Mittwoch, 3. Februar 2010

Cerro Aconcagua - im Alleingang auf den Rekordberg












































































Abgesehen vom Mount Everest findet man keinen weiteren Berg mehr auf unserem Planeten, der so viele Rekorde auf sich vereint, wie der Cerro Aconcagua. Mit seinen 6963 Metern ist er der höchste Berg des amerikanischen Doppelkontinents, der Südhalbkugel, der westlichen Hemisphäre, der Andenkette und noch dazu der Höchste außerhalb Asiens. Diese Rekordtitel, sowie die Tatsache, dass der Aconcagua zu den 7 Summits zählt, bescheren dem Berg in jeder Saison reichlich Bergsteigerbesuch aus aller Herren Länder. Das Gros der Gipfelaspiranten versucht sich dabei an der Ruta Normal, einer technisch problemlosen und noch dazu komplett gletscherfreien Aufstiegsroute. Vermutlich ist der Aconcagua der höchste Berg, der - bedingt durch die eben erwähnten Gegebenheiten - einen Alleingang zulässt, der seilfrei machbar ist, ohne etwa mögliche Spaltenstürze befürchten zu müssen. Die Hauptsaison erstreckt sich zwischen den Monaten November bis Ende Februar, was auf der Südhalbkugel den Sommermonaten entspricht. Die Organisation einer Besteigung auf eigene Faust lässt sich am Aconcagua vergleichsweise einfach inszenieren. Da bei sämtlichen am Berg tätigen einheimischen Agenturen Englisch zur Verkehrssprache gegenüber Ausländern geworden ist, braucht man dazu nicht einmal Spanisch zu können. Auch die Permiterlangung in Mendoza ist, abgesehen davon, dass sie einen Batzen Geld kostet, ohne weitere Schwierigkeiten zu erlangen. Nach Abwägung verschiedener Faktoren kam es mir Ende Oktober in den Sinn, dass nun die Zeit günstig sei, mein seit gut 3 Jahren in Gedanken getragenes "Projekt 7000" am Aconcagua in die Tat umzusetzen. Auch wenn diesem Berg noch 37 Meter bis zu 7000 fehlen, hat er bei mir (und auch bei vielen anderen!) schon immer zum engen Kreis der potentiellen Objekte für dieses Abenteuer gezählt. Kurzum, ich wollte aus verschiedenen guten Gründen nicht mehr bis zum Sommer warten, um es dann am Pik Lenin zu versuchen und begann Ende Oktober 2009 mit der intensiven Planung und Vorbereitung einer Solobesteigung des Aconcagua über die Ruta Normal. Vor Jahren hatte ich bereits das Buch von Ernst Holl über dessen eigene Solobesteigung des Berges gelesen ("Aconcagua - mein Weg zum Gipfel" Acropolis-Verlag, München 1994, ISBN 3-929528-15-0). Diese Lektüre hat sicher mit dazu beigetragen, mich in meinem Entschluss zu festigen, es am Aconcagua alleine zu versuchen.

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31.12.2009/01.01.2010
Jawohl, ich bin unterwegs nach Santiago de Chile. Der Jahreswechsel inszeniert sich diesmal etwa 8000 Meter überm Atlantik, die Crew hat sich zum Anlass mit bunten Perücken und Augenmasken aufgepeppt. Ein paar Sitze von mir entfernt nehme ich einen langhaarigen Typen wahr, denke mir noch nichts dabei. Ich soll ihm bald wiederbegegnen ...

Auf dem Flughafen in Santiago gibt´s ein kleines Intermezzo bezüglich des Gepäcks, in welches auch eine Gruppe von drei Berlinern involviert ist. Der langhaarige Typ ist auch wieder dabei, er heißt Marc, seine beiden Begleiter Stefan und Birgit. Die drei wollen auch zum Aconcagua. Das zunächst verlustig gegangen scheinende Gepäck taucht wieder auf - Erleichterung. Die drei Berliner werden heute abend von Santiago aus nach Mendoza weiterfliegen, ich selbst will mit dem Bus dorthin gelangen. Mit dem im Flughafen integrierten Minibusservice lasse ich mich zum Terminal Santiago im Stadtzentrum chauffieren, "buen nuevo ano" hört man allenthalben.

Im Schatten eines Sonnenschirms harre ich der Dinge, besser gesagt, der Abfahrt meines Busses Richtung Argentinien. Die 30 Grad lassen sich so auch in den hier noch sicher völlig fehlplazierten Schalenstiefeln gut ertragen, schon alleine deshalb, weil ich eigentlich damit gerechnet habe, es würde hier noch heißer sein. Was in Chile schon auffällt, wird man als Reisender in Argentinien noch expliziter wahrnehmen: beide Länder sind für lateinamerikanische Verhältnisse recht wohlhabend, verfügen über eine relativ gute Infrastruktur und die Bevölkerung ist durch starke europäische Einschläge geprägt. Besonders in Argentinien kann sogar ein Blonder, wie ich als Einheimischer durchgehen - vorausgesetzt, er legt ein entsprechendes Verhalten an den Tag und spricht das Spanisch (hier oft "castellano" genannt) mit dem entsprechenden Akzent.

Der Bus verlässt Santiago gegen 13 Uhr. Ich kenne das ja bereits von meiner Patagonienreise her vor sechs Jahren: die Überlandbusse hier sind absolut super, Aircondition, bequeme Semicama-Sitze mit geräumiger Beinfreiheit, DVD-Unterhaltung mit aktuellen Kinofilmen, die in Europa oft erst ein Jahr später laufen werden. Ich komme rasch mit meinem chilenischen Sitznachbarn ins Gespräch. Hier wie auch in Argentinien freut man sich über die Besucher aus Deutschland, die Kommunikation ist im Allgemeinen schneller hergestellt und unbeschwerter, als in unseren Breitengraden.

Die Fahrt führt rasch in eine hügelige, sehr trocken wirkende, Vorkordillerenlandschaft und bald schon müht sich unser Bus unzählige steile Straßenserpentinen hinauf, um schließlich bei etwa 3100 Metern in einen Tunnel einzufahren. Im Inneren dieses Tunnels befindet sich übrigens die Landesgrenze. Der Tunnel wurde in Koproduktion der beiden in ihrer gemeinsamen Geschichte nicht immer befreundeten Nachbarn Chile und Argentinien gebaut und erübrigt somit die früher nötige Fahrt bis hinauf auf 3832 Meter, wo auf dem Paso del Bermejo (od. Christo Redentor) dann die Grenze passiert wurde. Auf diese ausgediente Passstrasse werde ich später noch einmal zurückkommen. Die Zollabfertigung geht mit etwas mehr als einer halben Stunde recht zügig von sich, chilenische und argentinische Zöllner arbeiten hier zusammen unter einem Dach. Wir fahren an meinem Ziel vorbei, denn für einen kurzen Moment taucht am Busfenster der Aconcagua mit seiner eindrucksvollen Südwand auf, allerdings gerade reichlich umwölkt. Auch das Straßendorf Puente del Inca passieren wir. Puente del Inca ist der Ausgangspunkt für den Anmarsch zum Basislager Plaza de Mulas. Weiter unten passieren wir Punta de Vacas. Hier starten Diejenigen, welche den Berg über die beiden Polen-Routen, oder etwa über die wenig bekannte Ruta de los Guanacos besteigen wollen.

Nichtsdestotrotz, die Fahrt bis hinunter nach Mendoza ist bindend, denn ohne den Erlaubnisschein, der nur dort zu bekommen ist, hat man bei den Guardaparques am Nationalparkseingang keine Chance auf Durchlass. Ich hab´s auch nicht weiter eilig, habe mir für dieses Unternehmen schließlich vier Wochen Urlaub gegönnt, das ist eine Woche mehr, als die einschlägigen Veranstalter dafür anberaumen. Die schöne Fahrt quer durch die Anden hindurch erscheint mir trotz Jetlag und Schlafmangel durchaus erquicklich, man fährt hier auf guten Straßen und, wie gesagt, in sehr bequemen und modernen Bussen, und auch die Dimensionen der Fahrt sind, verglichen etwa mit den Anreisen zu den Destinationen im indischen Himalaya, mit 8 Stunden Fahrzeit doch noch recht moderat. Es dämmert bereits, als wir die Vorkordilleren des Anden-Ostabhanges hinter uns lassen und nun das Flachland erreichen. Dieses Land wäre eine Halbwüste, wenn die Bewässerung nicht für Möglichkeiten einer Agrikultur sorgen würde: in diesem Fall ist es hauptsächlich Wein, denn Mendoza und seine Umgebung gelten als das Weingebiet Argentiniens schlechthin.

Wegen des Feiertags und der bereits vorgerückten Stunde hat am großen und mit zahlreichen Shops, Schaltern Bäckereien usw. ausgestatteten Busbahnhof von Mendoza bereits fast alles geschlossen, und am Taxistand hat sich eine Riesenschlange gebildet. Erst spät in der Nacht treffe ich in meiner Unterkunft ein. Anstatt der favorisierten Hosteria "Campo Base" komme ich im "Independencia" unter, welches sich zu einem späteren Zeitpunkt noch als die bessere Adresse herausstellen soll.

Ein sich träge um die eigene Achse wälzender Ventilator bringt nicht annähernd die Kühlung, die in dem stickigen Gemeinschaftsschlafraum vonnöten wäre, und ich fürchte um meinen wohlverdienten Schlaf. Doch ich täusche mich, ich werde schlafen wie ein Stein ...

02.01.2010
Nach einem frühmorgendlichen Gewitterguss mache ich mich auf den Weg zum Subministerio de Turismo zwecks Permitbestellung. Das Besteigungspermit für den Aconcagua kostet aktuell derzeit stolze 500 Dollar für Ausländer. Dank der schachbrettartigen Anlage der Stadt Mendoza, ein Relikt aus der spanischen Kolonialzeit, ist die Orientierung hier recht einfach. Herausragende Sehenswürdigkeiten sucht man in Mendoza vergeblich. Die schnurgerade verlaufenden und sich im rechten Winkel kreuzenden Alleen sind aber allesamt durch schattenspendende Bäume vor der über der Stadt erbarmungslos niederbrennenden Sonne geschützt, was einen Aufenthalt hier selbst um die Mittagszeit noch relativ angenehm gestaltet. Mendoza hat viele lauschige, parkähnliche Plazas, auf denen man sich erholsam auf Bänkchen oder zum Picknick auf dem Rasen niederlassen kann. Abends verwandeln sich diese Plazas, allen voran die Independencia, zur Bühne für alle möglichen Musiker, Schausteller oder Schmuckverkäufer.

Im Subministerio treffe ich prompt meine Freunde aus Berlin wieder. Und dann nochmal später, in einem Outdoorladen, wo ich mir noch Kartuschen für meinen Kocher besorge. Wir bleiben für den Rest des Nachmittags zusammen, gehen gemeinsam zum Almuerzo (Mittagessen), später noch zum Supermarkt "Carrefour", und zum guten Schluss besorgen wir uns noch vorab am Busbahnhof die Bustickets für die Fahrt morgen früh hinauf nach Puente del Inca.

Ich begebe mich gegen 23 Uhr zu Bett - für Mendoza eine viel zu frühe Schlafenszeit! Die Hostería Independencia befindet sich nahe der Plaza Independencia, just am Rande des nachts wahrlich boomenden Zentrums. Hat man während der mittäglichen Siesta-Zeit manchmal den Eindruck, die Stadt sei langweilig und tot, dann besinnt man sich ab etwa 22 Uhr eines anderen: hier geht die Post ab und selbst der Autoverkehr will bis zum frühen Morgen hin nicht abreissen!

03.01.2010
Am fortgeschrittenen Morgen verlassen wir Mendoza. Wir fahren die gleiche Strecke zurück, aus der ich vorgestern von Santiago her gekommen bin, passieren dabei nette Erholungorte, wie Uspallata (hier wurde übrigens der Film " 7 Jahre in Tibet" gedreht), oder Portrerillos mit dem gleichnamigen, azurblau leuchtenden Stausee. Nach vier Stunden steigen wir in Puente del Inca aus. Die Hostería "Puente del Inca" hat Mittelklasse-Hotelniveau, wir gehen hier für zwei Nächte in Halbpension für 126 Pesos (ca. € 27) pro Person und Nacht im Mehrbettzimmer. Puente del Inca ist ein winziges Straßendorf mit vielleicht einem halben Dutzend Häusern, einem alten Bahnhof (die Eisenbahnstrecke "Transandina" ist still gelegt und wird es auf unabsehbare Zeit auch weiterhin bleiben), einer Kaserne mit argentinischen Gebirgsjägern (Bergsteiger aus aller Welt sind hier zur Übernachtung willkommen!) und einem Ensemble von Blechhütten, die unter Tags als Verkaufsstände dienen. Die Attraktion des Ortes ist die Naturbrücke, welche sich aus Lawinenresten der letzten Eiszeit in Verbindung mit kohlenwasserstoffhaltigem Wasser der hier entspringenden warmen Schwefelquellen gebildet hat. Die Brücke selbst ist aber für den Übergang gesperrt, weshalb sich das hübsche Kirchlein und auch die Ruinen des ehemaligen Kurhotels am gegenüberliegenden Ufer des unter der Brücke hindurchtosenden Rio de las Cuevas nicht erreichen lassen. Das im Jahr 1917 eröffnete Kurhotel wurde 1965 durch einen Erdrutsch zerstört und blieb danach geschlossen.

Die Akklimatisationsphase für den Aconcagua beginnt hier und jetzt. Für heute genügt uns ein kleiner Spaziergang in die Umgebung. Die Präsenz eines starken Windes ist in dieser Gegend typisch und soll ab nun unser fast ständiger Begleiter sein. Der Aconcagua ist übrigens als besonders kalter, wetteranfälliger und windiger Berg verrufen, was ihm den Ruf eingebracht hat, in der Auswahl der sogenannten "leichten" 7000er-Ziele als besonders harte Nuß zu gelten. Einerseits bedingen diese Eigenschaften die geographische Nähe des Pazifiks, zudem steht der Berg, seine Nachbarn um ein Deutliches überragend, als absolut höchster Punkt auf weitester Flur.

04.01.2010
Der Auftakt dieser Reise lässt sich bislang sehr komfortabel an und ist noch weit entfernt von den zu erwartenden Strapazen der Besteigung eines Beinahe-7000ers. Ich trete nach dem Frühstück vor die Hosteria - der Wind hat sich vorübergehend gelegt, ein strahlend blauer Himmel wölbt sich über die kahlen Bergketten der Umgebung, der Halbmond steht am hellichten Firmament. Wir werden heute eine Akklimatisationstour hinauf zur Christusstatue Cristo Redentor auf 3832 m gehen. Die überdimensionale Statue des Erlösers (span.: redentor) residiert seit 1904 im Sattel des Paso del Bermejo. Sie soll als Symbol des Friedens zwischen den beiden Nachbarn Chile und Argentinien gelten, deren gemeinsame Grenze die Passhöhe bildet und deren gemeinsame Geschichte leider nicht immer vom friedlichen Miteinander geprägt war. Wir werden dazu dem Verlauf der alten Passstrasse folgen. Wie zuvor schon erwähnt, hat die Passstraße durch den Bau des Tunnels ihren eigentlichen Zweck verloren und wird heutzutage allenfalls noch von Touristen mit geländetauglichen Fahrzeugen befahren. Den Bus hinauf ins Örtchen Las Cuevas verpassen wir, weil wir auf der falschen Strassenseite stehen. Wir versuchen es mit Autostopp. Bereits nach wenigen Minuten sind wir erfolgreich. Die Insassen einer Camioneta (Lieferwagen) der am Aconcagua tätigen Agentur "Fernando Grajales" sind bereit, uns für ein kleines Entgelt mitzunehmen.

Wir setzen unsere Schritte mit aller Bedächtigkeit, der Puls soll heute so tief als möglich bleiben. Nach 8 gegangen Kilometern entlang der in langgezogenen Serpentinen angelegten Schotterpiste erreichen wir die Passhöhe. Neben der erwähnten Statue, nebenbei bemerkt ein beliebtes Fotomotiv bei chilenischen und argentinischen Ausflüglern, befindet sich auch eine alte Steinhütte des argentinischen Militärs, an dessen morbiden Mauern ein Schild mit der falschen Höhenangabe von 4000 Metern prangt. Wie bei den meisten älteren Höhenangaben in Argentinien wurde also wieder einmal übertrieben. Die Aussicht ist beeindruckend, insbesondere der Blick hinüber zu den vereisten Hochgipfeln der chilenischen Anden. Der Wind pfeift gehörig. Um unseren Ausflug abzurunden, besteigen wir noch den Hügel, der sich von der argeninischen Seite aus gesehen auf der rechten Seite befindet und gewinnen so weitere etwa 100 Höhenmeter. Seltsamerweise ist es dort oben dann nahezu windstill. Der Abstieg erfolgt, anstatt erneut dem Straßenverlauf zu folgen, über die steilen Schotterflanken, durch die man mit stabilem Schuhwerk regelrecht "abfahren" kann. In einem rustikalen Restaurant in Las Cuevas lassen wir uns einen herzhaften Imbiss schmecken, ehe wir mit dem Bus wieder nach Puente del Inca zurückkehren.

Es ist noch früher Nachmittag und ich möchte dem Cementerio de los Andinistas, welcher sich etwa einen Kilometer unterhalb von Puente befindet, einen Besuch abstatten. Da meine drei Begleiter keine Lust mehr haben, spaziere ich alleine los. Auf dem"Friedhof der Andinisten" sind nicht etwa nur Opfer von Bergunglücken begraben, sondern auch zahlreiche Persönlichkeiten, die sich um den Aconcagua und dessen Erschließung verdient gemacht haben. Auch mehrere deutsche Inschriften sind hier zu finden.

Abends nach dem Duschen melde ich mich bei meinen Freunden ab: "Ich geh´mal vor die Tür, die Haare fönen"! Ja, der Wind - selten scheinen hier die Momente, wo er mal schweigt. Geschieht das jedoch tagsüber, dann wird es in diesem schattenlosen, steppenhaften Gelände rasch unangenehm heiß.

Ich schaue in die Umgebung dieser auf den ersten Blick so trocken erscheinenden, nahezu wüstenhaften Bergwelt. Die Farbnuancen dieser Berge sind unglaublich und kompensieren deren karge Erscheinung: rot, grün, grau, weiß, gelb, ocker - ein Hinweis auf eine geologische Vielfalt, die sich hier zu vereinen scheint. Selbst das hier fließende Wasser nimmt mitunter kuriose Färbungen an, denn man kann in der Umgebung zahlreiche rotgefärbte Bach- und Flussläufe bewundern.

05.01.2010
Heute wird es ernst. Die erste Etappe soll mich ins Campamento Confluencia auf 3400 Metern führen, die Gehzeit ab Puente del Inca ist mit dreieinhalb Stunden angegeben. Um 10 Uhr packe ich mir mein 30-Kilo-Monstrum von Rucksack auf und mache mich auf den Weg, zunächst entlang der Strasse. Ich soll erst im Nachhinein erfahren, dass ein Maultierpfad direkt von Puente del Inca aus losgeht. Innerhalb kürzester Zeit spüre ich Kreuzschmerzen im Lendenbereich. Das fängt ja gut an! Doch als ich schließlich in Richtung Laguna de los Horcones ins Gelände steche, lösen sich die Schmerzen rasch auf. Es lag einfach an der Kombination Asphalt mit den bocksteifen Platikschalenstiefeln, die ich mir eigens anlässlich meiner Aconcagua-Unternehmung zugelegt habe. An der Laguna de los Horcones hat man sich bei den dortigen Guradaparques anzumelden und sein Permit vorzuweisen. Nach einer kurzen Unterweisung bezüglich gewisser Vorschriften im Park setze ich meinen Weg fort. Hier ist die Vegetation noch verhältnismäßig üppig, der steppenartige Boden ist von blühenden Blumenteppichen überzogen, der weite Ufersaum der blau leuchtenden Laguna ist gar von sattem Grün umgeben. Auf einem nahen Aussichtpunkt bietet sich dem Betrachter ein exzellentes Bild des Aconcagua mit seiner Südwand - sozusagen die Schokoladenseite des Berges. In der Folge marschiere ich direkt auf diese eindrucksvolle Eiswand zu, ständig dieses faszinierende Standbild vor der Nase.

Was für ein Anblick - wo seid ihr Idioten, die ihr behauptet, der Aconcagua sei ein hässlicher Schuttbuckel? Hinter einer Hängebrücke, am Ufer des mit erdfarbener Gischt vorbeischäumenden Rio de los Horcones, lasse ichmich zu einer ersten Rast nieder. Zahlreiche gar nicht scheue, bunte Vögel scharen sich um mich, und laben sich an den von meinen Keksen herunterfallenden Krümeln. Auch Stefan, Birgit und Marc sind unterwegs. Sie sind etwa später von Puente aus aufgebrochen. Da sie den Maultiertransport ihres Hauptgepäcks hinauf nach Plaza de Mulas von der Agentur Aymara bewerkstelligen lassen, wurden sie auch bis zum Parkeingang gefahren und wandern mit relativ leichtem Gepäck. So wird das übrigens von fast allen Gruppen gemacht, die zum Aconcagua unterwegs sind. Solisten, noch dazu solche, die ihr Gepäck selber tragen, scheinen hier selten zu sein, und ich falle schon richtiggehend auf mit meinem überdimensionierten Tornister.

Confluencia befindet sich direkt unter einer schroffen Felswand, umgeben von 4- bis 5000 Meter hohen Bergen. Nachdem ich im Lager mein Zelt aufgebaut habe, begebe ich mich auf den aussichtsreichen Moränenrücken direkt neben dem Camp. Hier kann man den Nordgipfel des Aconcagua wie einen neugierigen Riesen hinter kahlen Schutt- und Felsgipfeln hervorspähen sehen. Es windet und windet ...

06.01.2010
Auch ich bin inzwischen Aymara-Kunde geworden - und zwar bezüglich der Verpflegung. Denn, wie bereits erwähnt, trage ich ja nur die Lebensmittel für den Aufenthalt in den Hochlagern mit mir. Heute steht ein interessanter Akklimatisationsausflug auf dem Programm. Wir wollen hinauf zur Plaza Francia, gelegen am Fuße der Südwand des Aconcagua. Diese Exkursion ist ein absolutes Muss für jeden Parkbesucher, zumindest bis hin zum Mirador (Aussichtspunkt), wo sich dem staunenden Wanderer ein atemberaubendes Bild von der gewaltigen Cara Sur (Südwand) bietet.

Wir folgen dem Gletschertal Valle de los Horcones Inferior aufwärts. Der Vadretto de los Horcones Inferior ist ein langgezogener, bis obenhin mit Schutt bedeckter Gletscher, den man zu Beginn der Tour zunächst nicht wahrnimmt. Wir marschieren auf schmalem Pfad steil aufwärts entlang des Baches. Auffallend sind die weißen Verfärbungen der Schuttflanken, die von der Magnesiumhaltigkeit des Gesteins herrühren. Das Wasser in Confluencia kann übrigens aufgrund seines außergewöhnlich hohen Magnesiumgehalts bei manchen Personen zu (eher harmlosen) Magen-Darmverstimmungen führen (will auch heißen: besser keine zusätzlichen Maginesiumpräparate zuführen!). Eine wilde Hochgebirgsschlucht ist das hier, in Richtung Süden und Südosten tun sich Blicke zu beeindruckenden Eis- und Schuttgipfeln auf. Der Wind bläst heftig. Später sind mehrere flache Schwemmebenen zu durchschreiten, die im besonderen Maße den Winden ausgesetzt sind. Zeitenweise muss man aufpassen, dass man von den Böen nicht aus dem Gleichgewicht geworfen wird. Die Südwand des Aconcagua schiebt sich bedächtig mehr und mehr in unser Blickfeld. Schließlich wird ein Aussichtspunkt (Mirador) erreicht, von dem aus der Anblick der Südwand geradezu betörend ist. Auch die riesige, schuttüberzogene und von Spalten zersägte Fläche des Unteren Horconesgletschers läßt sich hier instruktiv überblicken. Außer uns sind heute noch zahlreiche andere Gruppen auf dem Weg, die meisten von ihnen sind aber nicht wegen der Besteigung des Aconcagua, sondern als Trekker im Gebiet unterwegs. Hier am Mirador ist für die meisten Schluss. Auch Birgit und Marc wollen heute nicht mehr weiter, wohingegen Stefan und ich unseren Marsch durch eine wüstenhafte, rotverfärbte und arg den Winden ausgesetzte Hochfläche zur Plaza Francia fortsetzen. Die Plaza Francia ist das Basislager für die extremen Südwandanstiege. Aktuell steht hier aber kein Zelt. Der südafrikanische Bergführer Sean Wisedale soll mir später erklären, die Bedingungen hier in der Südwand seien aufgrund von Stein- und Eisschlag derzeit so heikel und miserabel, dass diese bislang in dieser Saison nicht ein einziges Mal gemacht wurde. Die Ursache ist, gleich wie in den Alpen, im generellen Temperaturanstieg durch die Weltklimaveränderung zu suchen.

Was den Unterschied zum Mirador ausmacht, ist die Tatsache, dass man hier, in Plaza Francia, mit der Nase schon fast auf der Südwand klebt, ja fast schon droht, von ihr erschlagen zu werden. Diese greifbare Nähe, das Erkennen von Details, ist von großer Faszination und lohnt den Zusatzaufwand. Zudem bewegt man sich in langgezogenem, relativ flach ansteigendem Gelände, was unserer Akklimatisation zugute kommt. Plaza Francia liegt auf etwa 4200 Metern und am Ende dieses Tages haben Stefan und ich uns gut 2 bis 3 Stunden in Höhen über 4000 Metern aufgehalten, während man am Mirador nur mal knapp die Höhe von 4000 Metern erreicht und für gewöhnlich nach kurzem Aufenthalt rasch wieder absteigt. Auch wenn wir für diese Tour 9 Stunden lang unterwegs waren, haben wir uns, was die Pulsfrequenz anbelangt, nicht allzu stark verausgabt. Im gut akklimatisierten Zustand könnte man die Tour nämlich auch in etwa 6 Stunden gehen. Unterwegs verhelfen wir Rodrigo und Carmelia, einem Paar aus Brasilien, mit einem Apfel zum nötigen Zuckerschub zu deren wohlbehaltenen Rückkehr nach Confluencia.

07.01.2010
Heute werde ich mit Sack und Pack ins Basislager Plaza de Mulas hinaufziehen. Ich werde meine Berliner Freunde sodann erst übermorgen wieder sehen, da sie beabsichtigen, an der Piedra Ibanez, also nach etwa Hälfte Gehzeit zwischen Confluencia und Mulas, eine Zwischenübernachtung einzulegen. Der Tag wird lang und anstrengend, das weiß ich und trotzdem schaffe ich es erst um 10.20 h, also schon reichlich spät, von Confluencia aus aufzubrechen. Nach einem Ab- und Wiederanstieg an der Brücke über den Rio Horcones Inferior verläuft der Weg über lange Zeit hinweg relativ flach, die Anstiegsmeter sind kaum zu merken. Die Strecke führt durch mehrere Geländekammern, die aus riesigen Schwemmflächen des Rio Horcones Superior bestehen, der seine Wasser hier durch weitverzweigte Drainagen hindurchschleust. Es bleibt nicht aus, zu erkennen, dass der Fluß momentan wohl recht wenig Wasser führt, was mir später wiederum von Sean Wisedale, der ja schon häufig hier am Aconcagua zugegen war, bestätigt wird. Die grösste und vielleicht eindrucksvollste der zu durchquerenden Schwemmebenen ist wohl die Playa Ancha. Die einzelnen Schwemmebenen werden durch Talverengungen voneinander getrennt. Blickfang im ersten Teil der Wanderung ist der Cerro de los Dedos (4952 m). Aufgrund seiner kegelartigen Erscheinung dürfte es sich wohl um einen erkalteten Vulkan handeln. Hinter der Piedra Ibanez steigt der Pfad an und passiert eine eindrucksvolle Schlucht. In den Blickfang gerät jetzt die aus einem Gletscherbett herausragende Berggruppe um den Cerro Cuerno (5407 m). Unterhalb dieser Berggruppe muss sich das Basislager Plaza de Mulas befinden, und ganz klein kann ich dort oben tatsächlich schon winzige Farbklekse als Zelte ausmachen. Bis dort hinauf ist es jedenfalls noch weit und mühsam, und nach abermaligem Passieren einer weiten Schwemmebene steilt der Pfad hinter einem halbverfallenen Steinhaus, sozusagen als abschließender Paukenschlag, gehörig auf. Eine nahezu gespenstische Atmosphäre herrscht jetzt. Düstere Wolken brauen sich über meinem Kopf zusammen - das habe ich nun von meiner Bummelei heute morgen! Zu allem Glück hin befindet sich der Regenponcho nahezu unerreichbar im untersten Teil meines Rucksacks! Der Anstieg bis hinauf nach Mulas macht mich vollends fertig, selbst Personen mit wesenlich leichterem Gepäck japsen hier rum, bleiben immer wieder zum Atemschöpfen stehen. Natürlich auch ich selbst, dennoch überhole ich noch vor Erreichen des Lagers alle vor mir in Sichtweite marschierenden Parteien. Ich werte das als Zeichen für eine gute und gründliche Vorbereitung. Ich bin derzeit fit, wie selten zuvor, und auch meine Höhenanpassung scheint mir gut voranzuschreiten. Mein aktueller Fitnessstand war mit ein Grund für die Entscheidung, nicht weiter bis zum Sommer oder letztendlich gar zum Sanktnimmerleinstag zu warten, sondern es jetzt am Aconcagua zu versuchen. Dennoch habe ich es nicht versäumt, mich in den Wochen vor dem Abflug durch höhenmeterreiche Bergtouren in den Alpen oder Trainingsbergläufe an den heimischen Hegaubergen Hohentwiel und Hohenkrähen, manchmal bis zum opbersten Pulsanschlag, noch fitter und noch besser vorbereitet auf dieses Unternehmen werden zu lassen. Hier und jetzt sollen die Früchte dieser Mühen geerntet werden. Eines ist sicher: einen Berg, wie den Aconcagua bezwingt man mit 100 Prozent Einsatz und 100 Prozent Vorbereitung - 95 Prozent können schon zu wenig sein!

Schließlich und endlich stehe ich um 18 Uhr unter der Tür der Guardaparques und werfe erleichtert meinen Rucksack zur Seite, um mich vorschriftsmäßig anzumelden. Bis hinauf zu den Aymara-Zelten muss ich zu guter Letzt noch durch´s ganze Lager hindurchspazieren. Plaza de Mulas ist eine richtige Zeltstadt mit zur Zeit etwa 150 bis 200 Zelten, vier verschiedenen Internetanschlüssen, lauter Rockmusik und der höchstgelegenen Galerie der Welt des Malers Miguel Souza. Reichlich erschöpft baue ich im ewig währenden Wind mit etwas Mühe mein Zelt auf und begebe mich anschließend zu einer gediegenen Cena in eines der Messezelte von Aymara. Glück gehabt, ich bin nicht nass geworden - auf die letzten Meter hin haben mich nur ein paar harmlose Schneefetzen begleitet. Eines ist sicher, morgen ist Ruhetag ...

08.01.2010
Mein 47ster Geburtstag, día de reposo. Heute Nacht spielten sich kuriose Szenen in zwei Nachbarzelten ab: im einen erlitt jemand unter lautem Stönen, Stammeln und Nach-Luft-Ringen einen Anfall von akuter Höhenkrankheit und musste von seinen Kameraden im Druckausgleichssack behandelt werden, während gleichzeitig weiter drüben die Lustschreie eines Pärchens ertönten. So liegen Höhen und Tiefen am Aconcagua oft nah beieinander :-))! Die einzig nennenswerte Aktivität wird für mich heute der etwa 20-minütige Spaziergang hinüber zum Hotel, wo Christian, mein Begleiter aus Stuttgart, ein paar erfolglose Versuche unternimmt, nach Deutschland zu telefonieren. Das "Hotel" ist schon eine Kuriosität hier oben. Man kann hier tasächlich Zimmer mieten, allerdings ist alles unbeheizt. Ansonsten ist die Ausstattung des Hauses aber durchaus vergleichbar mit einer guten SAC-Hütte.

Das Basislager wird von Ärzten betreut. Eine Eingangsuntersuchung ist für unabhängige Bergsteiger zwar keine Pflicht, sie wird aber dringend empfohlen. Ich fühle mich körperlich pudelwohl, begebe mich aber dennoch zur Untersuchung. Eigentlich mehr mit dem Gedanken, mir dort meine sprühende Fitness bestätigen zu lassen. Blutdruck und Sauerstoffsättigung im Blut ergeben auch die von mir erwarteten Resultate. Als der Arzt jedoch meine Lungengeräusche abhört, ist für mich die Überraschung groß, fast sogar bin ich verärgert, und ich kann´s nicht glauben: auf einem meiner Lungenflügel sei ein rasselndes Geräusch zu hören, was nichts anderes bedeuten würde, als ein sich entwickelndes Lungenödem! Dabei habe ich den ganzen Tag lang nicht einmal gehustet! Ich will trotzdem vorsichtig sein und erkläre mich bereit, morgen früh die gleiche Untersuchung noch einmal über mich ergehen zu lassen. Als ich schließlich noch auf meinen lange zurückliegenden Unfall bei der Bundeswehr zu sprechen komme, habe ich in der Station sogleich den Spitznamen "hombre metalico" weg.

Da am Aconcagua trockene Luft herrscht, wird eine Trinkmenge von 5 bis 6 Litern täglich anempfohlen, zudem wird dringend von Doping mit Hilfe von Diamox abgeraten, da dieses Medikament zur Entwässerung führt. Eine von mir als besonders lästig empfundene Nebenerscheinung des hohen Wasserkonsums sind die nächtlichen Toilettengänge. Da sich während der Saison ständig sehr viele Personen im Lager aufhalten, sollte man aus hygienischen Gründen das Urinieren direkt vor den Zelten unterlassen. In meinem Falle bedeutet das, bis zu 5- oder 6 mal pro Nacht Hose an, Schuhe an, die Daunenjacke drüber, ab in die windige Kälte von minus 15 Grad und gute hunderfünfzig Meter bis zum Toilettenhäuschen spaziert. Viele Bergsteiger haben extra Flaschen oder Behälter dabei, um dieses nächtliche Ungemach zu vermeiden, doch daran habe ich im Vorfeld nicht gedacht, oder besser gesagt, die Wichtigkeit eines solchen Behältnisses einfach unterschätzt. Am Nachmittag treffen auch meine Berliner ein. Ein Filmteam des National Geographic soll morgen per Helikopter eingeflogen werden. Sie wollen für´s lateinamerikanische Fernsehen eine Dokumentation über Bergrettung am Aconcagua drehen. Für den 10. und 11. Januar ist Schlechtwetter in Form von starken Winden angesagt, weshalb ich meinen für den 10. geplanten Umzug hinauf ins Campamento Canadá zu verschieben gedenke.

09.01.2010
Nach dem Frühstück begebe ich mich also erneut zur Untersuchung. Keine Auffälligkeiten mehr, Sauerstoffsättigung im Blut 89 (ab 80 kann der Weiteraufstieg empfohlen werden, 90 gilt als sehr gut) - na, bitte! Somit steht meiner Akklimatisationstour auf den 5004 m hohen Cerro Bonete nichts mehr im Wege. Beim Bonete handelt es sich um einen technisch völlig problemlosen Berg, der durch einen schon von Mulas aus deutlich sichtbaren Pfad erschlossen ist.

Gegen 10 Uhr marschiere ich los und um 13.15 h stehe ich auf dem Gipfel. Die Aussicht lohnt. Die mächtige Nordwestflanke des Aconcagua imponiert, und deren Ansicht ist von hier aus gleichzeitig instruktiv bezüglich des Studiums der Normalroute. In der Ferne kann ich gelb leuchtende Zelte im Lager Canadá ausmachen. Wenn ich mich um 180 Grad drehe, blicke ich hinab in das letzte argentinische Tal. Die dahinter aufsteigende Bergkette trägt die Landesgrenze. Im Dunst kann man den Pazifik erahnen. Auch das obere Horconestal ist von hier oben wunderschön einsehbar, dazu ein Meer von beeidruckenden Berggipfeln. Über Mendoza schwebt eine mächtige Wolkenbank, und gegenüber dem Bonete thront der Cerro Catedral, ein weiterer Gipfel, der nicht zu schwer sein soll, und dessen Besteigung ich für morgen vorgesehen habe.

Ich verweile geschlagene zweieinhalb Stunden hier oben. Hinter einem Fels, leicht unterhalb des Gipfels bin ich einigermaßen windgeschützt, die Sonne scheint. Ich verbringe die Zeit mit Schauen, Dösen, Trinken und lasse auf diese Weise meinen Körper die dringend benötigten zusätzlichen roten Blutkörperchen produzieren. Die Gruppe um den Bergführer Fernando, sowie drei Spanier, die ich noch von Plaza Francia her kenne, tun das Gleiche. Fernandos Gruppe bin ich bereits am Parkeingang begegnet.

Um 15.30 h bin ich schließlich der Letzte, der den Gipfel wieder verlässt. Im Abstieg faucht mich der Wind wieder heftig an, ebenso erging es mir im Aufstieg, nur im Gipfelbereich waren die Bedingungen diesbezüglich verhältnismäßig angenehm. Der Abstieg lässt sich rasch bewerkstelligen, so daß ich um 16.45 bereits wieder in Mulas bin.

Plaza de Mulas erlebe ich als eine echte Community. Jeder grüsst hier Jeden, Kontakte sind rasch hergestellt. Besonders beim Essen in den Messezelten kommt man häufig mit verschiedenen Gruppen zusammen, dazu gesellen sich noch die Bekanntschaften, die sich bereits auf dem Weg hierher ergeben haben, und nach nicht einmal zwei Tagen Lageraufenthalt scheint es mir fast schon so, als würde ich bereits die Hälfte der Leute hier kennen.

Heute höre ich zum ersten Mal von dem Gutwetterfenster, welches sich am 14. Januar auftun soll. Ich beginne zu rechnen ...

10.01.2010
Frühstück und Konversation mit Sean Wisedale und dessen Gruppe. Um 9.10 h verlasse ich Mulas, zunächst dem gleichen Weg wie gestern folgend. Ein gutes Stück oberhalb des Hotels verlasse ich die Bonete-Route jedoch und steige weglos zum großflächigen Büßereisfeld auf, welches die Südflanke des Cerro Catedral bis obenhin bedeckt. Auf der Karte ist es mit dem Namen Vadretto del Catedral benannt, also ein Hinweis darauf, dass es sich um einen Gletscher handelt. Es ist jetzt 11.15h, ich montiere meine Steigeisen und stelle gleich zu Beginn fest, dass ein unverspurtes Büßereisfeld von der Dimension wie dieses nur äußerst schwer begehbar ist. Die typischen Firnspitzen, die wie aufgestellte Platten aufragen und hier in Südamerika Penitentes (Büßer) genannt werden, erreichen zum Teil Mannshöhe und man müht sich hier praktisch durch ein Labyrinth. Das ist aber nicht der Grund, weshalb ich nach kurzer Zeit von dem Eisfeld lasse. Vielmehr ist es die Unsicherheit darüber, ob sich unter dem Firn etwa Spalten befinden. Kurzum, ich verlasse das Eisfeld wieder und steige hinauf zum auffälligen Sattel zwischen dem Bonete und dem Catedral. Das Schotterfeld steilt hier gehörig an und ich durchquere zudem noch unter großen Mühen ein aus der Ferne zunächst harmlos erscheinendes, kleineres Büßereisfeld.

Im Sattel angekommen, erwische ich eine leicht ausgesetzte, an und für sich unschwere, und nur sehr kurze Kletterstelle (höchstens 2), die mir aber sogleich einen unguten Vorgeschmack darauf gibt, was sich im Fels weiter oben fortsetzen soll. Ich nähere mich dem Felsaufbau, durch den ich bis hinauf zum Gipfel zu kraxeln gedenke. Ebenfalls nicht schwieriger als 2, gemäß meiner optischen Einschätzung. Ich klettere nur wenige Meter, um dann mit höchster Vorsicht wieder abzuklettern, denn selten habe ich einen so morsch-brüchigen Fels unter den Händen bzw. Füssen gehabt, wie diesen hier. Die Guardaparques, denen ich noch in den Morgenstunden einen Besuch abgestattet habe, hatten vollkommen Recht, mir einen Steinschlaghelm mit auf den Weg zu geben, nachdem ich ihnen eröffnet hatte, ich wolle den Catedral besteigen.

Ich will noch nicht aufgeben. Somit gehe ich auf teils rutschgefährlichem Geröll unter dem Felsaufbau hindurch und umrunde den Berg sozusagen ein Stück weit. Dabei entdecke ich eine sandig-feinsplittrige Schotterflanke, die sich recht gut ersteigen lässt. Oben stosse ich auf eine zweites Schotterfeld und mühe mich auch dieses hinauf. Jetzt baut sich vor mir ein Felsriegel auf, dessen Gesteinsqualität sich als wesentlich besser herausstellt, als jene weiter unten. Doch noch sicherer und einfacher begehbar erscheint mir ein kurzes Couloir, sozusagen eine Mini-Canaleta, die mich auf ein plateauähnliches Geröllfeld hinaufführtt. Am anderen Ende des Geröllfeldes lässt sich ein Steinmann ausmachen, der Gipfel ist dort erreicht (Uhrzeit: 14.55 h).

Diese Tour hat mich doch erheblichen Kraftaufwand und noch dazu ein paar Nerven gekostet, weshalb ich sie als Akklimatisationstour nicht mehr durchgehen lassen kann. Doch hier oben auf dem Gipfel komme ich endlich zur Ruhe, genieße die wohlverdiente, prächtige Aussicht. Das Eismassiv des Cuerno ist hier ganz nah, Plaza de Mulas scheint nahezu direkt unter mir. Für gut 20 Minuten verweile ich völlig einsam auf dem Gipfel und blicke hinüber zum wieder mal gut besuchten Nachbarn Cerro Bonete. Um 15.15 h beginne ich mit dem Abstieg.Natürlich muss ich auch auf dem Rückweg behutsam sein, aber ich schließe einen Verhauer aus und weiß jetzt auch, was mich erwartet und wo ich ein bißchen aufpassen muss. So gelange ich auch recht schnell wieder nach unten und finde mich gegen 17 h zufrieden und gutgelaunt wieder in Mulas ein. Mit dem Cerro Catedral ist mir jedenfalls im völligen Alleingang ein Gipfel gelungen, der mir ein gutes Mass an Beharrlichkeit und Pioniergeist abgerungen hat und der - neben der Einsamkeit der Tour - bezüglich Orientierung (ich konnte oben keinerlei Pfadspuren oder Steinmännchen ausmachen) den Aconcagua-Normalweg bei Weitem in den Schatten stellt.

11.01.2010

Heute will ich meine Akklimatisierung an der Aufstiegsroute des Aconcagua fortsetzen. Nachdem ich die vergangenen zwei Tage die 5000er-Grenze einmal knapp und gestern sogar merklich überschritten habe, will ich heute mit leichtem Tagesgepäck, d.h. nur Wasser und eine Kleinigkeit zu Essen, bis hinauf zum Nido de Cóndores vordringen. Bei dieser Gelegenheit werde ich zudem ein Depot in Canadá anlegen mit Dingen, auf die ich derzeit in Mulas verzichten kann, die ich aber bei der Fortsetzung meiner Besteigung weiter oben benötigen werde. Es ist nicht allzu viel, Kocher, Gaskartusche, eine Überhose, Essgeschirr - doch wenn ich voraussichtlich übermorgen nach Canadá umziehen werde, dann wird mir jedes Kilo weniger eine dankbare Entlastung sein.

Um 10 Uhr verlasse ich Mulas und erreiche Canadá um 12.15 h. Mein Depot lege ich sehr sorgfältig gesichert an, denn es sind zwei stürmische Tage vorhergesagt. Die Lebensmittel lasse ich vorsichtshalber noch unten, da ich von der Esistenz gefrässiger Mäuse hier oben gehört habe, obwohl ich mir das in dieser kalten und unwirtlichen Gegend kaum vorstellen kann. Ich gönne mir ein Vesper aus dem mitgeführten Lunchpaket und schaue hinüber zum Cerro Bonete. Von hier aus scheint er höher, als Canadá - ein Eindruck, der sich mir zuvor schon von jenem Gipfel aus in umgekehrter Richtung offenbart hat. Daraus schließe ich, dass die oftmals angegebene Höhe von 5000 Metern für Canadá wohl nicht ganz zutrifft, vermutlich sind es etwa 4900. Schön abgehoben kommt man sich hier oben vor, wenn man herabblickt auf die winzigen, bunten Zeltkleckse des Basislagers.

Um 13 Uhr gehe ich weiter und erreiche das Nido de Cóndores um 14.45 h. Dort oben heult der Wind bereits mit beängstigenden Stärken, und ich kann auf Anhieb zwei zerfetzte Zelte entdecken. Ich drücke mich unter den großen Felsen mit der argentinischen Flagge am Lagereingang und verspeise einen Apfel. Das Nido eröffnet neue Blicke ins Gebiet nördlich und östlich des Aconcagua. Mehrere Eisgipfel, welche die 6000er-Grenze zum Teil deutlich überragen, tragen auffällig flache, ausgedehnte Gletscherkalotten. In unmittelbarer Nähe sind zwei 5000er auszumachen, einer von ihnen besticht durch eine auffallend scharf geschnittene Gratschneide.

Um 15.15 h trete ich den Rückmarsch an. Der Abstieg im Schotter geht wie gewohnt rasch und easy vor sich, so daß ich um 15.45 h wieder in Canadá stehe. Trinkpause. Die Windstärken, verglichen mit Nido, gebären sich hier merklich moderater. Bezüglich des Windes oben im Nido möchte ich nicht wissen, was dort kommende Nacht los sein wird, denn der eigentliche Sturm ist erst für die Nachtstunden angekündigt und der Hauptgrund, warum ich nicht heute oder morgen schon gen Canadá umziehe. Um 16 Uhr erhebe ich mich von meinem Pausenplatz und erreiche Mulas um 16.35 h.

12.01.2010

Der Sturm schlägt über Nacht gnadenlos zu, zeitenweise habe ich die Befürchtung, mitsamt meinem Zelt abzuheben. Ich bin gottfroh, immer noch hier unten in Mulas zu hocken und nicht etwa schon in eines der oberen Lager umgezogen zu sein. Über Nacht ist auch die Temperatur gesunken und als ich mich zum Frühstück ins Messezelt aufmache, dürfte die Temperatur etwa 10 Grad Minus betragen.

Die Aufenthalte im Messezelt verleiten nur allzu leicht dazu, sich mit den dort Anwesenden zu verquatschen. So auch heute, so daß mein Aufbruch um 10.45 h doch schon ein reichlich verspäteter ist, insbesondere in Hinsicht darauf, dass ich für heute noch Einiges geplant habe. Ich treffe um 12.45 h in Canadá ein. Im Schlussanstieg begehe ich einen saudummen Fehler: ich verlasse die Pfadspur und steige die letzten 100 Meter in einer der direkten Abstiegsspuren auf, die viel zu steil ist. Ein völlig unnötiger Kraftaufwand ist die Folge, doch schlimmer noch betrachte ich die Tatsache, dass auf diese Weise die Akklimatisation negativ beeinträchtigt werden könnte. Eine solche Dummheit kann einem unter Umständen den Gipfel kosten.

Zelt aufstellen, Schnee hacken, Trinkwasser schmelzen. Hinterher soll sich noch herausstellen, dass Schneeschmelzen hier tagsüber unnötig ist, da aus zwei abtauenden Schneefeldern sauberes Wasser fließt. Um 14.50 mache ich mich mit Leichtgepäck abermals auf den Weg, zunächst wieder hinauf ins Nido. Im Hinterkopf habe ich mir allerdings das Lager Berlín auf 5900 Metern als Ziel gesetzt, was ich aber von meinem persönlichen Befinden abhängig machen will. Das Nido erreiche ich um 16.45 h, und da ich mich immer noch in guter Verfassung befinde, steige ich weiter auf nach Berlin, wo ich um 18.10 h eintreffe. Ich lasse mich am Lagereingang zu einer kleinen Pause nieder, der Wind heult hier oben garstig, und es ist grausig kalt. Zwei kleine Biwakhäuschen, die Hundehütten gleichen, befinden sich hier. Durch die offenen Eingänge kann ich erkennen, dass sich dort bereits mehrere Personen einquartiert haben. Weiter oben stehen sicher noch einige Zelte, und auch eine größere Biwakschachtel, die übrigens von Deutschen erbaut wurde (daher rührt der Name Campamento Berlín) soll sich ein Stück weiter hinten, aber von hier aus nicht einsehbar befinden, doch ich belasse es bei der Rast unter dem Felsen mit dem kleinen Christuskreuz, um nach einem kurzen Aufenthalt hurtig den Rückweg anzutreten. Um 18.45 h bin ich wieder unten im Nido, Canadá sieht mich schließlich gegen 19.45 h. Unter Tags herrscht auf den Routen zwischen den Lagern ein ständiges Gefusel, um so mehr habe ich auf meinem einsamen Abstieg diese Ruhe genossen, die mir im Übrigen bereits im frühabendlichen Aufstieg zwischen Nido und Berlín vergönnt war. Eine einmalig schöne und berührende Sonnenuntergansstimmung empfängt mich bei meiner Rückkehr in Canadá. Das Lager, die ockerfarbenen Schutthänge in der Umgebung und der felsige Gipfelaufbau des Aconcagua werden malerisch in ein goldenes Abendlicht getaucht, während Mulas unter uns schon im kalten Schatten dämmert.

13.01.2010

Um 11.40 h bin ich abmarschbereit, diesmal wieder mit dem ganzen Gepäck, denn ich siedle heute um ins Nido de Cóndores. Ich fühle mich noch nicht so fit heute morgen und denke verärgert an meinen eigenen dummen Fehler von gestern zurück, der durchaus die Ursache für mein jetziges schlechtes Befinden sein könnte. Es bleibt heute windstill, wie vorhergesagt, ein Zustand, der auch morgen noch anhalten soll. Somit wird der Aconcagua mit Sicherheit eine große Anzahl von Gipfelaspiranten zu erwarten haben, ebenso morgen. Selten sind die Tage am Aconcagua, an denen es windstill ist. Eigentlich würde ich noch ein oder zwei Akklimatisationstage vertragen, wenigstens eine zusätzliche Nacht plus Ruhetag im Nido, doch ich möchte mir das Schönwetterfenster morgen nicht entgehen lassen und setze daher auf den morgigen Tag als Gipfelversuch.

Um 14.15 h treffe ich im Nido ein und stelle mein Zelt direkt neben einen zugefrorenen See, der mir als Wasserquelle dienen soll, um so das zeit- und energieaufwändige Schneeschmelzen zu vermeiden. Doch um an das Wasser heranzukommen, muss ich zuvor mit dem Pickel ein Loch in die Eisdecke hacken, welches etwa eine Stunde später schon wieder zugefroren sein wird. Frühabends hüllt sich der Gipfel des Aconcagua in Wolken und leichter Schneefall setzt ein. Seit gestern habe ich übrigens über Nacht einen Gast im Zelt: Marc hat sein eigenes Zelt in Mulas zurückgelassen, Stefan und Birgit haben ihr Zweitzelt neben dem Meinigen bereits aufgebaut. Da Marc sich bislang noch kein Zweitzelt besorgt hat, sind wir übereingekommen, dass er die beiden von der Gruppe geplanten Akklimatisierungsnächte mit mir im Zelt verbringt. Sie wollen dann alle drei morgen früh wieder runter nach Mulas und den Gipfel zu einem späteren Zeitpunkt angehen.

Es ist schweinekalt hier oben im Nido, dennoch unternehme ich einen kleinen Abendspaziergang in die Umgebung. Abgesehen von der phänomenalen Aussicht auf die vereiste Andengipfel ringsum bietet die nähere Umgebung interessante Vulkanboulder inmitten einer bizarren Mondlandschaft. Das Nido de Cóndores ist ein sehr weitläufiger Lagerplatz, eine von Geländewellen durchzogene, ausgeaperte Gletschermulde. Sehr früh kuschle ich mich in meinen Schlafsack, um so viel wie möglich zu schlafen oder wenigstens zu ruhen, denn spätestens um 3 Uhr früh möchte ich Richtung Gipfel unterwegs sein.

14.01.2010

Die Nacht war kurz und miserabel. In den kurzen Intervallen, während denen ich geschlafen habe, wurde ich von Alpträumen heimgesucht, ansonsten lag ich wach. Gegen 2.15 h erhebe ich mich, rühre mir eine Portion Haferflocken mit Trockenmilch und Wasser zusammen und koche sie auf. Marc drückt sich neben mir rücksichtsvoll an die Zeltwand, um mir Platz zu gewähren. Er wird sicher froh sein, wenn das Geraschle und Geklappere aufhört und ich endlich aus dem Zelt raus bin, denke ich. Um 3 Uhr morgens breche ich schließlich auf. Es ist windstill, aber schweinekalt, so zwischen minus 20 und minus 25. Marc wünscht mir viel Glück und fragt mich noch, ob denn auch schon andere Leute unterwegs seien. Ich sehe in der Dunkelheit in einiger Entfernung ein paar Lichter funzeln. Viele sind es nicht, aber ich werde zumindest nicht völlig alleine sein. Die Auffindung des Pfades in der Dunkelheit gestaltet sich schwerer, als ich mir dies vorgestellt habe. Ich denke an die Empfehlung von Gordo, einem mendozinischen Bergführer, den ich in Confluencia kennengelernt habe, vor Aufbruch im Nido unbedingt eine Vorbegehung zu machen. Die habe ich glücklicherweise vorgestern ja bereits getätigt, als ich bis hinauf nach Berlín gegangen bin. Es gibt ja helle (etwa bei Vollmond) und dunkle Nächte. Diese hier ist rabenschwarz und ohne meine Vorbegehung wäre ich jetzt mit Sicherheit chancenlos. Der Ausgangspunkt Nido bedingt aber einen nächtlichen Aufbruch, man bedenke nämlich die regelmäßigen Wetterverschlechterungen an den Nachmittagen, zumal das Wetter heute im Laufe des Tages ohnehin kippen soll - "it could also be electric!" - also eventuell auch mit Gewitter, wie sich Sean Wisedale bei unserer letzten gemeinsamen Cena in Mulas ausdrückte ...

Bald hole ich die ersten vor mir gehenden Lichtgestalten ein. Die hinterste scheint sogar auf mich zu warten, wohl in der Hoffnung, dass ich der Erlöser sein würde, der den Weg kennt und findet. Die Hauptspur ist dann auch tatsächlich bald aufgestöbert, und ich bin vorerst erleichtert. Gelegentlich gerate ich noch auf etwas schmalere Nebenpfade, aber die Grundrichtung ist jetzt klar und ein zeitraubender Verhauer nun ausgeschlossen. Eine Dreiergruppe von Spaniern scheint mir ein auch für mich passendes Tempo zu gehen, weshalb ich diese Gruppe nicht mehr überhole, sondern wortlos hinter ihnen dreinlatsche. Zu großartiger Konversation bin ich im Moment nicht aufgelegt, denn ich fühle mich von Anfang an beschissen und ich hege schon recht frühe Zweifel, ob ich heute überhaupt in der Lage sein werde, den Gipfel zu schaffen. Allerdings entgeht mir nicht, dass auch alle anderen, die unterwegs sind, zu kämpfen haben. Wenn ich eingangs über den bequemen und manchmal schon fast luxuriösen Auftakt am Aconcagua geschrieben habe - allerspätestens hier und jetzt ist vorbei mit lustig. Der Gipfeltag bedeutet für jeden Anwärter mit Sicherheit ein zähes Ringen mit seinem eigenen Schweinehund, ein sich Aufbäumen gegen die harschen Gegebenheiten, eine beinharte Prüfung des Willens und der Leidensfähigkeit.

Insbesondere die Vorstellung an die Canaleta frustriert und demoralisiert mich. Die Canaleta gilt als die Crux auf dem Aconcagua-Normalweg. Es handelt sich um eine etwa 350 m hohe, zwischen 40 und 45 Grad steile Schuttrinne, die meistens mit Schnee und/oder Eis garniert ist und dann den Einsatz von Steigeisen und Pickel bedingt. Sie setzt auf etwa 6650 m an und ist technisch unproblematisch, wohl aber äußerst anstrengend und kräftezehrend. Der Beginn der Canaleta ist mit Sicherheit der Bereich, wo es zu den meisten Abbrüchen von Gipfelversuchen kommt.

Wir durchschreiten das Lager Berlín, wo Personen hinter beleuchteten Zeltwänden wie in einem chinesischem Schattenspiel im Zeltinneren herumwursteln, während gedämpfte Stimmen und die Geräusche von klapperndem Essgeschirr und fauchenden Kochern ertönen. Über uns sind jetzt schon viel mehr Lampen zu sehen. Meine Zehen sind seit dem Aufbruch eiseskalt und ich beginne mir auch diesbezüglich Sorgen zu machen.

Wir stapfen noch lange Zeit im Dunkeln. Der Ausfall meiner Stirnlampe würde heute wohl einen Gipfelsieg zunichte machen, schießt es mir zwischendurch noch durch den Kopf. Irgendwann auf dem Weg zwischen Berlín und Independencia beginnt es zu tagen. Bereits im ersten zaghaften Morgenlicht kann man einen trübenden Dunst in der Luft erkennen, welcher eine baldige Wetterverschlechterung ankündigt. Wenig unterhalb von Independencia treffe ich auf Sean Wisedale und dessen Gruppe. Wir besprechen uns kurz, und als ich dann meinen Weg fortsetze, realisiere ich bald, dass nun vor mir niemand mehr geht. Ich bin nun also an der Spitze und somit auch in der Auffindung des Weiterweges voll auf mich gestellt. Wenn es mir körperlich besser gehen würde, dann würde ich dies sicher als einen besonderen Reiz empfinden ...

Ich erreiche Independencia, ein kaum mehr benutztes Lager auf etwa 6400 Metern. Die alte Biwakhütte ist halb zerfallen und nicht mehr nutzbar. Jetzt sind es nur noch wenige Meter bis zur Querung (La Traversa). Bei der Traversa handelt sich um eine Flanke, die bei Wind sehr ausgesetzt ist und wo in einer kurzen Passage auch eine eventuelle Absturzgefahr in Form eines sehr steilen Firnfeldes besteht - nebenbei bemerkt wohl die einzige"abstürzbare" Stelle auf dem Aconcagua-Normalweg.

Am Ende der Traversa erreiche ich eine Felswand, daneben zieht das Schuttcouloir der Canaleta steil empor. Ein kurzer Blick nach oben genügt, um zu erkennen, dass die Rinne zu einem guten Teil mit Schnee und Vereisungen gefüllt ist. Ohne langes Zögern lege ich die Steigeisen an, die mir unter diesen Umständen sicher Kraft sparen helfen werden. Ich bringe das erste Drittel der Canaleta hinter mich und denke bei mir "so, jetzt bist du da drin, wovor es dich den ganzen Morgen über schon gegraut hat". Natürlich ist es teuflisch anstrengend, aber es geht besser, als ich es mir vorgestellt habe und ich werde mir langsam sicher darüber, dass ich das Ding gepackt bekomme. Nach mir beinahe unendlich erscheinenden Mühen stehe ich schließlich unter dem langen Grat, welcher den Nord- mit dem Südgipfel verbindet. Während die gesamte hinter mir liegende Aufstiegsroute noch im Schatten fristet, scheint nun die Sonne auf die obersten Felszacken des Gratrückens, aber auch Nebelfetzen schwappen herüber. Meine Stimmung steigt, ich glaube, den Gipfel nun so gut wie in der Tasche zu haben. Was nun folgt, nennt sich "El Filo del Guanaco", eine Querung direkt unterhalb des Verbindungsgrates. Laut dem argentinischen Bergführer Pablo rührt der Name vom Mumienfund eines Guanacos her. Angeblich hätte es sich dabei um eine Tieropferung der Incas gehandelt. Ich habe bereits in der Vergangenheit davon gehört, dass die Incas offenbar häufiger hoch gelegene Gipfel in den Anden zu Opferungen oder anderen sakralen Zeremonien aufgesucht haben. So etwa auch das weiter oben erwähnte Inca-Mädchen am Cerro Piramidal.

Der Filo ist mit windgepresstem Schnee garniert und ich bin jetzt wirklich gottfroh über meine Steigeisen. Doch ich stosse nun an Grenzen meiner eigenen Leistungsfähigkeit. Bislang konnte ich mich während der Pausen immer wieder kurzfristig erleichtern, doch jetzt bekomme ich sogar während der Unterbrechungen Probleme: ich verfalle fast ständig in einen Minutenschlaf, weil ich einfach übermüdet und körperlich am Ende bin. Dieses Einnicken wird jetzt aber zum Horror, denn jedesmal bekomme ich dabei Hipoxieanfälle, d.h. ich habe das Gefühl, zu wenig Luft zu bekommen und fange dann jedesmal an, panikartig zu hyperventilieren. Alle fünf bis acht Schritte lasse ich mich jetzt fallen, mal auf den Bauch, mal auf den Rücken, mal auf die Knie. Das Aufstützen auf den Pickel zwecks Erholung bringt mir gar nichts, da dieser hierfür zu kurz ist. Mein Freund Stefan hatte recht, als er mir anriet, für dieses Unternehmen, entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten, einmal ausnahmsweise doch Gehstöcke mitzunehmen. Der Gipfel will und will nicht kommen und die Euphorie, welche mich beim Ausstieg aus der Canaleta überkam, schlägt nun in Verzweiflung um. Eigentlich bin ich jetzt wirklich am Ende, bereit, aufzugeben, aber der Gipfel, verdammt noch mal, er muß doch jetzt jeden Moment erreicht sein!

Schließlich stehe ich unterhalb einer schneefreien Aufsteilung aus Schotter und Felsblöcken, darüber erspähe ich das kleine Metallkreuz, welches mir von zahlreichen Fotos her schon bekannt ist. Der Gipfel ist erreicht! Eigentlich habe ich mir unterwegs vorgestellt, dass ich mich gleich nach Ankunft auf dem Gipfel direkt neben das Kreuz fallen lassen und völlig erschöpft nach Atem ringen werde. Doch stattdessen lasse ich einen Brüller los, den man sicherlich von Santiago nach Buenos Aires hört. Es ist ein berührender und gleichzeitig auch euphorischer Moment und fast schon kommen mir dabei die Tränen! Jawohl, ich bin oben, hier, auf dem Aconcagua, dem höchsten Gipfel Amerikas!Noch dazu mutterseelenallein und der Erste des Tages!Freude und der Stolz bewegen mich jetzt ungemein und verdrängen für einige Momente meine körperlichen Leiden. Neben dem Gipfelkreuz finde ich übrigens ein auf deutsch beschriftetes Banner (siehe Foto oben). Da von den Begehern der Normalroute definitiv niemand vor mir oben gewesen sein kann, gibt es für mich zwei Theorien: entweder erreichte eine Gruppe über einen der anderen Zustiege vor mir heute schon den Gipfel, oder aber dieses Banner stammt von gestern. Da es gestern bereits windstill war und da die anderen Zustiege zum Gipfel vermutlich zeitraubender sind, tendiere ich zur Vermutung, dass dieses Banner von gestern stammt. Aber vielleicht hilft ja der Segen des Internet, den Sachverhalt nachträglich aufzuklären ;-)!

Es ist immer noch windstill, doch das Wetter droht umzuschlagen. Ich komme gerade noch dazu, zuzusehen, wie sich die Südwand gegenüber zunebelt. Hastig schieße ich ein paar Bilder in die Runde. Dort, wo das Wolkengebräu noch nicht hingezogen ist, erscheint die Luft weiterhin trüb, doch ich erhasche noch eine Aussicht. Innerhalb von Minuten verschlechtert sich die Situation jedoch, und leichter Schneefall setzt ein. Ich stehe immer noch völlig allein auf dem Gipfel, die mir Nächstfolgenden befinden sich, wenn auch auf Sichtkontakt, doch noch eine gute Aufstiegsstunde unter mir. Mir ist hundeelend, ich fühle mich schwach und nehme nun auch wahr, dass mir der Schädel brummt. Nach 25-minütigem Gipfelaufenthalt beschließe ich, abzusteigen. Erstens hat es nun schon fast komplett zugezogen und zudem plagt mich die Befürchtung, dass sich mein Zustand verschlechtern und ich dann vielleicht nicht mehr selbständig absteigen könnte. Das Einzige, was jetzt noch helfen kann, ist die rasche Reduzierung der Höhe.

Die Canaleta ist auch im Abstieg nicht sonderlich angenehm. Man muß ständig aufpassen, in diesem unbequemen Gelände nicht zu stolpern und sich dabei möglicherweise noch zu verletzen, was im geschwächten und übermüdeten Zustand nur allzu leicht passieren könnte. Weiter unten treffe ich Richard aus der Gruppe der Südafrikaner. Auch er sieht nicht mehr ganz so frisch aus. Ich falle ihm um den Hals: "This was the hardest thing I´ve ever done in my life! I´m really fucked up!" Er soll mir seine Empfindungen bei diesen meinen Worten an ihn zu einem späteren Zeitpunkt noch mitteilen ...

Viele Leute kommen mir noch entgegen. Manche von ihnen werden ebenfalls den Gipfel noch schaffen, manche nicht. Doch eines soll sich später noch bestätigen: ich war der Einzige an diesem 14. Januar, der oben noch eine Sicht gehabt hat.

In der Traversa verlockt ein riesiges, steiles Schotterfeld zu einer Abkürzung direkt hinunter ins Nido. Die Schotterflanke ist landschaftlich völlig unattraktiv und in der Begehung mühsam und unangenehm, doch man kann dabei gut zwei Stunden sparen. Hat man sich jedoch einmal dafür entschieden, dann gibt es kein Zurück mehr, denn diese steile Flanke wird man in diesen Höhen ganz sicher nicht mehr emporklettern. Man lässt dabei auch alle Zwischenlager aus und damit die eventuelle Möglichkeit eines Notbiwaks in einer der dortigen Biwakschachteln. Die optische Wahrnehmung täuscht zudem über das wahre Ausmaß dieser Flanke hinweg. Doch für mich zählt nur noch Eines: so schnell als möglich von der Höhe herunterkommen und die Qualen mit Erreichen des Nido, des schützenden Zeltes und des wärmenden Schlafsacks hinter mich zu bringen. Also runter hier!Ich habe im Aufstieg keine Bilder gemacht, und wollte das eigentlich im Abstieg nachholen. Mit meiner Entscheidung verzichte ich somit auf selbstgemachte Fotos von der Anstiegsroute Nido - Gipfel.

Als ich völlig fertig im Nido unten ankomme, stehen am Lagereingang zwei Guardaparques, die mich zu sich rufen. Sie fragen mich, ob mit mir alles in Ordnung sei, ob ich auf dem Gipfel gewesen sei, ob sich noch viele Personen oben befänden und was dort oben mit dem Wetter los sei. Als ich zur Seite blicke, schaue ich direkt in die Kamera des Nacional Geografic. OK, vielleicht sehen mich ja nun eines Tages meine Verwandten in Mexiko im Fernsehen :-))

Es ist jetzt gegen 14 Uhr Nachmittags. Ich schaffe es gerade noch, ein Loch in den benachbarten See zu hacken und mir eine Kanne heißen Wassers zu kochen. Dann verkrieche ich mich in den wärmenden Schlafsack. Ich verspüre keinen Hunger und habe noch viel weniger Lust, mir irgendwie die Mühe zu machen, den Kocher anzuschmeißen und mit Kochen zu beginnen. Ich verbleibe bis am nächsten morgen im Schlafsack liegend im Zelt und fühle mich wie krank vor Erschöpfung. Nach der Gewalts-Eintagestour zum Yala-Peak vergangenen Mai im Langtang zusammen mit meinem Freund Valerij erging es uns genauso. Der Unterschied ist, dass wir damals Leute um uns hatten, die uns umsorgten. Jetzt hänge ich hier eben allein ab ;-)

Der Schneefall hat sich verstärkt, das Nido ist winterlich weiß geworden, und der Aconcagua-Gipfel bleibt komplett vom Nebel verschluckt. Ich bin gottfroh, jetzt wieder unten zu sein. Ich habe es geschafft, mir geht es wieder verhältnismäßig gut, ich befinde mich in Sicherheit und brauche jetzt auch nicht mehr einen akuten Ausbruch der Höhenkrankheit zu befürchten. Einfach liegen, ausruhen, schlafen, dösen, gar nichts tun. Das höchste der Gefühle ist, einen Schluck heißen Wassers zu schlürfen, oder mal eben den Zelteingang zu öffnen, um zu spicken, wie´s draußen gerade ausschaut - allerdings, ohne dabei den warmen Schlafsack zu verlassen ...

Am 14. Januar 1897 erreichte der Schweizer Matthias Zurbriggen als erster Mensch den Gipfel des Aconcagua. Der Zufall wollte es so, dass auch mir an einem 14. Januar der Gipfel geglückt ist.

15.01.2010

Recht früh packe ich meinen Krempel zusammen und steige ab nach Mulas. Die Landschaft ist weiß ringsum, doch der Neuschnee behindert den Abstieg nicht, er ist gerade mal knöcheltief. Bis ich Mulas erreiche, ist er dort schon größtenteils wieder abgeschmolzen.

Um 13.30 begebe ich mich zum Mittagessen, immerhin habe ich seit geschlagenen 34 Stunden nichts mehr zu mir genommen und definitiv zu wenig getrunken. All das hole ich jetzt nach.

Der Aconcagua war in den frühen Morgenstunden fantastisch anzusehen, übertüncht mit Neuschnee, doch der Anblick währt nicht allzulange, denn ab den fortgeschrittenen Morgenstunden verschwindet der Gipfel vollkommen hinter einer Nebelwand. Das Gewölk verdichtet sich mehr und mehr, und abends beginnt es erneut zu schneien.

16.01.2010

Ich verabschiede mich heute von meinen Freunden aus Berlin, die im Übrigen für 18.01. einen Gipfelversuch planen. Um 10.40 h mache ich mich auf den beschwerlichen Rückmarsch. Beschwerlich erstens, weil ich nun wieder das gesamte Gepäck auf dem Rücken trage und zweitens, weil ich ohne Zwischenübernachtung in Confluencia an einem Tag bis Puente del Inca hinausmarschieren möchte.

Bis Confluencia läuft es mir eigentlich ganz gut, ich kann mich nochmals an der atemberaubenden Landschaft des Horconestales erfreuen. Kurz vor Confluencia muss ich zur kleinen Brücke über den Rio Horcones Inferior ab- und dann heftig steil auf der anderen Seite wieder ansteigen. Ich marschiere am Lager vorbei, obwohl ich nun deutliche Anzeichen von Erschöpfung spüre. Die Fortsetzung des Weges wartet mit vielen kleinen Gegenanstiegen auf, welche auf mich nun kräftezehrend und demoralisierend wirken. An der Laguna Horcones muss ich mich bei den Guardaparques abmelden, ich bin jetzt reichlich am Ende. Anstatt bis zur Strasse weiterzugehen, verbleibe ich diesmal aber auf dem Maultierpfad, wie es mir der Bergführer Gordo geraten hat. Der Maultierpfad führt nämlich bis hinunter nach Puente del Inca. Er ist kürzer und ich vermeide zu guten Schluss eine leidige Teerdacklerei.

Ich erreiche Puente del Inca um 18.20 h, und zwar buchstäblich auf den Felgen. Ich gebe diesmal der Pension "El Nico" der Hostería "Puente del Inca" den Vorzug. Nicht unbedingt, weil es dort billiger ist oder weil es mir in der Hostería nicht gefallen hätte, sondern einfach deswegen, weil ich etwas Neues ausprobieren möchte. Die Pension befindet sich im Gebäude des ehemaligen Bahnhofs und ist eine typische, heimelige Unterkunft für Budgetreisende. Mit Hans, einem Rumäniendeutschen und Roberto, dem Südtiroler (Mitarbeiter der Kölner Hütte) habe ich zwei unterhaltsame Mitbewohner im Zimmer. Wir kommunizieren alle drei auf spanisch.

Die erste Dusche seit meinem Aufbruch in Puente wird buchstäblich zelebriert, die Entfernung des Beinah-Vierzehntagebartes hingegen bereitet reichlich Mühe. Und zur Belohnung des Tages gönne ich mir noch ein riesiges "Lomo Aconcagua" plus einem Liter Coca Cola in der Imbissstube vorne an der Straße. Der uralte, riesige Berhardiner der Besitzer scheint hier offensichtlich zur Touri-Attraktion avanciert zu sein. Eine wunderbare Abendstimmung bietet sich mir später unten an der Naturbrücke. Und natürlich bläst der Wind wieder mal aus vollen Rohren ...

17.01.2010

Morgens um 10 steige ich in den Bus hinunter nach Mendoza. Neben mir sitzt eine junge Dame aus Dänemark, mit der ich mich anregend unterhalte. Als wir bereits das Flachland um Mendoza erreicht haben, blicke ich erwartungvoll aus dem Busfenster: mein nächstes Ziel, der Cordón del Plata und dessen Eisgipfel erheben sich wie eine gigantische Mauer über der Ebene.

In Mendoza komme ich in der Hostería "Campo Base" unter, welche mich aber enttäuscht. Im Lonely Planet wird diese Unterkunft als die Szenenbörse der Andinisten in Mendoza gepriesen. Ich bin der einzige Bergsteiger hier, und das Publikum ist durchschnittlich um zwei bis drei Dekaden jünger als ich. Auch das Personal entbehrt bezüglich Infos über Bergsteigen oder Trekking in der Region jeglicher Kompetenz. Es werden nur die üblichen Pauschalausflüge, wie Rafting, Jeep- und Reitausflüge, Weingutbesichtigungen usw. angeboten.

18.01.2010

Relaxen in Mendoza. Ich organisiere noch telefonisch den Transport für morgen hinauf nach Vallecitos. Zwei Unterkünfte dort sind mir von verschiedenen Seiten empfohlen worden: Das Refugio Mausy und das Refugio San Bernardo. Da das San Bernardo den Abholservice schon ab Mendoza anbietet, rufe ich aus dem Stegreif dort an. Die kleine Skistation Vallecitos befindet sich auf etwa 2700 Metern Höhe und ist Ausgangspunkt für verschiedene Besteigungen auf dem Cordón del Plata. Busanschluss dorthin besteht nur bis Portrerillos, von wo aus man sich aber vom Personal der beiden obengenannten Refugien abholen lassen kann.

Der Cordón del Plata ist von Mendoza aus schnell und recht unproblematisch zu erreichen. Es ist die nächstgelegene Destination von der Stadt aus, welche hohe Bergziele bis nahe an die 6000er-Grenze bietet. Da auch viele Mendocinos (Bezeichnung für die Einwohner von Mendoza) und auch Argentinier aus entfernteren Regionen der Leidenschaft des Bergsteigens verfallen sind, ist dieser Teil der Anden ungewöhnlich gut erschlossen und wird, insbesondere an den Wochenenden, auch häufig besucht. Die Besucherzahlen bleiben jedoch weit unter denen, wie man sie vom Aconcagua-Normalweg her kennt. Erst kürzlich ist ein umfangreicher Führer zu diesem Gebiet erschienen, der sowohl in spanischer, als auch in englischer Sprache in den Buchläden von Mendoza zu bekommen ist. Ein spanischsprachiges Exemplar ist übrigens zur Ansicht im Refugio San Bernardo vorhanden. Ich selbst habe mir in Mendoza noch die neu erschienene Karte vom Cordón del Plata im Maßstab 1:40.000 gekauft.

Beim Bummeln durch die Stadt treffe ich Richard und Smilo aus der Gruppe der Südafrikaner wieder. Richard scheint seinen Gipfelerfolg kräftig mit Alkohol zu begießen, seine Augen leuchten schon nachmittags. Offensichtlich hat er sich aber auch leichte Erfrierungen an den Fingerkuppen zugezogen. Später spaziere ich noch hinaus zu dem etwas abgelegenen Parque General San Martín. Dieser Park is ziemlich weitläufig und ein sehr angenehmes Naherholungsgebiet.

19.01.2010

Nach dem Frühstück werde ich von Leticia abgeholt. Leticia bewirtschaftet zusammen mit ihrer Schwester und ihrem Vater das Refugio San Bernardo in Vallecitos. Der Beginn der Fahrstrecke ist mir inzwischen bestens bekannt, denn bis Portrerillos und dem gleichnamigen Stausee ist sie identisch mit der Route nach Puente del Inca. Ab Portrerillos verlassen wir die Hauptroute jedoch und folgen einer holprigen Schotterpiste. Diese Auffahrt durch das Tal des Rio Blanco ist sehr beeindruckend. Wir schrauben uns Serpentine für Serpentine aufwärts, herrliche Blicke über die grünen Hügel der Vorkordillere und in die Weite des Flachlandes dahinter tun sich auf, aus den Lautsprecherboxen tönen die Red Hot Chili Peppers - ich bin in Hochstimmung!

Das Refugio San Bernardo befindet sich am Rand der Piste in etwa 2700 m Höhe. Der Ort Vallecitos besteht eigentlich nur aus ein paar solcher Refugien oder Ferienhäuschen, die sich in mal mehr oder mal weniger großen Abständen entlang der Straße verteilen, sowie weiter oben einer hotelähnlichen Unterkunft für Skiurlauber direkt neben dem (einzigen) Sessellift. Vallecitos ist ein sehr kleines Skigebiet, das im Übrigen auch nicht unbedingt zu den schneesichersten Argentiniens gehören soll. Das San Bernardo ist eine idylische Berghütte im Alpenstil, Einrichtung und Ausstattung vermitteln dem Gast eine schlichter Gemütlichkeit, drinnen duftet es rustikal nach Kaminfeuer. Es verfügt über einen großen und einen kleineren Aufenthaltsraum, Letzterer bietet sogar gemütliche Polstersessel als Sitzmöglichkeit. Selbst eine geschmackvolle Sitzecke um einen Holzständer mit erlesenen Mendoza-Weinen ist vorhanden.

Leticia und ihre Schwester managen das Haus derzeit allein, der Vater wird erst zum Wochenende eintreffen. Beide sind sehr nette, intelligente, junge Frauen mit viel Verständnis und Begeisterung für die Berge und für die Musik. Abends musizieren sie auch selbst mal gerne auf der Gitarre.

Ich lasse es zunächst gemütlich angehen, trinke einen Kaffee, unterhalte mich ein wenig mit den jungen Damen, esse mit ihnen zu mittag. Leticia ist angehende Bergführerin, sie besucht die Andinistenschule in Mendoza. Von Leticia bekomme ich übrigens eine beträchtlich vom bislang Gehörten abweichende Version über die Umstände beim Drama um den mendozinischen Bergführer Frederico Campanini (www.spiegel.de/video/video-5424.html), welcher vor wenigen Jahren auf dem Gipfel des Aconcagua den Tod gefunden hatte. Das von der angeblichen Rettungsmannschaft gedrehte Video hatte weltweit für großes Aufsehen gesorgt und sogar die argentinische Staatsanwaltschaft auf den Plan gerufen.

Den Tag will ich nicht ohne ein bißchen Bewegung an der frischen Luft verstreichen lassen. Um 15.10 h breche ich zu einer Wanderung auf. Eigentlich sollte man für Unternehmungen auf dem Cordón del Plata den Vormittag preferieren, da es nachmittags meistens zuzieht. So auch jetzt - ich marschiere direkt in die dickste Nebelsuppe hinein. Ich steige das Tal unterhalb der Lomas Coloradas aufwärts. Die ersten beiden Stunden begleiten mich dabei noch die Masten des Skilifts. Ich marschiere durch eine monotone, öde Geröllwüste. Bei gutem Wetter dürften sich hier allerdings sensationelle Ausblicke auf die eisige Südwand des Cerro Augustín Álvarez (5126 m) im Talabschluss auftun. Jetzt aber ist hier überhaupt nichts zu sehen, es ist nur ein Wandeln im kalten Nebel durch eine gespenstische, trostlose Einöde. Auf dem Rückmarsch begegnet mir ein Guanaco, außerdem kann ich mehrere Exemplare einer Wildhasenart ausmachen, die mit ihren langen, buschigen Schwänzen auffallen. Erst nach 20 Uhr kehre ich, abermals hungrig, wieder die urchige Gemütlichkeit des Refugios zurück.

20.01.2010

Der Cordón del Plata bietet Andinisten eine Fülle von Möglichkeiten, ihre persönlichen Gipfelbücher um 4- oder 5000 Meter hohe Gipfel anzureichern. Darunter befinden sich auch viele technisch einfache Ziele, allen vornweg der Cerro del Plata, höchste Erhebung im Cordón. In alten argentinischen Karten wurde dessen Höhe mit über 6300 Metern völlig überzogen wiedergegeben. In der weiter oben von mir erwähnten neuen Karte ist die Höhe mit 5938 m angegeben - gemäß meiner späteren Feststellungen vermutlich zutreffend, eher ist er vielleicht noch etwas niedriger.

Der Cerro del Plata ist mir seit einigen Jahren schon ein Begriff, seit ich auf der Seite des vor einigen Jahren tödlich verunfallten Bergsteigers Jürgen Brenneis auf eine gute Beschreibung dessen eigener Besteigung des Gipfels gestossen bin. Von Vallecitos aus ist dieser Berg in zwei oder drei Tagen machbar.

Um 10 Uhr begebe ich mich auf den Weg zum Basislager Salto de Agua (ca. 4150 m). Blödsinnigerweise gerate ich zunächst in ein semitrockenes, schluchtähnliches, enges Nebental. Ich vermute schon recht früh, dass etwas wohl nicht stimmen kann, doch gehe ich zunächst weiter. Als ich dann endgültig einsichtig und mir auch darüber im Klaren werde, wo ich mich denn nun befinde und wo ich eigentlich hin müsste, steige ich zur Korrektur schwer keuchend und gottslästerlich fluchend eine steile Flanke empor. Über mir gibt eine Herde von Guanacos wiehernde Laute von sich, fast schon scheint es mir, als würden die Tiere mich auslachen. Ich konnte im San Bernardo zwar einige unnötigen Dinge zurücklassen, doch auf die meisten Ausrüstungsgegenstände kann ich bei dieser Tour eben doch nicht verzichten, weshalb ich wiederum mit einem sauschweren Monstrum von Rucksack unterwegs bin. Als ich die Kammhöhe erreiche, ist die Sache klar: unter mir breitet sich eine herrlich grüne Aue aus, auf der malerisch Pferde grasen und ein paar bunte Zelte aufgestellt sind. Es muss sich hier um die in der Karte bezeichneten Las Vegas Superiores handeln. Es dauert noch ein wenig, bis ich durch lästiges Dornengestrüpp und steilen Schotter hindurch den Hang auf der anderen Seite wieder hinabgestiegen bin und endlich den mehr als eindeutigen Pfad hinauf zum Basislager erreiche. Ich habe durch den Verhauer nahezu 3 Stunden vergeudet und eine Unmenge an Energie für die Katz´verpulvert, dennoch bin ich jetzt einfach nur erfreut und froh, nun endlich auf dem richtigen Weg zu sein.

Dem Bach aufwärts gefolgt, komme ich zunächst zum Biwakplatz Piedra Grande (3551 m). Ein Zelt steht dort, der Besitzer will sich morgen am 4224 m hohen Cerro Adolfo Calle versuchen. Vor mir türmt sich eine riesiger Moränenrücken auf, dahinter wölbt sich ein Schuttbuckel empor, unter dem blankes Eis hervorschimmert. Es ist das Gletschertor des Glaciar Stepanek. Jetzt steigt der Pfad steil die Moräne hinauf. Hier überhole ich mehrere Kleingruppen, die jeweils mit ein oder zwei bereits reichlich erschöpften Personen unterwegs sind. Linkerhand braust schließlich unversehens ein steiler Wasserfall die Felsen hinunter. Dieser Wasserfall ist Namensgeber für das Basislager Salto de Agua. Es stehen bereits etwa 8 bis 10 Zelte oben. Ich bin mir zunächst nicht ganz sicher, ob cih hier schon das eigentliche Basislager erreicht habe, oder ob sich dieses doch noch ein Stück weiter oben befindet. Daher gehe ich ein paar hundert Meter weiter nach hinten, wo scih ebenfalls günstige Biwakplätze anbieten und wo bislang nur ein weiteres Zelt steht. Der klare Gebirgsbach sprudelt auch hier günstig direkt am Lagerplatz vorbei. Es ist inzwischen 19 Uhr geworden, als mein Zelt endlich steht. Der Aufstieg hat mich doch erheblich Kraft gekostet, doch jetzt endlich kann ich genießen und mich mit der eindrücklichen Dramatik meiner Umgebung befassen.

Das Lager Salto de Agua befindet sich in einem Kessel, überragt von den mächtigen Ostwänden der 5000er Cerro Vallecitos und Cerro Rincón, sowie deren Vasallen - der Blick gen Westen, woher ich gekommen bin, offeriert eine sensationelle Sicht über die blass-grünliche Hügellandschaft der Vorkordilliere hinweg ins mit dem Dunst zerfließende Flachland hinaus. Tiefblau leuchtet zwischen ins Hügelland ausufernden Bergketten die Seefläche des Lago Portrerillos. Der Höhenunterschied zwischen meinem Aufenthaltsort und dem dunstigen Flachland beträgt satte 3600 Meter, und das auf eine relativ kurze Distanz. Sollte ich morgen tatsächlich, wie vorgesehen, den 5938 m hohen Gipfel des Cerro del Plata und somit den höchsten Punkt des Cordón del Plata erreichen, dann wird sich diese Höhendiskrepanz auf unglaubliche 5500 Meter erhöhen, bei einer Luftliniendistanz von vielleicht gerade einmal 20 oder 30 Kilometern!

21.01.2010

Die Mädchen im Sand Bernardo haben es mir schon gesagt, und die vergangenen zwei Tage haben es mir bestätigt, das Wetter auf dem Cordón folgt meist einem Schema: morgens klar und gut, mittags oft Wolken und Wetterverschlechterung, und das scheint hier am Cordón del Plata noch mehr Gültigkeit zu haben, als am Aconcagua. Aufgrund der geographischen Gegebenheiten kann man von einer Oststaulage sprechen. So sehe ich mich abermals genötigt, morgens früh raus zu müssen. 5.40 h zeigt die Uhr, als ich das Zelt verlasse und mich in das Dunkel einer unwirtlichen Eiseskälte begebe. Anders als am Aconcagua scheine ich hier völlig allein unterwegs zu sein, ich sehe keine weitere Lampe in der Finsternis brennen. Ein bißchen wundert mich das schon, da sich doch eine gewisse Anzahl von Personen hier oben befindet, aber offenbar hegen nicht alle Besteigungsabsichten, so wie ich. Vor dem Abmarsch hinein in das Dunkel des Aufstiegskars drehe ich mich noch einmal um. Fantastisch, wie die Lichter des Großraumes Mendoza unter mir leuchten, wo sich nun oberhalb dieser Skyline der Horizont zu verfärben beginnt. Ich bin gottfroh, als es endlich Tag wird, damit ich wenigstens etwas in die Ferne blicken und den Routenverlauf einsehen kann. Ich passiere ein einzelstehendes Zelt und kann nun gut zum Sattel aufschauen, welcher den Cerro Vallecitos von der Route zum Cerro del Plata trennt. Dort oben, schon fast unmittelbar unterhalb des Sattels, kann ich dann plötzlich zwei weitere Personen ausmachen. Die visuelle Distanz trügt, mir scheint es eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis ich endlich in etwa den Geländepunkt erreicht habe, wo ich die beiden vor mir Gehenden gesehen habe. Ich spüre wieder deutlich die Höhe, trotz bester Akklimatisierung von meiner Aconcagua-Besteigung her. Im Sattel angekommen, wende ich mich nach links, die Fortsetzung des Aufstiegs scheint mir eindeutig, denn er führt um die Nordwestflanke des Pico del Plata herum, wlcher mit seinen 5818 Metern seines Zeichens der zweithöchste Gipfel des Cordón del Plata ist. Im Westen, aus dem umliegenden Gipfelmeer weit herausragend, steht solitär der Aconcagua.

Ich habe den Sattel vielleicht um 100 Höhenmeter überschritten, als ich mich nochmals umdrehe. Eine vor wenigen Minuten noch harmlos scheinende Wolkenfront hat sich jetzt dramatisch aufgebläht. Die beiden Bergsteiger, die ich vorhin noch die Flanke des Vallecitos hinaufsteigen sah, sind wie vom Erdboden verschluckt. Sie scheinen angesichts der Wolkenfront eiligst den Rückzug angetreten zu haben. Sodele, jetzt bist du wieder mal alleine, denke ich und überlege, ob ein Weitergehen für mich noch verantwortbar ist. Ich würde mir den sicheren Abstieg auch noch bei aufziehendem Nebel zutrauen, deshalb lasse ich mich nicht beirren und setze meinen Aufstieg fort. Von wegen, vom Aconcagua kommen und den Plata auf die Schnelle noch mitnehmen - dieser Berg fordert nochmal alles von mir, denn schließlich gehe ich hier nochmal nahe an die 6000er-Marke, zudem mit reichlich Höhenmetern vom Basislager aus! Ein paar hartgeforene Firnfelder liegen in der Aufstiegsroute. Sie lassen sich teils umgehen, oder dort, wo sie halbwegs flach sind, ohne Hilfe von Steigeisen, wohl aber durch Abstützen mit dem Pickel, überqueren. Die Eisen habe ich dennoch fürsorglich mit im Rucksack. Hinter mir veranstaltet das Wetter ein wahres Spektakel. Die Wolkenfront aus Osten drängt mit aller Macht gegen die Felsbarriere des Cordón, doch sie vermag diese natürliche Staumauer nicht zu überwinden. Stattdessen türmt sie sich mächtig in die Höhe. Mir erscheint das Ganze, als würden riesige Tsunamiwelllen gegen ein gigantisches Felsenriff klatschen, sich daran brechen und weit emporspritzen.

Auch der Cerro del Plata steht natürlich in diesem Felsenriff, dessen Absturzkante ich mich mit der Gipfelbesteigung nähere, so daß der Nebel jetzt schon fast zu mir überschwappt. Der Weg bleibt weiterhin klar, es handelt sich um einen deutlich ausgetretenen Pfad durch Schottergelände. Doch ich muss kämpfen, auch dieser Berg raubt mir buchstäblich den Atem. In einem von Nebelschwaden umwabbelten großen Firnfeld taucht vor mir plötzlich das Wrack eines kleinen Hubschraubers auf. Wer dieses Wrack sieht, kann sich glücklich schätzen, denn von dort an trennen ihn nur noch wenige Meter vom Gipfel! Um 13.10 h stehe ich oben. Die Sicht gen Osten ist total zugenebelt. Schade, denn genau diese soll von hier aus sensationell sein und die Dimensionen dieses Berges aufzeigen, da man dann von 5938 Metern Höhe bis ins 500 Meter hohe Flachland hinaussehen kann. Doch das Panorama gen Westen ist es ebenfalls wert: dort drüben, jenseits des schluchtartigen Tales Quebrada de la Jaula, türmt sich der Cordón de la Jaula auf. Über diesen konnte mir Leticia einige Informationen geben, da ein paar Freunde von ihr dort drüben schon mal unterwegs waren. Es handelt sich um ein völlig abgeschiedenes, unerschlossenes Gebirgsmassiv. In den Anden mag das sicher nichts ungewöhnliches sein, doch wenn man bedenkt, dass der hier doch noch gut besuchte Cordón del Plata nur durch ein Tal von einem derart wilden und praktisch unentdeckten Terrain getrennt ist ... Übrigens sei man gerade dabei, den einen oder anderen Gipfel dort drüben zu benennen. Einer von ihnen trägt bereits den Namen Cerro Campanini, benannt von seinen Freunden nach dem auf dem Aconcagua-Gipfel verstorbenen Frederico Campanini. Das Massiv dort drüben vermittelt jedenfalls einen dramatischen und anspruchsvollen Eindruck. Eine Wandflucht aus mehreren Gipfeln erinnert mich übrigens stark an die Ostansicht der Lauteraartürme in den Berner Alpen.

Gipfelkreuze gibt es auf dem Cerro del Plata gleich deren drei, aber alle nicht höher, als jenes kleine auf dem Aconcagua. Als ich den Abstieg antrete, wird der Herr der Anden gerade vom Nebel erfasst und bleibt für den Rest meiner Tour darin verschollen. Die Nebelwand wabbelt immer noch an der Mauer des Cordón. Ich kann es kaum glauben, dass sie nicht schon längst das Gelände jenseits des Kammes erfasst hat. Bis ich den Sattel wieder erreiche, bleibt die Situation so, wie sie ist. Ab dem Sattel heißt es dann für mich Abschied nehmen von der (kalten) Sonne und dem faszinierenden Panorama im Westen, denn nun werde ich genau in diese Nebelküche abtauchen, worin sich schließlich mein Basislager Salto de Agua befindet. Es ist, wie ich gedacht habe: ich finde den Rückweg auch problemlos im Nebel, jetzt eben ohne Aussichten. Um 15.45 h bin ich wieder zurück im Lager. Niederschläge oder gar Gewitter bleiben aus, doch der Nebel hält sich zäh und schafft eine leicht schaurige Stimmung. Inzwischen bin ich in meinem leicht vorgeschobenen Lager allein, das Zelt von gestern ist verschwunden. Der Cerro Vallecitos hat es mir angetan. Eigentlich hätte ich die Situation ausnützen sollen, die vom Sattel aus verbleibenden etwa 350 Höhenmeter noch anzugehen. Ich fühlte mich jedoch nach dem Plata für einen weiteren Anstieg in diesen Höhen ziemlich entkräftet, zumal doch ständig die Unsicherheit darüber herrschte, was denn nun mit den Wolken bzw. dem Wetter passieren würde. Die Aufstiegsroute zum Vallecitos verlief fast exakt neben der Wolken-Schönwetter-Trennlinie. Somit beschließe ich, es morgen vom Basislager aus nochmals anzugehen, wobei mir vor den erneuten Aufstiegsmetern bis in den Sattel hinauf jetzt schon graut!

22.01.2010

Diejenigen, die mich kennen, werden wissen: ein Günter Joos lässt kaum mal einen Gipfel aus, wenn eine gute Chance dafür besteht, zumal es sich in diesem Fall um einen 5000er handelt - und die bekommt man ja nicht alle Tage vorserviert :-))

Es ist so gegen halb sechs Uhr morgens, Zeit zum Aufstehen, wenn ich ernsthaft dem Vallecitos noch auf den Leib rücken will. Ich liege im warmen Schlafsack und die Zeltwand vibriert wieder einmal ohrenbetäubend im brausenden Wind. Dunkelheit, Kälte, Wind, Einsamkeit, als Wegeproviant nur ein paar Kekse, und nicht zuletzt die mich momentan wenig berückende Aussicht auf eine Nudelsuppe zum Frühstück lassen diesmal meine Moral einknicken. Der Gedanke an die bevorstehende Schinderei, über die selbe Route, wie gestern bis in den Sattel auf ca. 5100 m vorzudringen, trägt das Seine noch dazu bei. Ich beschließe kurzum, mich nochmals umzudrehen, und nicht aufzustehen, bis dass die ersten Strahlen der Morgensonne den Innenraum meines Zeltes langsam erwärmen. Ja, ich bin satt, meine Reise zum Aconcagua hat mir den gewünschten Erfolg gebracht und mir zudem noch drei zusätzliche, wunderschöne 5000er-Gipfel ermöglicht. Ich rechtfertige mich vor mir selbst, indem ich mir einrede, der Wind würde dort oben sicher miserable Bedingungen schaffen.

Um 7.15 beginne ich tatsächlich damit, mir eine Suppe zu kochen. Um diese Zeit ist mein Magen doch schon etwas bereitwilliger für eine derartige Nahrungsaufnahme. Die verbliebenen Kekse und der Rest Trockenmilch werden nun ebenfalls aufgebraucht. Der Tag beginnt wunderschön, es ist sonnig, aussichtsreich und nun sogar windstill. Fast schon bereue ich mein frühmorgendliches Kneifen, doch vielmehr noch freue ich mich jetzt auf einen gemütlichen Abstieg durch das herrliche Tal und die Rückkehr ins heimelige Refugio San Bernardo, zu meinen Mädels dort, die mich köstlich bekochen werden, und sicher werden dort heute auch neue Leute sein, da Freitag ist und sich an den Wochenenden immer einige Bergsteiger dort einfinden.

Es ist 9.05 h, als ich das Basislager Salto de Agua verlasse und das steinige Kar hinuntersteige. Um 11 Uhr erreiche ich die grünen Auen von Vegas Superior, wo ich eine ausgiebige Rast einlege, dösend mit dem Kopf auf dem Rucksack und mit blinzelnden Augen die einen oder anderen Ausflügler grüssend, die mit leichten Tagesrucksäcken hier oben vorbeimarschieren. Was für ein Ort: munter sprudelt der glasklare Bach durch die sattgrüne Wiese, auf der Pferde mit winddurchkämmten Mähnen grasen. Ein Gaucho reitet vorbei, die Zigarette klebt lässig im Mundwinkel, während er, zwei Packpferde vor sich hertreibend, mit Pfiffen und Rufkommandos talaufwärts galoppiert. Nur die zugehörige Bergkulisse mit den Wänden von Rincón und Vallecitos ist jetzt schon durch die bereits vorgezogenen Wolken behelligt. Ein Katzensprung ist es von hier bis hinab zu den Refugien von Vallecitos. Man braucht nur dem Pfad entlang des Baches abwärts zu folgen, wo man die Straße in einer ihrer oberen Kurven trifft. Ich schüttle nur noch den Kopf ob meiner abstrusen Odyssee gestern auf dem Hinweg ...

Dennoch möchte ich den Zugang in den Aufstiegspfad nach Salto de Agua noch etwas detaillierter wiedergeben, damit potentielle Nachfolger wirklich keine Probleme haben: besagte Straßenkurve befindet sich nur wenig oberhalb der Refugien. Man durchwatet den Rio Blanco genau an der Stelle, wo dieser von einer auffälligen Wasserleitung überbrückt wird. Diese Leitung hatte zur Zeit meines Aufenthaltes ein Leck, weshalb dort munter ein Wasserschwall aus dem defekten Rohr hervorsprudelte. Der Pfad am anderen Ufer ist dann nicht mehr zu verfehlen und folgt dem von Westen her in den Rio Blanco einmündenden Gebirgsbach entlang orografisch links aufwärts.

Im Refugio San Bernardo ist inzwischen eine Gruppe von Österreichern eingetroffen, die sich hier in der Gegend für den Aconcagua akklimatisieren wollen, desweiteren zwei Australier, ein polnischer Bergführer mit seiner Freundin und ein Bergfreund von Leticia, der sich zur Nächtigung später mit Stirnlampe zu einem entfernten Biwakplatz zurückziehen wird. Er unterstützt die beiden Mädchen bei der Vorbereitung eines leckeren Asados. Auch den Vater habe ich noch am Nachmittag kennengelernt. Der Abend wird gemütlich, bei Plauscherei und jeder Menge köstlicher argentinischer Fleisch- und Wurstspezialitäten.

23.01.2010

Heute verlasse ich den Cordón del Plata und das Refugio San Bernardo mit seinem sympathischen Personal. Ein Bekannter des Hauses bringt mich zum Busbahnhof von Mendoza. Es ist kein Problem, dort einen Retiro nach San Luís zu bekommen. Etwa vier oder fünf Stunden bin ich bis dorthin unterwegs, im gewohnt komfortablen Aircondition-Luxusbus. Es ist 18 Uhr, als ich in San Luís eintreffe. Das Städtchen ist, mehr noch als Mendoza, inmitten der in den Sommermonaten brütendheißen Halbwüste der Pampas gelegen, und ebenfalls nur durch seine dichten Baumalleen vor der gnadenlosen Sonne geschützt. Auch die teilweise koloniale Architektur der Häuser und die quadratische Anordnung der Straßen, sowie die quirlige Plaza und das Zentrum lassen Erinnerungen an Mendoza aufkommen, nur scheint es hier weniger touristisch zuzugehen und das Städtchen in seinem Gesamtbild erscheint mir etwas schlichter, aber auch irgendwie wieder authentischer. Auffällig und sehenswert ist noch die beeindruckende Kathedrale am oberen Ende der Plaza Mayor.

Die Fahrt hierher empfand ich als recht eintönig, sie führte überwiegend durch steppenartiges Falchland, die Pampas eben. Teile des Landes sind durch Bewässerung nutzbar gemacht. Zum Schluß der Fahrt taucht am Horizont ein der Vorkordillere ähnelnder, kahler Mittelgebirgszug auf. An dessen Fuß befindet sich San Luís.

24.01.2010

Zusammen mit Geraldo und Carlos möchte ich heute den Nationalpark Las Quijadas besuchen. Dieses wüstenartige Schluchtensystem mit seinen bizarren, rotfarbenen Sandsteinerosionen ist der eigentliche Grund für meinen Zwischenstopp in San Luís. Geraldo und Carlos habe ich gestern bereits kennengelernt. Sie sind, wie ich, Gäste in der örtlichen Jugendherberge. Carlos kommt aus Mendoza und Geraldo, der mit dem eigenen Auto hier ist, wohnt in Buenos Aires. Auch sie machen hier Urlaub. Mit Geraldos Auto und je zwei gefüllter Wasserflaschen pro Person machen wir uns also auf den Weg. Die Fahrt durch die Pampas könnte langweiliger nicht sein. eine schnurgerade Straße führt uns durch eine Einöde, die, wo man auch hinschaut, nur eintöniges Buschwerk zeigt, nicht einen Blickfang gibt diese trostlose Landschaft her. Ab und zu passieren wir die staubige Einfahrt zu einem abgelegenen Gehöft, das war´s. Von was leben denn diese Leute hier draußen?

Am Parkeingang gehe ich als Argentinier, und somit mit ermäßigtem Eintritt, durch. Ich spiele den taubstummen Freund, denn ich hätte mich vor dem Guradaparques allein durch meinen Akzent entlarvt. Wir halten uns etwa drei Stunden im Park auf. Es ist eher ein Spaziergang, als eine Wanderung, doch die Landschaft hier ist beeindruckend. Wir marschieren durch eine Halbwüste aus erodiertem, rotleuchtendem Sandstein, in der sich verschiedene größere und kleiner Schluchten eingefressen haben. Wir erreichen mehrere Aussichtspunkte, die uns einen atemberaubenden Blick auf ein riesiges, von bizarren Sandsteinbergketten umschlossenes Becken zeigen. in so etwa stelle ich mir die Serengethi im Kleinformat vor.

Auf der Rückfahrt trinken wir literweise Mate und unterhalten uns blendend. Bei der Ankunft in San Luís suchen wir einen populären Imbiss in Bahnhofsnähe auf, wo wir riesige Lomos verdrücken. Nachdem ich Abends von einer Visite im Centro und auf der Plaza zurückkehre, schauen wir uns gemeinsam das Endspiel Boca Juniors gegen Rivers an. Sämtliche Herbergsgäste haben sich zu diesem Anlass im Aufenthaltsraum versammelt. Bocas verliert übrigens beim Elfmeterschießen, worüber ganz offensichtlich die Meherheit der Herbergsgäste bestürzt ist ...

25.01.2010

Frühmorgens geht es mit dem "Retiro" (Bezeichnung für Überlandbus mit komfortabler Ausstattung) Richtung Buenos Aires, wo wir nach 14 Fahrstunden eintreffen. Die unendliche Langeweile der Pampas wird unterwegs bald durch flaches, ansehnlicheres Kulturland abgelöst. Dennoch bin ich der Meinung, dass diese Fahrt nicht so attraktiv war, als daß man sie unbedingt tagsüber machen müsste. Mit der Ankunft in Buenos Aires habe ich seit Santiago de Chile den südamierikanischen Kontinent nahezu in der Breite durchquert, also (fast) von der Pazifikküste bis hinüber zum Atlantik, der hier als die gigantische Mündung des Rio de la Plata präsent ist. Zugegeben, hier im Cono Sur hat der Halbkontinent in seiner Ost-West-Ausdehnung doch schon recht abgespeckt. Und noch was Erwähnenswertes: vor gerade mal 11 Tagen befand ich mich noch auf einer Höhe von nahezu 7000 Metern, und hier habe ich inzwischen Seehöhe erreicht! Auch so gesehen hatte diese Reise einiges an Abwechslung zu bieten.

Zwei Tage bleiben mir noch für Buenos Aires. Ich komme im Hotel Garden House unter, eine gute Low-Budged-Adresse für internationale Traveller, welche sich nicht weit vom beliebten Viertel San Telmo entfernt befindet. Eben San Telmo, das Microcentro und Puerto Madero sind die Stadtquartiere, auf die ich meine Spaziergänge beschränke. Gerne hätte ich noch La Boca besucht, doch vielleicht ein andermal ...