Sonntag, 17. Dezember 2006

Im Hohen Atlas

Von Imlil nach Setti Fatma über den höchsten Berg Nordafrikas

Marakesch im August – das bedeutet Affenhitze, Hektik, verpestete Luft, aber auch immer noch Spannung und maghrebinischer Flair, Zusammenströmen allerlei wohliger und auch wenig erquickender Düfte in den Souks der Altstadt, jener Ansammlung eng verschachtelter, traditioneller Handels- und Handwerksgassen, herübergerettet aus längst vergangenen Epochen, wie sie uns noch in den Erzählungen aus 1001 Nacht vergegenwärtigt werden, deren Warenangebot und Gebären der Händler jedoch schon arg vom modernen Massentourismus und natürlich auch von den Bedürfnissen der modernen Welt beeinflußt sind. Armut und Schmutz koexistieren neben protzigem Reichtum in einem der teuersten Hotels der Welt, geschichtsträchtige Monumente , hektischer Verkehr und die Ruhe in paradiesischen Gärten existieren in einem surrealistisch anmutenden Gegensatz nebeneinander.

Heute jedoch hält es mich nicht lange in der Metropole Südmarokkos. Mein Ziel soll der Hohe Atlas sein, die bis über 4000 m aufstrebenden Klimascheide zwischen den nördlich davon gelegenen , mediterranen Gebieten und der sich im Süden ausbreitenden größten Wüste unseres Planeten, der Sahara .Ein Taxi bringt mich ins Dorf Asni, am Fuße des Gebirges, wo ich mich für meine Weiterreise um einen Platz auf der Ladepritsche eines Lastwagens kümmern muß. Wie das in Marokko eben so geht, bin ich ruckzuck durch einen Schlepper an einen LKW – Fahrer vermittelt, der sich mit dem Hinweis, ich solle hier auf dem Marktplatz auf die Abfahrt warten, sogleich ins nächstgelegene Kaffeehaus zurückzieht, da er die Ladefläche seines Lastwagens selbstverständlich mit weiteren Passagieren vollbekommen möchte. Bis der Schlepper dann schließlich genügend Mitreisende ermittelt hat, vergehen nochmals gute 2 Stunden, die ich jedoch geduldig ertrage, wie es sich bei Reisen in Ländern, die nicht unserer westlichen Kultur zuzuordnen sind, geziemt, das Geschehen auf dem Marktplatz beobachtend, ein paar kleinere Einkäufe tätigend und mit all meinen Sinnen die fremde Atmosphäre in mich aufsaugend.

Als der Fahrer dann endlich den Motor startet, ist die Ladefläche gerammelt voll mit Marktweibern, heimkehrenden Dorfbewohnern, einheimischen Ausflüglern und einer Handvoll westlicher Bergtouristen, und ich finde mich hier ziemlich eingekeilt in einer gewissen Ungemütlichkeit, die dann nochmals zulegt, als wir die Teerstraße verlassen und auf einer Rüttelpiste kräftig durchgeschaukelt werden. Dafür beginnt jetzt die Landschaft wahrlich zu beeindrucken. Auf der Fahrt durch das Bergtal entlang des Flusses Mizane hinauf zum Berberdorf Imlil werden in mir sogleich Assoziationen zu Bildern von den großen Gebirgen Mittelasiens, wie dem Karakorum oder dem Hindukusch, oder den im Monsunschatten gelegenen Bergregionen des Himalaya geweckt, ein Vergleich, der Vegetation und Relief dieser Landschaft wohl am ehesten wiedergibt. Die alles überragenden Eisriesen der asiatischen Pendanten muß man sich allerdings wegdenken, da es im Hohen Atlas weder ewigen Schnee noch Vergletscherungen gibt, und die vergleichsweise bescheidene Höhe von "nur" knapp 4000 Metern läßt sich ebenfalls nicht mit den Ausmaßen der "Asiaten" messen. In kultureller Hinsicht jedoch kommt der Reisende hier voll auf seine Kosten, die Schönheit und Einzigartigkeit der hiesigen Bergdörfer und die Originalität und kulturelle Eigenart seiner Bewohner, den Atlas – Berbern, läßt sich gleichwertig in die Reihe der bekannten großen Trekkingziele im Himalaya und den Anden stellen, und das gerade mal 31/2 Flugstunden von Deutschland entfernt.

Als wir schließlich im schönen Bergdorf Imlil (1740 m), dem Ausgangspunkt meiner Tour, ankommen, ist es schon recht spät, trotzdem beschließe ich, heute noch eine kleine Marschetappe zurückzulegen, um vielleicht noch den nicht allzu weit entfernten Marabout Sidi Chamarouch zu erreichen. Hier in Imlil starten die meisten Trekkinggruppen, und es ist nicht leicht, das Dorf wieder zu verlassen, ohne von einem Schlepper in eine Unterkunft verbracht, und mit einem Führer für den kommenden Tag verkuppelt worden zu sein. Ohne eine gewisse Sturköpfigkeit, gepaart mit einer guten Ausrede, geht´s eigentlich fast gar nicht! In diesem Falle beantworte ich die ständigen Fragen nach meinem Wohin mit „vers Toubkal“, was, Allah sei dank, immer falsch interpretiert wird, nämlich insofern, daß am Ortsende sich das Wanderhotel „Toubkal“ befindet, ich aber den gleichnamigen Berg meine, so daß ich nicht einmal lügen muß, da der Djebel Toubkal ja durchaus mein Ziel sein soll, welches ich allerdings voraussichtlich erst im Verlauf des morgigen Tages erreichen werde. Die Strecke zwischen Imlil, Djebel Toubkal und Lak de Ifni bis hinunter zum Berberdorf Amsouzart möchte ich, in Anlehnung an den "berühmt - berüchtigten" Aufstieg zum Kilimandjaro, als die „Coca – Cola – Route“ des Hohen Atlas bezeichnen. Hier ziehen die meisten Trekking – Karawanen entlang, hier sitzt an jedem Bach, der über den Weg sprudelt, ein Limonadenverkäufer, der seine wassergekühlten Erfrischungen dem durstigen Wanderer feilbietet und nahezu alle der hier ansäßigen Berber sprechen zumindest ein rudimentäres Französisch. Dies sollte jedoch Wanderer, die abgelegenere und ursprünglichere Gebiete bevorzugen, nicht dazu verleiten, diesen Gebirgsteil einfach aus ihren Plänen zu streichen - ein unverzeihlicher Fehler, - denn außer den höchsten Erhebungen des Hohen Atlas bietet die Toubkal - Region weitere, außergewöhnlich interessante Attraktionen, zudem eignet sich das Gebiet hervorragend zur Eingewöhnung in Landschaft und Atmosphäre, bevor man sich dann endgültig in den „ungesicherten Bereich“ begibt, wobei ich diesen Ausdruck nicht insofern verstanden wissen will, daß hier eine etwaige Gefahr in Form von Wegelagerern oder ähnlichem Ungemach auf den unbedarften Wanderer lauert, was ganz und gar nicht der Fall ist, sondern daß man schlicht und einfach das Terrain der guten Infrastruktur und der sprachlichen Verständigungsmöglichkeit verläßt.

In Imlil endet die Fahrstraße und bis Setti Fatma werde ich nichts Motorisiertem mehr begegnen, das einzige Transport- und Fortbewegungsmittel in den Höhen und Tälern des Atlasgebirges ist der Maulesel, oder aber man geht zu Fuß. Die Wege stellen sich auch dementsprechend als reine Saumpfade dar, d.h. naturbelassene, meist schmale Erdtrassen, die sich unmarkiert, jedoch gut erkennbar, durch die Landschaft schlängeln. Auf die Benutzung durch Maultiere zugeschnitten, haben die Serpentinen nicht die Steilheit, wie man sie von manchen Alpenwegen oder anderen Hochgebirgsregionen her oft gewohnt ist, Kletterpassagen fehlen gänzlich, so daß ein weitgehend gefahrloses Wandern ohne alpine Schwierigkeiten möglich ist. Selbstverständlich stellen sich die Dinge in den Wintermonaten und während der Übergangszeiten anders dar, da sich der Hohe Atlas dann in eine schneereiche und eiseskalte Hochgebirgswildnis verwandelt, gleichwohl dann ein hochinteressantes Terrain für erfahrene Skibersteiger. Grundsätzlich sollte man über eine gute Kondition verfügen, da man sich in beträchtlichen Höhen bewegt, auch können durchaus Symptome der Höhenkrankheit auftreten, weshalb ausreichend Flüssigkeitszufuhr, um das Blut dünn zu halten, dringend angezeigt ist. Da es im Monat August auch in den Höhenlagen tagsüber sehr warm werden kann, veranschlage man einen Durchschnittsverbrauch (nur Trinkwasser!) von guten 5 Litern Wasser pro Tag.

Hinter Imlil folge ich, die kurz nach dem Ortsausgang nach rechts wegführende Abzweigung Richtung Refuge de Lépiney (3050 m) ignorierend, dem Weg aufwärts. Linkerhand liegt, schön an die Berghänge geschmiegt, die Ortschaft Aroumd, an einem kleinen Bachlauf gönne ich mir ein Päuschen, wo ein Getränkehändler vom Bachwasser gekühlte Limonadenflaschen verkauft, eine willkommene Erfrischung. Die Sonne steht schon tief, als ich am zu einem kleinen Weiler angewachsenen Marabout Sidi Chamarouch ankomme. Marabout ist die gängige Bezeichnung in weiten Teilen des islamisch geprägten Afrika für ein Heiligtum, meistens handelt es sich um die Grabstätte eines zu Lebzeiten besonders verehrten Weisen oder Heiligen. Der Marabout Sidi Chamarouch wird von einem riesigen, weißen Stein überdeckt, ich vermute, daß sich innen das Grab befindet. Am Ortseingang begegne ich einem jungen Mann, der sich mir mit dem Namen Mokhtar vorstellt. Er ist mit zwei weiteren Kollegen ebenfalls als Wanderer unterwegs, sie haben ihr Zelt oberhalb des Marabou aufgeschlagen. Das Angebot eines anderen Herren, der mir als Schlafunterkunft einen winzigen Abstellraum zu einem überzogenen Preis andrehen will, wo er die selbstgefertigte Stohmatten und allerlei Krimskrams, die er tagsüber an Wandertouristen verkauft, gelagert hat, lehne ich ab, mein Zelt erscheint mir gemütlicher, zumal ich mich hier oben in Nachbarschaft mit den drei symphatischen Wanderern aus Marrakesch gut aufgehoben fühle. Wir unterhalten uns noch eine gute Zeit lang vor den Zelten, inzwischen ist es bereits dunkel geworden. Ich beschließe, mich schlafen zu legen, während die anderen noch die halbe Nacht mit Tratschen und Lachen zubringen. Sie wollen ebenfalls nach Setti Fatma, aber nicht wie ich, auf Teufel komm raus, und wenn sie tatsächlich dort ankommen sollten, dann vielleicht in der doppelten Zeit, wie ich sie für mich selbst veranschlagt habe. Eigentlich geht es ihnen mehr um die Gaudi des miteinander Unterwegsseins. Mit Mokhtar soll mich später noch eine längere Brieffreundschaft verbinden.

Kurz vor Sonnenaufgang erwache ich und mache mich sogleich abmarschbereit. Ich führe übrigens Lebensmittel für gut eine Woche mit mir, allerdings nur kalte Küche. Meine Wanderung soll 4 bis 5 Tage dauern, was anbetrachts der langen Wegstrecke und der Tatsache, daß es vier Pässe mit über 3000 m zu überwinden gilt, und ich zudem noch den höchsten Berg Nordafrikas, den Djebel Toubkal (4167 m), besteigen will, ein recht ehrgeiziges Vorhaben ist. Da Frau und Tochter in Agadir auf mich warten, will ich die Wanderung nicht allzu lange dauern lassen, andererseits haben mein Entdeckungstrieb und mein sportlicher Ehrgeiz diesen umfangreichen Plan reifen lassen, wie so viele meiner autarken Wanderungen.

Auf den Dächern der umliegenden Häuser haben die Führer der Trekkinggruppen, in dicke Wolldecken gehüllt, die Nacht zugebracht. Eigentlich ist es hier im Hohen Atlas völlig unüblich, daß man ohne Führer und Tragetier unterwegs ist. Hier ist echtes Trekking im Sinne dieses Wortes üblich. Ich habe mich jedoch für eine Solotour mit Rucksack und Zelt entschieden, weil ich mir somit die Unabhängigkeit in meinen Entscheidungen wahren kann, kein Führer würde sich auf eine so lange Distanz in so kurzer Zeit einlassen, und dies würde dann nur zu endlosen Diskussionen führen. Da man zwischenzeitlich auch in Deutschland recht gute Wanderkarten von der Djebel – Toubkal – Region erhält, ist eine Selbstorientierung kein Problem. Trotzdem empfehle ich, eine Wanderung im Hohen Atlas auf die dort übliche Art zu gestalten, man fördert somit auch „Arbeitsplätze“ in der Region und die bei Trekkinggruppen oft üblichen Übernachtungen in den traumhaft schönen Berberdörfern haben einen besonderen Reiz . Da die Etappen doch kürzer gehalten werden, trifft man rechtzeitig dort ein, um noch genügend Zeit zu finden, um in und rings um die Dörfer herumzustöbern und den Kontakt zur einheimischen Bevölkerung zu pflegen. Zudem werde ich im Laufe meiner Tour keine allzu guten Erfahrungen mit geeigneten Zeltplätzen machen, das Gelände ist meistens zu steil und sehr steinig, ein Abspannen mit Heringen kann man glatt vergessen. Sollte es für mich ein nächstes Mal geben, was durchaus denkbar ist, werde auch ich hoffentlich mehr Zeit mitbringen und das Gebirge auf diese Art entdecken.

Hinter Sidi Chamarouch steigt alsdann der Weg beständig aufwärts, mein Blick fällt immer wieder zurück zu dem malerisch dort unten gelegenen Marabou, wo in den umliegenden Häusern langsam das Leben erwacht. Unterwegs treffe ich auf eine kleine Gruppe singender schwatzender und lachender Berberfrauen, die auf den umliegenden Hängen Pflanzen sammeln. Unter mir hat sich der Mizane ein Tal gegraben, wo sich etwas oberhalb des Flußbetts eine Trekkinggruppe die einigermaßen ebenen Verhältnisse zunutze gemacht, und dort ihre Zelte aufgeschlagen hat. Dort bereitet man sich ebenfalls auf den Aufbruch vor, es steigt der Rauch vom Kochfeuer empor, wo das Frühstück für die abenteuerlustigen Europäer durch deren Führer zubereitet wird. Von oben kommt mir ein Maultiertreiber entgegen, man hört ihn schon von weither lauthals singen. Zwei weitere Kollegen folgen ihm, alle haben ihre Tiere mit dicken Wanderrucksäcken bepackt, sie bringen das Gepäck für eine Gruppe aus Stuttgart zu Tal, diese seien mit einem Führer auf Gebirgstour und würden dann abends wieder zu den Trägern und den Rucksäcken stoßen. Mein vorläufiges Ziel ist die ehemalige Neltner – Hütte (3207 m), die nach der Renovierung jetzt Refuge Toubkal heißt und durch den französischen Alpenverein, Sektion Casablanca, betreut wird

Das Refuge ist der geeignetste Ausgangspunkt für eine Djebel – Toubkal – Besteigung und wirkt auf Entfernung wie eine kleine Trutzburg. Als ich dort ankomme, ist es 10 Uhr morgens, die Hütte wird gerade gereinigt. Trotzdem serviert mir der marokkanische Hausherr sogleich ein Frühstück, für mich heute morgen schon das Zweite und nach dem tüchtigen Aufstieg genau das Richtige. Ich beschließe, diese Nacht in der Hütte zu verbringen, wo ich auch mein Gepäck während der Besteigung bedenkenlos zurücklassen kann. Die Hütte und ihre Umgebung dienen als Basislager für Djebel – Toubkal – Eroberer, und man kann hier tatsächlich etwas Basecamp – Atmosphäre einfangen. Durch das zweite Frühstück gestärkt und von meinem Gepäck befreit fällt mir die Besteigung relativ leicht und wird somit zu einer Genußtour. Unterwegs begegne ich einigen Gruppen, die den Aufstieg bereits in den frühen Morgenstunden getätigt haben und sich jetzt wieder auf dem Rückweg befinden. Zwischendurch komme ich vom Normalweg ab, was mir jedoch wenig Kopfzerbrechen bereitet, da das Gelände trotz Steilheit immer noch gut begehbar und auch recht übersichtlich ist. Einer 3 – köpfigen Gruppe von Holländern geht es anders, ihnen wird schon etwas mulmig im steilen Gelände, auch macht ihnen die Höhenluft einiges zu schaffen. Das Mädchen beschließt, umzukehren, die beiden Jungs wollen jedoch nicht aufgeben und noch den Gipfel erreichen Obwohl ich mich gestern morgen in Agadir noch auf Meereshöhe befunden, und ich noch vor wenigen Tagen an einer Durchfallerkrankung laboriert habe, stecke ich die dünne Luft hier oben überraschend gut weg, nehme aber sicherheitshalber große Mengen Wasser zu mir, und bin dann doch ganz froh über die Tatsache, daß ich bei diesem Aufstieg „gepäckbefreit“ bin.

Schließlich gelange ich zum Gipfel, der mit eine nüchternen Stahlkonstruktion in Form einer Pyramide markiert ist, welche den höchsten Punkt Nordafrikas kennzeichnet. 4167 Meter sind erreicht. Die Freude des Gipfelsieges und die herrliche Aussicht über die schroff - karge, eine sehr eigenwillige Faszination ausströmende Gebirgswelt teile ich mit einem jungen Marokkaner, der schon vor mir oben angekommen ist. Wir steigen schließlich gemeinsam ab, unterwegs treffen wir noch auf die beiden von der Anstrengung bereits gezeichneten Holländer, denen ich noch die letzte Richtungsweisung gebe, auch sie werden wohl den Gipfel erreichen. In der Nähe des Refuge fließt ein Gebirgsbach hinunter, der dort allerlei kurioses Grünzeug gedeihen läßt, an dem sich eine Herde Ziegen labt. Zum Abschluß passieren wir noch einen kleinen Wasserfall, dann stehen wir auch schon wieder vor der Hüttentür. Mein Begleiter will noch runter ins Dorf Aroumd, wo seine Mutter wohnt, er selbst studiert in Marrakesch. Es ist zwar schon spät, aber da der Weg nach Aroumd purer Abstieg ist, müßte er es eigentlich vor Einbruch der Dunkelheit noch schaffen.

Ich genieße jetzt rundum zufrieden die Abendsonne vor der Hütte, den prächtigen Blick hinunterwärts in das Hochtal, durch welches ich heute morgen noch aufgestiegen war. In der Umgebung der Hütte hat sich ein großes Zeltlager gebildet, Maultiere grasen in der Umgebung, aus der Ferne höre ich einen Berber ein Liedlein singen, der Rauch der Lagerfeuer steigt empor, echte Basecamp – Atmosphäre! Die Nacht im Matratzenlager verbringe ich zwischen einer Gruppe von Engländern, wo ich dann meine Entscheidung, in der Hütte zu nächtigen, fast wieder bereue. Das Gefurze , Geschnarche und Getuschle und der Aufbruch der Gruppe noch vor Sonnenaufgang mit entsprechendem Geraschel und Gekrustel beim Rucksackpacken läßt mich eine schlechte Nacht verbringen.

Trotzdem hält es mich nicht lange im Schlafsack, und nach einem bekömmlichen Frühstück begebe ich mich zunächst Richtung Talabschluß, wo die umliegenden Berge einen eindrucksvollen „Cirque“ bilden. Die erste Paßüberschreitung erwartet mich dann schon bald linkerhand, in südöstlicher Richtung, wo der Weg in gemächlichen, aber durchaus schweißtreibenden Serpentinen den „Cirque“ überwindet. Stolze 3684 m sind dann im Sattel des Tizi – n – Ouanoums (Tizi = Paß) erreicht, die so manch Einen schon kurzatmig werden lassen. Bereits beim Aufstieg kommen mir die ersten Gepäcktransporte der Trekkinggruppen entgegen, die auf der anderen Seite, am Ufer des bei den Berbern als geweihter Ort geltenden Lac d ´Ifni biwakiert haben. Viele Berber meiden übrigens den See, weil sie dort böse Geister wähnen.

Immer wieder begegnet man mir mit der Frage „vous étes fatigé?“ (sind Sie erschöpft?), in der Hoffnung, daß ich bejahe, und noch ein kleines Geschäftchen auf die Schnelle gemacht werden kann. Ich bleibe jedoch stur wie ein Maulesel und beantworte die Frage jedesmal mit einem überzeugend klingenden „non, ca donne d´exercise!“ und ich sehe das Ganze sehr wohl auch als eine gute sportliche Übung. Ein letztes Mal schweift dann auf der Paßhöhe mein Blick zurück zu den mächtigen Gipfeln des Toubkal – Massivs. Nirgendwo sonst reckt sich der Hohe Atlas mehr in die Höhe, wo sich der ambitionierte Bergsteiger außer einem zusätzlichen halben Dutzend weiterer 4000er auch noch einige Riesen, die diese Marke nur knapp unterschreiten, einverleiben kann

Schließlich geht es auf der anderen Seite auf reichlich Schutt hinunter, was ein paar Franzosen dazu veranlaßt, hier slalommäßig „abzufahren“. Ich selbst kann mich beherrschen, ich will meine Knochen schließlich heil unten anbringen. Im gesamten Gebirge findet man übrigens massenweise Schutt und Geröll, auch hat man eigentlich immer ziemlich Staub in der Nase und zwischen den Zähnen. Die Erklärung für dieses Phänomen findet sich in den meist extremen Temperaturunterschieden zwischen Tages – und Nachtzeit, die das Gestein zum Bersten bringen und den Hohen Atlas vermutlich im Laufe von Jahrmillionen zu einer einzigen Schuttwüste abtragen werden.

Etwas weiter unten, immer noch im Abstieg, wird der Weg dann von einem Kaskaden bildenden Gebirgssbach begleitet, der den See jedoch nicht erreichen soll, da er sich irgendwann nach und nach der Trockenheit ergibt, und schließlich nur noch das Bachbett zurückläßt, das in einem riesigen, wüstenhaft wirkenden Geröllfeld mündet, eigentlich schon Teil des Sees, der in wasserreichen Zeiten mehr als das Doppelte seiner momentanen Größe hat. Nach einer kleinen Rast am Seeufer, die ich unter dem sonnengeschützten Strohdach eines Limonadenhändlers zubringe, wo sich auch ein wenig Konversation mit einem einheimischen Tourenführer bietet, zieht sich jetzt der Weg, den See auf der Nordseite traversierend, langsam, aber sicher wieder, schöne Ausblicke auf dessen tiefblau schimmernde Oberfläche gewährend, in die Höhe. Der Lac d´Ifni liegt nur noch auf knapp 2300 m, es geht jetzt auch nicht mehr allzu weit hoch, um dann gleich wieder abwärts zu führen, Richtung dem geographischen „Zwischentiefpunkt“ meiner Wanderung, dem Berberdorf Amsouzart.

Die Sonne brennt jetzt mächtig aufgrund der geringeren Seehöhe. Hier befinden wir uns auch schon auf der südlichen, der Sahara zugewandten Seite dieser mächtigen Bergkette, und die Berge ringsum wirken nun völlig arid, in ocker – und gelbfarbenen Tönen vermitteln sie einem jetzt den Eindruck einer Gebirgswüste. Um so mehr überraschen mich jetzt die Berberdörfer, die sich hier auf einer staubigen Erdtrasse wie auf einer Perlenschnur aneinanderreihen. Sollte es jemals den Garten Eden gegeben haben, genau so muß er wohl ausgesehen haben. Mein Blick gleitet über das üppige Grün dort unten in der Talsenke, die durchsetzt ist mit diesen typischen, erdfarbenen Flachdachhäusern, wie man sie in vielen Wüsten- und Halbwüstengebieten Nordafrikas, der arabischen Halbinsel und Zentralasiens antrifft.
Gleich den eindrucksvollen Speicherburgen entlang der „Straße der Kasbahs“ sind auch diese Behausungen meist aus gebranntem Lehm, oder aber auch aus soliderem Stein, geschaffen. Terassenanbau wird hier betrieben, Mais, Feigen und alle möglichen anderen Arten von Früchten und Getreiden gedeihen hier. Das Wasser wird zentriert und wie in den Oasen auf die Felder gelenkt und entstammt, schier unglaublich , aus den hier so ausgedörrt scheinenden, umliegenden Bergen. Die Schönheit und die Anmut der hiesigen Bergdörfer darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bevölkerung hier überwiegend in der Armut lebt, und man trifft immer wieder auf Kinder, die entweder nach „Dirham“ oder „Stylo“ (Kugelschreiber) betteln. Man sollte diesem Flehen eigentlich nur dann nachgeben, wenn durch die Kinder eine Dienstleistung erbracht wurde, wie z. B. das Zeigen des Weges, um diese nicht zu Bettlern zu erziehen, die sich dann, statt in die Schule zu gehen, lieber an die Touristen hängen.

Auch ist der Kugelschreiber dem Dirham vorzuziehen, da dieser nicht nur als Prestigeobjekt dient. In Marokko schätzt man das Analphabetentum auf ca. 50 %, die allgemeine Schulpflicht existiert zwar auf dem Papier, in der Praxis sieht es jedoch oft so aus, daß sich viele Familien die elementare Grundausrüstung für den Schulbesuch, nämlich Heft und Kugelschreiber, nicht leisten können, und oftmals die Kinder schon allein deswegen nicht zur Schule geschickt werden; man könnte daher die Bezahlung einer Dienstleistung mittels eines Kugelschreibers durchaus als kleine „Entwicklungshilfe“ ansehen. Leider war ich mir bei der Vorbereitung meiner Reise dieser Tatsachen selbst noch nicht bewußt, weshalb ich jetzt keine Kugelschreibersammlung bei mir führe, dies jedoch schon bald bedauere.

Als ich dann in Amsouzart meinen Wasservorrat wiederaufgefüllt habe, stellt sich mir hier ein etwas kurioses Problem, nämlich wie komme ich wieder aus dem Dorf heraus? Die Leute wollen natürlich, daß der Tourist in ihrem Dorf nächtigt, aber ich, der eilige Wanderer, will heute noch ein gutes Stück vorankommen. Jedenfalls werde ich vom einen Ende zum anderen geschickt, ich soll zermürbt werden, man will mich sozusagen auf diese Weise zum Bleiben „überreden“, was ich zwar durchaus verstehen kann, ich bin aber trotzdem gewillt, meine Wanderung fortzusetzen, und finde auch schließlich, nach langem Hin und Her den richtigen Weg auf eigene Faust.

Nordwärts geht es jetzt wieder auf einem breiten Weg hoch über einer vom Fluß Assil – n – Tisgui gegrabenen Schlucht . Unterwegs treffe ich eine junge Französin , die sich mit ihrer Trekkinggruppe in Amsouzart einquartiert , und die frühe Ankunft dort zu einer kleinen Wanderung ins nächste Dorf genutzt hat. Sie sagt, daß dort niemand mehr französisch spricht. Ich mache die selbe Erfahrung, als ich die Siedlung mit dem Namen Aguerzrane erreiche. Mein Gruß wird dennoch immer als solcher verstanden und es wird stets freundlich zurückgegrüßt. Dieser Abbruch der Verständigungsmöglichkeit auf französisch findet abrupt statt, nur wenige Kilometer von Amsouzart entfernt. Ab hier trifft man auch kaum noch auf Trekkinggruppen.

Weiterhin hoch über der Schlucht des Assil -n- Tisgui verlaufend, führt mich der eindrucksvolle Weg ins Dorf Timzakine. Ein berittener Alter überholt mich unterwegs auf einem Esel, begrüßt mich mit einem breiten Grinsen auf dem wettergegerbten Gesicht, zwei etwa 6 bis 7 Jahre alte Jungs gesellen sich zu mir und begleiten mich auf meinem Weiterweg. In einer Dorfgasse dringt der Duft von abbrennendem Haschisch in meine Nase. Hier in den Bergen mag es wohl jedem Bewohner selbst überlassen sein, ob er konsumiert oder nicht, die nächstgelegene Polizeistation dürfte wohl ein paar Tagesmärsche entfernt sein.

Wir haben zwischenzeitlich die Talseite gewechselt und gelangen ins Dorf Tagadirt, wo uns auch der Alte wieder begegnet. Offensichtlich wohnen auch die beiden Jungs hier. Ich beschließe, oberhalb des Dorfes zu zelten. Die Zwei haben begriffen, und führen mich hinauf hinter die letzten Häuser, wo sich auch prompt ein flaches, wenn auch kleines Plätzlein findet, direkt neben einem Anwesen. Da ich nicht überheblich auftreten will, hole ich mir die Erlaubnis zum Zelten von einer Frau, die im Hof des Hauses mit der Wäsche beschäftigt ist. Für die Wegweisung erhalten meine beiden Fremdenführer jeweils einen Dirham als Entlohnung. Sie begeben sich aber nicht etwa nach Hause, sondern verweilen interessiert, miteinander tuschelnd. Ich bin für die beiden eine kleine Sensation, eine willkommene Abwechlung, und ihre Neugier scheint keine Grenzen zu haben. All meine Tätigkeiten finden nun unter ihren gebannten Blicken statt: das Aufbauen des Zelts, das Auspacken von Isomatte und Schlafsack, auch den Reisewecker stelle ich zum Kopfende meines Schlaflagers. Ich erlaube ihnen, ins Zelt hinein zu kommen. Auch meine Militärstiefel, sowie Kompaß, Stirnlampe und Landkarte finden ihre Bewunderung. In Marrakesch habe ich eine Art Lyoner gekauft, die mir zu trocken und auch etwas zu scharf gewürzt ist. Ich überlasse sie den Beiden, im Glauben, damit etwas Gutes getan zu haben. Die Beiden ziehen sich zurück, tauchen aber nach einer Weile wieder auf, und geben mir die Wurst zurück. Trotz der offensichtlichen Armut essen auch sie nicht einfach alles und somit scheint doch nicht mein europäischer Gaumen, sondern der marokkanische Metzger daran schuld zu sein, daß die Wurst nicht schmeckt.


Nach dem Essen ziehe ich mich zum Lesen in mein Zelt zurück, die beiden Jungs bleiben draußen immer noch tuschelnd zurück, ich bin sicher, sie werden morgen früh wieder hier sein, vermutlich noch bevor ich aufwache.

Meine Vermutung bestätigt sich, denn als ich des Morgens aus dem Zelt krieche, sind die Beiden schon wieder da und sie begleiten mich auch ein gutes Stück auf meiner morgendlichen Wanderung, bis es ihnen dann doch zu anstrengend wird, und sie schließlich kehrt machen. In stetigem bergauf gelange ich in die Ortschaft Annsfiune. Noch ehe die wunderschönen Steinhäuschen erreicht sind, kündigt sich die Siedlung durch sattgrüne Terrassen an, auf denen zahlreiche Bewohner bereits die Feldarbeit verrichten. Auch hier verfolgen mich neugierige Blicke, besonders der Kinder. Ein kleiner Junge fällt mir auf, der von einer wüsten Hautkrankheit befallen ist. Die oftmals nicht ausreichende Hygiene und der Mangel an medizinischer Versorgung überlassen solche Fälle der Hilflosigkeit.

Als ich eine im Türrahmen stehende junge Berberfrau nach dem Weiterweg ("Tizi -n- Ourraine") frage, trete ich beinahe ins Fettnäpfchen. Sie weist mir laut lachend den Weg, schreit etwas auf berberisch ins Haus hinein, wo ebenfalls weibisches Gelächter ausbricht und sogleich lachende und schnatternde Frauengestalten im Hintergrund erscheinen. Den nebenan um einen Tisch im Schatten eines riesigen Baumes zum Tee sitzenden Herren hat das offensichtlich nicht gefallen, denn sofort mischt sich einer von ihnen mit etwas barschem Ton ein: wohin ich den wolle, fragt er mich auf französisch. Mir scheint, ich hätte mich wohl gleich an die Männer wenden sollen. Fremde Frauen anzusprechen, noch dazu als Europäer, geziemt sich dann wohl doch nicht.

Ein langgezogener Anstieg setzt sich hinter dem Dorf fort, bald lasse ich auch die Anbauterrassen hinter mir und befinde mich wieder in schroffer, von Büschen und einzelnen Bäumen karg bewachsener Felsenlandschaft. Auf der Anhöhe von 3109 Metern habe ich den Paß Tizi -n- Ououraine erreicht, unter dem sich zwei Täler gabeln. Das rechts Richtung Osten verlaufende Tal würde zum abgelegenen Weiler Azib -n- Ououraine führen. Durch das geradeaus vor mir sich öffnende Tal führt indes mein Weiterweg. Auch dieses Flußtal präsentiert sich mir wiederum karg, aber trotzdem landschaftlich faszinierend. Dort, wo der Bach Wasser führt, sprießt es herrlich grün. Plötzlich kullern Steine von einer Felswand herunter. Als ich den Blick nach oben richte, sehe ich, wie sich eine junge Ziege in die Felsen hineinverirrt hat und jetzt mit kläglichem Pläken wohl das Muttertier auf sich aufmerksam machen will. Die Versuche des Tiers, über schmale Felsabsätze wieder nach oben und somit aus der prekären Situation wieder hinaus zu gelangen, lösen immer wieder kleine Steinschläge aus. Ich halte inne, kann dem Tier allerdings nicht helfen. Zu meiner Verwunderung gelingt es der kleinen Ziege nach einer Weile doch noch, sich selbst aus der Not zu befreien und wieder sicheres Gelände zu erreichen. Ein schwacher, nicht lange anhaltender Schauer mit eiskalten Tropfen geht nieder und zwingt mich für kurze Zeit in meine Jacke.

Ich ziehe weiter, werde eine Weile lang von einem Händler begleitet, der Holzbretter auf sein Maultier geladen hat Er selbst trägt natürlich kein Gepäck und der Muli legt einen Zahn zu, weshalb ich die Beiden ziehen lasse. Ein gutes Stündchen später werde ich erneut überholt, von einer Frau und einem Mann, beide beritten. Sie sind in den prächtigsten traditionellen Gewändern gekleidet, und bestimmt auf dem Weg zu einer Hochzeit oder einem ähnlich bedeutenden Fest. Auch denke ich, daß die beiden einer höheren Gesellschaftsschicht angehören, auf alle Fälle hätten sie bestens auf das Umschlagsbild eines Polyglott - Reiseführers gepaßt!

Der Weg führt mich immer weiter abwärts, hinein ins quer zu meiner Route verlaufende Tal des Assif Tifni. Prächtig breitet sich unter mir der Talboden aus, hier wieder mehr begrünt, als auf der nun hinter mir liegenden Südseite. Silbern spiegeln die Wasser des mäandrierenden Flüßchens zwischen fruchtbaren Ackergründen. Ich befinde mich hier mitten im Hohen Atlas, und dieses Tal ist, wie wohl kein weiteres mehr, welches ich passiere, völlig weltabgelegen. Trotz seiner augenscheinlichen Fruchtbarkeit ist diese Talschaft mit nur wenigen, winzigen und weit verstreuten Weilern besiedelt. Ich quere dieses faszinierende Tal, indem ich den Bachlauf überschreite und am anderen Ufer den Weiler Likemt erreiche. Inzwischen ist mein Wasservorrat zu Neige gegangen und ich erfrage bei einer Gruppe auf dem Feld arbeitender Frauen, ob es möglich sei, hier Mineralwasser zu erstehen. Ich werde zu den weiter oben liegenden Behausungen verwiesen. Dort angekommen, treffe ich auf einen Australier und seinem einheimischen Führer. Der Australier sagt mir, daß er schon seit Beginn seines Trips im Hohen Atlas das hiesige Wasser konsumiere, ohne Entkeimungstabletten zu verwenden. Bislang seien keinerlei Schwierigkeiten aufgetreten.

Ein Bewohner tritt hinzu und der Führer des Australiers trägt diesem mein Anliegen vor. Mineralwasser könne er mir nicht besorgen, wohl aber Coca - Cola! Sapperlott, die weltberühmte Ami - Marke hat es tatsächich auch in diesen weltvergessenen Gebirgswinkel geschafft! Ich müsse allerdings wieder hinuntersteigen, in den unteren Teil des weitgestreuten Dorfes. Mir fällt die Kinnlade runter und offensichtlich sind mir die hinter mir liegenden Strapazen ins Gesicht geschrieben. Der junge Berber erbarmt sich meiner, und nimmt allein den Weg nach unten, um mir zwei Flaschen Coca - Cola zu bringen, noch dazu eisgekühlt! Daß ich da ein gutes Bakschisch springen lasse, versteht sich von selbst. Seit der jungen Französin hinter Aroumd sind mir keine weiteren Touristen mehr begegnet, und auch der Australier ist seinerseits überrascht ob meines Erscheinens, noch dazu ohne Führer. Wir plaudern noch ein wenig, liegen bequem auf einer freien Rasenfläche, umgeben von üppig bestandenen Maisfeldern, und der Blick schweift hinab ins traumhafte Tal, erfaßt die schroffen, geröllreichen Berggipfel, die uns wie Mauern auf nahezu allen Seiten umschließen, typische Steinhäuser liegen wie große Felsbrocken im Talgrund verstreut.

Obwohl meine Etappe ziemlich lang war, will ich noch einen draufsetzen und die Paßhöhe Tizi -n- Likemt heute noch überschreiten. Vorher tanke ich aber meine Wasserflaschen voll, indem ich es dem Australier gleichtue, und das zur Bewässerung der Terrassenfelder dienliche Wasser benutze. Eine andere Chance habe ich ohnehin nicht, und da ich davon ausgehe, das die Bewohner von Likemt nicht von Coca - Cola alleine leben und Mineralwasser in Flaschen nicht vorhanden ist, werden auch sie wohl dieses Wasser trinken. Um es vorwegzunehmen: das Wasser ist einwandfrei, und ich werde ab sofort nur noch auf diese Weise meinen Wasserverbrauch bis zu meiner Ankunft in Setti Fatma decken.

Ein bekanntes koffeinhaltiges Getränk wirbt mit einem Spruch, den ich von nun an auch auf den braunen Sirup aus den USA münze: Coca - Cola verleiht Flügel! Die Mischung aus Koffein und Zucker putscht Körper und Geist dermaßen auf, daß ich mit einer Leichtigkeit und Fröhlichkeit zur Paßhöhe hinaufsprinte, an die ich bei meiner Ankunft in Likemt nicht im Traum zu denken gewagt hatte! Mein Vorhaben, auf der anderen Seite des Passes einen geeigneten Lagerplatz ausfindig zu machen, um dort zu nächtigen, stellt sich als nicht zu einfach heraus, denn das Gelände zeigt sich ziemlich wiederspenstig, was die Eignung als Zeltplatz anbelangt. Mehr schlecht als recht steht schließlich mein Zelt schräg im Hang, wie immer natürlich auf steinigem Untergrund, ohne Abspannmöglichkeit mittels Heringen, fast schon an ein Notbiwak erinnernd. Dafür habe ich einen wunderbaren abendlichen Ausblick auf die unter mir vom Talgrund den Gegenhang hinaufsteigenden Behausungen des traumhaft schönen Bergdorfes Tacheddirt. Dieses liegt in einem, gleichfalls wie das Tal von Likemt, grob West - Ost verlaufenden, tief eingeschnittenen Flußtal. Linkerhand, sprich im Westen würde sich eine Variante der Umrundung des Toubkal - Massives bieten, nämlich die Überschreitung des Passes Tizi -n- Tamatert (2279 m), wo auf der anderen Seite der Weg zurück zu meinem Ausgangspunkt Imlil führen würde. Im Norden führt der Tizi -n- Eddi (2928 m) hinüber in den bekanntesten Skiort Marokkos, nämlich nach Okkaimeden. Dort befinden sich die meines Wissens einzigen Skilifte des Landes. Während ich meine malträtierten Knochen vor dem Zelt ausstrecke und den traumhaften Sonnenuntergang genieße, dringt Hundegebell vom Ort hinauf in die Bergstille, diese Laute sind im Hohen Atlas, wie bereits erwähnt, eher selten zu hören.

Mein Weiterweg führt mich anderntags nur perifer durch die Ortschaft und setzt sich in einem prächtigen Schluchtenweg fort. Kinder lachen mich an, ein paar Frauen rufen mir vom Feld aus zu, wollen mir Haschisch verkaufen. Also aufgepaßt, Kiffer: ihr braucht nicht unbedingt ins Rif - Gebirge zu fahren, dafür müßt ihr aber kräftig marschieren, um hierher zu kommen, hähä! Von 2300 Metern geht´s jetzt abermals aufwärts, zum letzten Paß meiner Wanderung: der Tizi -n- Tacheddirt wartet nochmals mit 3172 Metern auf. Etwas unterhalb der Paßhöhe treffe ich auf drei Männer, die um ein kleines Feuerchen im Gras liegen, auf der Feuerstelle brutzelt ein Teekännchen, ich werde eingeladen. Drei Generationen scheinen hier miteinader unterwegs zu sein, den Jüngsten nennen sie Bob Marley. Ich ahne schon, und hoffe, daß der Tee auch wirklich nur aus Schwarzteeblättern gebrüht ist. Nach dem eingänglichen Woher, Wohin und hast du Familie wird das Gespräch gleich auf den Vorschlag der Drei gelenkt, im auf der anderen Paßseite gelegenen Dorf, wo sie herkommen, zu übernachten. Alle möglichen Vorzüge werden herbeigezogen, auch der, daß dort unten alles wachse, Mais und andere Sachen . . . Die zweite Teetasse lehne ich dankend ab, da sie wohl einer Geschäftseinigung gleichgekommen wäre. Ich verabschiede mich und erreiche bald die Paßhöhe, wo ein schöner Bergweg abwärts führt.

Iabbassene heißt die erste Ortschaft, durch die ich komme. Ich befinde mich hier in einem Nebental des Ourika - Tales. Am Ortseingang befindet sich ein kleines Refuge, ich komme mit dem Wirt ins Gespräch, und ich lasse mich im Hof des kleinen Anwesens zu einer Cola nieder. Der Herbergsvater zeigt mir das Gästebuch mit Eintragungen von breit gestreuter Internationalität, worauf er offensichlich stolz ist. Die Unterkünfte sind einfach, aber gemütlich, Bauart und Ambiente des Refuge sind regionstypisch. Der Wirt ist nicht aufdringlich und zeigt Verständnis dafür, daß ich meine Wanderung noch fortsetzen will, schließlich sind wir immer noch in den Morgenstunden. Ich verspreche ihm, sollte ich eines Tages nochmal in diese Gegend kommen, würde ich meine Etappen so planen, daß ich bei ihm übernachten könnte. Am anderen Ende der Ortschaft werde ich durch einen weiteren Mann angesprochen, der mich gleichfalls zu einem Verbleib in seinem Haus überreden will. Er macht dies jedoch auf eine ziemlich lästige Art und wir geraten in eine Diskussionsschleife, aus der es nicht leicht ist, zu entkommen, ohne unfreundlich zu werden. Hätte ich aus irgendeinem Grund den Beschluß gefaßt, doch noch im Ort über Nacht zu verweilen, so wäre ich ganz bestimmt nicht bei ihm geblieben.

Unter schattigen Feigenbäumen setze ich meinen Weg fort, die zwischenzeitlich aufgezogenen Wolken verdichten sich, der Himmel wird schwarz und schon bald kracht es. Unter einem dichtbelaubten, aber niedrig gewachsenen Baum harre ich dem Ende des Unwetters, als ein uraltes Männlein mit seinem Esel des Weges kommt, und sich zu mir unter den Baum gesellt. Der gute Mann kann leider kein französisch. Aber die Situation ist ungemein witzig. Er betrachtet mich in einem fort, und jedesmal, wenn ich mein Gesicht in seine Richtung drehe, strahlt er über beide Backen. Das Gewitter ist harmlos und nur von kurzer Dauer, nicht einmal der Boden ist richtig feucht geworden, die Tropfen und der aufbrausende Wind waren aber wiederum richtig kalt.

Ich setze meinen Weg fort, das alte Männlein zieht mit seinem Esel Richtung Dorf. Mein schmaler Bergpfad führt mich nun hinunter ins Tal von Ourika. Hier ändert sich einiges: die aus Stein gemauerten Häuser haben eine rötliche Farbe, was wohl an der hier vorherrschenden Gesteinsart liegen mag, jedenfalls sieht´s fantastisch aus. Weniger fantastisch empfinde ich die Tatsache, daß die Kinder vom Ourika - Tal ungemein lästig sind, was mir gleich in Timchichi, dem ersten Dorf, welches ich passiere, unangenehm auffällt. Das Klischee, welches viele selbsternannte "Marokkoexperten" hochhalten, wird in diesen Dörfern leider zur Realität: Die Kinder betteln und können obendrein ganz schön unverschämt werden. Zwei oder drei Dörfer weiter gelangt das Ganze zu Kulminationspunkt: Eine ganze Horde folgt mir laut lachend und schreiend durch´s Dorf und ich komme mir vor wie der Rattenfänger von Hameln. Zusätzliche Belustigung ruft sicher noch die Tatsache hervor, daß ich meinen Abfall in einem am Rucksack festgebundenen Plastiksack mit mir führe. In einer Welt, wo man noch nie etwas von Umweltschutz, wohl aber von reichen Europäern gehört hat, kann man sich leicht vorstellen, was das für ein Gejohle gibt! Ein etwa 7 - 8-jähriges Mädchen kristallisiert sich als Worführerin heraus, und als ich auf die lästige Bettlerei nicht reagiere, fängt die Kleine doch glatt an, mich anzuschreien. Jetzt platzt mir aber der Kragen und mit einem animalischen Brüller fahre ich sie an, sie solle jetzt gefälligst die Klappe halten! Es wird zwar weiterhin gelacht, aber das übermütige Geschrei hat schlagartig aufgehört, und die Kinder hören jetzt auch auf, mir zu folgen, so daß ich in Ruhe meinen Weg fortsetzen kann. Was für ein Unterschied zu den nur wenige Kilometer Luftlinie entfernten bisher passierten Talschaften, zu meinen kleinen Freunden in Tagadirt! Es gibt eine bestimmte Gruppe von Marokkoreisenden, die sich nur im Rif - Gebirge und in gewissen verrufenen Städten im Norden des Landes aufhalten und somit oft keine anderen Erfahrungen machen. Ich bin jedenfalls der Meinung, daß derlei Belästigungen von Region zu Region unterschiedliche Intensität haben können oder auch gar nicht vorkommen. Zudem sollte man sich vor Augen führen, daß man in Marokko zwar gelegentlich belästigt wird, brutale Überfälle, die Verletzung oder Tod der Betroffenen zur Folge haben, wie dies zum Beispiel andernorts insbesondere in gewissen Ländern Lateinamerikas, oder etwa in manchen Großstädten der "hochentwickelten" USA der Fall ist, kommen jedoch so gut wie gar nicht vor.

Unter mir tost das gelblich - schmutzige Wasser des Flusses Ourika. Dieser hatte vor Jahren eine Spur des Elends und der Verwüstung im Tal hinterlassen, als er nach heftigen und anhaltenden Regenfällen über sein Bett hinaustrat und zahlreiche Opfer mit sich riß. Die letzten paar Kilometer bis Setti Fatma verwandelt sich mein Bergpfad in eine breite Fahrpiste, auf der mir allerdings keine motorisierten Fahrzeuge begegnen. Ich verstehe zwar weder arabisch geschweige denn Berberdialekt, aber der Unterschied im Klang dieser Idiome wird mir sofort bewußt, als ich Setti Fatma erreiche. In diesem Straßendorf wird wieder hauptsächlich arabisch gesprochen, man findet zahlreiche kleinere Hotels, Restaurants und Andenkenläden. Natürlich kehren hier auch wieder die Autos zurück und viele marokkanische Ausflügler und Urlauber geben sich hier ein Stelldichein. Rucksackbepackte Touristen sind in der Minderheit, Pauschalis trifft man hier überhaupt nicht.

Ich quartiere mich in einem der Hotels ein, wo ich endlich wieder in den Genuß einer Dusche komme, auch wenn das Wasser kalt ist. Umgezogen erscheine ich dann im Restaurant, wo ich mir eine Tajin (marokkanische Nationalspeise) bestelle, die ich genüßlich verschlinge. Es ist das erste warme Essen seit meinem Aufbruch in Marrakesch und ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, daß mir der Verzehr einer Tajin noch vor etwa 8 oder 9 Tagen wohl nur Brechreiz und einen erneuten Gang zur Toilette beschert hätte. Inzwischen ist es dunkel geworden, doch auf der Straße herrscht immer noch Leben, eine Tatsache, die mir in den zurückliegenden Tagen zwar ungewohnt geworden ist, mir allerdings auch nicht unbedingt gefehlt hat. Trotzdem gefällt mir der Ort. Setti Fatma besitzt noch jede Menge marokkanisches Flair und liegt in einer wundervollen Gegend. Auch stellt die Ortschaft einen hervorragenden Ausgangspunkt für Bergexkursionen dar, die sich nicht nur auf den von mir begangenen Weg beziehen und auch nicht unbedingt mehrtägig sein müssen (wohl aber sehr empfehlenswert sind!). In Ortsnähe soll sich zudem auch eine Gruppe sehenswerter Wasserfälle befinden.

Frühmorgens bitte ich den Hotelinhaber, mir ein Taxi zu bestellen, das mich gleich nach dem Frühstück zurück nach Marrakesch bringen soll, nach all den Strapazen freue ich mich nun auf ein gemütliches Urlaubsende mit Strand und softly sightseeing zusammen mit meinen beiden Mädels. Noch während des Frühstücks trifft ein Taxi ein, das mit einem Franzosen als Fahrgast besetzt ist, welcher sich offensichtlich nur hierherkutschieren ließ, um sich ein wenig umzuschauen, um sogleich wieder nach Marrakesch zurückzukehren. Ich werde auf dieses Taxi verwiesen. Der Fahrer zeigt sich ziemlich miesepetrig, und ich bin schon drauf und dran, ihm zu sagen, er solle mich am Arsch lecken. Ich beherrsche mich jedoch, da ich andererseits auch keine Lust verspüre, Ewigkeiten lang auf ein neues Taxi zu warten. Mit dem Franzosen werde ich auch nicht so richtig warm , das könnte aber auch an den immer noch schwachen Kenntnissen dieser Sprache meinerseits, und der völligen Unkenntnis des Anderen von Fremdsprachen liegen.

Die Straße durch´s Ourika - Tal ist fabelhaft, eine echte Bergstrecke, die in wilden Kurven am schwindelerregenden Schluchtrand entlang durch ein paar nette Straßendörfer führt. Ich kann jedem empfehlen, auch wenn er nicht vor hat, zu wandern, zumindest diese Fahrt von Marakkesch hinauf nach Setti Fatma zu unternehmen. Unterwegs machen wir allesamt durch die Unaufmerksamkeit des Fahrers schier den Abgang in die Dschehenna, nur eine heftige Bremsung rettet uns vor dem Sturz hinunter in die Schlucht. Daraufhin bessert sich die Laune des Konduktors mir gegenüber, er wird nun richtig freundlich und gesprächig, sein Fehler ist ihm offensichtlich peinlich. Nur gut, das könnte sich auch auf den Fahrpreis auswirken.

In Marrakesch muß ich ein Stadttaxi nehmen, um zum richtigen Busbahnhof zu gelangen, von wo aus ich nun schon zum drittenmal in diesem Urlaub auf der Strecke Marrakesch - Agadir reise. Außer der eher belustigenden Tatsache (vorausgesetzt, man merkt es rechtzeitig!), daß mir zwei kleine Jungs eine Flasche mit ungereinigtem Wasser verkaufen, verläuft die Rückkehr ohne Zwischenfälle.

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