Grenzgängerei zwischen Frankreich und Spanien (30.07. - 24.08.2001)
Mit der Durchquerung der Hochpyrenäen erreiche ich im Hinblick auf Umfang und Dauer der Tour einen vorläufigen Höhepunkt meiner bisherigen Wanderreisen. Nahezu vier Wochen war ich unterwegs, habe ungefähr 25 Pässe überquert und drei der markantesten Gipfel dieses Gebirges bestiegen, allesamt Berge, welche die 3000er – Marke überschreiten, unter ihnen der höchste Pyrenäengipfel, der Pico de Aneto. Eine großartige, faszinierende Wanderung liegt hinter mir, aber auch sehr viel Mühe und Plage in so manch harter Tagestappe hatte ich zu bewältigen. Da man hierzulande meist unzureichend über das Ausmaß der Pyrenäen und die dort herrschenden Verhältnisse informiert ist, will ich vorab darauf hinweisen, daß eine sichere Durchquerung der Zentral – oder Hochpyrenäen nur während der Hochsommermonate ab Mitte Juli bis ungefähr Mitte oder Ende Oktober in Frage kommt, alle Unternehmungen außerhalb dieser Zeit bleiben Skibergsteigern und Begehern mit Wintererfahrung vorbehalten, da dann spezielle Schwierigkeiten wie Wegfindung im verschneiten Gelände, Einschätzungsvermögen der Lawinengefahr u.ä. mit zu berücksichtigen sind. Wer Begehungen im 3000er – Bereich mit einplant, sollte auch im Hochsommer mit Pickel und Steigeisen ausgerüstet sein.
Allgemein gelten die Pyrenäen, verglichen mit den Alpen, als das unberührtere und ursprünglichere der beiden Gebirge, wobei der die Bergeinsamkeit Suchende die Zeitspanne von Mitte/Ende Juli bis Ende August meiden sollte, da dann sowohl in Frankreich, als auch in Spanien, wie in allen westeuropäischen Ländern, Schulferien sind und sich dies, besonders in den bekannteren Gebirgsteilen, bemerkbar macht. Besser eignen sich wohl der September bis ungefähr Mitte Oktober, von Kennern ohnehin als beste Zeit für eine Begehung gepriesen .
Die Idee für dieses Unternehmen kam mir bereits vor ungefähr zwei Jahren, als ich auf einen Reisebericht des Briten Kev Reynolds stieß, der mich nachhaltig beeindruckte. Jener Bericht, und das Buch aus der Reihe „Abenteuer Trekking“ von Günter und Luise Auferbauer, finden sich jetzt mit im Gepäck als Anregung für meine eigene Traversierung. Des weiteren gibt es in den Pyrenäen drei große Hauptwanderwege, die alle von Küste zu Küste, also vom Atlantik zum Mittelmeer verlaufen, als da wären: der nur die französischer Seite traversierende GR 10, sowie sein spanisches Pendant, der GR11, und die kürzeste, aber auch anspruchsvollste Route, der hauptsächlich auf französischer Seite verlaufende, aber auch immer wieder nach Spanien übergreifende HRP (Haute Route Pyreneenne), der für sich den Anspruch erhebt, immer so hoch als möglich zu bleiben. Dieser HRP und der spanische GR 11 sollen auch meine Hauptrouten sein, den GR 10 benutze ich eigentlich nur, wenn dieser mit der Streckenführung des HRP zusammenfällt.
Meine Anreise in die Pyrenäen verschiebt sich zu Beginn um zwei Tage, da ich mit einer Gruppe des Alpenvereins zunächst zu einer interessanten Besteigung in die Berner Alpen reise, dann aber direkt von dort den Nachtzug ab Genf Richtung Südfrankreich nehme. Ausgangs – und Endpunkt meiner Durchquerung sollen dieselben sein, wie bei der von Kev Reynolds, begangenen Route, nämlich als Auftakt das Bergdorf Lescun in den französischen Pyrenäen, sowie als Ziel der kleine Bergstaat Andorra. Unterwegs, bereits im Zug von Spiez nach Genf, lerne ich Andreas aus Bonn – Bad Godesberg kennen, der zwar nicht als Pyrenäendurchquerer unterwegs ist, sich dafür aber den spanischen Camino de Santiago vorgenommen hat, diesen wohl bekanntesten Pilgerweg Europas. Die lange Anreise wird somit kurzweilig, beinahe verpasse ich vor lauter Palavern noch den Ausstieg im südfranzösischen Städtchen Pau. Dort erwische ich prompt auch einen Bus nach Laruns. Der Fahrer erklärt mir allerdings unterwegs, daß ab Laruns keine Busse nach Lescun verkehren. Da muß ich wohl bei meinen Vorabrecherchen einer Ente aufgesessen sein, was mich jetzt allerdings wenig juckt, denn Laruns, eine nette, typisch südfranzösischer Ortschaft, liegt ja eigentlich schon in den Pyrenäen, also warum nicht von dort aus schon losmarschieren? Zudem gehört Laruns bereits zum Einzugsgebiet der Hochpyrenäen. Da ich mir aber keinesfalls Lescun und seinen beeindruckenden Cirque entgehen lassen, und auch ein bißchen den Flair der West – oder atlantischen Pyrenäen erleben möchte, beschließe ich also, von Laruns nach Lescun zu wandern, in diesem Fall zuerst einen Bogen zurück nach Westen zu machen, bevor ich dann ab Lescun in meine West - Ost Durchquerung einschwenke. Dieser Umweg nimmt jedoch mehr Zeit in Anspruch, als ich mir das zunächst gedacht habe. Volle zwei Tagesetappen bin ich unterwegs, bis ich, zwei Pässe überschreitend, drei Täler durchquerend und einige wunderschöne Pyrenäenorte durchwandernd, in Lescun eintreffe. Doch langsam, schön der Reihe nach!
Nachdem ich mich in Laruns mit den benötigten Karten und genügend Proviant eingedeckt habe, geht es gleich los, erst mal eine Stunde in die falsche Richtung, und nochmals eine Stunde wieder zurück, übrigens einer der wenigen Patzer, die mir auf französischer Seite wiederfahren. Aber ich habe noch jede Menge Geduld, vor mir liegen schließlich noch annähernd vier Bergwochen! Allerdings bin ich nach den zwei Stunden schon völlig naßgeschwitzt, Laruns liegt einfach noch zu tief, und die hochsommerliche Hitze, kombiniert mit einer extrem hohen Luftfeuchtigkeit, hauen mich schier um. Der jetzt folgende Aufstieg wird dann auch schon zur Plage: von einem anfänglich recht übersichtlichen, breiten Weg , bleibt bald nur noch ein schmaler, mit allem möglichen Dornengestrüpp beinahe zugewachsener Pfad übrig. Ständig verfange ich mich mit meinem Rucksack, der mir diesmal eh schon schwerer als sonst vorkommt (ist er auch!), in diesen wildwuchernden Gewächsen. Hierzu werde ich von tausenden hinterlistiger Stechfliegen malträtiert, die mich hier schier auffressen und mir das Leben vollends zur Hölle machen. Hemd und Hose sind klatschnaß, wie wenn ich unter der Dusche gestanden hätte, ich kann mich nicht entsinnen, jemals bei einem Aufstieg dermaßen ins Schwitzen geraten zu sein. Die neu erstandene Landkarte ist bereits in der Hosentasche aufgeweicht und sieht schon schwer lädiert aus, wie wenn ich von einem aus Kübeln gegossenen Gewitter überrascht worden wäre. Dieser Aufstieg deckt sich schon arg mit meiner Vorstellung von einer Dschungelbegehung, aber was beklage ich mich, ich wollt´s ja so haben, und denke an die Hinweise in der einschlägigen Literatur, die ich zu Hause zu Genüge studiert habe: von Abgelegenheit und Unberührtheit war dort die Rede, die Pfade seien oft unmarkiert und gingen häufig unterwegs gänzlich verloren, in manchen Gebieten begegne man tagelang keiner Menschenseele, große Populationen von wilden Tieren, wie man sie sonst kaum noch im Westen Europas antrifft, wie z. B. Braunbär ,Wolf oder Adler, hätten dort noch ihr Revier, in einer vielerorts noch intakten Bergwelt, die dem des Massenandrangs und der Überorganisation in den Alpen überdrüssigen Abenteurer neue, interessante Perspektiven biete.
Irgendwann finde ich mich schließlich doch wieder auf einem gut angelegten Wanderweg, dem ich jetzt folge, bis ich endlich aus dem insektensurrenden Wald hinaustrete und mich auf einer schönen Almwiese wiederfinde, wo sich rechterhand, auf einem kleinen Hügel gelegen, auch ein kleines Abri (frz. Notunterkunft, kl. Schutzhütte) befindet, das jedoch bereits von einer Gruppe Jugendlicher in Beschlag genommen worden ist. Das stört mich nicht im Geringsten, denn weiter hinten sehe ich bereits einen romantischen, kleinen Wasserfall den Felsen hinunterrauschen, davor ebener Wiesengrund, mein Zeltplatz für die erste Pyrenäennacht ist gefunden! Eine eiskalte Wasserfalldusche, die zwar beinahe mein Herz zum Stillstand bringt, dafür aber die erschlafften Lebensgeister in mir reanimiert, stimmt mich doch noch versöhnlich mit diesem strapaziösen ersten Tag, und ich genieße die Abendstimmung vor meinem Zelt, während eine Kuhherde, die vorhin viel weiter hinten geweidet hatte, auf mich aufmerksam geworden ist und sich jetzt neugierig, mit Gemuhe und Gebimmel auf mich zubewegt. Während des Abendessens bin ich dann von der Herde umringt, und die Oberkuh findet gleich Geschmack an meiner Zeltwand. Immer wieder muß ich sie mit einem Schlag gegen das Zelt vertreiben, und, kaum drehe ich ihr den Rücken zu, schleckt und schlabbert auch schon wieder eine lange Kuhzunge über die Plane. Na ja , was soll´s der nächste Regen wäscht´s schon runter, und irgendwie gefällt mir ja dieses tierische Treiben um mich herum, Kühe gehören einfach zu einer zünftigen Landatmosphäre.
Tags darauf geht es dann hinauf zum ersten Paß, wobei ich zunächst etwas auf einen Seitenkamm abdrifte, von wo aus sich bereits der erste Fernblick auf die zum Teil immer noch mit Altschneefeldern durchsetzten Hochpyrenäen bietet. Ansonsten bin ich hier noch von eher harmlosen Bergen umgeben, einer wonnigen Gras- und Felsenlandschaft, der aber noch die Dramatik späterer Landschaftsbilder fehlt. Die Paßhöhe findet sich sodann auch auf etwas über 1700 Meter, wo es dann hinunter geht, nochmals an einem Abri vorbei, und wieder hinein in den von lästigen Fliegen und Mücken geschwängerten Wald. Oben am Paß war mir eine Familie begegnet, die unterwegs Murmeltiere gesichtet hat, ich habe dieses Mal noch kein Glück, diese scheuen Tiere zu Gesicht zu bekommen, werde aber im Laufe meiner Wanderung immer wieder auf diese putzigen Nager stoßen, die wohlgenährt über die Wiesen hoppeln, von denen aber oft auch nur die gellenden Warnpfiffe zu hören sind anbetrachts eines sich nähernden Großsäugers. Unten, in der Waldzone, begegne ich zwei Wanderern, von denen einer sich mir als Bewohner des nächstgelegenen Dorfes Aidus vorstellt, während sein Freund aus dem fernen Nepal kommt. Mal was Neues, ein Nepalese auf Wanderschaft in einem europäischen Gebirge, wo´s doch gewöhnlich immer umgekehrt ist!
Der Abstieg nach Aidus zieht sich noch eine Weile hin, es ist schon wieder verdammt heiß, und ich entschließe mich zu einem Mittagsschläfchen im Schatten auf der Mauer eines Landhauses. Anschließend ziehe ich oberhalb des Dorfes vorbei, der kürzere Weg, als ganz in den Ort abzusteigen, der sich jetzt unter mir pittoresk, mit engen, verwinkelten Gassen und regionstypischen, alten Häuschen an den Berg schmiegt. Unterwegs trinke ich, was das Zeug hält. Die ersten drei Tagesetappen , die , wie eingangs erwähnt, doch noch in relativ geringen Höhen verlaufen, zeichnen sich durch enorme Hitze, kombiniert mit einer mörderischen Luftfeuchtigkeit aus, wodurch ich einen Durchschnittskonsum von 5- 6 Litern Wassern pro Tag erreiche. Hinter Aidus öffnet sich dann die Aussicht hinunter in ein Tal mit der rundlich - bauchigen Form einer Korbflasche. Es erscheint mir zunächst wie eine Tiefebene, als ich jedoch vollends um die Kurve herum bin, erkenne ich, daß es ringsum von Bergen umgeben ist. Von jenem Tal führen wiederum, fast sternförmig, schmale Seitentäler hinein oder hinaus. Hier unten liegen eine ganze Reihe sehenswerter Ortschaften, wobei ich meine heutige Etappe auf dem Campingplatz von Bedous beende, wo ich mich besonders auf eine erfrischende Dusche freue, die zu meiner Enttäuschung jedoch nur Warmwasser führt.
Die nächste Tagesetappe zieht über längere Zeit durch dieses Tal, und in diesem Bewußtsein breche ich am nächsten Morgen sehr früh auf, um das in den Morgenstunden noch erträgliche Klima zu nutzen und soweit wie möglich talaufwärts zu gelangen, wobei ich durch die wunderschönen ländlichen Ortschaften Osse- en-Aspe, Lees, und Athas wandere, die alle mit sehenswerten, mittelalterlichen Ortskernen aufwarten, bevor der Weg schließlich wieder aufwärts führt, in Richtung Lescun. Unterwegs liegt plötzlich Verwesungsgeruch in der Luft, der Kadaver eines riesigen Raubvogels verrottet mitten auf dem Weg. Jetzt macht der Pfad einen Knick nach Westen, läßt das Vallee d´Aspe , das sich geradeaus nach Süden in die Berglandschaft hineinerstreckt, praktisch links liegen, führt mich zunächst mit schöner Aussicht überhalb einer wie auf einem Tisch gelegenen Almenlandschaft vorbei und, nach einem weiteren leichten Knick taucht dann auf einen Schlag die Gemeinde Lescun mit seinem gleichnamigen, berühmten Cirque vor meinen Augen auf. Der Anblick ist atemberaubend: direkt vor mir der wunderschöne, alte Bergort, mit Kirchlein und landestypischen Steinhäusern, ringsum umgeben von einem herrlich grünen, mit einzelnen Bauernhöfen durchsetzten Almengebiet, und über dem Talabschluß thronen dann die wilden, gezackten Kalkgipfel des Cirque de Lescun. Cirque ist die französische Bezeichnung für einen Talabschluß in Halbkreisform, der eben wie die aufsteigenden Ränge einer Zirkusarena das unter sich liegende Vallee abriegelt und genau vor mir liegt ein majestätisches Paradebeispiel für einen solchen Talzirkus. Nachdem ich den Durst an einem Dorfbrunnen gelöscht habe, beschließe ich, im Garten eines der vielen netten Restaurants eine Kleinigkeit zu essen und die ärgste Mittagshitze, gemütlich im Schatten sitzend, zu überbrücken Der Ort Lescun ist übrigens voll auf Wandertourismus eingestellt, was die beträchtliche Anzahl an Gites d´Etappe und Maisons Rural anzeigt, allesamt originelle und meist uralte Natursteinhäuser, wie sie sich hier im Dorf überall aneinanderdrängen. Der Ort strahlt immer noch ein wunderbar ruhiges Ambiente aus und bleibt, mitsamt seiner faszinierenden Umgebung, überaus sehenswert.
Ich wende mich jetzt direkt in Richtung des vor mir liegenden Kalkmassivs, gehe auf die von hier aus noch nicht sichtbaren, berühmten Felsnadeln des Pic d´Ansabere zu, zunächst an verschiedenen kleinen Gutshöfen vorbei, bis zum Ende des Fahrsträßchens . Unten am Fluß genießen einige französische Familien bei Picknick das herrliche Sommerwetter , dann folgt schon der Hinweis auf einer Tafel, daß hier Nationalparkterritorium betreten wird. Auf einer herrlichen Bergwiese, direkt am vorbeirauschenden Bach, beschließe ich dann meinen Wandertag. Etwas weiter unten weiden Pferde, und hinter mir ragt ein kleines Stück der wilden Felszacken des Pic d´Ansabere hervor, ein Biwakplatz wieder einmal vom Feinsten , wie man sie in den Pyrenäen eigentlich fast immer findet.
Der Morgen des folgenden Tages zeigt sich so, wie ich mir eine Pyrenäenwanderung immer vorgestellt habe: Ich steige zunächst ein kleines Stück weiter hinauf, wo ich eine sattgrüne Weide vorfinde, durch die der Bergbach plätschert, Pferde grasen in der saftigen Aue, eines der Tiere wälzt sich genüßlich auf dem Rücken in der Wiese, vermutlich eine Reinigungs- und Massageprozedur, und streckt dabei alle Viere von sich in die Luft. Die Morgensonne hüllt die ganze Szenerie in goldgelbes Licht, und jetzt treten auch direkt vor mir, formvollendet, die beiden Felsnadeln des Pic d´Ansabere hervor, die sich wie zwei riesenhafte Finger gen Himmel strecken. In einem Gefühl der vollkommenen Zufriedenheit gehe ich nun weiter aufwärts durch ein Wäldlein, schließlich eröffnet sich mir abermals eine Almenlandschaft, eine blökende Schafherde weidet oberhalb einer steingemauerten Sennerhütte, wo ein älterer Schäfer gerade mit Handarbeit beschäftigt ist, während sich sein jüngerer Kollege um die Schafherde kümmert. Hier wird noch gekäst, und die Produkte können auch von vorbeiziehenden Wanderern erworben werden. Die Schafherden hier in den Pyrenäen werden übrigens von ähnlichen Hirtenhunden bewacht, wie jene in den rumänischen Karpaten. Allerdings sind diese Vierbeiner hier in den Pyrenäen , was die Reaktion auf fremde Menschen anbelangt, doch um einiges besser erzogen, als ihre grimmigen Brüder im fernen Rumänien. Nach anfänglichem Gebell, auf das ich mit gutem Zusprechen reagiere, folgt ein neugieriges Beschnuppern und der Wanderer kann alsdann in Frieden weiterziehen. Das Phänomen bedrohlicher Hunde ist jedoch nicht etwa nur typisch für Rumänien, vielmehr passiert einem das immer wieder in abgelegeneren, ländlichen Gebieten. Gut erinnere ich mich noch an eine Begebenheit in der Südtoscana, als uns zwei riesige Schäferhunde den Weg streitig machen wollten, oder auch die nächtlichen Erlebnisse auf der thailändischen Insel Koh Samed, wo ich mich, nach ständiger Bedrohung durch die tagsüber so lammfrommen Hunde der Einheimischen, schließlich im Morgengrauen von einem ganzen Rudel eingekesselt sah (die gerade erwachende Hausherrin hatte mich damals gerade noch gerettet), werden mir immer eine unvergessliche Warnung bleiben.
Mein Weg führt jetzt etwas steiler aufwärts, zieht östlich am Pic d´Ansabere vorbei, in Richtung eines Passes, von wo er mich auf der anderen Seite auf spanisches Territorium bringen wird. Der Wind trägt den Geruch von Rauch an meine Nase, der Schäfer hat weiter unten ein Feuer entzündet. Diese sogenannten Pastorenfeuer haben hier in den Pyrenäen eine alte Tradition. Unten im Tal war ich auch an einer Tafel vorbeigekommen, die diese Vorgänge genau erklärt, ich habe allerdings nicht alles verstanden. Ich kann mich jedoch noch gut an eine Fernsehdokumentation über eine Besteigung des peruanischen Vulkans Sangay erinnern, wo die Führer der Tragtiere vor Verlassen des Lagerplatzes die Weideflächen in Brand steckten, mit der Absicht, daß dann auf dem Rückweg dort schon wieder neue, für die Tiere eßbare Triebe nachgewachsen sind; in diesem Zusammenhang sehe ich dann auch den Sinn der Pastorenfeuer in den Pyrenäen. Kurz vor Erreichen der Paßhöhe führt der Weg an einem kleinen Seelein vorbei, wo gerade erschreckt ein Kranich emporsteigt, wobei ich mich wundere, einen solchen Vogel hier oben anzutreffen, denn ich bin schon längst über die Baumgrenze hinweg und bereits auf ca. 2300 m Höhe angelangt. Auf der Paßhöhe empfängt mich ein sehr kräftig brausender Wind, der Himmel bleibt aber dennoch strahlend blau. Ich schaue, daß ich von diesem zugigen Kamm wieder herunterkomme, wo sich dann auch unterhalb von emporstrebenden Kalkgipfeln der Bergsee Ibon de Acherito wunderschön in die Landschaft fügt. Nach einer erholsamen Rast am Seeufer geht es jetzt noch weiter hinunter, um die über mir thronenden Gipfel herum, mit weiten Ausblicken über die spanische Sierra, die hier zur Provinz Navarra mit der zu Füßen des Gebirges gelegenen Hauptstadt Pamplona gehört. Unterwegs begegne ich immer wieder spanischen Wanderern, die vom Parkplatz im Tal aus zum See hinaufsteigen. Ich finde dies schon bemerkenswert, da meine Ohren vor wenigen Stunden noch ausschließlich Französisch vernommen haben. Dort, wo der Weg dann hinunter ins Tal geht, folge ich alsdann einem unmarkierten Pfad in Richtung Nordosten, der, nachdem die Gipfel über mir endgültig umgangen sind, schließlich abermals über einen Paß nach Frankreich zurück führt. Hier muß ich allerdings schon das Gelände mit Aufmerksamkeit überblicken, denn meist sind jetzt nur noch schwache Pfadspuren zu erkennen, Karte und Kompaß müssen immer wieder miteinander abgeglichen werden. Schließlich stehe ich dann erneut auf einem zugigen Paß, blicke wieder auf die französische Seite, wo sich zwischenzeitlich Kurioses getan hat, das gesamte Tal liegt nämlich unter einer dichten Wolkendecke, jedoch hier oben auf dem Grat lacht immer noch strahlend die Sonne. Den meisten Berggängern dürfte dieses Phänomen der Inversionslage bekannt sein, wo man im Tal unter trüben Wolken seine Wanderung beginnt, um alsbald im Laufe des Aufstieges im Nebel zu wandeln, bis man hernach die Nebeldecke durchbricht und sich im prächtigsten Sonnenschein wiederfindet. Für mich geht es jetzt weiter, auf oder auch dicht unterhalb entlang des Grates von einem schönen Bergpfad geführt, dessen Verlauf sich oft schon ewig weit mit den Augen im voraus verfolgen läßt. Überall dringt das Bimmeln der Viehglocken von unten zu mir hinauf, denn hier in den Westpyrenäen dominiert die Weidewirtschaft, wobei man fast alle Vertreter von domestizierten Nutztieren vorfindet: Kühe, Schafe, Pferde, ja sogar Maulesel laben sich überall an den grünen Hängen, wo das Gebirge noch nicht die Härte der später folgenden Haute Pyrenees zeigt.
Das Ziel meiner heutigen Etappe, das Refuge d´Arlet, ist schon bald erreicht, da kriecht der Nebel aus dem Tal doch noch zu mir empor, und bald befinde ich mich mitten in der Suppe, die mich das Hüttengebäude erst erkennen läßt, als ich bereits knapp 2 Meter davor stehe. Es ist immer wieder ein eigenartiges Erlebnis, sich bei Nebel einer Bergunterkunft zu nähern: Du kannst das Hüttenkamin in der feuchten Nebelluft bereits riechen, aber Du siehst die Hütte nicht! Ich melde mich sogleich beim Gardien zwecks Abendessen und Übernachtung. Diese Praxis werde ich bei der Fortführung meiner Tour insoweit ändern, daß ich mein Zelt in der Regel in Hüttennähe aufschlage und den Aufenthalt in den Berghäusern auf das Einnehmen der Mahlzeiten reduziere. Im allgemeinen ist es nämlich so, daß man in den Massenlagern der Refuges nicht unbedingt besser schläft, als im Zelt, das ich sowieso mit mir herumtrage, und warum dann zusätzlich noch für die Übernachtung zahlen? Jetzt aber hat sich das Ganze erstmal so gefügt, und es wird mir auch noch ein unterhaltsamer Hüttenabend bevorstehen. Ich möchte jedem, besonders jenen, die schon mehr oder auch weniger Französisch können, nahelegen, sich gelegentlich in einem der Refuges zum Abendessen (frz. repas) anzumelden, da es sich hierbei fast immer um ein gesellschaftliches Ereignis handelt. Wer vorher noch keinen Kontakt zu den Mitschläfern gefunden hat, der wird ihn spätestens beim Essen bekommen, wo alle an einem oder auch mehreren großen Tischen Platz nehmen, und dann nach französischer Art in fünf Gängen aufgefahren wird. Sicher hat das Essen auf den Hütten keine Restaurantqualität, doch die Wirte sind meistens bemüht, die Speisen recht schmackhaft auf den Tisch zu bringen. Heute abend befinde ich mich an einer großen Tafel, an der auch der größte Teil der Einquartierten sich versammelt hat, sprich etwa ein halbes Dutzend Franzosen und eine irische Großfamilie mit ihrem Führer, einem in Irland lebenden Franzosen, samt seiner Ehegattin, einer fließend französisch sprechenden Irin. Die Konversation während des Essens ist witzig und unterhaltsam. Paul, das Oberhaupt des irischen Clans, ein älterer Herr mit der Statur einer keltischen Eiche, ist in Hochstimmung nach dem Genuß des Tischweines und den nachklingenden Bergerlebnissen des Tages, und auch die Franzosen sprühen von Humor und beziehen mich voll in die Runde mit ein; na ja, ich habe natürlich auch den kleinen Vorteil, zu den wenigen an dieser Rittertafel zu gehören, die sowohl englisch als auch, wenn auch noch etwas schleppend, französisch sprechen. Die Bereitschaft des Ausländers, sich Kenntnisse der Landessprache anzueignen, wird in Frankreich im allgemeinen hoch angerechnet, und bedeutet oftmals einen „Extrabonus“! Der Tag findet somit noch einen wundervollen Ausklang, und mit der nötigen Bettschwere ziehen wir uns dann, als der Wirt zur Hüttenruhe mahnt, allesamt in die Kojen zurück, wo alsdann nachts wieder einmal die allgemeinen statistischen Werte erreicht werden, nämlich daß sich unter etwa zwei Dutzend Schläfern doch mindestens zwei bis drei „Holzsäger“ befinden.
Beim Frühstück fällt der Blick durch das Hüttenfenster erneut in eine trübe Nebelwand, ich breche trotzdem zeitig auf und hoffe, daß die Schleier sich vielleicht noch im Laufe des Morgens lichten, sie werden es aber nahezu den ganzen Tag nicht tun, eine Nebeletappe erwartet mich heute. Als ich aufbreche, grasen draußen vor der Hütte die Maultiere der Iren, deren Mieter allesamt noch in den Federn ruhen. Die Möglichkeit des Trekkings mit Hilfe von Maultieren, die sowohl Gepäck, als auch Reiter tragen können, werde ich, besonders hier in den Westpyrenäen, noch häufiger beobachten. Oft wird diese Alternative durch die örtlichen Touristikbüros vermittelt, und ist, so denke ich, eine gute Möglichkeit für weniger gehfreudige Naturfreunde, oder solche, die es vielleicht aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr können, und vor allem für Familien mit Kindern, eine schöne und interessante Art, dieses zauberhafte Gebirge zu erkunden.
Ich gehe also weiter Richtung Osten, zum Refuge d´Ayous im Einzugsgebiet des markanten Gipfels Pic du Midi d´Ossau, der, ob seiner exponierte Lage und seiner vollendeten Form, als das Symbol der Pyrenäen angesehen wird. Der Weg führt mich teils in, teils unter den Nebelschleiern durch abwechslungsreiche Landschaft, zunächst über französisches Territorum, um dann abermals nach Spanien hinüber zu wechseln. Bei den Ausblicken muß ich mich heute mehr mit der Nahsicht begnügen, die aber durchaus attraktive Eindrücke mit sich bringt. Zwischendurch führt mich die Route auch durch Zivilisationsgebiet, als ich die im Winter sehr populäre Skistation Candanchu passiere, um von dort aus zum nahegelegenen Col du Somport zu gelangen, einem Straßenpaß auf ca. 1650 Meter Höhe, vor EU – Zeiten noch ein funktionierender Grenzübergang zwischen Frankreich und Spanien, der seine Berühmtheit vor allem der Tatsache verdankt, einer der beiden Bergübergänge des Camino de Santiago zu sein, und zwar der östlichere und höher gelegene, während sein westliches Pendant, der Ibaneta – Paß, vom französischen St. Jean- Pied-de-Port über die grünen Hügel am Rande der baskischen Pyrenäen nach Roncesvalles auf spanisches Staatsgebiet führt. Auf diesen beiden Pässen vereinen sich sämtliche Zubringer des Jakobsweges aus ganz Europa, wobei sich diese beiden noch übrigbleibenden Varianten dann endgültig im Städtchen Burgos zu einer Route zusammenschließen. Ich folge vom Paß aus einer kaum befahrenen Straße durch ein Hochtal, an dessen Ende sich ein Hotel, ein Sessellift und ein Parkplatz befinden und steige auf in Richtung zu einem Bergsee, der noch auf spanischer Seite liegt, und von dem aus es schließlich, abermals ein Stückchen weiter aufwärts, über einen weiteren Paß, zurück nach Frankreich geht. Am See, auf weit über 2000 m, erlebe ich sodann noch eine Erleuchtung in der Form, daß sich der Nebel lichtet und die strahlende Sonne mir auf dem Weg zum Paß entgegenflutet. Auf der anderen Seite angekommen, ziehen sogleich wieder Nebelschwaden über mich hinweg, jetzt jedoch nicht mehr so dicht und sich immer wieder wie ein Vorhang öffnend, und mir eine ganze Kette wunderschöner Bergseen offerierend, die sich bis hinunter zur Berghütte Refuge d´Ayous ziehen, in derer unmittelbaren Nähe ich dann mein Zelt aufschlage. Kurz vor Erreichen des Biwaks komme ich noch an einem See vorbei, wo bereits ein Zelt aufgebaut ist und ein kurzer Blick nach rechts läßt mich einen Mann erkennen, der seinen Fotoapparat im Anschlag hält. Ich verfolge die Richtung, und ein atemberaubendes Bild bietet sich mir dort: der Nebel hat seine Schleier geöffnet und gibt den Blick frei auf den imposanten Gipfel des Pic du Midi d´Ossau, der jetzt, aus einer Wolkendecke herausragend, wie in Zuckerwatte gebettet zu sein scheint. Ich zücke die Kamera so geschwind, wie ein Westernheld seinen Revolver, um gerade noch ein Bild zu schießen von dieser unglaublichen Impression, ehe der sich wieder schließende Nebelvorhang das ganze Schauspiel innerhalb von Sekunden beendet. Der Tag soll noch in bester Aussicht zum „König der Pyrenäen“ kulminieren: bis ich mein Zelt aufgebaut und zu abend gegessen habe, sind sämtliche Nebel- und Wolkenschwaden verschwunden und von einem nahegelegenen Hügel genieße ich den Ausblick, während die Sonne langsam hinter die Wände des mich im Rücken umgebenden Felskessels hinuntergleitet. Unter mir sehe ich, wie es ein gutes Dutzend Leute vor der Hütte, die übrigens wirklich wunderschön überhalb eines Bergsees liegt, der in den Morgenstunden als natürlicher Spiegel des Pic du Midi d´Osau dient, mir gleichtun, und andächtig diese wundervolle Abendstimmung genießen.
Nach einem Frühstück im Ayous geht es tags darauf weiter ins Tal hinunter, wobei der Weg so schön bleibt, wie er gestern oben am Paß begonnen hatte, doch diesmal bei klarer Sicht und Sonnenschein. Zahlreiche große und kleinere Seen säumen den Abstieg, bis schließlich ein langgezogener, ebener Talgrund erreicht wird, in dem sich ein breiter Weg hindurchschlängelt, dem ich zunächst folge. Schließlich wechsle ich auf einen kleinen Bergpfad, der in östliche Richtung auf den Pic du Midi d´Ossau zuführt. Ich passiere einen Bergsee am Fuße des Erhabenen und folge rechts dem Aufstieg zu einem Paß, wobei ich mich immer wieder umdrehe, um die faszinierenden Ausblicke zum Berg zu genießen, der zwar, von dieser Seite aus betrachtet, seine Form gewechselt, jedoch keinesfalls an Schönheit eingebüßt hat. Der Pic du Midi d´Ossau hat ein besonderes Merkmal, der Gipfel spaltet sich nämlich oben und läßt den Berg mit zwei Spitzen erscheinen, wobei der Hauptgipfel Grand Pic 2884 m erreicht. Von meiner jetzigen Position aus verschieben sich die beiden Bergspitzen in einer Weise, als kreuzten sich dort oben zwei osmanische Krummsäbel.
Der nun erreichte Paß ist jedoch nicht der, zu dem ich ursprünglich gelangen wollte. Ich habe den richtigen Weg, der mich zum Mittagessen an die Pombie – Hütte hätte bringen sollen, in Unachtsamkeit für eine Einstiegsroute zur Besteigung des Pic du Midi gehalten. Somit bin ich jetzt gezwungen, einen Umweg zu gehen, und mein wegen des meist recht frugal ausfallenden französischen Frühstücks bereits wieder knurrender Magen muß sich somit nochmals eine Zeit gedulden. Als ich dann im Speisesaal der Pombiehütte vor Tomatensuppe und Omelette sitze, lerne ich eine Gruppe junger Deutscher kennen, und während wir über´s woher und wohin plaudern, outen sich die beiden weiter hinten im Saal sitzenden Frauen ebenfalls als Deutsche. Ich habe auf meinem ganzen zurückgelegten Weg noch überhaupt keine Deutschen getroffen, und hier ist gleich die ganze Hütte voll! Wir spekulieren darauf, daß wir uns vielleicht in ungefähr drei Tagen im spanischen Nationalpark Ordesa y Monte Perdido wiederbegegnen könnten, aber ich ahne noch nicht, wieviel Zeit wirklich verstreichen wird, bis ich in diesem fantastischen Gebirgsteil aufkreuzen werde. Ich hatte daheim zwar einige Bücher über die Pyrenäen durchstöbert, es standen mir aber noch keine Landkarten zur Verfügung, wodurch sich der eigentliche Verlauf meiner Tour erst jetzt, im Laufe der Wanderung entwickelt, indem ich jeden Abend über der Karte brüte, um die Etappe des kommenden Tages vorzubereiten, wobei ich nur gelegentlich mal zwei bis drei Tage vorausspekuliere.
Das Refuge de Pombie ist übrigens eine beliebte Ausgangsbasis für die Besteigung des Pic du Midi, was nach meinem Wissensstand ausschließlich über alpine Routen möglich ist. Man trifft auch sehr viele Bergsportler im Umkreis der Hütte, die mit Seil, Friends, Karabinern und Helm ausgerüstet, sich hier an den vielfältigen, rassigen Aufstiegen versuchen. Für mich wird es jedoch Zeit, das Einzugsgebiet des Pic du Midi zu verlassen und mich dem Königreich eines anderen markanten Pyrenäenberges zuzuwenden, nämlich dem des Balaitous. Hierzu steige ich von der Pombie aus erneut gen Osten durch romantische Landschaft in ein Tal ab, das von einer Straße durchzogen wird, an der sich einige Wanderparkplätze befinden. Gleich geht es auf der anderen Seite wieder nach oben, die ganzen hinuntergelaufenen Höhenmeter wieder aufsteigend, was bei einer Pyrenäendurchquerung das tägliche Brot ist, hinein in den zentralen Bereich des Gebirges, wo sich schon bald abzeichnet, was mich dort erwarten wird: auf den sich über mir aufbauenden Gipfeln und Felsgraten liegen zahlreiche Firnfelder, die Durchschnittshöhe meiner Wanderung wird ab jetzt um einige hundert Höhenmeter angehoben, der Weg allgemein härter und schwieriger, und ein letzter Blick über die Schulter zu den hinter mir liegenden , zwar felsigen, aber doch noch etwas lieblicher und harmloser wirkenden Berge, läßt mich Abschied nehmen von den Westpyrenäen. Die nächsterreichbare Unterkunft, das Refuge d´Arremoulis, beschließe ich erst zum Frühstück am folgenden Morgen anzusteuern und biwakiere inmitten einsamer Gebirgslandschaft, zwischen pfeifenden Murmeltieren auf über 2000 Metern Höhe.
Tags darauf folgt schon ein zünftiger Frühsport auf nüchternen Magen bis zur Hütte, der ich mich doch schon etwas näher zu sein geglaubt hatte. Dafür sind die letzten anderthalb Aufstiegsstunden eine wahre Pracht! An einem schönen See vorbei geht es ausgesetzt über die rassige Passage d´Orteig, einer der wenigen, mit Drahtseil versicherten Felsengänge in den Pyrenäen, von der aus sich prächtige Panoramen eröffnen zu einem unterhalb gelegenen Stausee und auf die imponierenden, von teilweise enormen Firnfeldern durchzogenen, Gipfel und Felswände der nächsten Umgebung. Nach kurzer Zeit schließlich taucht unter mir die Arremoulis – Hütte auf, ein kleines Steinhäuslein, das sich auf nahezu natürliche Weise in eine dramatischen Hochgebirgslandschaft einfügt und von mehreren Seen und einigen kuriosen Felsenrücken umgeben ist. Die ganze Szenerie wirkt schon richtig unheimlich durch schnell herumziehende Wolkenfetzen und Nebelschwaden. Ich finde mich alsdann zum Frühstück in der wirklich klein geratenen, aber vielleicht gerade deswegen mir so gemütlich erscheinenden Hütte ein, wo die Decke mit Zeichnungen verschiedener Greifvögel dekoriert ist, Anschauungsunterricht zum Erkennen und Unterscheiden der diversen hier vorkommenden Raubvogelarten.
Der nun folgende Übergang über den Port de Lavedan führt durch zwei Scharten, wobei mich die erste kurz auf spanisches Gebiet bringt und die zweite hernach wieder auf französisches Territorium zurückleitet. Es soll eines der mühevollsten und schwierigsten Teilstücke der gesamten Tour werden. Bereits die Wegfindung gestaltet sich schwierig. Nur durch vereinzelte Steinmännchen markiert geht es hier pfadlos durch hochalpines Gelände und die eh schon mangelhafte Markierung geht endgültig unter einem riesigen Firnfeld verloren. Ich befinde mich jetzt nur noch auf einer ungefähren Route, wobei ich mich jetzt auf den Kompaß verlasse und hoffe, dort oben auch die richtige Scharte angepeilt zu haben. Mit dem elendsschweren Rucksack im Kreuz im steilen Gelände kraxelnd und den Eispickel als Stütze benutzend, ziehe ich fluchend aufwärts, als ich, weit über mir, in Richtung der angepeilten Scharte, zwei Personen erspähe, die mir Zeichen geben. Zunächst bin ich mir nicht sicher, ob sie überhaupt mich meinen, aber dann erkenne ich, daß die Beiden dort oben mir den Weg weisen. Im letzten Stück kommen sie mir sogar entgegen. Es sind zwei Spanier aus Zaragoza, und ich bin wirklich froh, daß ich hier ein wenig gelotst worden bin. Wir steigen schließlich gemeinsam in die Passage hinauf. Auf spanischer Seite befindet sich ein schön gelegener See, an dem die beiden ihr Zelt stehen haben. Sie sind nur über´s Wochenende hier und müssen heute noch nach Zaragoza zurückkehren. Unser jetziger Standplatz gewährt uns schon den kompletten Blick hinüber zum Balaitous, mit seinen 3144 Metern der erste Dreitausender auf meiner Route. Auf diesem Gipfel will ich, wenn Witterung und Umstände es zulassen, morgen stehen. Doch zuerst heißt es, den heutigen Tagesmarsch zu Ende zu bringen, und der hält noch einiges für mich bereit. Nachdem ich mich von den beiden spanischen Bergkameraden verabschiedet habe, die jetzt zum See hinuntersteigen, folgt für mich zunächst ein kurzer Abstieg und dann geht´s abermals hinauf in die nächste Scharte. Dieser Weg hält für mich genau so viel Ungemach bereit, wie der zurückliegende; nur dürftig gesetzte Wegzeichen führen durch schwer begehbares Gelände. Oben angekommen, treffe ich auf eine etwa 8 – köpfige französische Gruppe. Ein Mädchen sitzt am Boden, die Tränen kullern die Backen hinunter. Ich denke zuerst an einen Unfall, doch einer aus der Gruppe beruhigt mich, es sei nur die Erschöpfung. Ein Weiterer hat bereits das Gepäck des Mädchens aufgenommen, die Gruppe ist groß genug, um Selbsthilfe zu leisten. In einem mühevollen Abstieg gelange ich alsdann zu einem Seenverbund, wo ich eine Rast einlege. Hier kehren bereits die Gipfelbezwinger des heutigen Tages vom Balaitous zurück.
Ich gehe hinunter zum Refuge de Larribet, wo ich etwas unterhalb der Hütte mein Zelt aufschlage. Das Refuge hat ein besonderes Merkmal: die Frontseite sieht aus, wie ein menschliches Gesicht, wobei die oberen Fenster die Augen vorstellen. Die Hütte zählt zu den bestausgestatteten in den Pyrenäen, und ich schätze die Gemütlichkeit des Speiseraumes, in dem ich noch vor Sonnenaufgang mein Frühstück einnehme. Zelt mitsamt aller nicht benötigten Sachen bleiben heute im „Basislager“, ich kann die Besteigung somit mit leichtem Gepäck durchführen und mache mich sodann auch beschwingt auf den Weg. Die erste Schwierigkeit, die es zu überwinden gilt, ist ein sehr steiles Firnfeld, das sich bis zum Col Noir hochzieht, jener Scharte, auf dem der Normalanstieg, die sogenannte Grande Diagonale, beginnt. Da ich mit Steigeisen und Pickel ausgerüstet bin, überwinde ich das Firnfeld ohne Probleme und befinde mich schon bald im Col Noir, wo mir dann ein heikler Fehler passiert: da ich oben in der Scharte das letzte Steinmännchen finde, schließe ich, daß es wohl direkt über den Grat weitergeht und beginne sogleich mit leichter Kletterei, die jedoch immer ausgesetzter wird, es ist auch nirgendwo mehr eine Markierung zu sehen. Nicht nur der Fund einer Bandschlinge zeigt mir jetzt an, daß da was nicht stimmen kann. Als ich zur französischen Seite hinüberblicke, sehe ich nur extrem ausgesetztes Kletterterritorium, hier kann´s auf gar keinen Fall lang gehen. Rechterhand, auf der spanischen Seite, sieht´s schon besser aus. Ich erspähe tief unter mir wieder Steinmännchen und etwas oberhalb eine Gruppe im Aufstieg. Jetzt geht mir ein Licht auf und mit allergrößter Behutsamkeit klettere ich wieder bis in den Col Noir zurück, steige von dort aus hinab auf die spanische Seite und habe somit nach einer nervenaufreibenden Free – Solo – Einlage endlich die Diagonale gefunden. Jetzt geht es stetig durch felsiges Gelände, in einer Mischung aus kraxeln und marschieren (Schwierigkeit 1), den Berg hinauf und ich achte hierbei wie ein Schießhund auf die oft schlecht erkennbaren Markierungen. Nach all der Mühe empfängt mich schließlich der Gipfel mit einer prächtigen Aussicht, der erste 3000er in den Pyrenäen ist bestiegen! Von der anderen Seite aufsteigend, gelangt eine Gruppe Spanier zum Gipfel, die vom Refugio de Respumoso aus eine Überschreitung des Balaitous machen und somit mit mir über die Diagonale absteigen, wobei auch hier, wie an allen anderen Bergen, die alte Formel gilt: der Berg ist erst dann besiegt, wenn Du wieder unten bist. Und so stellt sich auch der Abstieg als nicht gerade leicht dar, was wiederum die Wegfindung anbelangt und ich steige auch prompt zu früh in eine Scharte auf, die ich für den Col Noir halte. Auf das Experiment, aus dieser Scharte über den Grat in den Col Noir hineinzuklettern, lasse ich mich auf keinen Fall ein und gehe brav den falschen Weg wieder zurück, was mich zwar wiederum Zeit, aber nicht mein teueres Leben kostet. Am Firnfeld werden hernach wieder die Steigeisen angelegt und jetzt erst erfüllt mich das glückselige Gefühl einer gelungenen Rückkehr von einer etwas kitzligen, aber in der Bilanz äußerst abwechslungsreichen und eindrucksvollen Besteigung.
Obwohl je ca. 1100 m im Auf- und im Abstieg hinter mir liegen, beschließe ich nach einem zünftigen Mahl an der Larribet – Hütte, das Zelt zusammenzupacken und noch ein Stück weiterzuwandern. Der Abstieg in der goldenen Abendsonne durch eine atemberaubende Nationalparklandschaft bis hinunter zum Lac de Claou bleibt für mich eines der schönsten und beeindruckendsten Erlebnisse der gesamten Wanderung. Hinter dem kleinen Abri Doumblas führt ein zunächst recht breiter Weg nicht mehr gar so dramatisch, jedoch immer noch schön, aufwärts, und zwar wahlweise in Richtung Port de la Peyre St. Martin hinüber nach Spanien, oder aber zum Col de Cambales, über welchen sich das Refuge Wallon erreichen läßt. Als ich auf einer schönen Bachaue angelange, beschließe ich dort den Tag. Am vor mir liegenden Hang beobachte ich ein Rudel Pyrenäengemse, von denen noch eine stattliche Population in diesem Gebirge vorkommt.
Da mir langsam die Lebensmittel ausgehen und der Durchmarsch bis zum Refuge de Wallon noch mindestens sechs Stunden in Anspruch nehmen würde, entschließe ich mich für die Port de la Peyre, um von dort aus einen scheinbar kleinen Umweg zum Refugio de Respumoso zu machen Somit erreiche ich, nach einem gemächlichen Anstieg, bei dem rechterhand je ein kleinerer und ein größerer See, die Lacs de Remoulis, passiert werden, die Paßhöhe auf 2295 m. Der Abstieg nach Spanien eröffnet malerische Ausblicke in ein grünes Tal mit einem schönen See, welcher mit zwei Inselchen besetzt ist. Den Hintergrund riegelt eine strenge Hochgebirgskette ab. Um zum Refugio zu gelangen, muß ich mich, nachdem ich die Wiesen des Tales erreicht und den See passiert habe, nach rechts wenden, wo ich die Reste einer halbzerfallenen, kleineren Staumauer hinter mir lasse, um schließlich am Nordufer des Stausees Embalse de Respumoso wieder an Höhe zu gewinnen. Das Refugio de Respumoso erscheint mir von außen wie ein größerer Ferienbungalow, und ist innen modern, blitzesauber und doch noch gemütlich eingerichtet. Der Umweg hierher und der folgende Weiterweg nehmen viel mehr Zeit in Anspruch, als ich mir ursprünglich vorgestellt habe. Ich stärke mich erst einmal in der Hütte mit Bocadillos con Tortilla, Kaffe und Limonade.
Die Rückkehr nach Frankreich führt über den Col de la Grande Fache (span. La Grande Facha), wobei ich zuerst ein gutes Stück bis hinter die beiden Seen zurückgehen muß, um dann schließlich auf mühevolle 2664 m hinaufzusteigen. Von diesem Sattel aus wäre es wohl nicht mehr allzu schwer, die 3005 m hohe Grande Fache zu besteigen, der Weg von meinem morgendlichen Biwakplatz bis ans Tagesziel, dem Refuge de Wallon ist aber eh schon weit genug. Somit wende ich meinen Blick nochmals dem hinter mir liegenden Tal zu, das trotz der häßlichen Staumauer des Embalse de Respumoso eine beeindruckende Landschaftsszenerie vorstellt. Bis hinunter zum Refuge de Wallon dauert´s noch eine gute Weile. Diese Hütte ist die größte, die ich bislang auf dieser Tour gesehen habe. Ein schönes Berghaus aus Naturstein und, wie eigentlich alle mir bekannten Pyrenäenberhütten, thront sie inmitten schönster Berglandschaft. Um das Wallon herum ist ganz schön was los, der Biwakplatz ist bereits mit einem guten Dutzend Zelten belegt und manche lassen diesen sonnigen Tag mit einem erfrischenden Bad im vorbei fließenden Gebirgsbach enden. Auch ich unterziehe mich erst einmal einem Vollbad, bevor ich mich in der Hütte zum Abendessen anmelde, das dann, wie üblich, an einem großen Tisch in angenehmer Gesellschaft stattfindet, wobei ich der einzige Ausländer an der Tafel bin.
Für den kommenden Tag habe ich einen Abstieg bis hinunter nach Cauterets geplant. Lescun war mein letzter Talort und ich habe somit eine volle Woche im Hochgebirge zugebracht, ohne ein einziges mal in eine Ortschaft hinunterzusteigen. Daß mir gerade jetzt die Lebensmittel ausgehen und auch ein Gang zum Bankomaten wieder nötig ist, erscheint mir sogar recht günstig, denn mein Weg hinab wird mich durch das von Key Reynolds so gepriesene Vallee de Marcadau führen, das an der berühmten Brücke Pont d´Espagne endet, wo sich eine weitere bekannte Attraktion anschließt, nämlich der Wasserweg durch das Val de Jeret. Unglücklicherweise hat sich das Wetter über Nacht verschlechtert, und der Abstieg durch das Tal von Marcadau findet im Nebel statt. Die feuchten Schleier gewähren zwar Nahblicke, verschließen jedoch die Aussicht auf die umliegende Berge und das Aha – Erlebnis, das Key Reynolds hier hatte, will sich bei mir nicht so recht einstellen. Das Erleben von Landschaften in der Weise, daß man Jahre danach noch ins Schwärmen gerät, wird oft vom subjektiven Faktor der eigenen Laune, kombiniert mit den gegenwärtigen Umständen, bestimmt. Ein gewisses Lichtverhältnis, besondere Effekte, wie sie die verschiedenen Jahreszeiten mit sich bringen, ein grandioser Sonnenauf- oder untergang, ja sogar die zuckenden Blitze eines furchterregenden Gewitters können inmitten herrlicher Landschaft zu Rauschzuständen führen, deren Bilder immer wieder, oftmals noch nach Jahren, vor unserem inneren Auge auftauchen, uns mit Sehnsucht erfüllen und uns zu fernwehgeplagten Süchtigen macht, die sich, ständig mit neuen Reise- oder Wanderplänen beschäftigt, einer wohl unheilbaren Leidenschaft ergeben. So, wie Key Reynolds das Vallee de Marcadau erlebt hatte, war es mir vor zwei Tagen beim Abstieg von der Larribet – Hütte ergangen und so werden mir auf meiner Wanderung durch die Pyrenäen noch viele derartige Erlebnisse beschert werden.
Leider nimmt, je tiefer ich ins Tal hinuntersteige, die Anzahl der Ausflügler zu, mit der Bergruhe ist es vorerst mal vorbei. Das Lokal am Pont d´Espagne ist gerammelt voll, die Souvenirstände ringsum werden umschwirrt wie Bienenstöcke, und ich höre plötzlich überall Italienisch. Mehrere Busladungen mit Lourdes – Pilgern aus Italien sind hier oben eingetroffen und okkupieren nun die gesamte Umgebung, die unter anderem mit zwei imposanten Wasserfällen aufwartet. Die Brücke selbst ist ebenfalls beliebtes Fotomotiv, sie wurde in den Siebzigern gebaut, im Rahmen eines Projekts, das eine Straßenverbindung zwischen Frankreich und Spanien vorgesehen hatte, und, Gott sei Dank, mit der Nationalparksdeklaration schließlich wieder zu Fall kam. Gleich neben der Brücke weist mich ein Schild hinunter durch´s Val Jeret, entlang des gischtenden und tosenden Wildbaches, der hier gewaltige Wassermassen über Fälle und Kaskaden ins Tal hinab führt. Der Pfad endet schließlich am Thermalbad La Raillere, mit Parkplatz, Souvenirständen und Restaurants, und um nach Cauterets zu gelangen muß ich nun der Straße abwärts folgen. Dieser ehemals mondäne Kurort, von dessen einstiger Bedeutung die Hotelbauten aus dem 19. Jahrhundert zeugen, ist auch heute noch pulsierender Fokus des Fremdenverkehrs, und ist trotzdem noch ein angenehmes, ansehnliches Städtchen geblieben. Meinen Wiederaufstieg trete ich mit vollem Magen und vollem Rucksack an und lege die 1250 Höhenmeter zum Refuge des Oulettes de Gaube im vollen Elan zurück. Nirgendwo sonst während meines Pyrenäenaufenthaltes habe ich derartige Massen an tosenden Wassern um mich herum erlebt, wie hier im Einzugsgebiet des Bergriesen Vignemale (3298 m ), dessen Gletscher als der größte in den Pyrenäen gilt. Leider begleitet mich beim gesamten Anstieg eine zähe Nebelwand, die mir jegliche Fernblicke verwehrt, was mich sehr verärgert, denn ich befinde mich gerade hier in einer der faszinierendsten Hochalpinlandschaften, die dieses Gebirge aufzubieten hat.
Die Gegend um das Refuge erscheint richtiggehend verwegen inmitten des Nebels, zwischenzeitlich gesellen sich auch noch naßkalte Schauer hinzu. Beim sich lichtenden Nebel kann man Blicke auf einen Gletscher erhaschen, der nur wenige hundert Meter von den Biwakplätzen entfernt ist. Die meisten Berggeher bevorzugen es, sich in ihre Zelte zu verkrümeln und es beim Kochen warmer Gerichte etwas mollig werden zu lassen. Der Platz mit der ungemütlichen Witterung und den vielen Zelten konvertiert in meiner Phantasie in das Basislager einer Himalayaexpedition, bei der das Ende der Schlechtwetterperiode abgewartet wird, um endlich den ersehnten Gipfelsturm einleiten zu können. Nach einer Besteigung steht mir auch tatsächlich der Sinn, nämlich die des Vignemale, vorausgesetzt, das Wetter bessert sich bis morgen.
Nach einer regnerischen Nacht zeigen sich die frühen Morgenstunden weiterhin nebelverhüllt und verregnet. Trotzdem begebe ich mich auf den Weg über die Hourquette d´Ossoue, einem Übergang mit 2734 Metern, hinüber zum Refuge Bayssellance, von wo aus ich eigentlich die Besteigung in Angriff genommen hätte, aber bei den jetzigen Verhältnissen sehe ich darin wenig Sinn. Auf der Paßhöhe treffe ich drei Deutsche, die gerade vom Nebengipfel „Petit Vignemale“ herunterkommen, aus sportlichen Gründen, wie sie sagen, und es sei schließlich auch ein 3000er. Wir gehen gemeinsam zur Hütte hinunter, die derzeit wegen Renovierungsarbeiten nicht zur Verfügung steht. Eine Gruppe Spanier verharrt dort in ihren Zelten, sie wollen morgen zum Vignemale hinauf. Die Deutschen steigen hinunter ins Vallee de Lutour und ich setze meinen Weg alleine fort, in Richtung eines erneuten Highlights meiner Wanderung: der sagenhafte Felskessel des Cirque de Gavarnie dürfte wohl das bekannteste aller Naturschauspiele in den Pyrenäen sein. Der Weg bis dorthin bleibt landschaftlich dramatisch, aber leider überwiegend vernebelt. Ich durchquere den Grund des Stausees Barrage d´Ossoue, der momentan kein Wasser führt, und wo jetzt in der riesigen Ebene Kühe weiden. Als Nachtquartier dient mir die Cabane de Lourdes, ein modifizierter Kuhstall, in dem ein metallenes Stockbett Platz für höchstens 6 Personen bietet. Ich genieße dort den Komfort einer Schaumstoffmatratze, fast schon ein Luxus nach all den vergangenen Nächten auf der Isomatte. Als es bereits dunkel ist, gesellt sich noch ein einzelner Wandersmann aus Nizza hinzu, der nur Tagesgepäck bei sich hat, und seine Jacke als Decke benutzt. Anderntags gesteht er mir, daß er die Nacht doch als recht frisch empfunden habe.
Als ich in der Ortschaft Gavarnie eintreffe, hat sich das Wetter insoweit gebessert, daß es nicht mehr regnet, und die Sonne immer wieder mit ihren Strahlen die Nebelwände durchbricht, so daß ich vielleicht noch bis zum späten Vormittag gute Sichtverhältnisse erwarten kann. Ich marschiere also gemütlich den Weg hinauf in Richtung Cirque, wo sich dann auch prompt nach und nach die Nebelschleier lichten. Ich suche mir alsdann einen schönen Rastplatz in der jetzt angenehm wärmenden Sonne, um mich am Schauspiel der sich öffnenden Nebelschleier zu ergötzen, die nun eine senkrecht emporragende, gigantische Felswand entblößen, über die gischtende Wasserfälle zum Talboden hinabstürzen. Besonders imponiert die sogenannte Grande Cascade, mit satten 422 m Fallhöhe ist sie der größte Wasserfall der Pyrenäen. Immer noch umwehen Nebelfetzen die Szenerie, doch dem geduldigen Beobacher offeriert sich in kurzen oder auch längeren Zeitabständen immer wieder das Gesamtbild dieses ehrfurchtgebietenden Naturwunders.
Nach eingehender Beobachtungen muß ich dennoch an den Weiterweg denken. Auf der rechten Seite der zunächst unüberwindbar erscheinenden Felswand führt ein alpiner Steig steil aufwärts. Wie in den Pyrenäen meist üblich, sucht man hier vergeblich nach Drahtseilsicherungen oder erleichternden Eisenstiften. Das Refuge des Sarradets oder auch de la Breche genannt, thront auf 2587 m, und zwar unterhalb einer weiteren, diesmal sogar geschichtsträchtigen Kuriosität, nämlich der Breche de Roland. Am Fuß der Hütte finde ich eine Biwakiermöglichkeit. Leider sind hier gute Zeltplätze aufgrund der Geländegegebenheiten nicht gerade üppig. Wenig später treffen drei Bekannte ein, die ich bereits unten im Cirque kennengelernt hatte, nämlich Birgit, eine Deutsche, Didier, ein Franzose und Karim, ein Algerier, alle wohnhaft in Paris. Neben meinem Zelt ist noch Platz für ein weiteres, kleines Zelt, und somit wird Karim mein neuer Nachbar. Er ist ein äußerst sympathischer Kerl mit der Schlitzohrigkeit und der Redegewandtheit, wie sie den Bewohnern des Maghreb zu eigen ist. Er spricht gut Spanisch, so daß eine florierende Unterhaltung möglich wird.
Der nächste Tag sieht mich schon in Allerherrgottsfrühe im Aufstieg zur Bresche. Ich will zur spanischen Gorizhütte gelangen, um mir von dieser aus mit der Besteigung des Monte Perdido („verlorener Berg“) den dritthöchsten Gipfel der Pyrenäen und gleichzeitig auch einen ihrer schillerndsten Paradeberge einverleiben. Als ich am Ende des Firnfeldes, kurz unterhalb der Bresche, die Riemen meiner Steigeisen wieder löse, werfe ich einen letzten Blick zurück zu unserem nächtlichen Biwak. Dort unten, um die Zelte von Karim, Didier und Birgit tut sich immer noch nichts. Karim und Didier hatten gestern abend noch Geschmack am in der Hütte verkauften Büchsenbier gefunden, und während ich sittsam die frühe Bettruhe suchte, hatten die Beiden, nachdem sie bei Zapfenstreich die Hütte verlassen mussten, ihre Konversationen noch lange in unserem Zeltlager fortgesetzt. Die drei wollen auch auf den Monte Perdido, und zwar als Tagestour mit leichtem Gepäck von unserem Biwakplatz aus, was eine Gehzeit von 9 bis 10 Stunden erfordert. Für sie wird der Monte Perdido wohl verloren bleiben, denke ich und begebe mich von der Bresche aus hinunter in einen wilden, felsigen Abstieg. Hin und wieder werfe ich einen Blick zurück zur über mir liegenden Breche de Roland, um dieses imposante Felstor, dessen Säulen den engen Durchgang um zig Meter überragen, zu bewundern Der Sage nach soll Roland, ein Untergebener Karls des Großen, die Bresche mitsamt seinen Mannen zum Rückzug benutzt haben Den Heerführer möchte ich sehen, der hier mitsamt seinem Troß hinüberzieht, eine wirklich unrealistische Vorstellung. Vielmehr hat es sich in Wirklichkeit so zugetragen, daß im Jahr 778, nach einer verlorenen Schlacht gegen die Basken, der Rückzug über die wesentlich harmloseren grünen Hügel der westlichen Pyrenäen erfolgt ist.
Mir der Durchschreitung der Rolandscharte gelange ich wiederum auf spanisches Hoheitsgebiet.Die Berge sind hier karger und trockener, wiederum zeigt sich die Auswirkung der Klimascheide. Unterhalb der bald erreichten Goriz - Hütte zieht sich ein riesiger Canyon entlang, zwischen dessen schroffen Felsen sich das üppige Valle de Ordesa versteckt, welches gemeinsam mit dem Monte Perdido Namenspate für den Parque Nacional de Ordesa y Monte Perdido stand, in welchem ich mich nun befinde. Die Landschaft ähnelt den nordamerikanischen Berg- und Canonlandschaften, ein zusätzlicher Mosaikstein im variantenreichen Gesamtbild der Pyrenäen. Auf dem Weg zur Hütte offerierte sich mir der Monte Perdido von seiner Schokoladenseite, die direkt über dem Berg stehende Sonne ließ jedoch kein Erinnerungsfoto zu, und mir scheint schon fast so, wie wenn auf irgendeine Weise der Monte Perdido eben doch für jeden der „verlorene Berg“ bleibt. Gleich nach Ankunft am Refugio treffe ich Vorbereitungen für die Besteigung. Wie zuvor schon am Balaitous, will ich auch diesmal nur mit dem Nötigsten beladen zum Gipfel aufbrechen. Ein kurzer Schmaus in der Hütte, danach geht´s bei strahlendem Sonnenschein aufwärts, bis auf etwa 3000 m der Lago Helado, ein ganzjährig zugefrorener Gletschersee, erreicht ist. Eine gepinselte Aufschrift auf einem Felsen zeigt mir an, daß die „zona peligrosa“, die gefährliche Zone, erreicht ist. Von hier aus geht es sehr steil und ziemlich unangenehm über Schutt zum Gipfel. Ich benutze meinen Eispickel als Stütze und komme auf diese Weise einigermaßen gut vorwärts. Nebenan befindet sich ein riesiges, steiles Firnfeld; das Kar ist jedoch rechterhand, wo der Aufstieg durchführt, Gott sei Dank schneefrei, und somit die größte Gefahrenstelle im oberen Teil, die auch auf einem Foto in der Gorizhütte angezeichnet ist, ausgeschaltet.
Als ich den Gipfel erreiche, werde ich zu meiner Überraschung mit großem Hallo empfangen. Didier, Birgit und Karim haben´s doch noch gepackt und stehen jetzt sogar schon vor mir hier oben. Im Hintergrund stimmt eine gut 20 – köpfige Gruppe Spanier zum Gipfeltriumph lauthals ein Liedlein an. Wir steigen jetzt zu viert zum Eissee hinunter, wobei der Abstieg überraschend leicht fällt. Mich hatten nämlich beim Zustieg bereits Bedenken über die sichere Rückkehr befallen, nun aber sausen wir, voll mit den Bergstiefeln in den Schotter hineintretend und, wie eine Bisonstompede, große Staubwolken und ängstlichere Berggeher in selbigen hinter uns lassend, mit Karacho den Berg hinunter. Am Eissee schließlich trennen sich unsere Wege endgültig, denn während ich wieder zum Refugio absteige, bleiben die drei weiterhin auf der Höhe, um danach wieder gen Norden via Breche de Roland zu ihrem Lagerplatz zurückzukehren. Ich erreiche erschöpft, aber zutiefst beseelt ob der gelungenen Besteigung mein Zelt und verbringe den Rest des Tages mit Müßiggang. Ich nehme ein Vollbad im nahen Gebirgsbach und aale mich lesend in der Abendsonne. Der nächste Tag wird, was meine ursprünglichen Pläne anbelangt, einschneidende Veränderungen mit sich bringen, die sich schließlich auf den Verlauf der gesamten Tour auswirken sollen.
Ich marschiere also anderntags los, in der Absicht, durch Überschreiten der beiden Pässe Collado de Goriz und Collado de Anisclo ins Tal von Pineta zu gelangen, und von dort aus über die Port Neuf de Pinede den sich bereits wieder in Frankreich befindlichen Cirque d´Estaube zu erreichen. Von diesem aus habe ich mir als ferneres Ziel eine Runde durch den benachbarten Cirque de Troumouse auserkoren. Ich folge also unbedarft den hübschen, rot – weißen Markierungen, ohne nochmals Karte und Kompaß zu konsultieren. Verdacht hege ich erst, als ich merke, daß der Weg langsam, aber sicher direkt in den Ordesa – Canyon hineinzieht. Ein mir entgegenkommender Wanderer bestätigt meine Befürchtungen, der Steig führt schnurstracks hinunter ins Valle de Ordesa, und ich fasse einen spontanen Entschluß: Ich werde nicht wieder zurückkehren, sondern diesen Patzer zum Anlaß nehmen, das nicht zu Unrecht wohl am meisten gerühmte aller spanischen Pyrenäentäler zu durchschreiten und die Möglichkeit zu nutzen, in dem sich anschließenden, gleichwohl bekannten wie pittoresken Bergdorf Torla meine Reisekasse mit spanischen Peseten aufzufüllen, da ein alsbaldiger längerer Aufenthalt auf der spanischen Seite spätestens bei Eintritt ins Einzugsgebiet des Pico de Aneto ohnehin absehbar wird. Gedacht, getan, und schon geht´s hinab in den Talboden. Die dort vorhandene Fülle an üppig gedeihender Vegetation, und die Unzahl der hier unten tosenden Kaskaden und Wasserfälle erscheinen einem aus der Perspektive der Goriz - Hütte, wo eher der Eindruck einer ariden Schluchtenlandschaft suggeriert wird, noch beinahe unvorstellbar. Die Cascada de Cola de Caballo eröffnet denn auch sogleich, im Talschluß über Felsen hinunterschießend, den nun folgenden Reigen eines einzigartigen Wasserspektakels, das für Augen und Ohren einen Überschwang an betörenden Wahrnehmungen bietet. Die Cola de Caballo erhält, wie der Name schon besagt, durch die oben scheinbar verengte Form, die durch das nahe Zusammenrücken der Felsen , welche die Klamm bilden, entsteht, tatsächlich das Aussehen eines Pferdeschwanzes. Ich folge nun dem Bach entlang weiter talabwärts, die Landschaft bleibt weiterhin prächtig, besonders intensiv erlebe ich den reichen Pflanzenbewuchs, aber auch ein gelegentlicher Blick zurück zum Talabschluß, der vom sogenannten Circo de Soaso gebildet wird, trägt mit bei zu einem berauschenden Gesamteindruck. Irgendwo dort oben muß das Goriz – Berghaus stehen, überragt vom sagenhaften Monte Perdido, von beiden ist nun nichts mehr zu sehen.
Schließlich gelange ich in die Waldzone. Wie meist in den Pyrenäen, handelt es sich um sehr schöne, mediterrane Waldbestände, die zwischen knorrigen Steineichen und niedrig gewachsenen Buchen mit großen, moosbewachsenen Felsblöcken durchsetzt sind, und wo man ständig damit rechnet, daß einem Asterix und Obelix an der nächsten Wegbiegung begegnen. Im Talausgang befinden sich schließlich die meisten sehenswerten Wasserfälle, wobei man oft ein Stückchen vom Hauptweg hinuntergehen muß, um die geländerumringten Panoramaplattformen zu erreichen, welche durch ihre Exposition den Fotografen eine optimale Ernte gewährleisten. Unterwegs bringe ich dann in Erfahrung, daß unten am Parkplatz viertelstündlich Busse nach Torla verkehren, der Fußmarsch dorthin würde weitere drei Stunden in Anspruch nehmen. Da diese Strecke nicht meine Hauptrichtung von West nach Ost beeinträchtigt, mache ich von dieser Möglichkeit Gebrauch und lasse mich schließlich im Bus nach Torla hinunterschaukeln. Mit im Fahrzeug sitzt ein Spanier, den ich bereits vom Sehen von der Goriz – Hütte her kenne. Als ich dann vespernd auf dem Gesims eines der vielen alten Steinhäuser in den engen Gassen dieses romantischen Bergdorfes sitze, begegnen wir uns abermals, auch er hat mich wiedererkannt und es entwickelt sich sogleich ein Gespräch über das Woher und Wohin. Er kehrt heute noch zurück in seine Heimatstadt Madrid, wobei ihm eine 8 – stündige Reise mit dreimaligem Umsteigen bevorsteht. Die verkehrstechnischen Anbindungen lassen leider Gottes, was die öffentlichen Transporte anbelangt, hüben wie drüben in den Pyrenäen oft einiges zu Wünschen übrig.
Als ich schließlich beginne, mich mit meinem Weiterweg zu beschäftigen, trifft mich erst mal der Schlag. Der Abstieg durch´s Valle de Ordesa und die Busfahrt nach Torla haben mich weit in den Westen zurückgeworfen, und hinzu kommt noch, daß ich jetzt auch ein gutes Stück nach Süden vom Hauptkamm weggedriftet bin und eigentlich die einzige logische Konsequenz die Rückkehr auf genau demselben Weg bis kurz vor´s Refugio de Goriz wäre. Doch das will ich nie und nimmer akzeptieren, egal, wie schön der Weg durch den Ordesa – Canyon war, ich bin nicht gewillt, denselben Weg zweimal an einem Tag zu gehen. Leider ist der Ort Torla nicht mehr auf meiner Landkarte verzeichnet, und ich besorge mir im Touristenbüro einen kleinen Prospekt, mit einer sehr vagen Kartenskizze der nächsten Umgebung. Dabei stoße ich als scheinbare Alternative auf den GR 15, ein Weitwanderweg, der sich mehr an die Ausläufer des Gebirges hält, durch viele Bergdörfer führt und somit mehr das kulturelle Erlebnis, anstatt die Erschließung der hochalpinen Landschaften in den Vordergrund stellt. Meine Idee ist es nun, dem GR 15 zu folgen, bis der Eingang zum Valle de Anisclo erreicht ist, welches sich denn auch wieder auf meiner richtigen Wanderkarte befindet. Ich folge also dem Pfad von Torla aus über Broto, und schließlich wieder aufwärts nach Buesa. Beide Ortschaften sind alte, sehenswerte Bergdörfer, wobei Buesa noch eine richtige Authentizität vermittelt, man findet hier nur wenige touristische Einrichtungen. Jetzt hört plötzlich die rote Markierung auf, es führt nur noch eine gelbe in Richtung Sarvise, was aber laut meinem Plan nicht der richtige Weg wäre, um zu meinem Zwischenziel Fanlo zu gelangen. Ich frage also im Dorf nach, und man weist mir den ungefähren Weg, jedoch mit dem Vorbehalt, daß es nicht leicht wäre, von hier aus nach Fanlo zu finden. Dies wird mir nach Überqueren von zwei Wegkreuzungen auch gleich bewußt, und meine Hoffnung, unterwegs wieder auf die GR 15 – Markierung zu stoßen, ist auch denn gleich zunichte gemacht. Jetzt werde ich sturköpfig, und mache etwas völlig hirnverbranntes: Ich beschließe, mich an den nächstbesten Weg zu halten, der irgendwie nach Osten führt, und folge dann auch sogleich einem zunächst breiten Karrenweg, der zwar nach Osten, jedoch auch mehr und mehr den Berg hinaufführt, wobei er zwischendurch abbricht und nur noch ein schmaler Pfad verbleibt, dem ich jedoch weiterhin stur folge. Durch den Wald geht es jetzt beständig aufwärts und ich gebe mich der Illusion hin, mit dem Erreichen der baumfreien Zone einen Überblick über das Ganze zu gewinnen und vielleicht auch schon irgendwo in der Ferne Fanlo auszumachen. Ich gelange schließlich auf eine Bergkuppe, die überall mit stachligen Moosflechten bewachsen ist, hier oben könnte man nicht einmal vernünftig zelten. Irgendwo weiter hinten entdecke ich eine sogenannte Borda, so nennt man hierzulande die kleinen, steinernen Sennhütten, und ich finde auch eine Fortsetzung des Pfades, dem ich weiterhin gen Osten folge. Der Sendero führt jetzt durch eine wilde Maquislandschaft (ital. Macchia), eine typisch mediterrane Mittelgebirgswildnis, die aus Sträuchern, Dornengewächsen und Moosgeflechten besteht, und einen typischen Geruch ausströmt, der auch unter anderem Duftnoten wie etwa der von Rosmarin, in sich trägt. Napoleon behauptete einmal, er würde seine Heimat Korsika, wo diese Buschwaldlandschaft ebenfalls sehr verbreitet ist, mit verbundenen Augen am Geruch erkennen. Na, der hätte vielleicht blöd geguckt, wenn er sich schließlich in den Ausläufern der spanischen Pyrenäen wiedergefunden hätte! Tatsächlich werde auch ich jetzt durch dieses unverkennbare Aroma an meinen Korsika – Aufenthalt vor einigen Jahren erinnert. Der Pfad schlängelt sich jetzt, zwischenzeitlich sehr schmal geworden, durch äußerst unangenehmes Dickicht. Dank meines sperrigen Rucksacks bleibe ich ständig in irgendwelchen dornigen Ranken und überwuchernden Büschen hängen, was bei mir wüsteste Fluchtiraden auslöst. Nach geraumer Zeit, ich habe soeben eine hochwillkommene Wasserquelle passiert, teilt sich jetzt auch noch zu allem Verdruß der Weg. Da ich mit dem Abstieg nach Torla die Hochgebirgszone verlassen habe und mich somit wieder auf geringerer Seehöhe befinde, herrscht nun ein ähnlich mörderisches Klima, wie einst zu Beginn meiner Unternehmung, als ich die Gegend zwischen Laruns und Lescun durchwanderte. Hinzu kommt, daß hier unten, in den Vorbergen, um diese Jahreszeit Wassermangel herrscht, so daß ich mich an der kleinen Quelle wie ein Dromedar „vollaufen“ lasse, um dann den Weg mit frisch aufgefüllten Flaschen fortzusetzen. Die Wegführung wird jetzt immer unzumutbarer, von allen Seiten zerren Dornen an mir, reißen Haut und Klamotten auf. Ich muß vor allen Dingen wegen der gefährlichen, dornigen Ranken auf meine Augen Acht geben, und einige Male bin ich gezwungen, auf allen Vieren unter wilden Überwucherungen durchzukriechen, um vorwärts zu kommen. Der Pfad verliert sich vollends vor einer Borda, wobei ich die wenigen Meter, die mich von dem Hüttchen trennen, unter unsäglichen Bedingungen überwinden muß, indem ich mit größter Behutsamkeit über´s meterhohe Dornengestrüpp hinüberbalanciere, schwer darauf bedacht, jetzt ja nicht auf die Schnauze zu fallen. Zu meiner großen Enttäuschung stelle ich fest, daß die Hütte schon verfallen und von Dornengewächsen ringsum zugewuchert ist. Ich entledige mich zunächst einmal meines Gepäcks, um mich in der näheren Umgebung umzutun. Weiter oben stoße ich auf eine weitere, ebenfalls schon halbverfallene Schäferhütte, und es ist nirgendwo mehr ein Pfad zu finden, geschweige denn irgendein Mensch zu sehen. Ich erblicke weit unter mir ein Tal, in dem sich mehrere Gebäude befinden. An ein Durchkommen querfeldein ist jedoch nicht zu denken, hier hätte man allenfalls noch mit einer Machete eine Chance! Und während ich hier umherirre, klatschnaß geschwitzt, von hunderten surrender Fliegen umschwirrt, Arme und Hände blutig gekratzt, als wenn ich mich mit einem halben Dutzend wildgewordener Perserkatzen gebalgt hätte, erwächst in mir die Vorstellung, daß es durchaus möglich ist, unter Umständen hier oben kläglich zu verdursten, oder aber zumindest mehr tot als lebendig unten im Tal wieder anzukommen. Jetzt verstehe ich endlich, was es mit der Flucht in die als undurchdringlich geltende Maquis auf sich hat, einer alten, korsische Gepflogenheit, wonach sich von der Blutrache Bedrohte, oder aber auch herkömmliche Kriminelle, der Staatsmacht oder den Racheakten der gegnerischen Partei entzogen, indem sie sich als Eremiten in diese Wildnis begaben, nach dem Motto: Hauptsache ein freier Mann bleiben! Selbst das französische Wort „maquisard“ für Widerstandskämpfer deutet auf die sichere Rückzugsmöglichkeit, wo ein Zugriff durch Feinde kaum noch möglich ist.
Mir selbst erscheint die Vorstellung ein Greuel, in so einer Wildnis den Rest meiner Tage verbringen zu müssen. Ich sehe für mich jetzt nur noch eine vernünftige, wenn auch schmerzende Alternative: den ganzen Unsinn hier abzubrechen, den gesamten Weg bis nach Buesa zurückzugehen und dabei auf der Hut sein, unter keinen Umständen den Pfad zu verlieren! Bis hinunter ins Dorf wird es heute zwar nicht mehr reichen, ich habe jedoch auf dem Hinweg bereits eine weitere verlassene Borda passiert, hinter der sich eine winzige Schafswiese befindet, auf welcher ich nun mein Zelt aufbaue. Zuvor komme ich abermals an der ominösen Weggabelung vorbei, wo auch ein Steinmännchen steht. Ich habe vermutlich nur die falsche Abzweigung gewählt, da der Zustand des Weges auch erst hinter der Gabelung so richtig miserabel geworden ist. Für mich steht jedoch fest, daß der Pfad immer noch einen Nutzen hat, da er andernfalls schon vollends zugewuchert wäre. Es war durchgehend eine mehr oder weniger deutliche Pfadspur vorhanden, und auch die funktionierende Wasserquelle weist darauf hin, daß hier immer noch entlanggegangen wird. Interessierten Lesern übermittle ich gerne die geographischen Daten, auf daß sie mir die Ergebnisse ihrer Forschungen mitteilen, ich jedoch bin vorerst geheilt von weiterer Experimentierlust und setze tags darauf den Rückzug hinunter nach Buesa fort. Am Ortseingang stellt sich mir ein riesengroßer, aber uralter Hofhund entgegen, der jedoch zu meiner Erleichterung mehr Angst als Vaterlandsliebe zeigt. Seine Besitzerin, ein steinaltes Mütterlein, tritt gerade aus dem Hoftor, offenbar scheint sie noch eine der wenigen, vielleicht sogar die einzig verbliebene Einwohnerin in diesem hier oben gelegenen Dorfteil zu sein. Auf meine Frage, ob wohl die Möglichkeit bestünde, per Bus nach Fanlo zu gelangen, erfahre ich, daß hier in Buesa überhaupt keine Busse verkehren, und es wohl das Beste für mich sei, nach Sarvise hinunterzulaufen, um von dort aus zu Fuß oder per Anhalter weiterzugelangen.
Ich folge somit schließlich doch noch der gelben Markierung hinunter nach Sarvise, wo ich überraschenderweise wieder auf die GR – 15 – Markierung stoße, was somit in meiner Fremdenverkehrs – Broschüre falsch dargestellt ist. Ich folge zunächst der Straße, die nach Fanlo führt, wo mich unterwegs ein Schild mit dem Hinweis erschreckt: „Fanlo estacion de ski de fondo 24 km“. Mir bleibt die Hoffnung, daß sich diese Distanz vielleicht nur auf die wintersportlichen Einrichtungen und nicht etwa auf die Ortschaft selber bezieht, die ja eigentlich laut Kartenskizze viel näher sein müßte. Zu meinem Glück verpasse ich die Abbiegung, wo der GR 15 die Straße verlässt, denn nach wenigen Kilometern hält ein Auto und nimmt mich mit bis nach Fanlo. Der Fahrer ist Baske und stammt aus San Sebastian, während sein jüngerer Freund aus Barcelona kommt; sie wollen in der Nähe von Fanlo zum Canyonning. Während der Fahrt stellt sich heraus, daß ich Glück hatte, von den beiden aufgegabelt geworden zu sein, denn ich hätte sonst wohl den ganzen Tag mit einem öden Marsch entlang der Straße zugebracht. Wir erreichen die Ortschaft, die übrigens unbewohnt, zwischenzeitlich jedoch für den Tourismus wieder entdeckt worden ist. Man hat bereits einige alte Häuser renoviert und zu Restaurants umgebaut. Ab hier muß ich allerdings doch noch ein gutes Stück der Straße folgen, bis der GR 15 von dieser weg führt und mich in die Gemeinde Nerin bringt, wo ich im Restaurant des Hotels am Ortsausgang erst mal einen kräftigen Imbiß zu mir nehme, und dort auch das Ende der ärgsten Mittagshitze abwarten will. Dieses Problem erledigt sich jedoch mit dem Aufziehen grauer, aufgedunsener Gewitterwolken, was meinen Weiterweg zum völlig verlassenen Geisterdorf Sercue, das fast direkt überhalb des cannyonförmigen Valle de Anisclo liegt, bedeutend erleichtert. Das Gewitter hält sich zurück, obwohl ich heute nichts gegen etwas kühle Erfrischung von oben einzuwenden hätte. Durch den Paßübergang Collado de Nerin gelange ich schließlich auf einen Pfad, der durch die östliche Canyonwand in den Talgrund hinunterserpentiert. Somit finde ich mich in der Talsohle des ungemein interessanten Valle de Anisclo wieder. Dieses schluchtartige Tal ist viel enger, als das Valle de Ordesa, der Pflanzenbewuchs entlang des tosenden Gebirgsbaches viel dichter, und der Pfad selbst verläuft oft ungesichert am Rand des Abgrunds, weshalb Familien ihre Kinder hier unbedingt ans Seil nehmen sollten. Insgesamt hält dieser Canyon seine Reize aufgrund der Üppigkeit seiner äußerst bemerkenswerten Vegetation und dem Fehlen von Panorama -plattformen eher bedeckt, er kann jedoch mit mindestens genauso vielen dramatischen Wasserfällen und wilden Kaskaden aufwarten, wie das Valle de Ordesa, und ist auf jeden Fall das wildere und ursprünglichere der beiden Täler. Weiter oben rücken die Schluchtenwände noch enger zusammen, und dort erhält das Valle dann laut Karte schließlich auch offiziell die Bezeichnung „Canyon de Anisclo“. An der traumhaft schönen La Ribereta, einer der wenigen Stellen im Canyon, wo es möglich ist, ein Zelt aufzubauen, schlage ich schließlich mein Nachtlager auf, direkt am Wildbach, wo ich beim abendlichen Waschen von einem Vollbad Abstand nehme, da die Strömung recht stark ist, und nur wenige Meter weiter unten der Bach durch eine enge Klamm schießt. Ich habe schließlich keine Lust auf ein unfreiwilliges Canyonning!
Tags darauf geht es noch ein gutes Stück aufwärts, immer noch durch eine großartige Schluchtenlandschaft, wobei der Talabschluß wieder breiter und offener wird, bis schließlich auf knapp 2500 m der Collado de Anisclo erreicht ist. Von hier oben zeigt sich denn auch wieder der Gipfel des Monte Perdido und tief unter meinen Füßen ruht das Valle de Pineta, in das ich jetzt hinuntersteige, wobei sich das letzte Wegstück, einen großen Bogen schlagend, scheinbar ewig hinzieht. Als ich den gebührenfreien, mit schattenspendenen Pinien bestandenen Zeltplatz neben dem Refugio de Pineta erreiche, bin ich schließlich fix und alle. Ich schmeiße meinen Rucksack ins Gras und halte erst mal eine Siesta, und zwar noch bevor ich mich mit Zelt aufbauen, Essen oder Waschen beschäftige. Bei der heutigen Etappe hatte ich ein körperliches Formtief, und ich schleppe mich jetzt, nachdem ich mich endlich dazu aufgerafft habe, wenigstens das Zelt aufzuschlagen, hinüber zum benachbarten Refugio, wo ich erst einmal eine kräftige Mahlzeit auffahren lasse, und mich für´s Frühstück anderntags anmelde.
Nachts zieht ein kräftiges Unwetter über´s Tal, es blitzt, donnert und regnet bis zum nächsten Morgen. Als ich dann zum Frühstück gehe, hat die Lage sich glücklicherweise wieder beruhigt. Der Hüttenwirt, ein witziger, quirliger Vogel mit Reibeisenstimme, prognostiziert mir aber erneute Gewitter, die zum späten Nachmittag einsetzen sollen. Mein Tagesziel soll mich auf dem GR 11 nach Parzan führen. Soll, denn nach anfänglichem Aufstieg und Traversieren einer wunderschönen Weidelandschaft, die von schroffen Berggesellen umrahmt ist, folge ich entlang eines Wasserfalls einer Pfadspur aufwärts, anstatt mich rechterhand dem Paßübergang zuzuwenden. Ich bemerke den Irrtum, bleibe nach erneutem Kartensudium jedoch auf dem eingeschlagenen Pfad, da dieser eine hochalpine Einlage verspricht, indem er zu den beiden abgelegenen Bergseen Los Lagos de la Munia auf 2513 m hinaufführt. Dieser Pfad ist gleichzeitig auch der Zugang zur Besteigung der 3134 m hohen La Munia. Unterwegs treffe ich auf drei Bergsteiger, alle etwa in den Mittvierzigern, die recht flott unterwegs sind. Sie wollen zum Pico de la Robinera, einem Gipfel, der nur knapp unter der 3000 – Marke bleibt. Die sich am Himmel zusammenballenden Wolken beobachte ich schon seit geraumer Zeit mit einem gewissen Unbehagen, die drei Spanier bleiben jedoch gefährlich optimistisch: Auch sie halten an der Prognose fest, Gewitter erst am Nachmittag. Allein das Wetter selbst hat nicht die geringste Lust, sich an die Vorhersagen der spanischen Wetterfrösche zu halten. Kurz , nachdem sich die drei Optimisten in Richtung Gipfel davongemacht und ich die beiden Karseen erreicht habe, bläst auch schon der Wind mit allen Kräften, und während bereits die ersten Regentropfen auf mich herabprasseln, lege ich einen kräftigen Zahn zu, um aus dem ausgesetzten Gelände hinab in sicherere Gefilde zu gelangen. Erst, als ich die weiter unten gelegenen Bergwiesen erreicht habe, wo ich bereits den weiteren Verlauf des GR 11 mit den Augen verfolgen kann, auf den ich mich jetzt wieder zurückbegebe, nehme ich mir die Zeit, mich und meinen Rucksack unter den Regenmantel zu packen. Das Unwetter bleibt jedoch harmloser, als es zunächst den Anschein hatte, und manchmal haben Regentage sogar ihren besonderen Reiz, so wie jetzt, wo mir die Landschaft eine herbromantische Rauheit vermittelt. Ich fühle mich, unterwegs inmitten der Pyrenäen, mit einem Male in die schottischen Highlands versetzt. Diese Art der „Schlechtwetter – Romantik“, die bei den meisten Sonnenanbetern wohl nie aufkommen wird, können mir sicher alle Nordlandfreunde oder die Enthusiasten der britischen Inseln nachempfinden.
Der GR 11 zieht nun als einfach begehbarer Karrenweg dahin, tief unter mir hat sich der Rio Real sein Bett gegraben. Gelegentlich entdecke ich unter mir, inmitten der Wiesenhänge, die steil zum Flußbett abfallen, die eine oder andere einzeln stehende Borda, und das Gebell der Hirtenhunde dringt zu mir hoch. Das Wetter ist zwar wechselhaft, aber nicht unbedingt schlecht, kurze Sonnenperioden werden immer wieder durch sich vorschiebende Wolken und von kurzen Schauern unterbrochen.Kurz nachdem ich das schöne, an den Hang geklebte Minidorf Chisagues passiert habe, erreiche ich über ein kleines Sträßlein abwärts die pittoreske Ortschaft Parzan. Leider wird Parzan von einer verkehrsreichen Straße, die nach Frankreich hinüberführt, tangiert. Im Restaurant verzehre ich zwei große Bocadillos. Der Benzingestank der benachbarten Tankstelle und der florierende Grenzverkehr tragen wenig zu einem längeren Aufenthalt bei, im benachbarten Laden flattern unentwegt französische Schnäppchenkäufer wie in einem Taubenschlag ein und aus. Zwei baskische Wanderer, denen ich bereits kurz vor Chisague begegnet war, haben weiter oben in der eigentlichen Ortschaft erfolglos nach einer Nächtigungsmöglichkeit eruiert, so daß auch für mich nur der Weiterweg bleibt.
Ich folge zunächst, wohl oder übel, der verkehrsreichen Straße, bis mich nach kurzer Zeit die GR 11 - Markierung über einen kleinen Fahrweg wieder in die Ruhe der Berge zurückführt. Ein paar wenige, neugierige Ausflügler überholen mich mit ihren Geländewagen. Ihr vermutliches Ziel, der Lago de Urdizeto, ist allerdings in der Schlußphase nur zu Fuß erreichbar. Bis ich endlich einen geeigneten Lagerplatz für die bevorstehende Nacht finde, muß ich mich zunächst noch einige Serpentinen hinaufschrauben, wo ich dann endlich auf einer schönen Schafswiese am Wegrand, mit herrlichem Panorama auf die morgen zu überwindende Bergkette, den Feierabend beschließe.
Der Fahrweg, dem ich tags darauf weiterhin folge, endet hinter einem Elektrizitätswerk mit kleinem Stausee, und der sich anschließende Bergpfad führt über den im Übergang weit ausladenden, zugigen Paso de los Caballos (2314 m), durch eine hier etwas gebändigtere Gebirgslandschaft. Der Himmel bleibt zwar weitestgehend grau, die Witterung aber dennoch trocken und die Fernsicht, die bereits wieder Blicke auf entfernte Schneegipfel gewährt, ist nahezu unbeeinträchtigt. Schließlich erreiche ich den kleinen Weiler Biados, wo ich mich auf dem am Ortseingang gelegenen Campingplatz Forcallo einquartiere. Auch in dieser Nacht prasselt wieder Einiges an Niederschlägen herunter, und wie ich am nächsten Morgen nach dem Frühstück über meinem zweiten cafe con leche sitze, starre ich etwas frustriert durch das Fenster der im rustikalen Stil eingerichteten Cafeteria des Campingplatzes, wo draußen soeben wieder ein tüchtiger Schauer niedergeht. Im Moment denke ich noch nicht an die vor dem Frühstück zum Austrocknen über die Zeltkuppel gelegte Wanderhose, so daß sich mein Wutanfall erst mit der Rückkehr zum Zelt entlädt. Es hat zwischenzeitlich wieder aufgehört zu regnen, und noch während ich am Zusammenpacken bin, lugt bereits zaghaft die Sonne durch´s Wolkenmeer. Am örtlichen Refugio vorbeiziehend, gelange ich zu den Bordas de Biados. Eine ganze Kette von Stallungen und Heuschobern in traditioneller Bauart, deren noch nasse Schieferdächer in der zwischenzeitlich strahlenden Morgensonne glänzen, bieten einen wahrhaft postkartenreifen Anblick. Genauere Informationen über Baustil, Verwendungszweck und Geschichte der Bordas finden sich übrigens auf einem großen Schild direkt neben dem Campingplatz Forcallo. Das Vorhaben, über die Paßhöhe Puerto de Auguas Tortas nochmals nach Frankreich zu gelangen, schlägt fehl. Ich finde zwar einen Pfad, der ist allerdings weder beschildert noch markiert und könnte genauso gut irgendein Viehweg sein, der sonst wohin führt. Erst vor kurzem dem Maquis – Buschwald entronnen, verspüre ich keinerlei Gelüste mehr, mich auf´s Neue zu verlaufen, und da ich das Landschaftsbild hier auf der spanischen Seite durchaus ansprechend finde, beschließe ich, weiterhin dem GR 11 zu folgen, der auf dem Weg zum Refugio de Estos zunächst den Bergpaß Puerto de Gistain mit 2609 m überquert.
Auf der Paßhöhe bieten sich überwältigende Aussichten auf von Schneefeldern weiß gescheckte, und durch wilde Wolkengebilde umspielte Berggipfel, ein Schauspiel welches mich an riesige, dampfende Druidenkessel denken läßt. Kein Wunder, auf der anderen Seite liegt ja schließlich Gallien, außerdem denke ich, daß auch die alten Iberer ihre Zaubertrank brauenden Schamanen hatten. Mit dem Abstieg zur Bergunterkunft Refugio de Estos ist auch gleichzeitig die Begehung des überaus lohnenswerten Valle de Estos eingeleitet. Gestärkt durch Speis´ und Trank will ich nun, nach Verlassen der Hütte, dem Weiterweg ein Schnippchen schlagen, indem ich durch Abkürzen über einen Nebenpfad einen allzu tiefen Abstieg ins Tal von Benasque verhindern und direkt zu den weiter oben gelegenen Banos de Benasque bzw. zur Biwakunterkunft Cabana de Literola gelangen will.
Hinter einem schönen Almhüttchen führt alsdann auch eine Pfadspur aufwärts, zunächst an der Ruine eines alten Bauernhauses vorbei, dann steil hinauf durch den Wald, wo ich, oberhalb der Baumgrenze angelangt, bereits wieder Schwierigkeiten mit der Wegfindung bekomme. Ich marschiere bald schon querfeldein, mit Karte und Kompaß im Anschlag, als ich plötzlich weit unter mir ein kleines Abri ausmache. Mich wundert es, daß ich offensichtlich so weit nach oben abgedriftet bin, denn Himmelsrichtung und geographische Merkmale der Umgebung haben mich bislang, trotz des pfadlosen Orientierungsmarsches, ziemlich in meiner Annahme bestärkt, daß ich mich auf dem richtigen Weg befinde. Was soll´s, ich steige also wieder ein gutes Stück ab, bis ich zur Hütte gelange, die bereits durch zwei oder drei Familien belegt ist. Nur so zur letzten Bestätigung rufe ich den Leuten entgegen: “Por aqui esta la Cabana de Literola, verdad?“ und erwarte eigentlich nichts anderes, als ein bestätigendes „Asi es“. Entsprechend groß ist der Schock, als man mir antwortet, das hier sei die Cabana la Coma. Ich könnte glatt an die Decke gehen, wenn da über mir eine wäre! Ich habe den richtigen Weg verlassen, um zur falschen Hütte abzusteigen! Die ganze Mühe des Aufstiegs und der anschließende Abstieg waren für die Katz´! Frustriert kehre ich nun vom Abri aus zum Hauptweg zurück, dem ich nun doch bis ganz hinunter folgen werde. Das bezaubernde goldene Licht der Abendsonne und die entzückende Schönheit des Talweges beruhigen schließlich wieder mein Gemüt und im Campingplatz Chuise, dem Erstbesten, auf den ich am Ende des Talweges stoße, finde ich zwar kein Restaurant vor, und auch die Rezeption ist unbesetzt, ich werde aber immerhin mit einer erfrischenden Dusche für die heutigen Anstrengungen belohnt.
Am folgenden Morgen treibt es mich zuerst hinunter nach Benasque, das, trotz Bergtourismus, immer noch eine ansehnliche Ortschaft mit alten Steinhäusern und engen, verwinkelten Gassen geblieben ist. Ich will mich mit Lebensmitteln versorgen, mich nach einer Landkarte für den Nationalpark Aigues Tortes, den ich in absehbarer Zeit erreichen werde, umtun und ein Lokal für ein gemütliches Frühstück aufsuchen. Als ich unten ankomme, ist es gerade einmal 8 Uhr, und die Geschäfte haben noch geschlossen. In einem Hotel wird Frühstück vom Buffet angeboten und ich schlage zu! Als ich das Hotel wieder verlasse, komme ich mir vor, wie der böse Wolf im „Rotkäppchen“ der Gebrüder Grimm, dem bekanntlich Steine in den Bauch genäht wurden, und wie der Isegrim im Märchen, bin auch ich Opfer meiner eigenen Freßsucht geworden. Der Magen ist an solcherlei Portionen nicht mehr gewöhnt, und ich muß bei der Rückkehr zum Campingplatz mehrere Male pausieren, so schwer liegen mir die Schlemmereien im Magen. Als ich abmarschbereit bin, ist die Rezeption immer noch unbesetzt, und ich verlasse somit den Campingplatz wohl oder übel als Zechpreller. Der Magen hat sich zwischenzeitlich wieder einigermaßen erholt, was gut so ist, denn ich habe heute ein gutes pensum an Anstiegsmetern zu bewältigen, um mein erklärtes Tagesziel, das Berghaus de la Renclusa zu erreichen, das schon die katalanische Bezeichnung „Refugi“ trägt, obwohl wir uns dort immer noch in der Provinz Aragon befinden. Der Weg gewinnt langsam an Höhe, und führt zunächst am Stausee Embalse del Paso Nuevo vorbei, passiert anschließend das Höhenkurbad Banos de Benasque, um sich oberhalb der Bäder von der ständig parallel auf der gegenüberliegenden Talseite verlaufenden Straße vorübergehend zu entfernen, und anschließend mit einem kleinen Asphaltweg konform zu gehen, über welchen das Hospital de Benasque erreicht wird. Der alternde Betonbau des Kurhauses, der mich schon etwas in Bauart und Zustand an manche der ehemals staatlich geführten Hotels des ehemaligen Ostblocks erinnert, gammelt dort oben vor sich hin. Jetzt endet auch die parallel geführte Straße, und an der Anzahl der geparkten Fahrzeuge sieht man, daß heute Samstag ist, noch dazu mitten in der der Urlaubszeit.
Hinter dem weiter unten sich befindlichen, mit Autotouristen brechend vollen Parador (span. Ausflugslokal) gewinnt die Landschaft dann immer mehr an Attraktivität, ein wunderschönes Hochtal öffnet sich, und die saftigen Wiesen, auf denen friedlich Kühe grasen, bilden, wie ein Schild am Wegrand erklärt, in regenreichen Zeiten den Grund eines Sees. Die Idylle wird nur durch die Tatsache gestört, daß auf einem gegenüberliegenden Fahrweg Pendelbusse verkehren, die gehfaule Ausflügler vom Parkplatz bis zu einer Jausenstation bringen, wo schließlich nur noch ein für Fahrzeuge unpassierbarer Saumpfad zur Renclusa – Hütte hinaufführt. Das Refugium wird derzeit einer Renovierung unterzogen, steht aber trotzdem noch einer begrenzten Anzahl an Übernachtungswilligen zur Verfügung. Oberhalb der Hütte ist schon eine kleine Zeltstadt entstanden, in die ich mich ebenfalls einfüge. Es darf davon ausgegangen werden, daß die meisten Bergsteiger, die hier oben die Nacht verbringen, ein gemeinsames Ziel haben: die Besteigung des höchsten Pyrenäengipfels, des Pico de Aneto!
Auch ich möchte mit der Begehung des Aneto dem Reigen meiner bisherigen Gipfelbezwingungen in den Pyrenäen die Krone aufsetzen, die Wetterprognose des Hüttenwirtes läßt mich jedoch Bangen um das Glücken dieser Unternehmung. Trotzdem treffe ich am Abend noch sämtliche Vorbereitungen für einen schnellen Aufbruch, und kuschle mich mit der Hoffnung auf akzeptables Wetter in meinen Schlafsack.
Raunende Stimmen, huschende Lichtkegel, das metallene Klirren von Bergsteigerutensilien, das surrende Geräusch von sich öffnenden und schließenden Zeltreißverschlüssen, sowie das Klappern von Kochgeschirr und das dumpfe Fauchen eines Gaskochers rütteln mich aus dem Schlaf. Meine Uhr zeigt 5.15 Uhr. Ohne zu zögern pelle ich mich aus meinem Schlafsack, und leuchte mir meinen Weg mittels Stirnlampe hinunter zur Hütte. Ein Blick zum noch nächtlichen Himmel verheißt allerdings nichts Gutes, die Sterne verbergen sich hinter einer dichten Wolkendecke. Im Speisesaal des Refugiums geht es schon lebhaft her, ich kann gerade noch einen Sitzplatz ergattern. Eine größere Gruppe ist schon abmarschbereit, und im hinter dem Zeltlager beginnenden Anstieg hatte ich vorhin schon die Lichtkegel bereits marschierender Gruppen gesehen. Ich erfrage nach dem Frühstück nochmals beim Hüttenwirt die Wetterprognose für den heutigen Tag. Das Barometer sei zurückgegangen, man müsse mit allen Unbilden rechnen. Allein die Tatsache, daß so viele Gruppen sich ebenfalls auf den Weg zum Berg machen, läßt mich den Entschluß fassen, es zu versuchen, allerdings mit dem Hintergedanken, im Falle der Zuspitzung der Situation sofort wieder abzusteigen. Wären heute nur Wenige oder gar überhaupt niemand hochgegangen, hätte ich das Unternehmen abgeblasen. Jetzt aber schnappe ich mir meinen am Vortag bereits präparierten Rucksack, und mache mich ebenfalls an den Aufstieg, der in der ersten Stunde noch im Schein der Stirnlampe zu bewältigen ist. Während es langsam hell wird, taucht vor mir bereits ein Gletscher auf. Ich folge eigenwillig einer bescheidenen Steinmännchenmarkierung direkt nach Norden, während die anderen Gruppen sich weiter links halten. Ich werde jedoch allmählich stutzig, da ich auf dem Gletscher niemanden mehr sehe, seit eine weit vor mir gehende Gruppe hinter der Nebelwand auf dem Gletscher verschwunden ist. Karte und Kompaß signalisieren mir dann, daß es sich hier um den Gletscher des Pico de la Maladeta handelt, der mit 3308 m etwas niedrigere, aber schwieriger zu begehende Nachbar des Pico de Aneto, und Namensgeber des hiesigen Gebirgsmassivs. Die vor mir entschwundenen Bergsteiger waren wohl jene Männer, mit denen ich mich gestern noch unten im Lager unterhalten hatte, und die mir eben ihre Absicht bekundeten, daß sie den Pico de la Maladeta besteigen wollen.
Ich entdecke linkerhand einen geodiätischen Punkt, den ich jetzt anvisiere, und von dem aus ich wieder die anderen Gruppen sehe, die ich heute morgen bereits überholt hatte. Diese haben folgerichtig den Weg zur Scharte Portillo Superior auf 2908 m eingeschlagen, und ich muß mich nun erst einmal wieder ein gutes Stück durch die Felsen hinunterhangeln, um ebenfalls in den Übergang zu gelangen. Ich hatte mir die Aufstiegsroute am Vortag auf der Karte nicht genau genug angeschaut, denn erst die Überwindung dieser Scharte macht den Zugang zum Aneto – Gletscher möglich! Zunächst wird jedoch noch ein Firnfeld passiert und anschließend geht es noch ein gutes Stück durch Felsen und kleinere Firnfelder, ehe der im unteren Bereich apere Gletscher erreicht wird. Am Gletscherrand machen sich zwei französische Gruppen mit ihren spanischen Bergführern bereit, und auch ich, sowie zwei oder drei andere Kleingruppen legen jetzt die Steigeisen an. Die zufällige zeitliche Übereinstimmung verfügt es, daß ich den Gletscher unmittelbar hinter einer der geführten Gruppen betrete, vor mir geht noch ein anderer Einzelbesteiger. Dieser erhält sogleich vom Bergführer einen Anpfiff, er solle nicht in seiner Spur aufsteigen, denn seine Leute hätten schließlich dafür bezahlt, daß er sie hochführt. Als ich das höre, platzt mir der Kragen und mit der Bemerkung „Das soll doch wohl ein Witz sein !“ ziehe ich schnurstraks an der Gruppe vorbei, um anschließend noch die bereits weiter vorne gehende, zweite Gruppe ebenfalls zu überholen, bis ich dann auch bald in die deutliche Aufstiegsspur im Schnee gelange. Sogleich werde ich vom Nebel verschluckt, aber die gut eingetreten Spur und die Anzeige meines Kompasses lassen in mir keine Zweifel aufkommen, daß ich hier richtig bin. Nach der Querung dieses gar nicht so kleinen Gletschers zieht die Spur schließlich steil über Firn nach oben, bis irgendwann wieder Felsengelände erreicht wird. Schließlich erreiche ich die Gipfelzone, wo als letzte Prüfung die Überwindung der sogenannten Brücke des Mohammed ansteht. Zwei Katalanen, die hier oben in dieser unwirtlichen Umgebung eine Brotzeit machen, geben mir noch den Rat mit, ich solle vorsichtig sein. In leichter Kraxelei geht es dann über diesen tatsächlich sehr ausgesetzten Grat, der mich an den Altmann – Gipfel im heimatnahen schweizer Alpsteingebirge erinnert, wo man einen ähnlich schmalen Grat hinter sich bringen muß, um endgültig das Gipfelkreuz zu erreichen. Der Wind trägt sich wohl mit der Absicht, mich von Mohammed´s Brücke hinunterfegen zu wollen, und ich kann mir gut vorstellen, daß gar mancher sich hier zum Kniefall genötigt sieht, um hier hinüber zu gelangen, woraus vielleicht die Namensgebung in Bezug auf Allah´s Propheten resultieren mag. Auf dem Gipfel schließlich bleibe ich von Nebel umhüllt, und der Wind bläst mir charmant um die Ohren. Einen rein sportlicher Gipfelsieg habe ich errungen, sicher war es auch eine Trophäenjagd, trotzdem bin ich stolz und glücklich, berühre mit meinen Händen die kleine, metallene Marienstatue , die hier oben wohl schon manch furchtbare Sturmböen und Kälterekorde über sich ergehen lassen musste, und mache mich alsdann wieder auf den Rückweg, wobei ich mich mit den beiden Katalanen zusammentue, die ihr Zelt inmitten der Felsen nahe des Maladeta – Gletschers aufgestellt haben, von wo ich dann den restlichen Abstieg hinunter zur Renclusa allein vornehme.
Eigentlich sollte mit der Rückkehr ins Lager der heutige Tag beschlossen sein, doch als ich nach einem kurzen Schläfchen erwache, entscheide ich mich doch noch für den Weitermarsch, denn die immer noch ungemütliche Witterung läßt ein Genießen und Entspannen vor dem Zelt nicht zu. Ich packe also mein Bündel, verabschiede mich vom jüngsten Sohn des Hüttenwirts, einem etwa 5 – jährigen, energischen Jungen, mit dem ich bereits gestern Freundschaft geschlossen hatte und steige wieder hinunter zum Pllan d´ Estans, wo sich auch die Jausenstation befindet und folge den Serpentinen aufwärts zur östlich des Maladeta – Massivs gelegenen Puerta de la Picada. Ich habe mich somit zwischen den beiden zur Auswahl stehenden Übergangsmöglichkeiten in die Aigues Tortes für die einfachere und weniger alpine entschieden. Die Überschreitung des 3000 m hohen Passes Tuc de Mulleres gilt als lang und schwierig, und soll, was die Routenfindung anbelangt, eine äußerst diffizile Angelegenheit sein.
Das Wetter hat sich zwischenzeitlich insoweit gebessert, daß die Sonne doch noch die Wolkendecke durchbricht, und als ich die Paßhöhe erreiche, präsentiert sich der Pico de Aneto wolkenfrei in seiner ganzen Erhabenheit. Die heute begangene Aufstiegsroute kann ich jetzt wunderbar mit den Augen nachvollziehen. Somit hat mir dieser mächtige Berg zweimal an einem Tag seine Gunst erwiesen: einmal, als er mich seinen Gipfel betreten und mich unversehrt wieder zurückkehren ließ, und zum Anderen, als er mir jetzt noch unverhüllt sein Antlitz zeigt. Überhaupt flößt einem der Blick auf´s Maladeta - Massiv, diesem gewaltigen Gebirgsstock, aus dem der Aneto etwas nach hinten versetzt aufragt, und wo sich vor meinen Augen eine ganze Kette von schroffen, vergletscherten Bergriesen präsentiert, eine gehörige Portion an Ehrfurcht ein. Die heutige Nacht verbringe ich dann in der Nähe eines Bergsees in der Collada de l´ Infern, wo ich mich ein letztes Mal an die Grenze zu Frankreich schmiege. Der die halbe Nacht lautstark an den Zeltwänden rüttelnde Wind hindert mich noch eine gute Weile am Einschlafen.
Über beschauliche Bergwiesen, auf denen Herden von Pferden und Kühen weiden und sich vereinzelt auch Murmeltiere tollen, geht es tags darauf hinunter ins Val dera Artiga de Lin, das ich bei zwei kleinen Selbstversorgerhütten erreiche. Am naheliegenden Parkplatz endet ein Asphaltsträßchen, auf diesem begebe ich mich nun talwärts. Unterwegs bieten sich noch ein paar Sehenswürdigkeiten, wie ein Wildwasserweg oder eine Marienkapelle. Unterhalb derer befindet sich in einem alten Bauernhaus ein kleines Restaurant, das bereits von außen, aber ganz besonders drinnen im rustikal anmutenden Gastraum bei knisterndem Kaminfeuer eine provinziale Urgemütlichkeit vermittelt. Nach einem kräftigen Imbiß gehe ich dann immer weiter hinunter, bis ich zu guter Letzt im wunderschönen Bergort Es Bordes im Val d´Aran eintreffe. Die Auswahl des eingangs erwähnten einfacheren Weges hat nun den Nachteil, daß ich anstatt, wie es beim Überschreiten des Tuc de Mullieres der Fall gewesen wäre, an der boca sud des Tunnels von Vielha, der Eingangstür zum Aiguestortes - Nationalpark herauszukommen, mich jetzt ein gutes Stück weiter nördlich befinde, was ich mittels Benutzung des Busses zu korrigieren gedenke. Unterhalb des Ortes befindet sich an der stark frequentierten Nationalstraße eine Bushaltestelle. Es entwickelt sich ein kleiner Plausch mit einem älteren Angler, der oben im Tal von Artiga de Lin auf Forellenfang war. Dieser empfiehlt mir sogleich, ab Vielha vor der Tankstelle an der Ausfallstraße, die in den Tunnel hineinführt, per Anhalter weiterzureisen, da heute kein Bus mehr in diese Richtung verkehrt.
Schließlich kommt nach einer guten Stunde Wartezeit der Bus und als wir in den bekannten Wintersportort mit seinen vielen Hotels und modernen Wohnhäusern einfahren, erscheint mir das Städtchen, im Gegensatz zu seinem katalanischen Namen Vielha, was wohl „die Alte“ heißen soll, eher als die „ Neue“. Trotzdem entdecke ich schließlich noch auf meinem kleinen Einkaufsbummel, bei dem ich auch endlich die benötigten Landkarten finde, einen ganz ansehnlichen, alten Ortskern mit einem schönen Kirchlein.
Mit dem netten Autofahrer, der mich schließlich aufpickt, entwickelt sich gleich ein Gespräch, unter anderem über den Zustand des nahezu 6 Kilometer langen Tunnels, der, wenn man an die zurückliegenden Vorfälle im Montblanc – und im Tauerntunnel denkt, wohl jedem Sicherheitsexperten das blanke Entsetzen einjagen würde. Früher sei alles noch schlimmer gewesen, sagt mir mein Fahrer, da sei die Fahrbahn noch über und über von Schlaglöchern gespickt gewesen, und das Wasser der oben liegenden Bergseen sei durch die Tunneldecke gesickert und hätte riesige Pfützen hinterlassen. Derzeit sei ein völlig neuer Tunnel weiter drüben im Bau, so daß ein Ende dieses Grauens absehbar sei. Das beim Aussteigen von mir angebotene Trinkgeld wird von meinem neuen Bekannten empört ausgeschlagen.
Am Tunnelausgang führt hinter der Hütte Er Espitau der Weg gut markiert aufwärts, und während ich mich langsam vom Lärm der Straße und dem gleichförmigen Brummen der Tunnelbelüftung entferne, betrete ich bereits wieder das Königreich einer Bergwelt von beeindruckender Schönheit. Schließlich gelange ich zu einer Wiese, auf der ich mein Nachtlager einrichte. Die Kulisse ist großartig, ich sehe mich umsäumt von felsigen Bergspitzen, in unmittelbarer Nähe krümmen sich krüpplige Nadelbäume zwischen weit verstreuten Felsblöcken aller Formen und Größen. Unten an der Straße habe ich übrigens die offizielle Provinzgrenze zwischen Aragon und Katalanien überschritten, wobei ich mich ja bereits auf der aragonischen Seite seit geraumer Zeit schon an katalanische Ortbezeichnungen gewöhnen durfte.
Im Schein der Morgensonne marschiere ich einen Paß hinauf, dessen Name ich nicht wiedergeben kann, da mir jetzt ein kleines Stück zwischen der alten und der neuen Landkarte fehlt. Somit muß ich mich vorläufig mit Hilfe der vorhandenen Wegweiser und Markierungen zurechtfinden. Ich komme zu einem wunderschönen Bergsee, an dessen Ostufer ich mich erst noch mal ausruhe. Danach führt der Weg ein Stück weit abwärts, mitten durch eine malerische Umgebung, bestehend aus kleinen Seelein, Wildbächen, Felsen, garniert mit üppiger Vegetation. Dazwischen fügen sich zahlreiche, oft vereinzelt stehende Bäume, sowie kleinere Moorgebiete, aus denen abgestorbene, aschgraue Baumstämme wie Zombiearme in die Höhe ragen. An vielen dieser toten Bäume hat wohl der Blitzschlag sein unheilvolles Werk verrichtet. Der nun folgende Anstieg bringt mich hinauf zum Refugi dera Restanca, und die mich dorthin begleitenden Strommasten kündigen bereits an, daß der See, an dessen Ufer die Hütte steht, leider ein Stausee ist. Aiguestortes bedeutet „gewundene Wasser“, wobei der Großteil der hier vorkommenden Gewässer nicht etwa eben gewundene Wildbäche sind, diese haben hier nämlich, was die Führung an Wassermengen anbelangt, im Vergleich zu den gletschergespeisten Tobeln und Wasserfällen der Hochpyrenäen, ein eher bescheidenes Ausmaß; vielmehr zeichnet sich diese Region durch die Unzahl der hier vorhandenen Bergseen aus. Die etwas deprimierende Tatsache, daß, obwohl im Nationalparkterritorium gelegen, viele dieser Seen der Stromgewinnung dienen, und somit durch unansehnliche Staumauern ihrer Urtümlichkeit beraubt sind, rührt daher, daß die Lizenzen für eine derartige Nutzung noch vor der Nationalparksdeklaration im Jahr 1955 vergeben wurden.
In der Restanca verzehre ich ein deftiges almuerzo, bestehend aus einer kräftigenden Gemüsesuppe und einer ansehnlichen Portion Makkaroni. Leider habe ich mich während meiner Mittagspause nicht ausreichend genug mit dem Weiterweg beschäftigt, so daß ich nun einfach dem Schild, das den Weiterweg zum Refugi de Colomers anzeigt, folge, wobei mich der gut markierte GR 11 immer weiter abwärts führt. Als ich eine Schotterpiste erreiche, wo Jeeptaxis verkehren, werfe ich dann doch einen Blick in die Karte und muß nun feststellen, daß ich, statt dem HRP zu folgen, der durch Hochgebirgsterrain über zwei Pässe hinweg, an verschiedenen Bergseen vorbei und mit Aussicht auf den hervorstechendsten Gipfel dieses Gebietes, den 2826 m hohen Montardo, geführt hätte, mich dem hier wesentlich harmloser und uninteressanter verlaufenden GR 11 ergeben habe, der hier unverständlicherweise ins Tal hinabführt und einen großen Bogen um diese spannende Bergetappe macht, um danach wieder aufzusteigen. Ich habe mich somit nicht nur auf den weniger attraktiven, sondern auch auf den längeren Weg begeben. Zur Strafe muß ich jetzt von ungefähr 1500 m wieder aufwärts, zunächst durch Wald, zwischendurch an Viehweiden vorbeiziehend, wo sich kurz die Aussicht zu den nahenden Bergspitzen eröffnet. Danach ziehe ich abermals durch den Wald, zwei Stauseen werden passiert. Hinter den Stauseen zieht ein Bergpfad steil empor, die Landschaft zeigt sich zwischenzeitlich wieder äußerst anmutig, und ich erreiche schließlich auf 2330 m den Ribareta – Paß. Auf der anderen Paßseite eröffnet sich mir das malerische Bild eines lieblichen Gebirgstales, in welchem Kühe friedlich in der Abendsonne grasen. Jetzt geht es abermals über ein kleineres Päßlein, wo ich jenseitig das an einem weiteren Stausee gelegenen Refugi de Colomers erreiche. Ich campiere schließlich in Seenähe, aber auch nicht allzu weit entfernt von der Hütte, um am nächsten Morgen das Frühstück dort einnehmen zu können
Heute soll es noch einmal so richtig deftig zugehen. Eine beeindruckende Etappe, die überwiegend hochalpin verlaufen soll, erwartet mich, wobei zum Auftakt das bereits bekannte Landschaftsbild aus Seen, Kuhweiden, Felsen und Nadelbäumen durchwandert wird, bevor hinter dem wunderschönen Bergsee Estanh Obago der GR 11 steil hochzieht zum Port de Ratera de Colomers. Irgendwie gerate ich dabei jedoch etwas zu weit nach rechts, wo ebenfalls ein Saumpfad verläuft, jedoch zum höheren und schwierigeren Übergang Porteth de Colomers. Als ich den Irrtum bemerke, entschließe ich mich kurzfristig für diese Variante, die im Endeffekt, wenn auch länger und umständlicher, ebenfalls zum avisierten Zwischenziel Estany de Sant Maurici führt. Der nur mäßig markierte Pfad führt an einer Kette herrlicher Bergseen vorbei, schroffe und zackige Kalk- und Granitgipfel bilden eine wilde Kulisse. Irgendwo dort oben, zwischen den kantigen Felstürmen, muß die Scharte sein, die mich direkt ins Nationalparkzentrum hinüberführen soll. Die immer spärlicher gesetzten Steinmännchen machen mir jedoch ganz schön zu schaffen, und da ich mir nicht ganz sicher bin, welche der dort oben sichtbaren Einschartungen nun wohl die richtige ist, bleibt mir nichts anderes übrig, so lange mühevoll und zeitraubend Ausschau nach Steinmännchen zu halten, bis keine Zweifel mehr darüber bestehen, wo der Übergang schließlich durchführen soll. Die Aufstiege fallen mir jetzt, in den letzten Tagen meiner Durchquerung, immer schwerer, die Strapazen der zurückliegenden Wochen, und die Tatsache, daß ich ohne einen einzigen Ruhetag marschiert bin, machen sich langsam bemerkbar.
Der mich nun erwartende Abstieg hinunter auf die Süd – Variante des GR 11 ist dann, obwohl landschaftlich großartig, ebenfalls kein Zuckerschlecken, zumal ich anschließend, um den Estany de Sant Maurici zu erreichen, erneut gezwungen bin, in die Höhe zu steigen, um dann endlich hinter dem Portarro d´Espot nach weiteren 500 erkämpften Höhenmetern endlich am Stausee anzukommen. Der See ist malerisch von Wald gesäumt und wird von den beiden imposanten Felssäulen der Encantats überragt. Das Refugi Ernest Mallafre, das am Südwestende des Sees steht, ist ein kleines, altes Landhäuschen, das in seiner rustikalen Schlichtheit genau meiner Vorstellung und meinem Geschmack einer echten Berghütte entspricht. Nach einer kräftigen Mahlzeit will ich die Gunst der angenehmen Abendsonne nützen, um entlang eines durch den Wald führenden Lehrpfades in den Talort Espot zu gelangen. Eines der Schilder am Weg, die hauptsächlich auf die hier vorkommende Fauna und Flora eingehen, erklärt auch die Sage der beiden Encantats, bei denen es sich, laut der Volksmär, um zwei zu Felsen verzauberte Schafshirten handeln soll. Gleich am Ortseingang von Espot begebe ich mich auf den gut ausgestatteten Campingplatz, der über Restaurant, Einkaufsladen und Swimmingpool verfügt.
Tags darauf suche ich im entzückenden Dorf Espot mit seinen schönen Natursteinhäusern und einer Brücke im typisch mittelalterlich - iberischen Baustil, ein Hotel mit Frühstücksbuffet auf, um derart gestärkt meinen Weiterweg auf dem GR 11 anzutreten, der mir nach kurzer Zeit bereits verloren geht und ich mich wieder einmal, wüst fluchend, zunächst durch´s Dickicht, und schließlich entlang der stählernen Wasserrohre eines im Tal liegenden Kraftwerks querfeldein durchschlage. Nachdem ich anschließend ein Stück der Straße folgen musste, gelange ich aber doch noch zu einem großen, langgezogenen Stausee, an dem auch der GR 11 wieder vorbeizieht. Hinter einer Brücke an einem Brunnen treffe ich zwei Wanderer mit Hund, die dort zu einer Pause auf den Parkbänken weilen. Andres, Herrchen von Gachon, dem Hirtenhund, ist ebenfalls schon seit einigen Wochen unterwegs. Seine Tour hatte in Irun an der Atlantikküste begonnen, von wo er, dem gesamten GR 11 folgend, auf dem Weg zur Mittelmeerküste ist. Paco, sein Begleiter, ist normalerweise Sportkletterer. Sein Weg begann an der Skistation Candanchu, und sein erklärtes Ziel soll Andorra sein. Die beiden hatten sich erst unterwegs kennengelernt, daß beide auch waschechte Madrilenos so nennt man die Bewohner von Madrid) sind, ist reiner Zufall. Ich für meinen Teil habe wieder einmal den Wiedereinstieg in den GR 11 verpaßt, da in meiner Karte, statt eines ostwärts hochziehenden Saumpfades, ein Fahrweg eingezeichnet ist. Die Karte meiner beiden neuen Bekannten scheint besser zu sein, sie zeigt tatsächlich einen Bergpfad an. Nicht einmal mehr der Landkarte kann man vertrauen, fluche ich und die beiden warnen mich noch, daß der Weg auf dieser Etappe sehr schlecht markiert sei, da es sich hier um eine wenig begangene Etappe des GR 11 handle.
Bis hinauf ins Geisterdorf Dorve klappt es jedenfalls noch recht gut, wobei mich unterwegs die prall bewachsenen Brombeersträucher aufhalten, die man übrigens häufig in den gemäßigteren Höhen der Pyrenäen vorfindet, wobei ich mich aber, aus Furcht vor dem gefährlichen Fuchsbandwurm, der sich durch den Urin dieser Tiere auf den Menschen übertragen kann, nur an den oben wachsenden Früchten vergreife. Der alte Bergort Dorve mit seinen verlassenen Häusern erscheint mir richtig geheimnisvoll. Es hat jedoch bereits wieder einen Neueinwohner: ein langbärtiger Freak mit Dreadlocks repariert gerade eine Wasserleitung. Hinterm Dorf gestaltet sich die Pfadfindung wieder einmal mühevoll, ab und an findet sich eine halbverwitterte Markierung, ansonsten orientiere ich mich in grober Richtung nach dem Kompaß. Plötzlich ertönt unter mir ein Pfiff und ich sehe tief unter mir Andres, Paco und den schwarzen Gachon sich nähern. Sie sind, obwohl sie unten im Tal noch von einer längeren Pause gesprochen haben, doch noch in einem beachtlichen Tempo hinaufgestiegen und ich brülle hinunter, daß es hier oben Wegzeichen gebe. Als wir schließlich zusammentreffen, machen wir erst einmal gemeinsam eine ausgedehntere Pause, wobei sich noch ein vierter Wanderer zu uns gesellt, den die beiden bereits am Vortag kennengelernt hatten. Wir beschließen, den Weg gemeinsam fortzusetzen, und ich passe mich somit dem Gehrhytmus meiner neuen Weggefährten an, die es bevorzugen, zügiger zu marschieren, dafür aber hernach längere Pausen machen. Bis zu unserem nächsten Paß auf einer bewaldeten Kuppe geht es noch einige strapaziöse Höhenmeter hinauf, wobei das Zusammenballen tiefgrauer Wolken am Himmel immer nachdrücklicher ein nahendes Gewitter ankündigt. Nach dem Übergang Montcaubo Nord mit 2290 m folgt alsdann der Montcaubo Sud mit 2247 m. Die Gebirgswelt zeigt hier ein völlig anderes Gesicht, als im nun schon hinter mir liegenden Aiguestortes. Sie ist sicher nicht mehr so sensationell, wirkt karger und trockener, und die Gipfel bleiben oft knapp unter der 2000 er – Grenze oder überschreiten diese nur im bescheidenen Maße. Eines ist hier jedoch garantiert: die Abgelegenheit und die Einsamkeit, sowie ein guter Schuß Abenteuer, auf einem unzureichend markierten und oft nur als Pfadspur verlaufenden, teilweise durch Knieholz und Maquisgestrüpp führenden GR 11. Weit vor uns auf einem bewaldeten Gipfel wird uns schließlich das Schauspiel des sich entladenden Gewitters geboten. Die dunkelgrauen Wolken scheinen wie Wasserfarben eines Aquarells zur Bergspitze hinunter zu fließen, ein Zeichen für einen niedergehenden Wolkenbruch, während grelle Blitze über dem Szenario zucken. Wir gelangen auf einen in den Berg hineingeschlagenen, durch wilde Sierralandschaft führenden Saumpfad, der mich an die alten Römerstraßen erinnert, auf welche man gelegentlich auch in den Alpen stößt. Es ist sehr gut möglich, daß es sich um eine solche handelt, das römische Reich schloß schließlich auch die iberische Halbinsel mit ein.
Abrupt tauchen dann die Dächer von Estaon vor uns auf, eine Ortschaft, die wohl sämtliche Attribute eines abgelegenen Pyrenäennests erfüllt, und die ich, wie keinen anderen Ort auf meiner Tour, ins Herz schließen soll. Hier gibt es keinerlei touristische Einrichtungen, die überwiegend älteren Bewohner sitzen zusammen zu einem Plausch auf der grasbewachsenen Plaza neben dem Dorfbrunnen, während sich Hund und Katz´ in den engen Dorfgassen tummeln. Die Fensterbänke der alten Natursteinhäuser sind mit wunderschönen Blumen verziert und wie eine Trutzburg thront am unteren Dorfende thront die alte Kirche mit ihrem typisch offenen Glockenturm. Hier treffen wir auf einen weiteren Wanderer, der meinen Begleitern ebenfalls schon vom Sehen bekannt ist. Es ist nicht ungewöhnlich, daß man auf mehrtägigen oder gar – wöchigen Wanderungen oft tagelang immer wieder mit den selben Leuten zusammentrifft, da besonders bei Durchquerungen oder auf bekannten Fernwanderwegen auch andere Wanderer von der selben Idee getrieben werden, und oft auch den gleichen Etappenrhytmus praktizieren. Der Grund, warum ich das hier in den Pyrenäen zumindest nicht über längere Distanzen erlebt habe, mag in erster Linie in meiner etwas eigenwilligen (oft auch unwillkürlichen) Routenwahl zu suchen sein.
Unten am Dorfrand befindet sich ein weiteres Brünnlein, wo wir nun beraten, wie wir weiter verfahren wollen. Ich für meinen Teil hatte eigentlich für heute noch vorgesehen, das Dorf Tavascan zu erreichen. Da Andres ein Buch mit der genauen Beschreibung sämtlicher GR 11 – Etappen mit sich führt, wird mir jedoch, aufgrund der dort hinterlegten Wegzeiten, schnell klar, daß das heute nicht mehr möglich sein wird. Um zu meinem Endziel Andorra bis spätestens Samstag Morgen zu gelangen, wäre dies aber unabdingbar gewesen. Es würde zwar weiterhin die theoretische Chance bestehen, es doch noch zu schaffen, hierzu müßte ich jedoch morgen und übermorgen anderthalb Tagesetappen im Schweinstempo herunterreißen, wobei ich es mir nicht mehr leisten dürfte, mich dabei ein weiteres mal zu verlaufen, eine Vorraussetzung, die mir besonders auf diesem "verwaisten" Teilstück des GR 11 schier unmöglich erscheint. Ich sehe ein, daß ich morgen im Laufe des Tages eine Ortschaft erreichen muß, von der aus mir ein Verkehrsanschluß mit der „Zivilsation“ garantiert ist. Am Ortsausgang treffen wir auf eine Gruppe älterer Bewohner, die gerade von der Landarbeit zurückkehren. Eine resolute, kräftig gebaute Dame mit einer Stimme, die die Reibeisenröhre von Joe Cocker fast noch in den Schatten stellt, hat schließlich die Lösung für mich parat, die da lautet: morgen in aller Frühe von hier aus die Straße entlang bis hinunter nach Llavorsi zu dackeln, wo wochentags jeweils um 6 Uhr in der Frühe und um 14 Uhr ein Bus nach Barcelona fährt. Sie weist mich auch gleich noch darauf hin, daß Samstags nur noch einer um 6 Uhr und Sonntags überhaupt keiner mehr fährt und daß von Tavascan aus gar keine Busse verkehren. Auch hat sie eine Idee, wo wir Wandersmänner heute übernachten könnten: etwa 30 Gehminuten oberhalb des Dorfes stände eine Borda, wo es sich vorzüglich im Heu schlafen ließe.
Wir gelangen schließlich zu der uns empfohlenen Borda und finden dort tatsächlich einen meines Erachtens ausgezeichneten Übernachtungsplatz vor. Nur unser Begleiter, den ich seit Dorve kenne und dessen Name mir leider entfallen ist, hat Bedenken, daß der Heuboden vielleicht durchbrechen könnte und wir uns allesamt ein Stockwerk tiefer auf Heugabeln und Stöcken aufgespießt, die dort tatsächlich überall herumliegen, fänden, und zeltet deshalb etwas weiter oberhalb der Borda. Die Tatsache, daß dieser Heuschober noch voll im Gebrauch ist, zerstreut unsere Vorbehalte, trotzdem taste ich sicherheitshalber den Bereich zwischen Eingang und unseren Schlafplätzen mit den Füßen ab, um des Nachts nicht doch noch eine böse Überraschung erleben zu müssen. Zum gemeinsamen Abendessen sitzen wir allesamt im Kreis um den Benzinkocher von Andres, und jeder steuert etwas zu einer für unsere Verhältnisse schmackhaften und reichhaltigen cena bei. Bis tief in die Nacht wird unter klarem Sternenfirmament gescherzt und palavert, es wird für mich der schönste Abend auf meiner gesamten Reise. Obwohl ich jetzt den Punkt erreicht habe, wo ich einsehen muß, daß die körperliche Leistungsgrenze für eine Fortsetzung der Wanderung wohl bereits überschritten ist, zigtausende hinterlassener Höhenmeter fordern nun ihren Tribut, hätte ich doch noch einiges dafür gegeben, mit meinen neuen Freunden zumindest noch die beiden Tagesetappen bis hinein nach Andorra gehen zu können, hätte noch liebend gerne mit ihnen gemeinsam weitere verlassene Geisterdörfer und abgelegene Bergkäffer entdeckt, und natürlich ein paar zusätzliche unvergessliche Nächte wie diese erlebt.
Im Morgengrauen nehme ich Abschied, die anderen drehen sich danach noch mal in ihren Schlafsäcken um, und ich gehe hinunter, bis ich auf die Straße stoße, ziehe am noch schlafenden Dorf Estaon vorbei, gelange nach Bonestarre, um schließlich über einen Viehweg die bereits größere Ortschaft Ribera de Cardos zu erreichen, wo sich mir in einem Hotel die letzte Möglichkeit zu einem Brunch an einem reichhaltigen Frühstücksbuffet bietet. Ich werde hier, wie auch in all den anderen Hotels, als abgerissener Wanderer, der die letzte Nacht immerhin im Heuhaufen zugebracht hat, zuvorkommend behandelt, man scheint hier in den Pyrenäen durchaus auf Wandertourismus eingestellt. Der freundliche Herr an der Rezeption bietet mir sogar an, daß er mich, wenn ich mich bis 12 Uhr gedulden würde, mit hinunter nach Llavorsi nehmen könnte. Ich lehne jedoch dankend ab, da ich unterwegs noch gedenke, vor Ankunft in Llavorsi ein Bad in einem Fluß oder einem Bach zu nehmen, um nicht im Bus und im Zug stundenlang frischgewaschene Leute mit unangenehmen Gerüchen zu belästigen. Also nehme ich in Kauf, die letzten 9 Kilometer bis Llavorsi die Straße entlang zu gehen, wo ich dann etwa 2 Kilometer vor Ortseingang eine sehr gute Möglichkeit zu einem Vollbad im Fluß finde und hernach in saubere Klamotten schlüpfe, die ich extra für die Rückfahrt aufgehoben habe. Am Ortseingang zwar durch ein großes Elektrizitätswerk verunstaltet, ist Llavorsi trotzdem noch ein sehenswerter Ort geblieben, allerdings touristisch voll erschlossen. Am Ufer desselben Flusses, der mir zuvor noch als Badewanne gedient hatte, starten vollbeladene Schlauchboote zum Riverrafting, verschiedene Agenturen bieten das gesamte Spektrum an Outdooraktivitäten, die Cafeterias um den Hauptplatz sind voll besetzt, Urlauber und Ausflügler flanieren in den engen Gassen, und nicht wenige der schönen, alten Häuser werden von der örtlichen Hotellerei okupiert.
Die Busfahrt nach Barcelona überrascht schließlich noch durch die Unzahl der schönen, alten Dörfer und Städtchen, die wir passieren, und auch außerhalb der Pyrenäen führt die Fahrt durch eindrucksvolle Berg – und Felslandschaften, die jetzt, Ende August, allerdings reichlich ausgedörrt sind. Erst im Einzugsbereich von Barcelona haben die jetzt größer werdenden Städte ihr urbanes, modernistisches und somit kaum mein Interesse erregendes Aussehen. Nach einem chaotischen Intermezzo auf dem Hauptbahnhof von Barcelona, bei dem ich große Lust verspürte, ein paar katalanische Beamte über den Haufen zu schießen, befinde ich mich schließlich im Schlafwagenabteil des Nachtzuges auf dem Weg nach Genf.
Sonntag, 17. Dezember 2006
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen