchzogen ist. Als ich an der Piedra del Fraile eintreffe, ist es 13.25 Uhr, um 13.50 Uhr starte ich erneut zur Rückkehr ins Lager Poincenot. Der Weg wird mir aber gleich hinter dem Zeltplatz abgeschnitten, da Pfad und Brücke überflutet sind. Ich kehre ein Stück zurück, springe über den Bach und quere weglos das Estanciagelände. Ich habe die Rechnung ohne den Sohn der Besitzer gemacht, der nun lauthals zu schreien beginnt. Ich winke ihm freundlich zu, er schreit noch lauter. Kurz darauf ertönt eine Frauenstimme, das Gebrülle des Kleinen hat die Mutter auf den Plan gerufen. Ich kehre zurück und kläre die Sache. Sie hatten mich für einen Eindringling gehalten, der sich die Gebühr sparen will. Ich hätte allerdings auch nicht versäumen sollen, mich zu verabschieden. Jedenfalls hat die Frau wieder zu ihrer alten Freundlichkeit zurückgefunden und weist mir den Weiterweg, aber es ist eine Warnung und ein Beispiel dafür, wie ernst der Status des Grundbesitzes in Patagonien genommen werden sollte. Die Rückkehr erfolgt über den Hinweg, wobei Teile des Waldes im Bereich des Rio Electrico durch einen über die Ufer getretenen Bach überschwemmt sind, weshalb unvorhergesehene Durchwatungen nötig sind. Anschließend geht es, wie gehabt, recht unbequem durch die von Steinen und Blockfeldern gespickten Gestade des Rio Blanco - unter Auslassung der Gletscherlagune. Die erdrutschträchtigen Uferböschungen würde ich bei länger anhaltendem, starkem Regen besser meiden. Gegen 18.00 Uhr treffe ich erschöpft, aber zufrieden in Poincenot ein.
Um 8.35 Uhr bin ich anderntags abmarschbereit. Heute ist Rückkehrtag, und zum Abschluß scheint wieder die Sonne. Die ungetrübte Aussicht zum Fitzroy - Massiv bleibt mir quasi ständig erhalten, allerdings habe ich das Panorama meist im Rücken. Um 9.45 Uhr treffe ich an der Laguna Capri (780 m) ein, an der um diese Zeit noch tiefster Frieden herrscht. Das wundert mich ein wenig, sicher sind die Tagesgäste aus El Chalten noch nicht eingetroffen, aber wenige Gehminuten von der Lagune entfernt befindet sich ein weiteres Campamento, doch dort scheint wohl Ausschlafen angesagt zu sein. Nach einer ausgiebigen Pause am Seeufer setze ich meinen Weg fort, der nun zunehmends stärker frequentiert ist. Drei Reiter, zwei Männer und eine Frau, kommen mir entgegen. "Daß wir dich nochmal treffen!" ruft mir die Frau entgegen. Richtig, ich erinnere mich: die Deutsche und ihr australischer Begleiter waren mir tatsächlich schon mal begegnet, und zwar am zweiten Tag der Paine - Tour in Chile. Zwischen dem Zeltplatz der Hosteria Torres und dem Estanciagebäude war ich gerade dabei, den Einstiegspfad zum Circuito ausfindig zu machen, als die Beiden mir entgegenkamen. Da mein Weg heute durch schattenlose Pampalandschaft führt, macht sich die Wärme unangenehm bemerkbar. Ich bin froh, bergab gehen zu können, während mir von El Chalten her verschwitzte Gestalten entgegenkeuchen. Im Ort angekommen, begebe ich mich sogleich zum Restaurant "Pangui", um dort die Rückfahrt nach El Calafate zu bestätigen. Normalerweise muß man einen Tag warten, ich habe aber Glück, denn es ist möglich, heute noch zurückzukehren. Da der Bus erst um 18.00 Uhr fährt, beschließe ich, mein Zelt am Ortsausgang aufzubauen, wo sich neben dem Gebäude der Guardaparques ein gebührenfreier Zeltplatz befindet. Duschen ist im Ort möglich. So ziehe ich, mit Handtuch und Waschbeutel bewaffnet, durch die staubigen Dorfgassen, wo für zwei Pesos eine öffentliche Dusche beansprucht werden kann. Als ich zum Zelt zurückkehren will, läuft mir doch glatt Rainer über den Weg, in Begleitung eines Franzosen. Wir verschwinden gleich ins nächstbeste Restaurant, wo wir bei einer ausgiebigen Mahlzeit unsere Erlebnisse austauschen. Was mir bei meiner Ankunft aufgrund des schlechten Wetters verborgen blieb, offeriert sich mir dafür heute, denn vom Ort aus ist die komplette Ansicht der Massive von Fitzroy und Cerro Torre möglich.
Bereits auf der Anfahrt von El Calafate nach El Chalten wurde mein Rucksack so staubig, wie nie zuvor auf seiner langen Reisekarriere. Diesmal soll es uns aber auch von Innen her zustauben. Rainer hatte mich gewarnt, denn er war schließlich mit dem selben Bus hier angekommen, mit dem ich zurückkehren soll. Bereits nach kurzer Fahrt ist die Fahrgastkabine voller Staub, manche Reisenden beginnen sich zu beklagen. Vom Verdeck fällt eine Eisenstange herunter und der Fahrer (übrigens der Selbe, wie auf der Hinfahrt) verdingt sich wieder einmal als Notdienst - Mechaniker. Mein Sitznachbar heißt Juan, er kommt aus Buenos Aires und gibt sich sehr gesprächig, was nicht nur meinem Spanisch zugute kommt. Wir legen eine Pause ein, und zwar auf der selben Estancia wie zuvor auf der Anreise. Über der Pampaweite herrscht gerade glutrote Sonnenuntergangsstimmung. Traumhaft, wie der Nachspann eines Westernfilms, fehlt nur noch der lonesome Cowboy, der langsam in den Horizont hineinreitet. Der indes hat sich im Gastraum an einen kleinen Ecktisch verkrümelt, eine Filterlose klebt in seinem Mundwinkel, an seinem breitkrempigen, ballonförmigen Hut baumelt eine Lederschnur, um denselben bei Bedarf ins Genick zurückzustoßen. Der alte Gaucho mit seinem zerfurchten, ledergegerbten Gesicht und dem gleichgültig- gelangweilten Blick aus tiefschwarzen Augen sieht anscheinend keinen Anlaß, seine Kopfbedeckung im Raum abzunehmen, ist ja schließlich kein Kirchgang! Dieser in die Jahre gekommene argentinische Cowboy würde mit seinem Portrait den perfekten Umschlagtitel für einen Patagonien – Reiseführer aus der Dumont - Reihe abgeben.
Es ist fast 12 Uhr Nachts, als wir Calafate erreichen. Mit im Bus saßen die Deutsche und der Australier. Wir begeben uns gemeinsam auf Quartiersuche, was sich diesmal nicht so leicht bewerkstelligen läßt, wie bei meiner ersten Ankunft, denn Calafate scheint bereits „bumsvoll“ zu sein. Ich komme im letzten Bett des "Lago Argentino" unter, meine beiden Begleiter werden per Auto abgeholt und etwas abgelegen Richtung Ortsrand verbracht. Auch Miguel vom "Buenos Aires" ist anwesend, um noch gestrandete Gäste seiner ebenfalls überfüllten Herberge weiterzuvermitteln, denn die Herbergsbesitzer helfen sich untereinander aus in der Verbringung der Gäste. Leider kann das "Lago Argentino" nicht mit der gleichen Qualität aufwarten, wie das "Buenos Aires", die abgeteilten, superengen Schlafräume gleichen einer Legebatterie.
Frühmorgens, nach schlechtem Schlaf, begebe ich mich zurück zum Busbahnhof, um mich nach einer Möglichkeit zu erkundigen, heute noch den berühmten Gletscher "Perito Moreno" zu besuchen. Um 8 Uhr könne ich mitfahren, wird mir beschieden. Verdammt, das reicht nicht einmal mehr zum Frühstück, denn um diese Zeit ist in ganz Calafate noch nichts zu bekommen. Ich beschließe, dies bei einem Zwischenstopp unterwegs nachzuholen, da kommt auch schon der Bus. Als ich drin sitze, fällt mir ein, ich habe nicht einmal eine Jacke dabei. Somit könnte sich der Aufenthalt am Gletscher, zumindest in den Morgenstunden, recht unangenehm gestalten.
Aufgrund von Bauarbeiten entlang der Hauptstrecke nimmt unser Bus auf der Hinfahrt einen Umweg, was uns allerdings zugute kommt, denn die Strecke führt über eine abgelegene Piste, die mit landschaftlichen Eindrücken nicht geizt. An einer aussichtsreichen Stelle hoch über dem Lago Argentino halten wir zu einer kleinen Fotopause. Unser Bus wird durch einen Reiseführer begleitet, der es nicht ausläßt, unser Interesse auf den ornithologischen Aspekt der von uns durchreisten Natur zu lenken. Es lassen sich sehr gut die zahlreich vertretenen Raubvögel, wie der Carancho oder der Adler, sowie Nandus beobachten, die sich hier wegen des geringfügigen Verkehrs wohlfühlen. Die in den patagonischen Pampas gleichfalls sehr häufig anzutreffenden Kaninchen seien indes eine Landplage. Einst brachte ein italienischer Diplomat ein Kaninchenpaar mit hierher, welches eines Tages Reißaus nahm. Von diesem einen Pärchen entstammt die gesamte Überpopulation dieser Tiere. Auch in geschichtlicher Hinsicht ist einiges zu erfahren, beispielsweise passieren wir die Estancia "Anita" - übrigens ein beeindruckendl schönes Anwesen - die im Zusammenhang von Massenerschießungen aufständischer Landarbeiter um das Jahr 1920 in die schwarzen Seiten der Geschichte des Landes eingegangen ist. Drei Großfamilien teilten sich damals ganz Patagonien, so erfahren wir, und die Estancia "Anita" mit ihren zugehörigen Latifundien riesenhaften Ausmaßes ist immer noch in der Hand einer gewissen Familie Brown, die damals bereits zu den drei Großen gehörten. Wer in Patagonien Lebensmittel einkaufen geht, was ja praktisch jeder, der hier Trekkingtouren unternimmt, irgendwann mal machen wird, der ist wohl schon mehr als einmal auf einen der großen Supermärkte mit dem Namen "Anonima" gestoßen. Diese größte südargentinische Marktkette gehört zum Brown - Imperium. Was im Übrigen die Besitzverhältnisse in Patagonien anbelangt, ist anzufügen, daß es zwischenzeitlich doch mehr als drei Familien sind, die sich hier die Besitztümer teilen, die Schere arm - reich klafft aber immer noch weit auseinander. Weiterhin gibt es wenige reiche bis sehr reiche Großgrundbesitzer und bis zum heutigen Tag verdingen sich ein Heer unterbezahlter Tagelöhner auf deren Farmen.
Wir passieren mit unserem Gefährt die Nationalparkgrenze. Es handelt sich abermals um den Parque Nacional Los Glaciares, in den auch, in dessen äußeren nordwestlichen Ecke, das Fitzroy- und Cerro Torre - Massiv eingebunden sind. Jetzt ist allerdings eine Eintrittsgebühr zu entrichten, die sich aufgrund der wenig umweltschonenden Einfahrt per Bus meiner Meinung nach durchaus rechtfertigt. Der Perito - Moreno - Gletscher gehört zu den ganz großen Attraktionen einer Argentinienreise und ist gleichzusetzen mit dem Besuch der Iguazu - Wasserfälle. Dementsprechend muß natürlich mit einer hohen Anzahl von Tagesbesuchern gerechnet werden. Wir sind noch recht früh dran, treffen mit dem ersten Dutzend Ausflugsbussen am Parkplatz oberhalb des Gletschers ein. Dieser kann über drei Stockwerke hinweg besichtigt werden, wobei die verschiedenen Aussichtsetagen durch mit Geländern versehene Holztreppen- und wege verbunden sind. Ein Schild warnt schwach konditionierte Personen vor einem allzu tiefen Abstieg, "Bedenken Sie den Rückweg" ist dort zu lesen. Mit dem Vergessen meiner Jacke habe ich mir tatsächlich keinen Gefallen getan, so daß ich mich nach kurzer Stipvisite zunächst in den windgeschützten Raum des Imbißstandes zurückziehe. Bald jedoch gewinnt die Kraft der Sonnenstrahlen Oberhand, und bei einer erneuten Exkursion kann ich nun das Schauspiel dieses gewaltigen Eisriesen genauer inspizieren und jetzt auch richtig auskosten. Unser Aufenthalt am Gletscher ist, gemäß der exzellenten Erhabenheit dieses Naturphänomens, recht lange beschieden, so daß eine ausgiebige Betrachtung dieses Naturwunders möglich wird. Mit dem Ansteigen der Temperaturen beginnt der Gletscher immer häufiger zu kalben. Kalben nennt man den Vorgang, bei dem unterschiedlich große Eisstücke, Platten oder gar ganze Wände sich von der Gesamteismasse lösen und mit lautem Getöse in den See hineinstürzen. Der Glaciar Perito Moreno ist, wie auch der Glaciar Grey oder der Dickson - Gletscher, ein Auslaßgletscher des südpatagonischen Inlandeises, und zwar einer der größten. Eine Besonderheit unterscheidet ihn allerdings von fast allen anderen Gletschern Patagoniens und auch der Welt: wie bei uns in den Alpen befinden sich auch die patagonischen Gletscher auf dem Rückzug, nicht jedoch der Perito - Moreno - Gletscher, der sich immer noch, aus bislang ungeklärten Gründen, ständig im Wachstum befindet. Sein 23 Kilometer langer und 4 Kilometer breiter Arm schiebt sich durch den Lago Argentino hindurch, und zwar auf dessen Südwestseite, wo der ansonsten große, bauchförmige Hauptsee mehrere lange, schlanke Nebenarme bildet. Die Halbinsel Magallanes, auf der sich auch der Aussichtsbalkon zum Gletscher befindet, fügt sich mit ihrer rundlichen Form zwischen den Canal de los Tempanos (Kanal der Eisberge) und den Brazo Rico. Der Gletscher bildet nun durch seine fortwährende Ausdehnung eine Art Staudamm, wodurch der Brazo Rico vom Rest des Sees abgeschnitten wird. Infolgedessen beginnt sich das Wasser hinter der Eismauer zu stauen, was dem Brazo Rico einen bis zu 20 Meter höheren Wasserstand, im Vergleich zum Rest des Sees beschert. Der Wasserdruck auf die Eismauer ist natürlich enorm, das heißt, irgendwann gibt das Eis nach und bricht. Diese "Gran Ruptura" hat vor 16 Jahren das letzte Mal stattgefunden, im Durchschnitt vergingen sonst immer in etwa 6 bis 7 Jahre. Zwei Tage nach meiner Rückkehr nach Deutschland soll ich in den abendlichen Nachrichten Augenzeuge dieser "Gran Ruptura" werden, ich habe dieses sensationelle Spektakel also nur um ein Haar verpasst. Um den gewaltigen Unterschied zu Europa nochmals zu verdeutlichen, sei angeführt, daß sich der Lago Argentino auf nur 187 Metern Meereshöhe befindet, sprich ein Gletscher von solch gewaltigem Ausmaß wie der Perito Moreno befindet sich nur unerheblich über dem Meeresspiegel. Bis 60 Meter überhalb der Wasserfläche erhebt sich die lotrechte, gewaltige Eiswand des Gletschers über dem Seespiegel, wobei diese Wand nicht etwa homogen, sondern in bizarre, bei Sonneneinstrahlung bläulich schimmernde Spitzen und Keile zersägt und zerfranst ist. Immer wieder stürzen jetzt Eisbrocken in den See, aus dem dann meterhohe Fontänen emporspritzen, wenn das Eis durch die Wasseroberfläche platscht. Auch im Inneren des von Kerben und Spalten völlig zerfurchten Gletschers rumort und knarrt es ständig. Der gigantische Gletscherfluß hat die topographische Form eines riesigen , umgepflügten Ackers. Im Bus wurde uns noch ein Bootsausflug angedreht, wobei ich diesem Angebot zunächst skeptisch gegenüberstand. Gott sei Dank habe ich dann doch noch das Geld für die Extrakosten hervorgekramt, denn ich muß im Nachhinein einräumen, daß der Bootsausflug direkt vor die Eiswand der eigentlichen Höhepunkt des Tages werden sollte.
Die Bootsanlegestelle befindet sich am Ufer des Brazo Rico, der im Übrigen gen Süden einen weiteren Nebenarm wegschickt, den sogenannten Brazo Sur. Wir nähern uns somit der nach Süden gerichteten Rückseite des Gletschers, von den Aussichtsbalkonen aus ermöglicht sich jediglich der Blick auf die Gletschernordseite. Die Sicht aus nächster Nähe auf diese gewaltigen Eiswände ist atemberaubend. Das Schiff nähert sich, so gut es geht, ein gewisser Sicherheitsabstand ist dabei natürlich unabdingbar. Nicht auszudenken, wenn eine dieser gewaltigen Eisplatten auf das Ausflugsboot niederkrachen würde, das neben der riesigen Gletscherwand nur noch einem kleinen Spielzeugbötlein gleicht. Das Boot dreht sich ganz langsam um die eigene Achse und fährt praktisch die gesamte Front der Gletscherwand ab, so daß unvergessliche Eindrücke und sensationelle Fotos in Hülle und Fülle möglich sind. Am äußeren Rand des Gletschers kann ich eine Gruppe von Personen ausmachen, die offensichtlich an einer geführten Gletscherexkursion teilnehmen. Sie scheinen wie verlorene Zwerge in der überdimensionalen Eiswüste. Gegen halb Sechs sind wir schließlich wieder in El Calafate. Ich will nochmals betonen, der Besuch dieses Gletschers ist ein absolutes Muß für jeden Südpatagonien - Besucher. Wer darüber hinaus daran interessiert ist, einem der größten Gletscher der Welt einen Besuch abzustatten, der buche den, allerdings etwas kostspieligeren, Tagesausflug zum Upsala - Gletscher. Dieser fließt in einen Ausläufer des mächtigen Brazo Norte des Lago Argentino. Er weist eine Gesamtlänge von 60 Kilometern, sowie eine Breite zwischen 9 und 12 Kilometern auf und bereits die Anfahrt durch die Fjordarme des nordwestlichen Lago Argentino soll sich bezahlt machen. Bei dieser Exkursion werden auch weitere Gletscherfronten, wie die des Glaciar Spegazzini besucht, die allesamt, vom patagonischen Inlandeis herunterkommend, in einen der zahlreichen, vom Hauptsee aus sich wie Krakenarme dem Andenmassiv entgegenreckenden Nebenkanäle des Sees hineinfließen. Einen weiteren interessanter Fakt über das Inlandeis generell will ich nicht verheimlichen. Die riesigen Eismassen des Inlandeises werden für die Zukunft als potentielle Trinkwasserreserven angesehen. In vielleicht 40 oder 50 Jahren wird das Trinkwasser aufgrund des zu befürchtenden Mangels voraussichtlich den Stellenwert des Erdöls einnehmen. Dies ist der wahre Grund für die immer wieder auch mit Waffen ausgetragenen Grenzkonflikte zwischen Chile und Argentinien um den Grenzverlauf im patagonischen Inlandeis.
Heute beginnt mein großer Sprung von Süd- hinauf nach Nordpatagonien. Das komplette Ticket habe ich mir bereits gestern im Busbahnhof von El Calafate ausstellen lassen. Zunächst muß ich nach Rio Gallegos zurückkehren, von wo aus ich mit dem Nachtbus nach Comodoro Rivadavia reisen werde. Dort wird mir dann ein 14 - stündiger Aufenthalt beschert sein. Anschließend soll es weitergehen, abermals per Nachtbus, bis zu meinem Ziel San Carlos de Bariloche. In Rio Gallegos bleiben mir noch einige Stunden bis zur Weiterfahrt, weshalb ich mich nochmals ins Stadtgebiet begebe. Der offenbar ewig windige Malecon, gleichfalls wie die Plaza San Martin, wirken diesmal wie ausgestorben. Bei meinem letzten Aufenthalt war Wochenende, und es waren Schulferien. Jetzt scheint es vorbei zu sein mit dem Leben hier. Zu meiner Enttäuschung bleibt heute auch das "18 oras" geschlossen, ich muß zum Essen nach einer anderen Alternative Ausschau halten. Zurück am Busbahnhof fällt mir ein älterer Mann auf. Er ist blind und auf Almosen angewiesen, trägt aber einen guten Anzug mit Krawatte. Die Leute von den Ticketschaltern und vom Imbiß kennen ihn, man läßt ihm dort offensichtlich immer wieder mal was zukommen. Im Zusammenhang mit der argentinischen Wirtschaftskrise hatte ich im deutschen Fernsehen einmal eine Dokumentation gesehen, wo ein älterer Herr in ähnlichem Aufzug interviewt wurde. Er war nach eigenem Bekunden früher mittelständisch und recht wohlhabend und mit der hereinbrechenden Krise über Nacht verarmt. Auf die Frage nach seinem schicken Anzug ließ er verstehen, daß dieser noch eines der letzten ihm verbliebenen Relikte seiner Würde sei.
Nach Comodoro Rivadavia reise ich mit der Linie "Don Otto". Die meist Nachts verkehrenden Überlandbusse sind in Argentinien und auch in Chile absolut Spitze und in nichts mit den Bussen auf den Nebenstrecken zu vergleichen. Sie lassen in puncto Service und Ausstattung auch deutsche Busunternehmen alt aussehen. Stewardess, Bordessen, Videokino mit Kopfhörern und Musikauswahl, und bei den teuersten sogar voll ausklappbare Liegesitze gestalten die langen Fahrten angenehm .Zwar werde ich unterwegs nicht von hübschen Stewardessen umgarnt, und der Sitzplatz ist nur als "semi - cama" (Halbbett) ausgewiesen, dafür ist die Fahrt aber auch preislich günstiger. Um 7 Uhr fährt der Bus bereits wieder bei Tageslicht am Meer entlang und kurz darauf treffen wir in der Hafenstadt Comodoro Rivadavia ein. Wenn man nichts erwartet, wird man meist positiv überrascht, und so wirkt die Stadt auf den ersten Blick gar nicht so unattraktiv, ja mit ihrer Lage zwischen dem offenen Atlantik und den gelbgrauen, sandigen Hügeln, die einem glauben lassen, man befände sich am Rande einer Wüste, kommt beinahe schon Badestimmung auf. Es sollen indes auch ein paar Badestrände in Stadtnähe verfügbar sein. Die meisten Hochhausfassaden entsprechen mitteleuropäischem Standard, teilweise sogar von einfallsreicher Architektur und praktisch nirgends abbröckelnder Putz oder herabbaumelnde Elektroleitungen, wie man das sonst so oft auf einer Lateinamerikareise erlebt. Spaziert man den ausgedehnten Malecon hinab, so stolpert man praktisch alle paar Meter über einen die Faust in den Himmel reckenden Kriegshelden, Gedenkplatten für die tapferen Gefallenen und Monumente mit der klaren Bekenntnis, daß die Malvinas eben argentinisch seien. Die Stadtgründung beruht auf den selben Absichten, wie bei Rio Gallegos: man wollte einen Verschiffungshafen für die auf dem Land gewonnenen Güter, sprich Schafswolle, Fleisch o. ä., schaffen. Bei der Suche nach Trinkwasser gab es dann eine Überraschung, denn die hervorsprudelnde Flüssigkeit war nicht etwa klares Mineralwasser, sondern pechschwarzes Erdöl. Dem „schwarzen Gold“ ist es dann zu verdanken, weshalb Comodoro nicht etwa ein winziges Nest geblieben ist, sondern zu einer der größten patagonischen Städte mit heute knapp 100.000 Einwohnern expandierte. Zwar reich an Erdöl und Prostituierten, bleibt sie dennoch arm an Sehenswürdigkeiten und fügt sich somit in die gleiche monotone Eintönigkeit und Langeweile typisch patagonischer Städte. Von den Prostituierten ist übrigens während des Tageslichts nichts zu sehen. Ich falle von einer Cafeteria in die nächste, treibe mich wieder am Malecon herum, stöbere in den in großer Zahl vorhandenen Geschäften, drücke mich mit meinem Buch auf den schattigen Bänken der vielen Plazas, die das Stadtbild angenehm auflockern, und bin schließlich gottfroh, als es langsam Zeit wird, mein Gepäck wieder von der Abgabe zurückzuholen und sich zum Busbahnsteig für den Nachtbus nach San Carlos de Bariloche zu begeben. Ein Tag Aufenthalt in Comodoro ist jedenfalls mehr als genug.
Nach langer Nachtfahrt passieren wir um 7.30 Uhr die Stadt Esquel, um 10 Uhr den Wintersportort La Hoya. Es offeriert sich mir hier ein völlig anderes Patagonien, als jenes, das ich über Nacht praktisch zurückgelassen habe. Die ausgedehnten, trostlosen Pampaweiten waren praktisch im Schlaf vorübergezogen und nun finde ich mich abermals am Fuße der Andenkette, allerdings wohl gut 1500 Kilometer weiter im Norden. Diese Region wird allgemein als das Seengebiet bezeichnet, welches sich sowohl auf argentinischer, als auch auf chilenischer Seite erstreckt. Aufgrund des angenehm gemäßigten Klimas, den in großer Zahl vorhandenen Seen, würzigen Wäldern und traumhaften Bergen war und ist diese Region bevorzugtes Ziel mitteleuropäischer Einwanderer. Nicht zuletzt eine gewisse Ähnlichkeit mit der alten Heimat hat besonders viele Deutsche dazu bewogen, sich hier, und zwar vorzugsweise auf der chilenischen Seite, niederzulassen. Der Einfluß ist auch allenthalben zu spüren. Wunderschön zeigt sich mir die Landschaft durch´s Busfenster, tiefgrüner Mischwald mit einem hohen Anteil an Nadelhölzern, schroffe Felsen, dunkelblau leuchtende Seen, zahlreiche Ferienhäuschen und Bauernhöfe, verschneite Gipfel triumphieren im Hintergrund, ich bin vollends entzückt. Die Ortschaft Lago Puelo befindet sich am Rande des gleichnamigen Sees mit dem sich auf 240 Quadratkilometern ausdehnenden Nationalpark, übrigens dem kleinsten in Argentinien. Vom Lago Puelo aus ließe sich übrigens in einer satten Woche eine abenteuerliche Trekkingtour hinüber nach Chile und weiter bis nach Puelo an der Pazifikküste realisieren. Wir treffen in El Bolson ein, einer Kleinstadt, in nördlicher Richtung etwas abseits vom See gelegen. Dieser Ort war in den 70-ern Aussteigerparadies und Hippiekolonie. Diesen Eindruck erweckt das Städtchen heute gar nicht mehr. Blitzsauber und gepflegt entspricht es eher dem Flair eines gediegenen Kur - und Erholungsortes inmitten herrlicher Berglandschaft.
Drei Kilometer lege ich zu Fuß vom Busbahnhof in Bariloche bis zum in Zentrumsnähe gelegenen "Andino Patagonico" zurück. Dieses Haus ist eine preislich günstige Herberge, mit zum Teil bergkundigem Personal, welches man mir im "Lago Argentino" in El Calafate empfohlen hatte. Das Zimmer teile ich mit einem Schotten, einer Schweizerin und drei Argentiniern. San Carlos de Bariloche ist das touristische Zentrum des Seengebietes, ein Ort, von dem man sagt, daß wohl jeder Argentinier wenigstens einmal im Leben dort gewesen sein möchte. Die Bergstadt zeichnet sich durch eine prächtige Lage direkt am Ufer des Lago Nahuel Huapi aus und verfügt, besonders entlang des Seeufers, über exklusive Villen, Hotels und Ferienhäuser, deren Architekturen augenscheinlich europäische Züge tragen. Doch nicht alle Bewohner sind reich in Bariloche. Vor der Einfahrt ins eigentliche Stadtgebiet sind viele ärmliche Behausungen am Busfenster vorübergezogen. Im Zentrum stößt man auf eine den mittelalterlichen Stadtkernen historischer mittel- und nordeuropäischer Städte nachempfundenen Zitadelle. Ein Torbogen führt auf einen Platz, der sich genauso gut irgendwo in Böhmen, der Schweiz oder Deutschland befinden könnte. Die gesamte Anlage, einschließlich des Torbogens und des Uhrturms, ist aus unverputzten, grauen Steinquadern errichtet. Hier befinden sich unter anderem das Rathaus und die Polizeistation. Etwas weiter entfernt stößt man auf eine Kirche im anglikanisch - britischen Stil. Neben den vielen touristischen Unterkünften, Restaurants und Trekkingagenturen dürften wohl die Schokoladenläden das Gros der örtlichen Handels- und Dienstleistungsbranche abdecken. Die Stadt ist bekannt für ihre Schokolade, die in verschiedensten Varianten von der einfachen Tafel bis hin zu phantasievoll geformten Pralinés angeboten wird und für uns Europäer preisgünstig zu erwerben ist. Die Qualität ist recht gut, erreicht aber meist nicht die deutscher oder gar schweizer Produkte. Käse- Fleisch- und Schokoladenfondues, Wildbret und Forelle werden von der hiesigen Gastronomie häufig neben den gängigen Speisen angeboten. Bariloche und seine Umgebung werden übrigens gerne als die Schweiz Argentiniens bezeichnet. Meiner Ansicht nach zutreffender ist, daß es sich wohl um jene Region in Südamerika handelt, die am ehesten mit der Schweiz verglichen werden kann.
Es ist verdammt heiß heute. Nach einer flüchtigen Stadtinspektion und der Mittagseinkehr in einem Restaurant mache ich mir´s an einem schattigen Tischchen im Straßencafé gemütlich. Durchatmen, der große Sprung hinauf ins Seengebiet ist geschafft! Abends, beim abermaligen Bummeln durch´s Zentrum fallen mir die vielen hübschen Frauen auf, die durch die Restaurant- und Einkaufszeilen flanieren. Nirgendwo auf meiner Patagonienreise konnte ich mehr Schönheiten bewundern, als hier. Bei immer noch 22 Grad abends um 10 jede Menge Chicas Guapas, leicht bekleidet in Miniröcken, braungebrannte, nackte Haut, zum wahnsinnig werden, wenn man erst vor Kurzem den deutschen Winter verlassen hat!
Die Weiterreise wurde, wie gehabt, bereits am Vortag geregelt, und so befinde ich mich denn gegen 9 Uhr morgens in einem mit Wanderern vollbesetzten Kleinbus in Richtung Pampa Linda. Mit von der Partie ist Petra, die Schweizerin aus der Herberge. Die landschaftlich äußerst interessante Anfahrt nimmt, inklusive einer Pause an einem Campingplatz im Nationalpark, gute zweieinhalb Stunden in Anspruch, zu einem guten Teil über Schlaglochpiste, bereits auf dem Territorium des Nationalparks "Nahuel Huapí". Im Gebäude des Guardaparque sind zunächst ein paar Formalitäten zu erfüllen, bevor wir uns endgültig dem Fußmarsch widmen. Eine Besteigung liegt mir im Sinn, nämlich die des Monte Tronador. Dieser dreigipfelige Riese ist der höchste und bedeutendste Berg im südlichen Seengebiet. Der höchste, der sogenannte internationale Gipfel bringt es auf 3554 Meter, daneben gibt es noch einen chilenischen und den einfachsten und niedrigsten, den argentinischen Gipfel mit 3136 Metern. Nach eben diesem trachte ich aufgrund seiner relativ leichten Besteigbarkeit. Hierzu erhalte ich beim Guardaparque eine Eiskletter - Permit, die kostenlos ist, nachdem ein Formular ausgefüllt wurde mit den persönlichen Daten, voraussichtlicher Aufenthaltsdauer, sowie Fragen zur Ausrüstung und persönlichen Konstitution.
Es kann losgehen, direkt vor uns ragt er auf, der dreihäuptige Tronador (dt.: "Donnerer"). Seine in der Sonne glitzernden Schnee- und Eisflanken machen mächtig Eindruck. Ohne Zweifel ist der Tronador ein würdiges und respektables Bergziel, selbst wenn man "nur" den argentinischen Gipfel macht. Ich und Petra schätzen uns zunächst glücklich, im waldigen Schatten aufsteigen zu dürfen, wo riesenhafte Bäume von dichtem Bambus unterwachsen sind, denn die Hitze setzt heute ganz schön zu. Leider ist der Pfad durch den Wald stark erosionsgeschädigt, und noch größere Schäden durch Erdrutsche sind leider absehbar, da es sich um einen reinen Erdpfad handelt, der weder durch Felsen noch durch künstliche Hilfsmittel, wie z.B. Holzstufen befestigt ist. Aufgrund der Hitze und des Regenmangels der letzten Zeit wird man auf dem Weg zum Staubfresser, insbesondere dann, wenn eine weitere Person oder gar ein Packpferd vor einem gehen. Am Parkeingang erhielten wir eine Broschüre, die über das Hanta - Fieber informiert. Diese äußerst gefährliche Krankheit war Ende der 90er Jahre in der Gegend von El Bolson ausgebrochen und hatte zahlreiche Opfer gefordert. Der Virus wird durch den Kot infizierter Nagetiere übertragen, und zwar über die Atemwege. Gefahrenherde sind z.B. schlecht belüftete und unhygienische Räume. Als wir so durch die Staubwolken des ausgetrockneten Pfades marschieren, mache ich mir doch ein paar Gedanken, denn ausgetrockneter und zerstäubter Mäusekot könnte auch hier aufwirbeln und in die Lungen gelangen.
Als wir schließlich über die Baumgrenze gelangen, haben wir glücklicherweise schon ein paar Höhenmeter zurückgelegt, so daß es aufgrund der gewonnenen Höhe nicht mehr gar so heiß ist. Jetzt zeigt der Monte Tronador sein wahres Gesicht: hellbraunes bis schwarzes, scharfkantiges Vulkangestein, null Vegetation wie in einer Mondlandschaft, der Monte Tronador ist also ein ehemaliger Vulkan! Die unterhalb eines Gletschers steil herabbrechende Felswand mit ihren gischtenden Wasserfällen imponiert mächtig. Und dann noch etwas, was mir richtiggehend einen Schauer über den Rücken jagt: direkt über uns kreisen sage und schreibe sieben Kondore, manchmal segeln sie so dicht über unsere Köpfe hinweg, daß wir ihnen in die Augen blicken können. Immer schon war es mein Traum, dem König der Anden einmal zu begegnen. Am Cerro Torre hatte ich ja bereits das Vergnügen, jener Kondor schwebte allerdings sehr weit oben und in beträchtlicher Entfernung. Aber hier sind uns diese mächtigen Vögel fast zum Greifen nah, und dann noch gleich sieben miteinander! Sie kreisen mehr oder weniger über der Schlucht zu unserer rechten Seite, die für uns erst kurz vor Erreichen der Berghütte einsehbar wird. Sie trägt den bezeichnenden Namen "Filo de los Cóndores". Nach gut fünf Stunden Wegezeit ist schließlich auf knapp 2000 Metern das Refugio "Otto Meiling" erreicht. Da die Hütte bereits recht voll ist, und ich den Leuten, die ohne Zelt unterwegs sind, den Vortritt lassen möchte, beschließe ich, in Hüttennähe zu campieren, wo sich bereits eine kleine Zeltstadt mit etwa einem Dutzend weiteren Zelten etabliert hat. Gegen eine geringe Gebühr werden mir Küchenbenutzung sowie der Aufenthalt in der Hütte gestattet. Eine böse Überraschung erlebe ich, als ich mich nach der Möglichkeit erkundige, das nötig Equipment zur morgigen Besteigung zu leihen. Steigeisen und Eispickel werden angeblich nur an die Kunden der beiden Bergführer verliehen. Ich rede auf den Hüttenwirt, der auch gleichzeitig einer der beiden Bergführer ist, ein. Ich bin vom Club Andino in Bariloche, dem ich ja auch tatsächlich einen Besuch abgestattet hatte, falsch informiert worden, was die Verleihpraktiken auf der Hütte anbelangt. Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich mir entsprechende Ausrüstung bereits aus Bariloche mitgebracht, stöhne ich. Außerdem werde ich nicht müde, auf meine reiche Bergerfahrung zu verweisen. Der Hüttenwirt gibt schließlich nach. Er schlägt mir vor, ich solle mit dem anderen Bergführer verhandeln, der momentan noch mit einigen Gästen am Berg ist. Er betont allerdings, daß das hier eine Ausnahme sei. Als der Bergführer gegen Abend zurückkehrt, werde ich mit ihm schnell handelseinig. Walter, so sein Name, ist sehr zuvorkommend, gibt mir Tips für den morgigen Aufstieg, und beantwortet bereitwillig alle meine Fragen bezüglich Spaltengefahr, Routenverlauf, Wetterprognose usw. Auch mit Jean - Francois aus Kanada komme ich anregend ins Gespräch, er war uns bereits während des Hüttenaufstiegs begegnet. Ich habe mein Zelt in unmittelbarer Nähe von drei weiteren Zelten aufgestellt. Diese gehören einer Gruppe Chilenen, die am Spätnachmittag erfolgreich vom Gipfel zurückkehren, und von denen ich gleichfalls brauchbare Informationen erhalte. Auch ein amerikanisches Filmteam ist am Werk, sie haben in unserer unmittelbaren Nähe ein Lagerfeuer entfacht und drehen während des traumhaften Sonnenuntergangs eine Filmszene. Nachdem ich noch schnell die Steigeisen angepasst habe, lege ich mich beruhigt schlafen. Walter hatte mir zwar gesagt, daß es durchaus ausreichend wäre, zwischen Sechs und Sieben Uhr morgens aufzubrechen, dennoch bin ich exakt um 3.55 Uhr in der Frühe abmarschbereit.
Ausgerechnet heute fühle ich mich ziemlich unwohl. Mich plagen leichte Magenkrämpfe, offenbar war das Wasser an der Hütte nicht einwandfrei. Hier oben gibt es nur Gletscherwasser, welches bekannterweise in Bezug auf enthaltene Spurenelemente sowieso von minderwertiger Qualität für den Verbraucher ist. Das Wasser der Hütte ist dasselbe, welches in Bächen von den Gletschern herunterfließt, so daß ich gestern meine Wasserflasche am Hahn vor der Hütte aufgefüllt hatte. Ich hätte jedoch bedenken sollen, daß sich in Wasserleitungen Bakterien festsetzen können. Der einsame Aufbruch im kargen Schein der Stirnlampe über die Weiten des Gletschers hat etwas Beklemmendes. Immer wieder drehe ich mich um, in der Hoffnung, hinter mir vielleicht doch noch ein weiteres Lampenlicht zu entdecken, doch ich blicke zurück in die schwarze Nacht, es scheint, daß ich heute wohl der einzige Gipfelaspirant bin. Selbst die beiden arroganten Amerikaner, die gestern in der Hütte auf unerträgliche Art mit ihren Heldentaten und Fähigkeiten protzten, wären mir jetzt noch lieb. Trotzdem lasse ich mich nicht verdrießen, und setze meinen Weg durch die Dunkelheit fort. Der Aufstieg ist als recht sicher einzustufen, ich brauche jediglich der im Firn gut ausgetretenen Spur zu folgen, und die völlig offenen, auch in der Dunkelheit sehr gut auszumachenden, teils enormen Spalten im Auge zu behalten. Die Route zieht links am Vorgipfel vorbei, und geht dann unterhalb der imposanten Eisflanke eines zusammengebrochenen Gletscherschrundes, die mich zunächst etwas schreckt, da ich sie in der Dunkelheit für einen Hängegletscher halte, etwas abwärts. Mit diesem kleinen Abstieg verschwindet der Rückblick zur Hütte, doch bevor ich hinuntergehe, schaue ich mich nochmals um, und siehe da, ich sehe in der Ferne zwei schwache Lichtlein flackern, vermutlich sind es die beiden großmäuligen Amis, aber ich bin erleichtert. Psyche ist beim Bergsteigen eben alles, und jetzt erst setzt mit der glutrot aufgehenden Sonne jene Euphorie ein, die mir den nötigen Schuß Adrenalin verpaßt, um mein Tempo zu beschleunigen. Die Route ist fantastisch! Hinter mir liegen die Berge von Bariloche noch im Schatten der Nacht, während der Himmel am Horizont an Farbe gewinnt, wobei sich rot mit grün und blau nuanciert. Ich befinde mich inmitten einer gebieterischen Eiswelt, riesige Spalten klaffen, deren Wände sind teilweise schon an den Seiten wieder weggebrochen, wohnhaushohe Seracs türmen sich in der Umgebung auf, und langsam wird diese arktisch anmutende Wildnis von der Sonne wie durch eine Taschenlampe angeschienen. Über eine gut vier Meter breite Spalte führt eine sehr schmale, aber tragfähige Eisbrücke, die von ängstlichen Personen wohl eine gewisse moralische Überwindung abverlangen könnte, für geübte Tourengeher jedoch Routine ist. Walter hatte mich bereits vorab auf diese Stelle hingewiesen.
Nach einem längeren, wenig steilen Wegstück über den Gletscher zieht die Route nochmals kräftig empor, bis in einen Sattel. Ich habe jetzt zwei Gipfel vor mir: einen kleineren zu meiner Rechten und einen höheren und auch pompöseren direkt vor mir. Ich zweifle. Sollte der Hauptgipfel vielleicht noch gar nicht sichtbar und somit der große Gipfel direkt vor mir die Cumbre Argentina sein? Zum kleinen Gipfel führt eine gut ausgetretene Spur bis direkt unter den Fels. Aber auch nach links gehen Spuren von Steigeisen ab. Diesen folge ich, bis ich zur Randkluft gelange. Diese könnte über eine äußerst labile Eisbrücke, bzw. kletternd über steile Geröllflanken, an denen jedoch bereits gefährlich vereinzelte Steine hinunterpurzeln, überwunden werden. Ich komme ins Grübeln, von derartigen Gefahren war unten in der Otto - Meiling - Hütte nie die Rede. Sollte letztendlich doch dieser kleinere, in dem ich einen Vorgipfel vermutete, der Ostgipfel sein? Im Osten liegt er jedenfalls. Ich mache kehrt, diese Randkluft - Geschichte will ich keinesfalls riskieren. Ich gehe zurück in den Sattel, wo ich der Spur durch den steilen Firn bis unter den felsigen Gipfelaufbau folge. Eine kurze, aber senkrechte Eisflanke wäre nach meinem Urteil die einfachste Lösung, eine weitere Einstiegsstelle führt direkt in den Fels, alles andere ist ohnehin undiskutabel. Die Felsbeschaffenheit ist miserabel, total brüchig. Selbst wenn ich hinaufkäme - der komplette Routenverlauf ist zudem nicht einsehbar - muß ich schließlich berücksichtigen, daß ich das Ganze anschließend wieder abklettern muß. Die Chilenen hatten es mir bereits gesagt, und auch Walter, der Bergführer, hatte orakelt, daß ich auf das letzte Stück zum Gipfel ohnehin verzichten müßte. Ich hatte das für übertrieben gehalten, bzw. mich von meinen Gesprächspartnern unterschätzt gefühlt. Jetzt stehe ich da, suche und suche, zerbreche mir den Kopf, will es einfach noch nicht wahr haben, aber nichts zu machen: etwa 30 bis 40 Meter unterhalb des Gipfels muß ich mich geschlagen geben.
Unter mir sehe ich die beiden Amerikaner sich nähern. Ich steige wieder hinab in den Sattel und beschließe, erst einmal zu vespern, und zu warten , was die beiden Profis auf die Reihe kriegen. Als "Professionals" jedenfalls hatten sie sich unten in der Hütte geoutet, besonders die Frau hatte furchtbar aufgetrumpft, und ich wurde sofort mißtrauisch. Ein Profibergsteiger würde, sollte er sich überhaupt noch am Monte Tronador vergreifen, mindestens den internationalen Gipfel angehen. Diesen erreicht man jedoch nicht über die Meiling - Hütte, sondern über eine Route, die zu einem halbverfallenen Refugio führt, welches sich westlich der Meiling befindet, und von dort aus weiterhin über einen komplett anderen Aufstiegsweg geht. Ich bemerke sofort überspielte Unsicherheit bei den beiden. Jaja, das sehe etwas schwierig aus da oben, man wolle es sich mal ansehen. Die beiden sind mit einer Ausrüstung unterwegs, mit der sie glatt die Aconcagua - Südwand durchsteigen könnten! Seil, Eisschrauben, Klemmkeile und Trallala, also, wo ist das Problem? Nicht einmal in der Hälfte des Firnaufstiegs drehen sie um. Der starke Wind, so erklären sie. Ja, sicher, den habe ich auch bemerkt, doch der war bestimmt nicht der Grund für meinen Gipfelverzicht. Da fegen der guten Dame mal ein paar kräftige Böen durch´s Drei - Wetter - Taft - Haar, und schon ist es aus mit dem Gipfel, das darf doch wohl nicht wahr sein! Sie haben alles dabei, was man benötigt, um hier hoch zu kommen und verzichten. Der Mann setzt noch einen drauf mit der Bemerkung, es sei wohl so üblich, daß man nur bis hierher gehen würde. Schöner Bergsteiger, der noch nicht einmal begriffen hat, daß der Gipfel immer der höchste Punkt ist, und solange ich den nicht erreicht habe, habe ich den Berg nicht bestiegen. Ich laß´ die beiden ziehen, unter dem Vorwand, noch eine Pause zu machen. Vom Sattel, in dem ich mich befinde, ist die Cumbre Chilena, die Dritte im Bunde und zweithöchste des Gipfeltriumvirats, zu sehen. Er befindet sich, wie der Name schon sagt, vollkommen auf chilenischem Gebiet, und ist, wie auch der internationale Hauptgipfel, wesentlich schwerer zu erreichen, als die Cumbre Argentina. Beim Abstieg bewundere ich abermals die bizarren Eis- und Firnschöpfungen um mich herum, und erfreue mich am prächtigen Ausblick auf die Berge um Bariloche, die von hier aus wie Winzlinge erscheinen, obwohl die meisten von ihnen 2000 Meter und mehr aufweisen. Hier in Nordpatagonien sind solche Berge nicht mehr vergletschert, und es sind nur wenige, bescheidene Altschneefelder auf dem einen oder anderen Bergrücken erkennbar. Zahlreiche Seen sind ebenfalls auszumachen, die sich zwischen grüne Täler schmiegen, und aus weiter Ferne grüßen schneebedeckte Massive. Noch lange vor Erreichen der Hütte ziehen bereits wieder meine Freunde, die Kondore, ihre Kreise durch den strahlend blauen Himmel.
Unten im Meiling werde ich darüber aufgeklärt, daß es normalerweise so praktiziert wird, daß der Bergführer mittels Eishämmern (!) die kurze, steile Eisflanke hinaufklettert, und anschließend seine Kunden sichert. Der Fortgang durch Fels erfolgt gleichfalls gesichert am Seil. Der Hüttenwirt jedenfalls gratuliert mir zu meinem Teilerfolg, und fügt noch in Bezug auf meinen Verzicht hinzu: "Du hast die richtige Entscheidung getroffen!" Auch mit den Chilenen komme ich nochmals ins Gespräch. Sie steigen ab, während ich zunächst eine kleine Siesta in der wärmenden Sonne mache. Ich benötige diese Ruhepause, denn für mich ist der Tag noch nicht zu Ende: auch ich gedenke noch hinunterzusteigen, um hernach den Anstieg auf den Paso de las Nubes anzugehen. Eigentlich ist es Wahnsinn, heute noch eine solche Tour zu beginnen, doch ich stehe inzwischen unter Zeitdruck: immer noch spukt die Idee der Besteigung des Cerro del Plata im Aconcaguagebiet im Kopf herum. Der Abstieg zieht sich hin, und ich gehe langsam an meine Grenzen, zumal ich mich noch den ganzen Tag über mit Magenkrämpfen hatte herumschlagen müssen, und auch auf dem Gletscher die eine oder andere braune Spur auf meinem Weg nach oben hinterlassen mußte. Zu meinem Unglück schlage ich unten den falschen Pfad ein, so daß ich nicht etwa in Richtung zur Paßhöhe gehe, sondern gut anderthalb Stunden einem sich ständig auf´s Neue auffächernden Fahrweg folge. Irgendwann sehe ich´s ein, daß dieser Weg unmöglich stimmen kann, und tue das, was ich eigentlich sofort hätte tun sollen, nämlich für die kommende Nacht zur Pampa Linda zurückkehren. Der Grund, warum ich zunächst die Pampa Linda mied, war der zusätzliche Weg, der mir dabei entstehen sollte. Die Abzweigung zum Paso de las Nubes liegt etwa 45 Wanderminunten von der Pampa Linda entfernt, und die gleiche Strecke müsste ich ja nochmals am folgenden Morgen wieder zurückgehen. Im Endeffekt bin ich jetzt aber mehr erschöpft, als wenn ich mich gleich für die Pampa Linda entschlossen hätte, ja die Anstrengungen der vergangenen nahezu drei Stunden waren sogar vollends für die Katz´. Als ich schließlich gegen 19.00 Uhr an der Pampa Linda eintreffe, bin ich völlig am Ende. Linkerhand befindet sich ein Campingplatz für Wohnmobile, rechts einer nur für Zelte. Ich nehme den rechten, der gebührenfrei zu sein scheint. Ich bin der Einzige auf dem ganzen Zeltplatz. Ein Gewitter naht, und noch während ich mein Zelt aufbaue, zucken bereits wilde Blitze über den schneeweißen Gipfelkuppen des Monte Tronador. Bevor die ersten Regentropfen auf´s Zeltdach platschen, stecke ich jedoch bereits in meinem Schlafsack, mein Abendmahl wie ein Römer im Liegen einnehmend.
Nach einer gut durchschlafenen Nacht werde ich durch eine ländlichen Klangkulisse geweckt: das Krähen eines Hahns, das Bellen von Hunden, und der Ruf eines Vieh- oder Pferdetreibers hallen durch die Morgenluft. Überhaupt ist die Pampa Linda ein herrlich idyllischer Platz, wenn die vielen Tagesbesucher erst einmal abgewandert sind. Mein Zelt befindet sich in unmittelbarer Nähe eines Baches, auf dessen Auen auch Wasservögel umherstolzieren. Mein Wiederaufbruch erfolgt um 8.15 Uhr, und ich wundere mich selbst ein wenig über meinen gut erholten Zustand, nachdem ich gestern abend wirklich fix und alle war. Gleich zu Anfang gesellt sich ein Hund zu mir, ein schöner Labrador, der auch beim Erreichen der Abzweigung, die ich diesmal auf Anhieb und gut beschildert vorfinde, keine Anstalten macht, mir von der Seite zu weichen. Ich sauge den aromatischen Geruch nasser Erde in mich auf. Dem nächtlichen Gewitterguß war eine hartnäckige Schlechtwetterfront gefolgt, so daß es für unabsehbare Zeit wohl regnerisch und merklich kühler bleiben wird. Der Pfad zum Paso de las Nubes bietet einen abwechslungsreichen Kontrast zum gestern Erlebten. Man kann ihn als richtigen Dschungelpfad bezeichnen, denn hauptsächlich bewege ich mich durch hochstämmigen, wilden Urwald, der von dichtem Bambus, hohen Farnen und anderen Grünpflanzen durchwuchert ist. Immer wieder müssen hierbei umgestürzte Bäume überklettert, Erdrutschpassagen überwunden, sowie unangenehm tiefe Sümpfe durchwatet werden. Meine Klamotten werden platschnaß durch das Streifen am nassen Gebüsch. Eine gute Gelegenheit, die verdreckte Wanderhose wieder mal ein bißchen sauber zu kriegen, denke ich frohgemut.
Hinter einer größeren Sumpfpassage zieht schließlich der Pfad in Kehren aufwärts. Kurz unterhalb des Passes befindet sich im Wald die einzige Zeltmöglichkeit seit Pampa Linda. Wäre ich gestern noch bis hierher gegangen, so wäre ich zum Einen garantiert in die Dunkelheit geraten, und zum Anderen hätte ich mich dabei vollends kaputtgelaufen. Heute aber konnte ich diese Tour genießen, mich an einem spannenden Weg durch eine üppige Landschaft erfreuen, zudem in tiefer Einsamkeit, denn bis jetzt ist mir noch keine weitere Menschenseele begegnet. Die Paßhöhe zeigt sich ziemlich langgezogen und ist von Wiesen durchsetzt. Bei guten Verhältnissen bietet sich von hier aus ein sensationeller Ausblick auf den Ventisquiero Frias, der auf der anderen Seite des Passes sprichwörtlich in den grünen Urwald hineinfließt. Heute jedoch macht der Paso de las Nubes seinem Namen alle Ehre, denn er liegt unter tiefen Wolken. Die Szenerie ist von einer faszinierenden Unheimlichkeit. Nebelschwaden ziehen über nasse Wiesen und durch hohe Baumwipfel, ein kleiner Wasserfall rauscht den Hang herunter, und urplötzlich erscheint mir ein Gespenst hinter dem fliehenden Nebelvorhang. Wie angewurzelt steht eine hochwüchsige Gestalt unbeweglich mitten in der Landschaft. Beim Annähern erkenne ich, daß es sich tatsächlich um eine lebende Person handelt. Der Belgier hat die Nacht auf dem anderen Campingplatz der Pampa Linda zugebracht, weshalb ich ihm dort nicht begegnet bin. Er bleibt zurück, ihm Stehen essend, während ich meinen Weg über nach unten ziehende Serpentinen fortsetze. Urplötzlich wird die Sicht hinunter ins Tal frei und ich bin beeindruckt: ein tiefgrünes Urwaldtal, durch das ein silberfarbener Flußlauf mäandriert. Das Tal wird links und rechts von mit den selben dichten, grünen Wäldern überzogenen Bergrücken begrenzt, ein Bild wie aus einem Tarzanfilm. Doch es soll noch besser kommen, denn wenige Schritte später erblicke ich eine enorme Felswand, über die der Ventisquero Frias als Hängegletscher herunterlappt, wobei die oberen Eismassen von den Wolken verschluckt bleiben. Die senkrechte, aalglatte Wand wird von gut zwei Dutzend Wasserfällen überspült. Als ich den Talboden erreiche, stoße ich auf ein kleines Schild mit dem Hinweis "Campamento Paso de las Nubes". In meinem Buch wird dieses Campamento nicht erwähnt, es muß offensichtlich neu sein. Ich durchwate eine kleine Bachfurt und schon stehe ich vor einem großen Hauszelt inmitten des Waldes. Ich nähere mich, wage einen Blick durch den halbgeöffneten Eingang, und die zwei anwesenden Frauen bitten mich sofort hinein. Drinnen ist es mollig warm, die beiden Frauen, übrigens Mutter und Tochter, verfügen über einen Gasofen, den sie zum Ausharren bei einer solchen Witterung auch dringend benötigen. Ja, dieses Campamento existiere erst seit zwei Jahren und befände sich quasi noch im Aufbau. Es seien aber bereits eine Dusche und chemische Toiletten, die sich etwas abseits hinter schlichten Vorhängen befinden, installiert. Verantwortlich für die Idee und Realisation dieses Camps sei der Vorsitzende des Club Andino in Bariloche, wobei dem Projekt anzumerken ist, daß dem Initiator auch am Umweltschutz gelegen ist. Im Laufe des Tages soll es bei drei Zelten bleiben, nämlich das Meinige, das des Belgiers und schließlich ein Drittes, das bereits stand, als ich eintraf. Ein Kanadier sei noch da, und er spräche gut spanisch, so die Frauen. Ich ahne, und prompt stellt es sich heraus: mein Freund Jean - Francois hatte sich durch mein Geschwätz oben an der Meiling - Hütte inspirieren lassen, und war kurzentschlossen zum Paso de las Nubes hochgestiegen, anstatt von der Pampa Linda aus nach Bariloche zurückzukehren. Ich gehe nochmals vor ans Bachbett, von wo sich die prächtige Kulisse der wasserfallüberzogenen Felswand bietet, und sehe, daß weit oben wieder die Kondore kreisen. Ich überlege, die Frauen können mir bei meinen geographischen Mutmaßungen leider nicht weiterhelfen, doch für mich wird klar: Wir befinden uns hier sozusagen am Boden des Filo de Cóndores, gute 1200 Höhenmeter nahezu direkt unterhalb der Otto - Meiling - Hütte. Die beiden Frauen kochen übrigens auf Wunsch für ihre Gäste und verkaufen zudem Kaffee und Süßigkeiten. Ihre aufgeschlossene, freundliche Art, und die einmalige Lage dieses bislang immer noch weltabgeschiedenen Urwaldcamps machen den Aufenthalt zu einer wertvollen Bereicherung meiner eh schon an großartigen Erlebnissen überreichen Reise. Des Weiteren wird hier noch ein besonderer Service geboten, nämlich den Verkauf von Tickets für die Rückkehr nach Bariloche, die per Boot über verschiedene Seen erfolgt, und mit ein Argument für mich war, die Tour über den Paso de las Nubes zu unternehmen. Hierbei wird die Anzahl der überfahrtwilligen Personen per Funk gemeldet, um den Wanderern die Plätze für den nächsten Tag zu sichern.
Nachts höre ich die Wasserfälle rauschen und das Donnern des Gletschers erscheint mir wie ein Gewitter. In dieser Nacht fälle ich eine wichtige Entscheidung. Ich beschließe, den Cerro del Plata sausen zu lassen, und mich stattdessen weiterhin in Patagonien aufzuhalten. Ich muß einsehen, daß die Zeit für eine vernünftige Akklimatisierung zu kurz ist, zudem wäre es nötig, erneut Ausrüstung anzumieten, unter anderem diesmal auch einen dickeren Schlafsack, denn ich hätte auf etwa 4300 Metern Höhe biwakieren müssen. In den Südanden zieht langsam der Herbst ein, gleichfalls ein negativer Faktor in Bezug auf die Besteigung eines gut 6000 Meter hohen Berges. Nun gut, Höhenrekord adé, dafür will ich es mit einer weiteren abenteuerlichen Trekkingtour ausklingen lassen. Nicht zuletzt die einmaligen Eindrücke am Paso de las Nubes hatten mit zu der Entscheidung beigetragen, die mir verbleibende Zeit weiterhin in die Erforschung der faszinierenden Landschaften der patagonischen Anden zu investieren.
Mit meiner Entscheidung wird mir auch plötzlich bewußt, was für eine Last ich von meiner Seele nehme, indem ich meinem eigenen Leistungsdruck entsage. Denn schließlich waren meine Gedanken immer wieder am Cerro del Plata. Bangemachende Fragen, wie die der ausreichenden Akklimatisation, Routenfindung an einem selten begangenen Berg, werde ich die Symptome einer fortschreitenden Höhenkrankheit rechtzeitig selber erkennen, und werde ich dann noch in der Lage sein, aus eigener Kraft abzusteigen? Der Lagerplatz auf 4300 Metern liegt überdies oberhalb der Schlüsselstelle, die sich durch ein nur wenige Zentimeter breites Band entlang einer steil abstürzenden Felswand präsentiert, d. h. die Stelle muß in großer Höhe, mit komplettem Gepäck und ohne Sicherung gemeistert werden. All diese Sorgen sind nun gebannt und ich bastle zuversichtlich an einer neuen Idee, nämlich dem Besuch des Nationalparks Villarica auf der chilenischen Seite.
Nach dem Frühstück im Zelt der beiden Frauen und einem herzlichen Abschied nehme ich den Weg wieder auf, der Labrador ist diesmal bereits zusammen mit Jean - Francois aufgebrochen, die guten Frauen hatten den Hund die Nacht in ihrem warmen Zelt verbringen lassen und ihm auch zu Fressen gegeben. Dabei hatten sie sich sein gelbes Halsband näher angeschaut, auf dem doch glatt sein Name stand. Simón heißt der brave Vierbeiner, und ein Hinweis, man solle dem Guardaparque Bescheid geben. Es stellt sich nur die Frage, ob dem von der Pampa Linda oder etwa jenem in Puerto Frias am anderen Ende des Pfades?
Um 9.30 Uhr breche ich also auf vom Filo del Condor. Auch heute deutet nichts auf eine Wetterbesserung, aber was könnte es Schöneres geben, als diese Wanderung gerade unter solchen Bedingungen zu unternehmen und den Paso de las Nubes mit seiner berauschenden Umgebung wirklich unter Wolken zu erleben? Auch hier macht sich die Wetterscheide bemerkbar, denn es geht im Jahresdurchschnitt um ein Vielfaches der Regenmenge herunter, als in den weiter östlich gelegenen Bergen, was uns schließlich diese unglaubliche Pracht an üppigem Dschungelgrün beschert. In gleicher Manier wie gestern schlage ich mich durch den schmalen Dschungelpfad, zum Schluß direkt dem Flußufer folgend. Unterwegs stoße ich auf eine Gedenktafel. An dieser Stelle ließen zwei argentinische Soldaten ihr Leben "in Ausübung ihrer Pflicht", vermutlich in einem der zahlreichen Grenzkonflikte mit den chilenischen Nachbarn. Ich habe inzwischen Simón und Jean - Francios eingeholt, und wir gehen das letzte Stück bis Puerto Frias gemeinsam. Im Hof des Guardaparque grast friedlich ein schwarzes Hausschwein und ich ahne schon, was kommt: der bisher so sanftmütige Simón stürmt bellend los, der Jagdtrieb ist geweckt! Und so ist binnen weniger Sekunden der Teufel los an diesem sonst so besinnlichen Ort. Da kommt auch schon der Guardaparque aus dem Gebäude geschossen. Ob mir der Hund gehöre, werde ich gefragt. Somit stellt sich heraus, daß Simón dem Guardaparque von der Pampa Linda gehört. Der arme Kerl muß nun an die Leine, und der rechtmäßige Herr wird über Funk verständigt. Puerto Frias ist weniger eine Ortschaft, als mehr eine Außenstation, denn hier existieren jediglich das Haus des Guardaparque, ein Gebäude mit argentinischen Zöllnern und die Bootsanlegestelle am Ufer des Lago Frias.
Lange bevor der Katamaran von "Cruce de Lagos" am Kai anlegt, schallt eine penetrante Frauenstimme durch den Lautsprecher über den See. Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, daß die Bootslinien über die verschiedenen Seen noch als reine Alltagsverkehrsmittel fungieren, wie ich dies etwa schon mal in Norwegen erlebt hatte. Das trifft in der Gegend von Bariloche nur noch bedingt zu, denn in erster Linie werden Touristen transportiert, und zwar in Begleitung einer Reiseführerin. So gehen dann auch gut 50 Touris von Bord, die sogleich mitsamt Gepäck in die bereitstehenden Busse verfrachtet werden, wo die Fahrt nach Chile weitergeht. Gleichzeitig nimmt das Boot diejenigen Touristen auf, die von den Bussen aus Chile hierhergebracht wurden. Diese grenzüberschreitende Tour, bei der mehrere Seen per Katamaran überquert werden, und die zwei Tage dauert, kann in Bariloche gebucht werden, ist allerdings nicht ganz billig, und der Beigeschmack einer Schulausflugsatmosphäre bleibt halt hierbei auch nicht aus.
Trotz der unangenehmen Witterung verbringe ich die Überfahrt an Deck. Die den See umgebende Landschaft ist prächtig. Direkt vom Ufer steigen herrlich bewaldete Berge steil auf, mit senkrecht abfallenden Felswänden durchsetzt. Als sich der Katamaran von der Anlegestelle von Puerto Frias entfernt, erscheint mir der Ort wie eine vergessene Urwaldmission. Die Überfahrt dauert nur eine Viertelstunde, und auch Puerto Alegre am gegenüberliegenden Ende des Lago Frias gibt in etwa den Eindruck, der Puerto Frias bereits hinterlassen hat. Von hier aus erfolgt ein Bustransfer nach Puerto Blest., wo die Mittagspause gehalten wird, wahlweise im preisgünstigen Schnellrestaurant oder im feudalen Hotel. Die Reisegruppe begibt sich unter Führung der wenig sympatischen Reisebegleiterin zu einem nahegelegenen Wasserfall. Da wir bereits mehr als genug prächtige Wasserfälle in tiefer Bergeinsamkeit bewundern konnten, und uns der Trubel mit zwei Dutzend Touristen einschließlich nerviger Reiseleiterin auf den Wecker geht, bleiben ich, Jean - Francois und der Belgier zurück, um am malerischen Ufer des Brazo Blest zu entspannen.
Des Spanischen Mächtige werden´s schon bemerkt haben, der Brazo Blest ist nicht etwa ein See für sich, sondern ein Seitenarm des Nahuel Huapi, und zieht sich wie ein Schlauch über mehrere Kilometer hinweg bis vor zur Anlegestelle Puerto Panuelo. Auch er ist von prächtigen Bergen umrahmt, in der Ferne zeigt sich der berühmte Cerro Catedral, und zu guter Letzt wird auch eine Insel passiert. Trotz der kühlen Witterung, des Nieselregens und des Windes lasse ich mich nicht vom Deck vertreiben und stehe dort oben, breitbeinig, die Arme gekreuzt und jediglich ein T - Shirt tragend, um die Überfahrt zu genießen und den Elementen zu trotzen. Später lassen sich auch ein paar Touristen blicken, mit Pullovern und Regenzeug versehen, aber nur, um Unfug zu treiben. Sie beginnen, die Möwen zu füttern und machen sich einen Spaß daraus, die Vögel dazu zu animieren, daß sie ihnen aus der Hand fressen. Wenn eine Möwe einmal soweit ist, daß sie einem Menschen aus der Hand frißt, ist der Schritt nicht mehr weit, daß sie dem nächsten Touristen unangeboten die Stulle aus der Hand pickt, so denke ich.
Oberhalb der Anlegestelle von Puerto Panuelo thront eines der nobelsten Hotels Argentiniens, das Llao - Llao, welches ob seiner baulichen Erscheinung auch irgendwo in der Schweiz stehen könnte. Überhaupt ist die Gegend um den Nahuel Huapi der Platz in Südamerika, der der Schweiz am ähnlichsten ist. Am Busfenster ziehen prächtigen Villen und wunderschöne Ferienhäuser in verschiedensten Stilrichtungen vorbei, fast allesamt scheinen sie aber nach europäischen Vorbildern geschaffen, wobei das eine Häuschen sehr gut in Skandinavien stehen könnte, während das folgende sich bestens in den Schwarzwald fügen würde, gefolgt vielleicht von einer Villa, wie man sie auf einem Hügel in der Südtoscana schon einmal gesehen hat. Der Wind zaubert weiße Wellen auf die dunkelblaue Seefläche, und ein düsteres Wolkenbild hängt über dem Cerro Catedral. Da das "Andino Patagonico" voll belegt ist, weiche ich auf das "El Condor Andino" aus, welches in Bezug auf Preis Freundlichkeit des Personals und Infoservice mit Vorgenanntem zumindest gleichzusetzen ist. Ich erhalte auch sogleich Auskunft, um wieviel Uhr ich mich morgen zum Busbahnhof zu begeben habe, um zu meinem nächsten Ziel, Junin de los Andes, weiterzureisen.
Am Busbahnhof treffe ich abermals Jean - Francois, der heute mit dem Coche - Cama nach Buenos Aires weiterreist. Sein Trekkingabenteuer in Patagonien ist somit abgeschlossen, für ihn beginnt der zweite Teil und gleichwertige Grund für seinen Argentinienaufenthalt: er ist leidenschaftlicher Tangotänzer, wobei er diesem Hobby nicht etwa in der Hauptstadt des Tango frönen will, sondern hierfür, nach ein paar Tagen Sightseeing in der argentinischen Kapitale, nach Montevideo im benachbarten Uruguay weiterreisen will. Der Grund dafür ist der in Argentinien existierende, strenge "Codigo", so erklärt er mir. Es reicht in Buenos Aires nicht, einfach nur den Tango tanzen zu können, man muß auch die obligatorische Knigge beherrschen, und als Schlecht- oder gar Nichteingeweihter kann man dabei schnell ins Fettnäpfchen treten, oder Opfer der argentinischen Eifersucht werden. In Montevideo, so Jean - Francois, existiere dieser Codigo nicht, dort sei das alles viel legèrer. Jean – Francois, der ein paar Jahre älter ist als ich, ist mir durch sein ausgeglichenes, intelligentes Wesen sehr sympathisch geworden. So stimmt mich der Abschied von meinem Freund etwas traurig. Immer, wenn wir beide zusammentrafen, kamen für mich, und vielleicht auch für ihn, interessante Dialoge zustande, die wir übrigens stets auf Spanisch führten.
Um von Bariloche nach Junin de los Andes zu gelangen, gibt es zwei Routen, eine schöne und eine weniger schöne. Da wir zuerst in Junin ankommen, und der Bus danach erst nach San Martín de los Andes weiterfährt, schließe ich daraus, daß unser Bus offensichtlich die weniger attraktive genommen hat. Wie muß dann wohl erst die schönere Variante sein, denn an landschaftlichen Schmankerln hat es auf dieser Fahrt jedenfalls nicht gefehlt. Die karge Pampasteppe gleicht einer Westernlandschaft und ist durch viele von schroffen Felsen be- und durchsetzten Hügeln und Tafelbergen gekennzeichnet. Der sich windende Fluß an unserer Seite führt beiderseits seiner Ufer jeweils ein blühend grünes Band. Wunderschöne Seen, die teils von Inseln bespickt sind, oder auch lange Seitenarme und Halbinseln ausbilden, liegen am Weg. Irgendwann jedoch verliert die Landschaft ihre Attraktivität und geht über in eintöniges, flaches bis leicht hügeliges Prärieland. Hatte man in Südpatagonien ausschließlich Schafe weiden sehen, so trifft man hier verstärkt Rinderherden an. Aus dem Radio tönt mexikanische Mariachimusik. Ich bin in Argentinien, warum hört man hier eigentlich nirgends Tango? Vermutlich deshalb, weil der Tango nicht hier, im gottverlassenen Patagonien zu Hause ist, sondern in den quirligen Stadtquartieren von Buenos Aires.
Nach meiner Ankunft in Junin geht alles rasch und wie geschmiert: Hotelzimmer, Ausleihen von Steigeisen und Pickel, Busticket für den folgenden Morgen, Verproviantierung. Junin de los Andes ist ein staubiges Nest, und erhält jediglich etwas Leben durch den Wander- und Bergsteigertourismus. Neben der großartigen Natur, die den Ort umgibt, und der Hauptattraktion, den 3776 Meter hohen Volcán Lanin, hat Junín aber noch einen weiteren, vielleicht weniger bekannten Trumpf im Ärmel: der Ort ist eine der größten Mapuche - Gemeinden des Landes, im Zentrum befindet sich auch ein Mapuche - Museum. Aus Zeitgründen muß ich mich jedoch auf meinen Schwerpunkt besinnen, und der ist nun mal das Trekking bzw. das Bergsteigen. Und so habe ich es auch auf den Volcán Lanín abgesehen, einem der höchsten Gipfel Patagoniens, und aufgrund seiner herrlich symmetrischen Form und der exponierten Emporhebung aus seiner Umgebung von vielen als einer der weltschönsten Berge tituliert.
Nachts zieht ein Sturm durch die Ortschaft, der Wind heult beängstigend, Türen knallen, eine Scheibe geht zu Bruch. Mir wird ganz bange in Gedanken an die morgige Besteigung. Als ich mich zum Busbahnhof aufmache, ist es noch stockdunkel, es regnet und der Wind tost weiterhin, wenn auch in abgemilderter Stärke. Mit einem Stimmungstief sitze ich im Bus in Richtung Paso Tromén, lustlos in einen langsam sich erhellenden, trostlos verregneten Morgen blickend. Am Wegesrand glaube ich, ein Huemul gesehen zu haben. In einer anderen Situation hätte das Erscheinen des vom Aussterben bedrohten Andenhirsches wohl mein Herz höher schlagen lassen, in der momentanen Gemütsverfassung bleibe ich jedoch gleichgültig. Eigentlich ist es nur der Tatsache zu verdanken, daß ich bereits das Equipment ausgeliehen habe, die mich davon abhält, das Unternehmen abzublasen. Zugegebenermaßen hege ich keine allzu großen Hoffnungen auf einen Gipfelsieg, und spiele mit dem Gedanken, als Minimalziel wenigstens eine der Biwakschachteln auf 2000 Metern Höhe zu erreichen, dort zu nächtigen und am folgenden Morgen wieder abzusteigen. Ich habe den Glauben an gutes Wetter verloren, befürchte, daß sich diese Schlechtwetterphase wohl genauso hartnäckig halten würde, wie zuvor das Dauerhoch.
Der Ausgangspunkt für die Besteigung von Norden her ist der Paso Tromén auf etwa 1200 Metern, den die Chilenen Mamuil Malal nennen, und der auch die Staatsgrenze zwischen Argentinien und Chile trägt. Das Haus des Guardaparque befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Grenzstation. Ich verlasse den Bus im strömenden Regen, mit mir steigen zwei weitere Personen aus, die sich mit ihren Norwegerjacken gleichfalls zum Haus des Aufsehers begeben. Wie es sich herausstellt, handelt es sich bei den beiden Männern um den Guardaparque höchstpersönlich, sowie dessen jungen Adjudanten. Nachdem ich meinen Wunsch der Besteigung geäußert habe, wird eine Ausrüstungskontrolle vorgenommen. Ich scheine die beiden Herren zunächst überzeugt zu haben, nachdem ich ihnen Schlafsack, genügend Lebensmittel samt Kocher, Steigeisen nebst Pickel, sowie warme Klamotten vorweisen kann und auch ihre Fragen bezüglich meiner bisherigen Bergerfahrung zufriedenstellend beantwortet habe. Die Genehmigung ist schon ausgestellt und der Reisepaß, sowie Adresse und Telefonnummer meiner Frau hinterlegt, als dem Guardaparque plötzlich noch die Frage nach dem Funkgerät in den Sinn kommt. Die Chilenen am Tronador hatten es mir bereits gesteckt, daß die Besteigung neuerdings nur noch mit Funkgerät zugelassen wird. Der Guardaparque zeigt mir jedoch noch einen Ausweg aus meiner mißlichen Situation: wenn ich Glück hätte, wäre es möglich, ein solches im benachbarten Campingplatz zu leihen. Also, raus in den Regen, zum Verwaltungsgebäude, wo gerade eine Gruppe halbverschlafener Argentinier aus den Schlafsäcken kriecht. Sie haben im Gebäude übernachtet, und wollten eigentlich heute ebenfalls aufsteigen, verwerfen aber sofort ihren Plan in Anbetracht des Wetters. Der Besitzer müsse gleich kommen, wird mir beschieden. Und ich habe Glück, ich bekomme mein Funkgerät, wenngleich es mit Abstand das teuerste meiner ausgeliehenen Utensilien wird.
Ich kehre zurück zum Guardaparque, wo ich in die Aufstiegsroute eingewiesen werde. Ich soll mich zunächst zur Biwakschachtel "RIM" auf 2450 Metern Höhe begeben, in der ich die Nacht zubringen werde. Von dort aus werde ich dann bei guten Verhältnissen am folgenden Tag den Gipfel angehen. Der Guardaparque empfiehlt mir dringendst, den Gipfel wirklich nur bei guten Wetterverhältnissen zu machen, und ansonsten wieder abzusteigen. Die aktuelle Wettervorhersage will er mir heute abend per Funk übermitteln.
Nachdem wir noch ein wenig allgemein konversiert haben, breche ich auf. Der Regen hat zu meinem Glück zwischenzeitlich ausgesetzt, dafür hat die Windstärke im beängstigenden Maße zugenommen. Ich durchschreite zunächst einen Lengawald, wobei ich stets die mich umgebenden Bäume im Auge behalte, um einem eventuell durch die enormen Böen umstürzenden Baum rechtzeitig ausweichen zu können. Als ich aus dem Wald heraustrete, öffnet sich vor mir eine faszinierende vulkanische Wüste, die aus aschgrauem Sand bzw. winzig kleinen, feinen Steinchen besteht und in deren Kargheit das umliegende Grün der Wälder und die wenigen gedeihenden Grasbüschel und Moose besonders zur Geltung gelangen. Ich muß die offene Fläche queren, was bereits zu einem mittleren Desaster auszuarten scheint. Ich gehe in gebückter Haltung, um dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, und komme kaum vorwärts. Nur durch die Nässe ist es möglich, bei diesen Windstärken überhaupt hier durchzukommen. Würde der Boden trocken sein, so befände ich mich in einem verheerenden Sandsturm. Dennoch treffen mich immer wieder mit abartiger Geschwindigkeit einzelne, winzig kleine Steinchen wie Schrapnellgeschosse ins Gesicht und wirken wie Nadelstiche. Der Weg führt schließlich auf eine ausgesetzte Moräne, wo sich die Situation nochmals zuspitzt. Gelegentlich muß ich mich auf den Boden legen, während wieder einmal eine besonders heftige Bö über mich hinwegfegt, die mich ansonsten möglicherweise von den Füßen genommen hätte. Seit den beiden Fönstürmen in der Hohen Tatra habe ich Vergleichbares nicht mehr erlebt, und ich spiele bereits mit dem Gedanken, aufzugeben und zurückzukehren. Ich kauere mich hinter einen einigermaßen schützenden Felsen, um eine Kleinigkeit zu essen, und um mir eine Pause zum Nachdenken zu gewähren. Diese wenigen Minuten genügen, daß sich die Situation insoweit verbessert, um erneut den Beschluß zu fassen, es doch noch weiterhin zu versuchen, und so wenigstens bis zur Biwakschachtel zu gelangen. Es tobt immer noch ein furchtbarer Sturm, aber die Windstärken haben deutlich merkbar nachgelassen, so daß ich die zugige Moräne überwinden kann und der Weg zunächst gnädigerweise in den Windschatten zieht, geradewegs in den frischgefallenen Neuschnee, unter dem der Pfad allerdings weiterhin gut erkennbar bleibt. Ich befinde mich bereits im Firn, der Pfad wird durch vereinzelte Holzmarkierungen im nun weglosen Gelände ersetzt, als ich die erste Biwakschachtel "BIM" (2350 m) erreiche. Ich trete ein, drinnen ist es noch angenehm warm, was darauf schließen läßt, daß eine größere Gruppe die Nacht darin verbracht haben muß. Neben BIM und RIM existiert noch die kleinere CAJA (2600 m). Während Letztere sich im Besitz des Club Andino Junín del los Andes befindet, gehören die beiden Erstgenannten dem argentinischen Militär. Die Biwakschachteln verfügen über keine Heizmöglichkeit, die Wärme entsteht vielmehr durch das Brennen von Kochern und die Anwesenheit mehrerer Personen im geschlossenen Raum. Wenig später treffe ich auf eine argentinische Gruppe in Begleitung eines Bergführers. Ja, sie hätten die Nacht unten im "BIM" verbracht, und kehrten soeben vom etwas weiter oben gelegenen "RIM" zurück. Da unter den heutigen Umständen keinerlei Chancen bestehen, den Gipfel zu erreichen, steigen sie ab. Auch ich bin schließlich gottfroh, als ich endlich das halbverrostete "Refugio de Infantería de Montana" unter mir sehe, nachdem ich den kleinen Grat überquert habe, der die beiden Biwakhütten voneinander trennt. Ich stoße die schwere Stahltür auf und wähne mich endlich in Sicherheit. Der Krach im Inneren der Schachtel ist enorm. Als ich dem Guardaparque meine Ankunft vermelde, muß ich richtiggehend ins Funkgerät hineinschreien, um das ohrenbetäubende Geschepper zu übertönen. Ich richte mir mein Nest auf dem Betonboden im hinteren Teil des Refugiums, das für mich alleine viel zu groß erscheint, und mache das Einzige, was man in einer solchen Situation tun kann: ich hülle mich in den wärmenden Schlafsack und beginne Essen und Matetee zu kochen. Da hier oben kein Wasser vorhanden ist, weil die Gletscherbäche aufgrund der Kälte allesamt versiegt sind, werde ich später wohl noch Schnee schmelzen müssen. Ich bin fest davon überzeugt, daß heute keine weiteren Personen hier auftauche werden, weshalb ich erschreckt auffahre, als etwa eine Stunde später plötzlich die Stahltür abermals aufgestoßen wird. Ein gutes Dutzend argentinische Gebirgsjäger rückt ein, auch ihnen ist die Überraschung ob der Präsenz eines einsamen Gringos anzusehen.
Die Militärs zeigen sich nicht so kommunikativ und neugierig, wie ich das bislang von der hiesigen Bevölkerung gewohnt bin. Dennoch antworten sie bereitwillig, wenn ich etwas frage. Durch die Mehrzahl an anwesenden Personen, die nun allesamt ihre Kocher anfackeln, wird es in der Biwakschachtel für die gegebenen Verhältnisse angenehm warm und fast schon ein wenig gemütlich. Zwischenzeitlich hat uns der Guardaparque die frohe Botschaft übermittelt, daß das Barometer gestiegen sei, und wir somit eine Wetterbesserung erwarten könnten. Es ist bereits dunkel, als der Unteroffizier von draußen zurückkehrt mit der Meldung, die Sicht zum Gipfel sei nun frei. Ich kann es immer noch kaum glauben, doch mitten in der Nacht treibt mich der getrunkene Matetee selbst vor die Hüttentür und ich bin erstaunt: unter einem sternenklaren Himmel erhebt sich eine vom Vollmond angeleuchtete, schneeweiße, und perfekt symmetrische Gipfelkuppe, ein Anblick, wie er für einen Bergfreund schöner nicht sein kann. Direkt neben der Biwakschachtel stürzt der Berg steil zu Tal, was zuvor durch den Nebel nicht einsehbar war. Auch die Windstärke hat abermals nachgelassen, die Böen sind aber immer noch recht heftig.
Als ich aufwache, dämmert es bereits. Eigentlich lag es in meiner Absicht, noch bei Nacht mit dem Aufstieg zu beginnen, und ich rechnete auch mit einem zeitigen Aufbruch der Militärs. Doch die machen erst dann Anstalten, sich zu erheben, nachdem ich bereits aufgestanden bin. Reichlich spät, um 7.50 Uhr verlasse ich die Biwakschachtel und gleich zu Beginn gilt es, eine kleine Gletscherpassage zu überwinden, die aufgrund einer offen klaffenden Spalte bei Nebel gefährlich werden könnte. Nebel ist nicht, Wind auch nicht mehr, es ist wieder einmal das Wunder eingetreten, mit dem man in den Bergen immer wieder mal rechnen darf: so schnell, wie man unversehens und in kürzester Zeit in einen Wettersturz geraten kann, ist es auch möglich, daß einem inmitten des Gefühls von Hoffnungslosigkeit Umgekehrtes widerfährt. Und so erreiche ich bei blauen Himmel und strahlendem Sonnenschein um 12 Uhr mittags den Gipfel. Voller Euphorie baue ich das Funkgerät zusammen, um dem Guardaparque Vollzug zu melden. Er gratuliert mir, und ich füge noch hinzu, daß ich der Erste sei. Eine Falschmeldung, wie sich später noch herausstellen soll.
Der Volcán Lanín ist nicht nur von unten betrachtet einmalig. Sein Gipfelblick vermittelt eine Abgehobenheit, wie man sie wirklich nicht alle Tage geboten bekommt. Da er auf den gut 1000 Kilometern zwischen dem Volcán Domuyo (4709 m) im Norden und dem Cerro San Valentín (3970 m) im Süden der höchste Gipfel ist, überragt er alles, die Aussicht geht über hunderte von Kilometern, ich kann sogar die Pazifikküste im Westen ausmachen. Im Süden grüßt der verschneiten Monte Tronador. Weitere Vulkankegel, alle als weiße Pyramiden weit aus ihrer Umgebung herausragend, erheben sich auffallend wie in einer Linie aus der ansonsten mäßig hohen nordpatagonischen Andenkette. In unmittelbarer Nachbarschaft residiert der aktive Vulkan Villarica (2956 m). Aufgrund seiner genialen symmetrischen Form, die übrigens der des Lanín sehr ähnlich ist, und wohl auch wegen seiner leichten Besteigbarkeit, ist er der meistbestiegene Gipfel Chiles. Dieser Berg mitsamt seinem zugehörigen Nationalpark soll übrigens mein nächstes und letztes Reiseziel in Patagonien werden. Der langgezogene, gleichfalls verschneite Bergrücken zwischen dem Lanín und dem Villarica ist übrigens der erkaltete Volcán Quetrupillán. Im Norden, direkt überhalb des Paso Tromén, tut sich eine besonders eindrucksvolle, grüne Berglandschaft auf, in deren Täler sich wunderschöne Seen fügen. Eines der Täler liegt immer noch unter den Wolken der vergangenen Schlechtwetterperiode, ein fantastischer Anblick! Ein weiterer Berg direkt überhalb der Paßhöhe fällt durch seine interessante Struktur besonders auf. Es muß sich wohl ebenfalls um einen einst aktiven Vulkan handeln, da der riesige Krater eindeutig erkennbar ist. Im Osten geht der Blick bis weit in die argentinische Pampa hinein.
Gerne hätte ich noch mehr Zeit hier oben zugebracht, aber Kälte und Wind gemahnen mich zur Umkehr. Als ich den Abstieg einleite, erkenne ich weit unter mir eine abwärts gehende Gruppe. Seltsam, sollten die Militärs bei diesen Verhältnissen aufgegeben haben? Das wäre ja eine bös schlaffe Truppe! Aber es sind nicht die Militärs, denn diese kann ich jetzt ein gutes Stück weiter oben, im Aufstieg Richtung Gipfel, ausmachen. Dennoch wundere ich mich darüber, daß eine Gruppe, wie auch immer, bei solchen Bedingungen kehrt macht. Ich treffe schließlich auf die Soldaten. Erfolg macht geschwätzig, und voller Euphorie schwärme ich dem Unteroffizier eins von der prächtigen Gipfelsicht vor und bescheinige ihnen die baldige Ankunft dort oben. Die Gebirgsjäger gehen übrigens alle gesittet in Dreier - und Vierergruppen am Seil und mit Steinschlaghelmen, weshalb sie für den Aufstieg doch etwas mehr Zeit als ich benötigen. So steige ich die mehr als 2500 Höhenmeter in einem Zuge wieder hinunter, wobei ich unterwegs drei Kondore am Himmel kreisen sehe. Der Bach mit dem bräunlich - sandfarbenen Wasser am Bergfuß war mir beim Aufstieg noch nicht aufgefallen, vermutlich war ich durch die gestern vorherrschenden, barbarischen Verhältnisse zu sehr abgelenkt. Er trägt übrigens den Namen Arroyo Turbio, und sein Wasser soll ungenießbar sein. Ich bringe nach meiner Rückkehr noch ein gutes Stündchen schwatzend beim Guardaparque und seinem Helfer zu. Als Freunde trennen wir uns schließlich. Falls ich auf Anhieb keine Rückfahrmöglichkeit nach Junin finden sollte, möge ich doch zurückkommen auf einen Matetee.
Die Rückfahrmöglichkeit bietet sich jedoch prompt in Gestalt eines klapprigen Ford Falcón und dessen flippigen Besitzer, Sassan. So stellt sich dann auch heraus, was der Guardaparque mir bereits gesagt hatte: Ich war heute nicht der Erste auf dem Gipfel, denn eine internationale Gruppe, bestehend aus Sassan (Deutschland), Alfred (England), zwei Spaniern, einem Argentinier sowie einem ortsansäßigen Bergführer war mir zuvorgekommen. Es war die Gruppe, welche ich im Abstieg gesehen hatte. Vor ihnen waren außerdem noch zwei Franzosen oben, die in Allerherrgottsfrühe und mit Hochgeschwindigkeit den Gipfel gestürmt hatten. Das Geheimnis, warum wir uns unterwegs nicht begegnet sind, ist ebenfalls gelüftet, denn während ich steil und direkt aufgestiegen war, sind die anderen über die längere, dafür mäßig steile, rechtshändige Flanke zum Gipfel gelangt. Außer von Norden, kann der Volcán Lanín auch noch von seiner Südseite her bestiegen werden. Dies erfordert allerdings weit mehr Erfahrung, und birgt auch mehr Gefahren, da man dann eine lange und spaltenreiche Gletscherquerung zu bewältigen hat.
Auf der Rückfahrt nach Junín werde ich über die Geschichte des Ford Falcón aufgeklärt. Es ist das argentinischste Auto, d.h. das Einzige, das über Jahre hinweg nur in Argentinien produziert wurde, in etwa vergleichbar mit dem VW Käfer in Mexiko. "Mit diesem Wagen hast du in Argentinien niemals Schwierigkeiten" betont Sassan. "Bei einer Panne findest du immer jemanden, der dir helfen kann, die Argentinier kennen den Motor auswendig!". Eine Besonderheit ist sicher die Möglichkeit, daß sich der Motor auf Gasbetrieb umstellen läßt. Diesen Kraftstoff erhält man allerdings fast ausschließlich im Norden des Landes und im Bereich Buenos Aires, das Gas ist dort spottbillig. Der Ford Falcón hat allerdings auch eine düstere Seite in seiner Geschichte: während der argentinischen Militärdiktatur wurden unliebsame Bürger in einer grün lackierten Ausführung des Autos mit getönten Scheiben meist auf Nimmerwiedersehen verschleppt. Zehntausende von "desaparecidos" hat die einstige Junta auf dem Gewissen, die in Folterkellern und anonymen Massengräbern verschwanden. Wir sind zu dritt im Fahrzeug, ich, Sassan und Alfred, während die anderen bereits mit Anhänger und Rucksäcken vorausgefahren sind. Wir holen sie jedoch ein und liefern uns ein Wettrennen auf der staubigen Piste. Wir fühlen uns wie die Hauptakteure eines Roadmovies, wie wir mit dröhnender Reggaemusik durch die wüstenähnliche Landschaft preschen, eingelullt in einen glühend roten Sonnenuntergang . . .
Wir quartieren uns in einer etwas abgelegenen Hospedaje ein, die sich in einer ungeteerten Nebengasse von Junin de los Andes befindet. Die Herbergseltern sind die Gastfreundschaft in Person, im Haus geht es zu wie auf einer Party. Der Herbergsvater ist gerade dabei, ein Asado für die Nacht vorzubereiten, die ganze Hütte steht unter Qualm. Ich habe es allerdings heute abend noch reichlich stressig, denn ich muß gleich wieder los in die Stadt, Steigeisen und Pickel zurückbringen, sowie das Busticket für die Fahrt am nächsten Morgen nach Chile sichern. Anschließend haben wir uns zum gemeinsamen Essen verabredet, das in einem der ursprünglichsten und originellsten Restaurants des Ortes stattfinden soll (das mit dem Asado dauert uns zu lange, denn allein schon die Vorprozedur eines ordentlichen Asado dauert mindestens 2 Stunden). Ich brauche eine gute Weile, bis ich das "La Tablita" gefunden habe, in dem wir uns verabredet haben und das sich gleichfalls in einer düsteren Nebengasse befindet. Hier verirrt sich normalerweise kein Tourist hin, es war die Idee des Bergführers. Schon beim Eintreten bemerke ich die besondere Atmosphäre. Das "La Tablita" ist ein Treffpunkt der Mapuche - Indianer, in Grunde genommen ein Restaurant für Arme. In schlichter Einrichtung kann man sich für wenig Geld richtig satt essen, Billard spielen, oder sich einfach nur betrinken, was offensichtlich das Hauptanliegen von einem Großteil der anwesenden, ausschließlich männlichen Gäste zu sein scheint. Wir lassen auffahren, daß sich das Tischlein biegt, immer wieder werden nach Belieben Speisen und Getränke nachbestellt. Zum Schluß wird unserer 7-köpfigen Gruppe die Rechnung von 95 Pesos, all inclusive, präsentiert, was in etwa 25 Euro entspricht. Es ist ein unterhaltsamer Ausklang einer prachtvollen Bergfahrt. Sassan und Alfred wollen morgen noch das örtliche Mapuche - Museum besuchen, während ich in aller Frühe die Fahrt nach Chile antreten werde. Mir scheint heute Abend alles etwas zu grell und der Schädel brummt.
Nachts geht es dann richtig los, die Augen tränen und flattern wie verrückt, der Schlaf bekommt keine Chance. Die Fahrt anderntags nach Chile trete ich schließlich im halbblinden Zustand an. Ich habe einen dummen Fehler gemacht: Im Bewußtsein, daß ich relativ lichtunempfindliche Augen habe, war ich bereits am Tronador ohne Sonnenbrille aufgestiegen (die Dinger gehen immer kaputt, wenn man es nicht gewohnt ist, sie mit sich zu führen). Dort hatte mich aber mein früher Aufbruch gerettet. Am Volcán Lanín hingegen war ich volle 8 Stunden gleißendem Firn ausgesetzt, jetzt zahle ich dafür die Rechnung. Am Grenzübergang Paso Tromén geht mal wieder eine typische Zeremonie über die Bühne. Da beide Länder strenge Einfuhrverbote für Fleischwaren, Obst und Gemüse haben, futtern viele Touristen hastig die im Rucksack vergessenen Äpfel und Bananen in sich hinein, ich selbst verschlinge eine übriggebliebene Salami. Die Fahrt führt nach Pucón, bekannter Ferienort zu Füßen des berühmten Volcán Villarica. Am Busbahnhof gerate ich an Lala, der mich und drei Schweizer in seiner Hospedaje einquartiert. Ich bin völlig am Ende, würde mich am liebsten sofort in die Dunkelkammer zurückziehen, aber ich muß abermals ins Zentrum, Geld wechseln und Augentropfen besorgen. Ich nehme meine Umgebung nur noch verschwommen wahr, eine Frau erkennt meine Hilflosigkeit, als ich geblendet aus dem Bankgebäude heraustrete und führt mich über die Straße. Den Rest des Tages verbringe ich mit Eisbeuteln auf den verbrannten Augen wie ein Vampir in der dunklen Kammer. Erst Abends mache ich mich wieder auf den Weg ins Zentrum.
Der folgende Tag wird gnädig für mich, denn es ist den ganzen Tag über bewölkt, windig und regnerisch, was meinen immer noch geblendeten Augen entgegenkommt. Mein Zustand hat sich zwar gebessert, dennoch wäre ein Wiederaufbruch in die Wildnis heute noch verfrüht. Ich treibe mich ein wenig in Pucón herum, das, außer der schönen Lage am See und der touristischen Infrastruktur, wenig zu bieten hat. Da ich nun wieder etwas besser sehen kann, nehme ich auch die Menschen um mich herum wahr. Die Chilenen sind, genauso wie ihre argentinischen Nachbarn, ein aufgeschlossenes und gastfreundliches Volk. Die alten Männer tragen meist Hüte, von der Art, wie man sie oft bei älteren Portugiesen sieht. In einem Café lerne ich den Profiboxer Joe Mayo kennen. Nach einem Restaurantbesuch gehe ich Lebensmittel für drei Tage einkaufen und schließe einen Pakt mit einem Taxifahrer, der mich morgen früh von meiner Pension abholen wird.
Wie erwartet und von Lala vorhergesagt, sind die Symptome am folgenden Morgen weitestgehend abgeklungen. Um 8.30 erscheint pünktlich mein Taxifahrer, der mich zum Ausgangspunkt meiner geplanten Villarica - Nationalparkdurchquerung bringen wird. Unterwegs entspinnt sich eine anregende Unterhaltung. Allgemein sind die Chilenen aufgrund des sehr hohen Sprechtempos und der Auslassung gewisser Konsonanten schwieriger zu verstehen, als ihre argentinischen Nachbarn. Ich stelle allerdings fest, es ist auch eine Sache der Gewohnheit. Auf jeden Fall gilt das in Chile gesprochene Castellano (hiesige Bezeichnung für die spanischen Sprache) als das reinere, da sich im argentinischen Sprachwortschatz viel mehr Ausdrücke der nichtspanischen Einwanderer festgesetzt haben. Um 9 Uhr treffen wir schließlich an den Termas de Palguin ein. Ich bin mir zunächst nicht ganz sicher, ob meine Route an der Wegbiegung kurz vor den Termas beginnt, oder ob ich mich zuerst direkt zu den heißen Quellen begeben soll. Ich entscheide mich dafür, zuerst die paar Meter bis vor zu den Bädern zu gehen, um mich dort kurz umzusehen. Die Termas de Palguin sind nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar, es ist früh am Morgen und der trübe Himmel verspricht für heute auch kein Badewetter, ergo bin ich zunächst völlig allein. Vom nahe gelegenen Haus ertönt plötzlich ein Rufen. Ich bleibe stehen, ein älterer Herr Ende 60 kommt auf mich zu, Hautfarbe und Gesichtszüge lassen auf eine typisch deutsche Erscheinung schließen. Ich weiß, daß Chile das Land in Südamerika mit dem größten Anteil an deutschen Einwanderern ist, weshalb ich mich nicht unbedingt wundere, daß der in einen guten, grauen Anzug gekleidete Mann mir mit der Feststellung "Sie sprechen bestimmt deutsch!" entgegentritt. Er stellt sich mir als der Besitzer der Termas vor. Die Benutzung der Thermen ist gebührenpflichtig, aber mir steht der Sinn ja nicht nach einem Bade, und ich erkläre ihm sogleich meine Absichten. Bereitwillig weist er mir den richtigen Weg, der also doch vorn an der Gabelung beginnt. Was mich schon eher überrascht, ist seine Aussage, er sei noch nie in seinem Leben in Deutschland gewesen, sondern nur der Sohn deutscher Einwanderer. Dieser Herr spricht ein dermaßen einwandfreies Hannoveranerisch, als hätte er sein ganzes Leben in Nordrhein - Westfalen verbracht. In der Umgebung von Pucón und dem Villarica - Nationalpark wimmelt es übrigens nur so von heißen Quellen, ein Hinweis auf heftige tektonische Aktivitäten im Erdinneren, was leider auch immer wieder verheerende Katastrophen zur Folge hat. Der momentan ruhige, aber immer noch tätige Vulkan Villarica hat schon mehrere Male in der Landesgeschichte die Menschen zur Flucht gezwungen und oft Tausenden den Tod gebracht. Auch schwere Erdbeben erschüttern immer wieder die Region.
Ich muß zunächst einer ungeteerten Fahrstraße folgen, die auch an ein paar Bauernhöfen vorbeiführt. Die moosbehangenen Wälder sind von unheimlichen Nebelschwaden durchzogen, es herrscht eine interessante Stimmung. Als ich eine kleine Hütte erreiche, beginnt ein schmaler Wanderpfad, der bald stetig aufwärts zieht. Der Urwald, den ich nun durchquere, wird vor allem von mit Flechten behangenen Buchen gestellt, in den sich aber auch viele, teils riesengroße Araukarien mischen. Der durchziehende Nebel sorgt für eine gespenstische Szenerie. Die Araukarien gehören zu den ältesten Pflanzen dieser Erde, sie haben die Eiszeit überdauert. Überhaupt würde ich, wenn ich einen Film über die vorgeschichtliche Zeit der Dinosaurier machen würde, die Dreharbeiten hierher ins chilenische Patagonien verlegen, denn diese Kulisse kommt der Urlandschaft von vor Millonen von Jahren wohl am ehesten gleich. An einem Bach trete ich aus dem Wald heraus und gelange zunächst auf eine Wiese, die bald schon einer faszinierend kargen Vulkanlandschaft weicht. Der sandige Boden ist von der Asche schwarzgrau gefärbt, und die ganze Gegend von erkalteten Lavabrocken übersät. Der Boden ist jedoch nicht etwa völlig vegetationslos, denn es gedeihen Moose, niedrigwüchsige Gräser, ja sogar subalpine Blumengattungen wie auf einem Flickenteppich. Ein paar kleine, Kaskaden bildende Bäche rauschen klangvoll zwischen den Hügeln herunter, der Pfad steigt weiterhin an. Faszinierend ist der Rückblick in den wuchernden grünen Regenwald, wie er sich an die karge, graue Einöde heranschiebt. Zwischendurch gelingt der Sonne dann und wann ein kleiner Durchbruch, Nebelschwaden jagen über die Landschaft, immer häufiger finden sich auch schmutziggraue Altschneefelder im Terrain. Je weiter ich nach oben gelange, desto größer wird deren Ausdehnung, sie sind beinhart gefroren, denn es ist kalt und zugig hier oben. Ich quere hier in etwa 1600 Metern Höhe die Flanke des langgestreckten Vulkan Quetrupillán. Unter den gegebenen Umständen, sprich bei Nebel, könnte durchaus Verirrungsgefahr bestehen, ich erreiche jedoch ohne derartige Zwischenfälle die Laguna Azul, wo ich mein erstes Nachtlager aufschlage. Den ganzen Tag über war mir keine Menschenseele begegnet, an der Lagune steht jedoch bei meinem Eintreffen bereits ein Zelt. Die drei Engländer, zwei Männer und eine Frau, beabsichtigen ebenfalls die Nationalparkdurchquerung, hatten jedoch für ihren Aufbruch einen anderen Ausgangspunkt gewählt. Sie waren allerdings gestern bereits aufgebrochen, wo noch schlechteres Wetter geherrscht hatte, als heute. Sie haben heute einen Ruhetag eingelegt, in der Hoffnung, das Wetter möge sich bis Morgen wieder bessern. Ich stelle mein Zelt in eine windgeschützte Nische am Rande eines riesigen Lavafeldes. Ich kuschle mich noch lange vor Sonnenuntergang mit einem Buch in den wärmenden Schlafsack, wobei ich das Zelt offen lasse. Immer wieder blicke ich hinaus über die aschgraue Lavafläche, vor zum See und zu den von zerzausten Nebelschwaden umwehten Bergen. Genau so habe ich mir immer die Anden vorgestellt, als ich schon vor Jahren, von Sehnsüchten geplagt, von einer Reise in dieses faszinierende Gebirge zu träumen begonnen hatte.
Die Nacht war erwartungsgemäß kalt. Das Wasser, welches der abendliche Nieselregen auf die Zeltwand gesprüht hatte, ist morgens gefroren. Die Morgensonne durchstrahlt einen stahlblauen Himmel, in den frühen Stunden des Tages ist es aber immer noch empfindlich kalt. Um 9.30 Uhr bin ich abmarschbereit, die Engländer sind noch mit dem Zusammenpacken beschäftigt. Auch sie haben sich für heute die Laguna Abutardas zum Ziel gesetzt. Ich quere zunächst das riesige Lavafeld, gehe einen Hügel aufwärts und sehe von dort aus erstmals den mächtigen Volcán Lanin im Osten aufragen. Die ultimative Aussicht auf den Volcán Villarica war indes gestern dem Nebel zum Opfer gefallen. Ich mache oberhalb eines zweiten Lavafeldes zwei kleinere Krater aus, die Umgebung ist jetzt noch karger und vegetationsloser als gestern, es verbleiben nur noch wenige spärliche Grasbüschel zwischen Sand, Gestein und Lavabrocken. Die nicht allzu steilen, firnbedeckten Hänge des langgezogenen Gipfelaufbaus des Quetrupillán sind nun zum Greifen nahe. Der Blick schweift über die Taleinschnitte umliegender, kleinerer Bergketten, deren Wolkenhauben die Sonnenstrahlen der frühen Morgenstunden noch nicht weggeschmolzen haben. Im Norden erkenne ich den markanten Kraterberg wieder, der mir bereits vom Gipfel des Lanín aus aufgefallen war, und der mir von diesem aus wie ein Zwerg erschienen war. Etwa einen Kilometer nach der ersten Sichtung zeigt sich der Lanín nun vollkommen in all seiner Mächtigkeit, schneeweiß, mit nahezu perfekter Symmetrie. Er steht da wie ein riesenhafter Wächter, der die Grenze nach Argentinien weist. An einem weiteren Aussichtspunkt stehen sich die beiden Vulkane Villarica und Lanín direkt gegenüber, als seien sie bereit zu einem Duell um den Titel des Schönsten im ganzen Land. Der Größenunterschied der beiden Berge manifestiert sich jedoch aus dieser Position heraus deutlich.
Das Lanín - Panorama kulminiert schließlich beim Erreichen einer Paßhöhe. Der Abstieg erfolgt zunächst noch durch trocken - karge Vulkanwüste, dann folgen nach Passieren einer Wand mit dem Hinweis auf Steinschlaggefährdung zwei mit Wasserlachen durchsetzte Wiesenplateaus. Mir bietet sich die Aussicht auf alte Bekannte, die ich alle bereits vom Gipfel des Lanín herab bewundern konnte. Aus der momentanen Position heraus erscheinen sie viel höher, ihre Namen bleiben mir jedoch leider unbekannt: außer dem Lanín im Osten reckt sich im Nordosten ein markanter Finger gen Himmel, sowie in Nordnordost der von Nadelspitzen umgebene, erkaltete Riesenkrater. Hinter einer Sumpfwiese gelange ich zu einem schönen, etwa 10 Meter hohen Wasserfall, über dessen Auffangbecken das sich zerstäubende Wasser einen adretten Regenbogen bildet. War die Markierung entgegen der Warnungen in meinem Buch bislang gut bis zufriedenstellend, so verschwindet sie ausgerechnet hier, wo ich sie am dringendsten nötig hätte. Nach langem Hin und Her und Herumsuchen stoße ich auf einen deutlich sichtbaren, unmarkierten Pfad, der mich zunächst zwischen wohlriechenden Nitrebüschen in tiefen, mit Araukarien durchsetzten Südbuchenwald hinunterführt. Während die jungen Araukarien bis unten hin beastet sind, bleibt bei den großen Bäumen jediglich eine palmenähnliche Krone. Eigentlich müßte ich jeden Augenblick auf die Laguna Abutardas stoßen, denn die Wegzeit ist bereits überschritten und ich bin in einem guten Tempo marschiert. Sie taucht aber nicht auf, stattdessen führt der Pfad weiterhin abwärts, wobei immer wieder mühevoll Bacheinschnitte gequert werden müssen. Ich bin mir nun ziemlich sicher, daß das ganz offensichtlich nicht der richtige Pfad ist. Da ich aber oben nichts besseres gefunden habe und somit keinen Sinn darin sehe, nochmals hochzusteigen, um erneut zu suchen, folge ich weiterhin dem Trail ins Unbekannte. Der Kompaß zeigt mir überwiegend Richtung Ost. Hoffentlich ist das nicht etwa ein Schmugglerpfad, der mich unversehens hinüber nach Argentinien führen könnte, wo mich dann ganz sicher wegen illegalem Grenzübertritts Ärger erwarten würde. Nach einem lange währenden Waldabstieg gelange ich plötzlich an eine Behausung, offensichtlich eine Feriendatscha, neben der ein Geländewagen geparkt ist und zwei Kinder auf der Wiese tollen. Als diese mein Kommen bemerken, flüchten sie sofort zurück ins Haus, aus dem sogleich, mit wild entschlossenem Blick, der Vater heraustritt. Ich komme mir vor wie der fremde Reiter in einem Western, wie er gerade eine abgelegene Ranch erreicht. Nachdem ich mich aber als harmloser Tourist zu erkennen gebe, der sich bloß verlaufen hat, wird der Mann sofort freundlich, und auch der Rest der Familie tritt hinzu. Sie erklären mir meine Irrung, der Fehler ist offenbar oben am Wasserfall zu suchen, denn dort hätte ich mich wohl rechts halten sollen und hätte dann in nur wenigen Minuten die Laguna Abutardas erreicht. Die Frau schwärmt mir einen vor von der Schönheit dieser abgelegenen Lagune. Sogar einen kleinen Strand aus Vulkansand gäbe es dort. Ich ärgere mich, aber für heute ist es zu spät, um nochmals umzukehren. Sie empfehlen mir, noch ein Stück weiter abzusteigen, wo ich an einem Bach eine gute Zeltmöglichkeit fände. Kurz oberhalb dieses Lagerplatzes träfe auch der Pfad ein, der von der Laguna Abutardas herunterkäme, bzw. im weiteren Abstieg würde ich die Troménpaßstraße und somit das vorgesehene Endziel meiner Trekkingtour erreichen, ergo blieben mir morgen noch beide Optionen offen. Zum Abschied werden mir noch ein paar Früchte mit auf den Weg gegeben, die ich gerne als willkommene Abwechslung zu meiner monotonen Trekkingkost entgegennehme.
Ich überschreite eine breite Furt und gehe abwärts. Ich frage mich, wie die bloß mit ihrem Fahrzeug durch dieses Gelände gekommen sind. Ich stoße auf ein Hinweisschild: "Volcán Quinquilil 4 km". Sollte es sich hierbei etwa um den von Nadelspitzen umgebenen Vulkankrater handeln, dessen Anblick mich bereits wiederholt fasziniert hat? Wenig später treffe ich auf eine Weggabelung, wo doch prompt ein Schild den Weg hinauf zur Laguna Abutardas weist. Ich erreiche schließlich den Lagerplatz, wenige Schritte vom trinkbaren Bachwasser entfernt. Der Platz ist praktisch, aber nicht schön, da sich von hier aus keine Aussicht bietet, ich befinde mich jediglich auf einer kleinen Lichtung inmitten von Wald und Gestrüpp. Während des Kochens nähert sich von oben schwankend der Geländewagen, die Familie kehrt zurück in die Stadt, es ist Sonntag Abend, das Wochenende neigt sich dem Ende zu. Wir halten noch ein kleines Schwätzchen, dann verabschieden wir uns herzlich.
Am folgenden Morgen entscheide ich mich für den Abstieg, denn obwohl ich sehr gerne noch die Laguna Abutardas gesehen hätte, halte ich den Wiederaufstieg für nicht allzu lohnenswert, da der gut 4-stündige Weg erneut durch den Wald geführt hätte, also die gleiche Landschaft, wie ich sie zuvor bereits auf meinem "Schmugglerpfad" hatte. Stattdessen beschließe ich die Rückkehr nach Pucón, um die wenige Zeit, dir mir noch verbleibt, für die Besteigung des Volcán Villarica zu nutzen. Nachdem ich erfahren hatte, daß die Besteigung dieses Berges als Individualist praktisch unmöglich ist, und man zwangsweise auf die sehr touristische Alternative mit Gruppe und Bergführer zurückgreifen muß, hatte ich eigentlich diese Option bereits verworfen. Der Witz ist nämlich, daß der Villarica, im Vergleich mit dem Volcán Lanín, ein wirklich leichter Berg ist. Will man ihn aber auf eigene Faust besteigen, so gestaltet sich das dermaßen umständlich, daß man eigentlich die Lust daran verliert. Zunächst ist die Mitgliedschaft in einem Bergverein nachzuweisen, sprich Vorlage des Alpenvereinsausweises, den ich dummerweise nicht bei mir habe. Des Weiteren gibt es in Pucón praktisch keine Agentur, die sich bereit erklärt, an Touristen ohne Inanspruchnahme des Pauschalpakets Steigeisen und Pickel zu verleihen. Auch die Anfahrt zum Ausgangspunkt müsste mit dem Taxi selbst organisiert werden, was dann fast so teuer käme, wie das gesamte Pauschalpaket der Agenturen.
Die Nacht im Urwald war recht frisch, das Gras ist am nächsten morgen feucht vom Tau. Man merkt, in Patagonien zieht langsam der Herbst ein. Um 9.35 Uhr breche ich auf, folge weiterhin dem "Fahrweg" abwärts, wobei sich mir zwischendurch ein wunderschönes Panorama zum Kratergipfel (Quinquilil?) eröffnet. Weit unten tost ein Bach, der gerade eine enge Klamm verlassen hat. Um 10.20 Uhr treffe ich auf die Straße, im Hintergrund schäumt ein Wasserfall den Berg herunter. Schließlich erreiche ich den chilenischen Grenzposten, dahinter steht das Häuschen des Guardaparque. Da ich nicht durch einen der offiziellen Eingänge des Parkes gekommen bin, wird nun die Eintrittsgebühr fällig. Der Guardaparque ist freundlich und gesprächig, ich sage ihm, daß sein Holzherd mich an die Küche meiner Großmutter im Allgäu erinnert. Um von hier weg zu kommen, muß ich trampen. Kein Problem, nach wenigen Minuten hält bereits ein Fahrzeug, der Fahrer nimmt mich mit bis Curarruehue, von wo aus ich dann mit dem Minibus zurück nach Pucón gelangen könnte. Auf mein Fragen hin nennt mir der Fahrer den Namen eines markanten Berges: Volcán Laspainetas hieße er. Wir fahren durch eine üppig grüne, ländlich geprägte Landschaft. Grüner Wald und saftige Weiden wechseln sich ab, dann und wann erspähe ich ein paar Obstbäume. Ich sehe nur ein Weizenfeld, dies ist jedoch, mit Mitteleuropa verglichen, von großem Ausmaß. Die Gehöfte sind landestypische Häuser, deren Wände meist aus bemalten Holzbrettern gezimmert sind, für die Dächer, aber auch gelegentlich für die Außenverkleidung, wird überwiegend Blech verwendet, die Kamine sind für gewöhnlich steingemauert. Diese Häuser sind sehr schön, suggerieren eine rustikale Gemütlichkeit und erinnern etwas an den Baustil der skandinavischen Länder. Obwohl auch in Chile ein großer Teil der Bevölkerung in Armut lebt, scheint zumindest auf dem Land kein wirkliches Elend zu herrschen. Es ist eher ein schlichtes, hartes Leben, mit viel Arbeit, aber wenigstens in Naturverbundenheit und versorgt mit dem Nötigsten. Ein nebulöses Wolkenband schiebt sich an den Vulkan Villarica, darüber wölbt sich strahlend blauer Himmel. Ganz deutlich weist die Nordseite viel weniger Schnee auf, als beispielsweise die Ostflanke, der ich gestern vom Quetrupillán aus ansichtig wurde. In den Morgenstunden hatte ich noch gefroren, jetzt um die Mittagszeit ist es bereits wieder büffelheiß. In Pucón angekommen, kehre ich zunächst zurück zu Lala. Der Witzbold erschrickt mich mit der Bemerkung, er sei total überfüllt. Ich bekomme mein altes Zimmer und begebe mich sogleich ins Zentrum, um in der von ihm anempfohlenen Agentur für den Ausflug zum Villarica anzuheuern. Den Rest des Nachmittags vertreibe ich mir einer kleinen Exkursion hinüber nach Villarica, der Stadt am gegenüberliegenden Ufer des Lago Villarica. Der Sinn stand mir nach dem Erwerb einiger spanischsprachiger Bücher, ich werde allerdings enttäuscht. Die Auswahl ist sowohl in Pucón, als auch in Villarica viel dürftiger als in Argentinien, zudem sind die Bücher, im Vergleich mit den Preisen im Nachbarland, sackteuer. Villarica ist, gleichfalls wie sein Pendant Pucón, ein beliebter Ferienort am Ufer des Lago Villarica. An der parkähnlich angelegten Promenade mache ich es mir auf einer Bank im Schatten gemütlich. Ich schaue zum linken Ufer über den winzigen Hafen mit den Tretbooten hinweg und denke: "Das hat nun doch etwas von einem schweizer Bergsee!", doch wenn ich nach rechts schaue, denke ich: "Vergiß es, es ist doch völlig anders!". Denn der mächtig über dem See aufragende Vulkan, der majestätisch über der gesamten Umgebung thront, und von dessen rundlicher Kraterspitze eine feine Rauchsäule wie ein riesiger Kondensstreifen in Windrichtung über den See zieht, dahinter die von einem eigenartigen Wolkenkleid umhüllten, grünen Berge, darüber der strahlend blaue Himmel, nein, so etwas paßt nun absolut nicht in das Klischee von der Schweiz. Das Seeufer ist in ähnlicher Weise, wie am Lago Nauhuel Huapí in Argentinien, von luxuriösen Privatresidenzen, geschmackvoll konstruierten Hotels und schönen Ferienhäuschen gesäumt, in deren Gärten bunte Blumen gedeihen. Der Baustil unterscheidet sich jedoch ein wenig: wenn in Argentinien mit Holz gebaut wird, dann bevorzugt man lackierte Rundhölzer. Hier in Chile ist, wie bereits erwähnt, die skandinavische Bretterbauweise üblich.
Um 8 Uhr morgens finde ich mich in der Agentur ein, wo die Gruppe, bestehend aus etwa 10 Teilnehmern, zwei Bergführern und dem Fahrer, mit Ausrüstung versorgt wird. Alles wird von der Agentur gestellt, man braucht nicht einmal eine Jacke dabei zu haben, jediglich das Vesper und genügend Wasser für den Tag sind selbst mitzubringen. Die Fahrt geht zunächst zum Parkeingang und anschließend über eine schlaglochträchtige Schotterpiste bis auf etwa 1400 Meter. Dort wird für gewöhnlich für die folgenden 200 Höhenmeter der Sessellift benutzt. Ich bin der Einzige in der Gruppe, der sich weigert, die Seilbahn zu benutzen. Ich stürme mit Volldampf die 200 Höhenmeter bis zur Bergstation empor und treffe noch vor den Letzten aus unserer Gruppe ein, da zuerst die Tickets gelöst werden mußten, um anschließend Schlange zu stehen, da unsere Gruppe schließlich nicht die einzige ist, die heute auf den Berg will. Es soll für mich der einzige und größte Kraftakt des Tages bleiben, denn der Aufstieg erfolgt in sehr moderatem Tempo, und die fehlenden etwa 1300 Höhenmeter führen schließlich nur auf knapp 2900 Meter, d.h. normalerweise spürt man bei einer solchen Höhe noch nichts oder nur wenig von der dünner werdenden Luft. Die Steigeisen tragen wir umsonst zum Gipfel, da sie im gut ausgetretenen Firn, der den Gletscher überzieht, nicht benötigt werden. Der Blick hinein in den rauchenden Kraterschlund mit seinen seltsam grüngelb angefärbten Felsen und die daraus aufsteigende Rauchsäule hat schon etwas Faszinierendes. Der Rauch löst bei mir einen Geschmack auf der Zunge aus, den ich aus vergangenen Zeiten als Raucher kenne, am Morgen nach einer langen Nacht, in der ich mal wieder entschieden zuviel gequalmt hatte. Bereits während des Aufstieges bot sich uns ein fantastischer Ausblick über ein Meer von Wolken, aus dem nur die Spitzen der Berge herausragen, Pucón, Villarica, der See und das gesamte Flachland bleiben unter einer trüben Wolkendecke zurück, während wir hier oben eitel Sonnenschein genießen. Bis wir den Gipfel erreicht haben, hat sich die Wolkendecke jedoch bereits mancherorts aufgelöst und gewährt nun auch den Blick hinunter in die Talschaften. Vom Westhang des Vulkans zieht ein enormer Lavastrom ins Tal hinunter, ein Relikt einer seiner zahlreichen Ausbrüche. Im Moment gibt sich der Berg zahm, und wer beim Blick in den Krater eine brodelnde Magmamasse erwartet, wird derzeit enttäuscht. Abgesehen vom stolzen Nachbarn Lanín lassen sich in Entfernung weitere bekannte Vulkane ausmachen. Im Abstieg wird dann doch noch die Sicht frei hinunter auf den Lago Villarica mit seinen Anrainern Pucón und Villarica. Zur Gaudi für die Touristen wird über die Firnfelder abgefahren, d.h. den Pickel als Bremse griffbereit, den Arsch in die bereits ausgefahrene Rinne und los geht´s. Hierbei ist zu beachten, daß man den Pickel mit der einen Hand am Schaft umgreift, und nicht etwa mit beiden Händen am Stil, da einem sonst das Ding beim entsprechenden Tempo unweigerlich aus der Hand gerissen wird. In den Alpen würde wohl kein Bergführer einen solchen Unsinn zulassen, zumal die Firnfelder gelegentlich auch im Schotter enden. Aber ich trage schließlich nicht die Verantwortung und gönne mir somit auch selbst den Spaß. Am Gipfel bin ich mir übrigens vorgekommen, wie wenn ich in meiner Heimatstadt Singen am Samstag morgen durch die Fußgängerzone schlendere, denn zahlreiche Bekannte waren mir dort oben wiederbegegnet. Meinen Freund aus Tirol, den ich im Campamento El Paso auf dem Circuito Paine kennengelernt hatte, war bereits in meiner Gruppe dabei, desweiteren hatte ich noch die drei englischen Nationalparkdurchquerer getroffen, die mich mit der Mitteilung neidisch machten, daß sie die Laguna Abutardas gefunden hätten. Und dann war da noch das süddeutsche Pärchen vom Campamento Los Perros, ebenfalls auf dem Circuito Paine. Sie hatten übrigens, wie alle anderen, heute morgen die Seilbahn genommen, und als sie unten einen einsamen Wandersmann den Berg hinaufjagen sahen, hatte die Frau noch zu ihrem Freund gesagt: "Der da unten, das könnte doch glatt der Verrückte vom Circuito Paine sein!". Bereits um 16.20 sind wir wieder zurück in Pucón. Wie abgemacht, kann ich mein Gepäck weiterhin in der Pension von Lala zurücklassen, bis ich heute Abend um 22 Uhr den Nachtbus nach Santiago besteige.
Frühmorgens erblicke ich durch´s Busfenster den Sonnenaufgang über der Hochkordillere, bald schon treffen wir in Santiago ein, eine faszinierende Reise geht zu Ende. Ein letztes Highlight ist mir im Flugzeug vergönnt, denn wir überfliegen das Aconcagua - Massiv und ich habe Fensterplatz. Es folgt eine Zwischenlandung in Asución, der Hauptstadt des bislang wenig bekannt gebliebenen Binnenlandes Paraguay. Ich bin beeindruckt von der sich unter mir ausbreitenden Flußlandschaft, beim Anflug kann ich sogar das Stadion von Asunción mit den Farben der Nationalflagge erkennen. In der Transithalle sitzt ein fein gekleideter und gut frisierter Harfenspieler und hält den Passagieren mit seinen schön gespielten traditionellen Weisen die Wartezeit kurzweilig. Jedenfalls hat dieser kurze Zwischenstopp die Neugier auf dieses Land in mir verstärkt. In Sao Paolo geht der Anschlußflug erst mit Verspätung, was fatale Folgen auf die Weiterreise hat, denn nun fliegt mir in Paris die Maschine nach Stuttgart buchstäblich vor der Nase weg. Erst das Flugzeug, das 4 Stunden später geht, bringt mich nach Stuttgart, wo ich wiederum feststellen muß, daß der allerletzte Zug nach Singen bereits weg ist. Die Jugendherberge ist überfüllt, doch der Zivi läßt mit sich handeln, ich darf kostenfrei im Keller auf dem Boden übernachten. Morgen früh gegen 6, noch lange vor Ankunft seines Vorgesetzten, werde ich bereits wieder weg sein, um die allerletzte Etappe meiner Rückkehr anzutreten, im Vergleich mit dem bereits hinter mir liegenden Weg eigentlich nur noch ein Katzensprung!
Sonntag, 17. Dezember 2006
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1 Kommentar:
Hallo,
wir sind gerade in Patagonien und haben Lust auf die (Halb-)umrundung des San Lorentzo. In deinem Beitrag schreibst du ja darüber, dass du sie gerne gemacht hättest. Ich weiß, dass sich Tourenbeschreibungen in alten Büchern befinden, die ich aber leider alle nicht habe. Hast du eine ausreichende Tourenbeschreibung und könntest sie mir an mopf-@web.de zuschicken?
Vielen Dank!
Paula
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