Abenteuerliche Besteigung eines der höchsten Berge des zentralasiatischen Pamir
Osch - im Hintergrund das Wahrzeichen der Stadt, der Suleiman-Berg |
frisches Obst gibt´s an jeder Ecke |
auf der Fahrt zum Basislager |
Typisches Dorf am Straßenrand |
die Trans-Alai-Kette rückt ins Blickfeld |
die letzten zwei Fahrstunden sind recht ruppig |
Motorpanne |
das Basislager des Pik Lenin ist erreicht |
diese Jurte im Basecamp birgt eine kirgisische Sauna |
zahlreiche malerische Seen findet man auf Achik Tash |
Adam erobert mit seinem Gesang aserbeidschanische Frauenherzen :-)) |
Valerij im "Badezimmer" |
Pik Lenin |
Achik Tash wird auch "Edelweißwiese" genannt |
kirgisische Hirten bei der Arbeit |
Pik Petrowski |
das dem Lenin bernachbarte Massiv macht ebenfalls Eindruck |
Petrrowski - bis hierher war´s eine Wanderung .... |
... im Firn wird´s zu einer Hochtour |
von Süden nähert sich wetterbedingtes Ungemach ... |
Blick vom Hauptgipfel zurück über den Verbindungsgrat zum Nebengipfel |
der Hauptgipfel |
die traditionelle Kopfbedeckung wird in Kirgistan noch häufig getragen |
wir treffen Ihor, einen guten Freund aus der Heimat, im Basislager |
der Umzug ins ABC beginnt |
weder Rind, noch Yak - die Tibeter nennen ihn Dzo |
der Aufstieg entlang des Leningletschers |
das ABC (Lager 1) ist erreicht |
die gewaltige Nordflanke des Pik Lenin |
der erste Tag auf dem Gletscher |
Lager 2 |
solche Sichtbedingungen herrschten fast immer an den Nachmittagen |
der Schlafsack - einziger wirklich gemütlicher Ort in den Lagern 2 und 3 |
der Eisstrom des Leningletschers |
Gepäcktransport per Pferd ist nur bis zum ABC möglich |
Valerij mit Nicolai Pawlowitsch während einer kleinen Pause |
drohende Serakabbrüche und Lawinengefahr aus der Nordflanke heraus machen den Gang durch die "Pfanne" zum objektiv gefährlichsten Part der Lenin-Besteigung |
der Schein trügt - der Schlusshang zur Razdelnaya ist weitaus steiler, als dieses Foto suggeriert |
der Morgen leuchtet - wir sind auf dem Weg zum Gipfel |
das "Messer" sieht von hier aus niedlich und harmlos aus - dem ist nicht gar so! |
Blick nach Süden, in den tadjikischen Pamir |
Pik Korschenewskaya (links) und Ismoil Somoni (ehem. Pik Kommunismus, rechts) |
auf dem weit sich hinziehenden Gipfelplateau |
am Gipfel |
die Serben waren die einzigen, welche die Nacht vor der Besteigung im Lager 4 auf 6400 m zubrachten |
Valerij während des Rückzugs vom Gipfel |
am nächsten Morgen im Lager 3 |
Gipfelfeier im ABC |
Abschied vom ABC |
Valerij mit Sergeij und Dima auf dem Traveller´s Pass |
das Basecamp hat uns wieder ... |
... und der Berg strahlt schon wieder |
Abschied vom Pik Lenin |
Blick auf Osch vom Suleimanberg aus |
Geselliges Diner bei Valerij´s Tante in Bishkek |
der Yssik Kul - zweitgrößter Bergsee der Welt |
Hotel des Alplagers Ala Archa im Tienshan-Gebirge |
das Aksay-Tal |
die Razekhütte |
dramatischer Hochtalkessel |
Biwakhütte unter der Karona |
Service in der schlichten, aber praktischen Razekhütte |
der Grat zum Gipfel des Utschitel |
ganz schön kalt war´s auf dem Gipfel! |
im Dunst der Ebene liegt die kirgisische Hauptstadt Bishkek |
03.08.2012
Der Flughafen Mana befindet sich gut 30 km außerhalb der kirgisischen Hauptstadt Bishkek. Gegen 5 Uhr morgens war ich gelandet. Svetlana, die Repräsentantin vor Ort meiner Agentur "Pamir Expeditions", hatte dort bereits auf mich gewartet. Sicher ein unschätzbarer Vorteil, mich im Vorfeld einer lokal tätigen Agentur anvertraut zu haben. Keine Taxiabzocke, keine mühselige Hotelsuche, Stattdessen ein praktischer Abholservice, unmittelbare Infos, und, allem voran, einen herzlichen Empfang in einem mir bislang fremden Land. Dennoch geht es mir, wie meist üblich nach Nachtflügen mit Zeitverschiebung: ich bin erst mal groggi, die Freude über meine Ankunft bleibt vorerst noch durch Müdigkeit und durch ein Gefühl von Ausgelaugtheit überlagert. Dennoch beginne ich schon, die ersten Eindrücke des für mich neuen Landes bewusst zu registrieren. Die Ortschaften beiderseits der schnurgeraden Allee sind aus kleinen Einfamilienhäuschen mit Gärten und alten Holzzäunen zusammengewürfelt, deren Wellblechdächer ducken sich unter schattige Bäume. Staubige, wie mit dem Lineal gezogene Sträßchen bilden Trennlinien. Alles erscheint leicht marod, etwas chaotisch, weit entfernt von deutschem Ordnungssinn, aber nicht wirklich arm oder gar elend. Für mich hat das eine fast schon frappierende Ähnlichkeit zu den Bildern, die ich bereits aus Argentinien und Chile kenne.
Das Sayakat Asia ist eines dieser faden Betonklötze, welche die alte Sowjetzeit überdauert haben und heutzutage mit westlichen Mittelklassepreisen, aber bescheidener Ausstattung und Service den Anschluß an die neue Zeit eigentlich nie geschafft haben, denen es aber dennoch gelungen ist, nunmehr doch schon mehr als 20 "neue" Jahre zu überdauern. Nicht zuletzt mag das an fehlenden Alternativen liegen ...
Ein unerwartetes Highlight bietet sich mir allerdings in diesen frühen Morgenstunden von meinem Balkon aus. Die schneeweißen Gipfel des Tienshan grüssen aus der noch klaren Morgenluft zu mir herüber. Ich ahne noch nicht, dass ich einem dieser mir nun sichtbaren Gipfel am Ende meiner Reise noch aufs Haupt steigen würde.
Ich lege mich flach, stehe erst gegen 11 wieder auf, um einen kleinen Rundgang in die nächste Umgebung zu machen. Ich bin hier eigentlich in einer ungünstigen Ecke von Bishkek untergebracht, weit im Süden der Stadt, fernab vom quirligen Zentrum. Bishkek rühmt sich keiner sonderlichen Sehenswürdigkeiten, die Vorzüge dieser Stadt werden sich mir erst zum Ende meiner Reise erschließen. Was jedoch gleich auffällt, ist die üppige Botanik. Zwischen Einfamilienhäusern, Wohnblocks, Hochhäusern und sozialistischen Palazzos Protzos sind stets schattige Baumgruppen eingefügt, oft gar kleine Haine. Unzählige Wasserdrainagen durchziehen die Stadt. Diese künstliche Bewässerung ermöglicht erst das viele Grün, denn Bishkek ist ansonsten mitten in eine klimatisch sehr trockene Halbsteppenlandschaft gebaut.
Ich begebe mich in ein Gartenlokal schräg gegenüber vom Hotel. Die junge Kirgisin, die mich bedient, spricht ein wenig französisch. Das, und auch die Weltsprache englisch ist in Kirgistan nicht immer selbstverständlich. Wer ein paar Brocken russisch kann, ist klar im Vorteil.Leider kann ich mit dergleichen Sprachkenntnissen nicht aufwarten. Dass man sich zudem in einem islamischen Land befindet, ist übrigens hier in Kirgistan weit weniger offensichtlich, als in den meisten anderen, diesem Kulturkreis zugehörigen Ländern.
Dann, während des Essens, eine freudige Überraschung: mein Freund und Mitreisender Valerij betritt, begleitet von seiner attraktiven Cousine Aksana, das Gartenrestaurant. Valerij ist schon seit vorgestern hier. Er nimmt diese Reise zum Anlass, seinen Verwandten hier in Bishkek einen längst überfälligen Besuch abzustatten. Die Beiden haben mich bereits im Hotel gesucht und sind dann mit dem Gedanken hierhergekommen, dass ich um diese Uhrzeit wohl hungrig sein und dann wohl das nächst erreichbare Restaurant aufgesucht haben müsste.
Heute noch werden Valerij und ich nach Osch weiterfliegen, der sogenannten "Hauptstadt des Südens", wo uns dann nur noch etwa 7 Autostunden vom Basislager des Pik Lenin trennen werden.
Auch in Osch läuft alles bestens. Wiederum werden wir von einer Pamir-Expeditions-Repräsentantin am örtlichen Flughafen abgeholt. Das Hotel "Sunrise" gefällt uns auf Anhieb viel besser, als das "Sayakat Asia". Und hier geht es auch recht lebendig zu, denn es steigen viele Gruppen ab, die zum Pik Lenin wollen, oder bereits von dort kommen. Wir lernen den jungen Engländer Adam kennen, mit dem wir uns zum Abendessen in ein nettes Lokal in der Stadt aufmachen. Hier in Osch ist es noch eine Tick wärmer als in Bishkek, doch in beiden Städten empfinde ich das Klima dank der trockenen Luft als relativ erträglich.
04.08.2012
Eigentlich war es unsere Vorstellung, gleich nach Ankunft im Basecamp noch ein paar Höhenmeter zu machen, also konsequent von Beginn an nach der Devise "hoch gehen, tief schlafen" vorzugehen. Doch schon allein die Abfahrt in Osch verzögert sich bis 11 Uhr. Die Fahrt über den Pass ist herrlich. Eine landestypische Erscheinung sind die vielen Jurten, die wir von der Straße aus sehen - und natürlich die Pferde, beritten von kirgisischen Hirten, oder mit windzerzauster Mähne irgendwo im Grün der Bergweiden grasend. Denn schließlich sind die Kirgisen traditionell ein Nomadenvolk und diese Tradition wird überall in den ländlichen Gegenden noch gelebt. Man sagt auch, ein echter Kirgise wächst im Pferdesattel auf.
Sary Mogul ist nur ein winziger Ort im Tal des Kysyl Suu, welches sich zwischen die beiden nördlichsten Bergketten des Pamir zwängt, nämlich der mit 3- bis 4000 Meter hohen Bergspitzen gespickten Alai Range im Norden und der deutlich höheren Trans Alai Range im Süden, aus welcher sich auch der Pik Lenin erhebt. Die Trans Alai Kette trägt auch die Landesgrenze zwischen den beiden Ex-Sowjetrepubliken Kirgistan und Tadjikistan. Der Lenin ist dann auch ein Grenzgipfel. Während er in Kirgistan mit Lenin Chokusu seinen alten Namen behalten hat, wurde er von den Tajiken in Abuali Ibni Sino umgetauft. Bei internationalen Bergsteigern konnte sich dieser Name allerdings bislang nicht durchsetzen.
Bis Sary Mogul sind 5.15 h Fahrzeit vergangen. Im Vergleich zu dem, was ich auf meinen zahlreichen anderen Anfahrten zu den Gebirgen dieser Welt schon erlebt habe, ist das erstens eine recht kurze Zeit, und zweitens kann man die Qualität der Straße bis hierher getrost als sehr gut bezeichnen. Indes, wir sind noch nicht am Ziel, und stechen ab hier ins Gelände. Wir durchqueren ein ausgedehntes Hügel- und Weideland, die schneeweiße Kette des Transalai erhebt sich eindrücklich vor unseren Augen, und wir sind schon fleißig am raten und spekulieren, welcher dieser schneeweißen Giganten denn nun der Pik Lenin sei. Wir, das sind, neben Valerij und mir, der Moskauer Dimitri, sowie die beiden Moldawier Leonid und Igor. Die 2 Stunden Nettofahrzeit über eine erodierte Rüttelpiste haben es in sich. Der vordere Transporter bleibt schließlich im Schlamm stecken, und unser Fahrzeug muss ihn wieder herausziehen. Dem nicht genug, wenig später steht wiederum das zweite Gefährt unserer Agentur mit einer Panne inmitten der Pampas. Diesmal dauert´s länger, wir vertreiben uns die Wartezeit, indem wir auf die umliegenden Hügel steigen, dort fotografieren und die prächtige Landschaft bestaunen. Das ausgedehnte, hügelige Weideland, in dem wir uns befinden, kontrastriert zu einer aus diesem sich herauszuheben scheinenden gewaltigen Barriere aus Eis, im Norden schießen die zwar auf ihren Spitzen häufig schneebedeckte, aber nicht vergletscherten Altai-Range diese wie aus dem Erdmittelalter herübergerettete Szenerie. Einer der Fahrer hat sich inzwischen bis hinter die Ellbogen mit Öl besudelt, aber die Kiste läuft wieder. Ankunft Basecamp 19 Uhr, Abendessen 20 Uhr, anschließend schlendern wir noch zu Nachbars, dem Basislager der Aksay-Agentur, wo wir meinen Freund Ihor treffen, der in wenigen Tagen schon wieder in die Heimat zurückreisen wird. Ihor und ich hatten beide unabhängig, und lange Zeit ohne Wissen voneinander die Expedition zum Lenin jeder für sich geplant. Als wir schließlich dahinter kamen, dass wir beide das Gleiche vorhaben, war es terminlich nicht mehr möglich, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Nun, dafür profitieren Valerij und ich von den Tips und dem taufrischen Erlebnisbericht eines erst vor wenigen Tagen erfolgreich vom Gipfel Zurückgekehrten. Es ist schon eine außergewöhnliche und erfreuliche Sache, dass man sich so fern der Heimat mit einem vertrauten Bergkameraden treffen kann.
05.08.2012
Vor Jahren hatte ich mit meinem Freund Haydar den Mont Blanc in einer Zweitagesaktion bestiegen. Bei nahezu allen meinen Alpen-4000ern fuhren wir Samstag von zuhause aus ins Wallis oder in die Berner, und am Sonntag standen wir in aller Regel auf dem Gipfel. Es mag oft physisch anstrengend gewesen sein, aber nie hatte ich dabei nur einen Anflug von Höhenproblemen. Ob ein 4803 m hoher Berg für eine Akklimatisationstour bereits am 2. Tag zu hoch ist, ist individuell abhängig. Von vielen akklimatisierenden Gruppen wird der Pik Petrowsky oft nur bis zum Sattel angegangen, wo der Firn beginnt. Genau dort, nämlich am ersten Firnfeld fängt es aber an, das Bergsteigen. Die Fortsetzung der Tour von dort aus habe ich nachträglich mit der Hochtourenschwierigkeit WS+ bewertet. Zudem würde ich, ebenfalls im Nachhinein, Seilsicherung für die exponierten Stellen empfehlen, denn ein Abgang, insbesondere auf dem ersten Firnfeld, wäre wahrscheinlich mortal.
Valerij und ich haben in der ersten Nacht auf 3600 Metern gut geschlafen, zudem haben wir bereits in vergangenen Unternehmungen die Erfahrungen gemacht, dass auch Valerij offenbar über eine sehr gute Höhenverträglichkeit verfügt und auch in der Lage ist, sich relativ schnell an die großen Höhen anzupassen. So oder so ist der Pik Lenin unser großes Ziel, und abgemacht ist, im günstigen Fall, wenn es irgendwie möglich sein sollte, den Gipfel des Petrowsky zu erreichen, ansonsten steht die Akklimatisation heute im Vordergrund. Wir wählen die längere Route, welche zunächst den Bach westlich des Baislagers quert und dann über den langgezogenen Kamm, welcher von Nordost nach Südwest zieht, aufsteigt. Es gibt einen Shortcut, welcher durch eine unangenehm steile Schotterrinne direkt in den Sattel führt. Diese Rinne eignet sich allenfalls für einen raschen Abstieg, für eine Akklimatisationstour würde sie unnötig viel Kraftaufwand abverlangen. Und wir haben es heute auch nicht eilig, denn wir sollten uns ja möglichst lange und ohne allzu viel Anstrengung in größeren Höhen aufhalten.
Wäherend Dimitri ("Dima") und Adam mit ihrem russischen Bergführer Sergeij unterwegs sein werden, haben wir uns für den heutigen Tag mit unseren moldawischen Freunden Leonid und Igor zusammengetan. Der gepfadete Kammweg bis zum Sattel ist eine wunderschöne Bergwanderung mit berückenden Aussichten. Unterwegs begegnen wir kirgisischen Hirten, natürlich beritten, wie es sich gehört.
Schon aus der Ferne lockt uns ein schneeweißer, elegant geschwungener Firngrat. Auch die steile und abweisende Nordwestflanke mit ihrem spaltendurchzogenen Eispanzer zeichnen den Petrowsky als ein durch und durch alpines Bergziel aus.
Das erste Firnstück gleich zu Beginn ist definitiv die Schlüsselstelle an diesem Berg.Wir haben kein Seil dabei und ein wenig schummrig ist mir schon, da Valerij zwar wohl schon an einem Eiskletterkurs teilgenommen, aber derartige technische Hochtouren bislang noch nie unternommen hat. Insbesondere gilt meine Sorge unserem Rückweg, auch wenn sich Valerij diesbezüglich bislang unbekümmert zeigt. Eine kurze Stelle von nur wenigen Metern übersteigt sogar die 50-Grad-Neigung. Vor allem ist dieser Firnhang sehr ausgesetzt und ein ungebremster Ausrutscher würde fatale Folgen haben. In der Fortsetzung des Grates folgen zwei weitere Aufschwünge mit gut 45 Grad, dann hat man mit Punkt 4731 den nördlichen Vorgipfel erreicht. Zum Hauptgipfel gelangt man, indem man den Grat weiterverfolgt, diesmal ohne technische Probleme und ohne Absturzgefahr. Man muß sich nur eben die Mühe machen, auch dort hinüberzugehen, was sicher nicht alle Bergsteiger tun. Seit wir die kitzeligen Passagen hinter uns gelassen haben, habe ich mein Tempo forciert und bin nun den anderen weit voraus. Ich fühle mich prächtig, bin in bester Stimmung. Ich kann mich nicht entsinnen, dass mir ein Berg in vergleichbarer Höhe jemals so leicht gefallen ist. Ich deute dies als ein gutes Omen für einen erfolgreichen Ausgang unseres Unternehmens. Es zeigt mir, dass ich die richtigen Vorbereitungen getroffen habe, meine Voreinstellungen sozusagen stimmen. Von Süden her zieht schlechtes Wetter auf, eine Tatsache, die wir schon länger beobachten und sich auch mit der Vorhersage einer nachmittäglichen Wetterverschlechterung deckt. Als ich den Hauptgipfel erreiche, zieht eine schwarze Wolke vom benachbarten Bergkamm her direkt über meinen Kopf. Plötzlich realisiere ich erschreckt, dass mein hinter mir liegender Pickel surrt. Ich stürme unverzüglich den Gipfelhang hinunter, der soeben eingetroffene Leonid tut es mir gleich. Er wird mir später bestätigen, dass auch sein Pickel gesurrt hatte, er dieses Geräusch und dessen dramatische Bedeutung aber erst erkannte, als ich ihn darauf hingewiesen hatte, dass es hier oben nun "elektrisch" ist. In etwa 15 Gehminuten zum Gipfel treffen wir auf Valerij. "Sofort runter, wir hatten elektrische Ladung auf dem Gipfel!" Doch anstatt umzudrehen, geht er weiterhin Richtung Gipfel und ruft mir zu "Gib mir noch 10 Minuten!" - und er lässt sich, trotz erneutem Zurufens, nicht davon abbringen, weiterzugehen. Ich bin höchst verärgert. Da die Rückkehr in den Sattel unterm Firn heikel sein wird, kann ich ihn auch nicht allein lassen, sondern warte, bis er, glücklicherweise unversehrt, wieder vom Gipfel zurück ist. Ein Gewitter bleibt übrigens aus. Ich hatte eine solche Situation übrigens schon mal erlebt, als vor ein paar Jahren, anlässlich einer Winterbegehung des Daubenhorns in den Berner Alpen bei zwar schlechter Witterung, aber ebenfalls ohne explizite Gewittergefahr, oben auf dem Gipfel urplötzlich die Luft statisch aufgeladen war.
Auch wenn wir im Verlauf unseres Abstieges noch zwei oder drei eher harmlose Donnergrollen vernehmen sollen, ein richtiges Gewitter bleibt uns glücklicherweise erspart. Es haben jedoch inzwischen Graupelschauer eingesetzt. Zu Igor und Leonid habe ich gesagt, sie sollen in ihrem Tempo absteigen, während ich nahe bei Valerij bleibe, um dann bei den kritischen Stellen bei ihm zu sein. Unsere beiden moldawischen Freunde treffen wir schließlich im Sattel wieder, wo sie auf uns gewartet haben. Während die Beiden nun unverzüglich die Rinne hinuntersteigen, um zum Basislager zurückzukehren, wollen wir, trotz des schlechten Wetters, aber nach gebannter Gefahr, dem Auftrag der Lagerküche nachkommen, und noch ein paar Pflanzen für den Tee sammeln, die dort oben auf dem grasigen Kamm gedeihen. Schlussendlich geht der Graupel in Regen über und es wird jetzt höchste Zeit, dass auch wir endlich das Basislager erreichen, wo uns eine komfortable beheizte Gemeinschaftsjurte erwartet, das expeditonsübliche Messezelt also in der Landestradition. Dort serviert man uns ein reichhaltiges und leckeres Abendessen. Auch heißer Tee wird kredenzt, gebrüht aus den Pflanzen, welche wir vorhin auf dem Kamm des Petrowsky gepflückt haben.
06.08.2012
Achik Tash - kaum mal ein Basislager für einen vergleichbar hohen Berg ist derart einfach zugänglich, denn schließlich muss man bis hierher keinen Schritt zu Fuß tun, die 6- bis 7 stündige Fahrzeit von Osch her erscheint mir auch recht moderat und, wie bereits geschildert, auch verhältnismäßig bequem. Die Anzahl der in der Hauptsaison, also den beiden Monaten Juli und August dort anwesenden Bergsteiger dürfte sich nahezu mit dem Besucherstrom im Aconcagua-Basislager decken. Ein augenscheinlicher Unterschied ist, dass das Basislager des Aconcagua eine einzige Zeltstadt auf einem räumlich beschränkten Terrain ist, wohingegen sich das Lenin-Basislager weit in der hier großzügig zur Verfügung stehenden Landschaft verteilt. Jede Agentur unterhält hier ihr eigenes, mehr oder weniger großes Camp, die verschiedenen Läger stehen auf der riesigen Weide weit auseinander. Die Distanzen zwischen den einzelnen Camps können mehrere Kilometer betragen.
Achik Tash (dt.: "nackter, bzw. freistehender Stein") hat definitiv Erholungswert, man befindet sich hier auf einer weitflächigen, mit blühenden Edelweißen bestandenen Wiese. Dieser schließt sich nahtlos die sogenannte Zwiebelwiese an. Der Name sagt es schon, dort gedeihen haufenweise wilde Zwiebeln welche sicher auch den darauf grasenden Pferden und Ziegen munden. Kleine Seen befinden sich in Lagernähe, und auch in weiterer Umgebung verstreut. Sieht man auf sie herab, etwa im Zuge der Besteigung des Petrowsky, erscheinen sie wie blaue Diamanten, gefasst im satten Grün des sie umgebenden Hügellandes. Was aber diesen Ort so besonders macht, ist der bizarre Kontrast zu dem, was die liebliche Weidelandidylle im Süden abrupt beendet: eine gewaltige Barriere aus Schnee und Eis, gleichwohl sinnesbetörend, pompös, anziehend und abschreckend, ehrfurchtgebietend dem Betrachter - auf der in Blickrichtung rechten Seite residiert der Pik Lenin, links davon erhebt sich ein nicht minder eindrückliches, sich aus diversen Gipfeln, wie Spartak Peak (6194 m), Unity Peak (6690 m) und Estonia Peak (6202 m) zusammensetzendes Massiv. Insgesamt erscheint dieses Gletscherkonglomerat aus einem Guss, der Pik Lenin ist vom Nachbarmassiv nur durch den 5842 m hohen Krylenkopass abgetrennt.
Der von diesen Eismassen genährte Gebirgsfluss Achik Tash hat an der Ostbegrenzung unserer Wiese eine tiefe Schlucht gegraben und unterbindet auf diese Weise einen einfachen Zugang zu den dort gelegenen Bergen. Jenseits des Flusses erheben sich mehrere Gipfel, die nicht allzu hoch wären und technisch einfach aussehen. Eigentlich ein optimales Terrain, um sich zu akklimatisieren. Die Überquerung des Ashik Tash wäre aber ein schwieriges Unterfangen, insbesondere die Rückkehr am Nachmittag ist aufgrund des dann durch Sonneneinwirkung angestiegenen Wasserstandes meistens unmöglich. Eine Brücke existiert nicht. Somit gibt es neben dem Pik Petrowsky im Umfeld des Basislagers eigentlich keine weiteren, zur Akklimatisierung tauglichen Bergziele mehr.
Erwähnenswert ist auch die Tatsache, dass Ashik Tash nicht nur ein Bergsteigerlager ist, sondern immer noch von den kirgisischen Nomaden als Kultur- und Weideland genutzt wird. Viele dort stehende Jurten gehören ihnen, es werden dort traditionell Butter und Käse produziert. Dass manche Nomaden auch wirtschaftlich von der Existenz des Basecamps profitieren, liegt auf der Hand. Profitieren tun im umgekehrten Sinne auch die Bergsteiger, denn die Küchen der hier ansässigen Agenturen versorgen sich unter anderem natürlich auch mit frischen Produkten vor Ort. Unsere Küche verfügt übrigens sogar über einen gemauerten Ofen, worin uns unser tägliches Brot stets frisch gebacken wird. Überhaupt kann ich die Küche von Pamir Expeditions nicht hoch genug loben. Es fehlt hier an gar nichts. Jeden Tag werden wir mit leckeren, oft traditionell zentralasiatischen Gerichten versorgt, stets zubereitet mit frischen Gemüsen, täglich Fleisch und/oder Fisch, frisches Obst, köstliche Nachtische ...
Wir haben geplant, eine weitere Nacht auf Ashik Tash zu verbringen, bevor wir ins Advanced Basecamp (ABC, also das vorgeschobene Basislager) umziehen wollen. Mit Ihor hatten wir gestern ausgemacht, eine weitere, diesmal recht entspannte Akklimatisationstour zum Traveller´s Pass zu unternehmen. Der etwa 4200 m hohe Pass vermittelt den Zugang zum vorgeschobenen Basislager, seit die direkte Variante über oder entlang des Lenin-Gletschers aufgrund dessen klimatisch bedingter Veränderung nicht mehr möglich ist. Für mich und Valerij ist klar: wenn wir das Basislager verlassen haben, werden wir dorthin erst wieder am Ende unseres Unternehmens zurückkehren. Unserer Ansicht nach liegt das Basislager mit etwa 3600 m Höhe zu tief, um für einen weiteren Aufenthalt zur Besteigung eines 7000ers zu taugen, auch wenn russische Bergführer da wohl anderer Ansicht sind.
Der Zustieg zum Traveller´s Pass erfolgt über die Zwiebelwiese, vorbei an einer mit Gedenktafeln versehenen Felswand, bei der anschließend der Pfad auf der orografisch rechten Seite eines wunderschönen Hochtales emporsteigt. Auf der gegenüberliegenden Bergflanke weiden Dzos, so werden im Himalaya die Mischlinge aus Yak und Rind genannt. Ob man sie hier auch so nennt, kann mir niemand bestätigen. Auch zahlreichen wohlgenährten Murmeltieren begegnen wir. Vor deren Löchern sollte man sich vorsehen: für einen österreichischen Bergsteiger endete die Expedition zum Lenin allzu schnell, indem er am Tag seiner Ankunft im Basislager in ein solches Loch hineinstolperte und sich dabei einen Bänderriss zuzog.
Inzwischen auf der Passhöhe angekommen, schneit es und ein kalter Wind fegt über den Sattel. Wir belassen es bei einem kurzen Aufstieg zu einer Anhöhe auf der in Gehrichtung linken Seite des Passes, lassen dort für kurze Zeit die Ungestümheit der Wildnis und des Wetters auf uns einwirken und sind zum Mittagessen gegen 14 Uhr wieder zurück im Basislager.Wir nehmen Abschied von Ihor, der morgen nach Osch fahren und bald schon wieder zurück in der Heimat sein wird. Abends treffen ein paar Leute des deutschen Expeditionsunternehmens Diamir ein. Vier oder fünf von ihnen waren auf dem Gipfel, unter ihnen der mit 58 Jahren älteste Expeditionsteilnehmer. Das Gespräch mit ihnen bestätigt, was auch Ihor gesagt hatte: der Berg ist sehr wetteranfällig, stets ist mit White-Out-Situationen, Neuschnee und Stürmen zu rechnen. An unserem Ankunftstag befand sich eine iranische Gruppe in der Gemeinschaftsjurte. Ein paar von ihnen haben den Gipfel bei widrigen Verhältnissen geschafft. Einen dieser Gipfelbezwinger haben wir gesehen. Sein Gesicht war voller Frostbeulen, die Nasenspitze hatte eine bedenklich dunkle Färbung. Wir wollen Sorge tragen, lieber auf den Gipfel zu verzichten, als so von diesem zurückzukehren.
07.08.2012
Heute ist Umzugstag. Da wir beschlossen haben, das vorgeschobene Basislager zu unserem Standardbasislager zu machen, nehmen wir sämtliches Gepäck mit. Einige Sachen übergeben wir zwar dem Pferdetransport, dennoch tragen wir schlussendlich beide jeweils knapp 20 Kilo auf dem Rücken. Der Weg zum ABC ist eine landschaftlich großartige Trekkingetappe, welche aus den lieblichen Bergweiden von Ashik Tash und Zwiebelwiese heraus, über den schroffen Traveller´s Pass hinweg auf die orographisch linke Seite des Leningletschers führt, wo ein schmaler Pfad überwiegend in der Flanke der Seitenmoräne, hoch über dem Gletscher, verläuft. Der Traveller´s Pass war sozusagen die Pforte zu einer strengen, von Gletschern, Steilhängen, schroffen Felsen und abweisenden Eisgipfeln geprägten Wildnis. Kein Grün mehr, keine Blumen, kein Platz, wo ein Mensch auf Dauer existieren könnte.
Gletscheraufwärts in einem ständigen Auf und Ab auf und ab erreichen wir schließlich eine Watstelle über einen Bach, welcher, abhängig vom aktuellen Wasserstand, auch mal problematisch werden kann. Kirgisische Reiter stehen dann hilfsbereit, aber selbstverständlich gegen Bezahlung, zur Verfügung.Wir durchwaten diese Passage ohne fremde Hilfe, denn das Wetter ist heute nur abschnittsweise sonnig, und der Wasserstand bedenkenlos. Ansonsten begleitet uns ein harter Wind, zum Ende hin auch sich verstärkender Schneefall. Brenzlig war zuvor eine Steinschlagpassage in der Moränenflanke, die wir im Laufschritt passierten. Der letzte Anstieg folgt, hinter diesem verteilen sich auf der weiten Fläche des hier noch komplett schuttbedeckten Gletschers die Camps der verschiedenen Agenturen. Die Tatsache, dass das Lager von Pamir Expeditions das vorderste ist und sich direkt am ersichtlichen, ergo nicht mehr schuttbedeckten Gletscherrand auf bereits 4400 Metern befindet, ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Im Vergleich zu den Positionen anderer Agenturen kann das eine Zeitersparnis beim Weitergang Richtung Lager 2 von bis zu 45 Minuten bringen. Und die Etappe zwischen Lager 1, also dem ABC und Lager 2 soll schlussendlich die am häufigsten begangene während der Expedition sein. Wir selbst werden dort insgesamt viermal hinaufsteigen. Die Etappe zwischen Lager 1 und Lager 2 ist übrigens die einzige, auf der man aufgrund der Spaltensituation definitiv angeseilt gehen sollte. Angeseilt gehen dort übrigens sowohl die Träger, als auch die russischen Bergführer, und wer die russische Mentalität des Bergsteigens kennt, sollte sich wohl selbst dabei im Klaren werden, was das heißt ...
Im ABC werden wir herzlichst von Maria und deren Team empfangen. Abgesehen vom frisch gebackenen Brot soll es uns auch hier kulinarisch an nichts fehlen, wie wir gleich beim ersten Abendessen erfahren dürfen. Zuvor haben wir unserer "Pflicht" Genüge getan und sind auf den hinter dem Lager sich erhebenden braunen Bergkamm noch etwa 150 zusätzliche Höhenmeter hinaufgestiegen. Begleitet wurden wir dabei von Nicolai Pawlowitsch, einem älteren Herrn aus Moskau, der nach eigenem Bekunden der Nationalmannschaft der russischen Langlaufsenioren angehört.
08.08.2012
Nach einem etwas verspäteten Aufbruch um 6.30 h forciere ich das Tempo, noch in Alpenmanier handelnd, wo ein Gletscher für gewöhnlich nur in den Morgenstunden begangen werden sollte. Später werde ich einsehen, dass es am Lenin kaum vermeidlich und auch üblich ist, selbst noch Nachmittags den Gletscher zu durchqueren, wenngleich ich dies stets mit einem unguten Gefühl im Magen getan habe. Unsere heutige Absicht ist, zu Akklimatisierungszwecken so hoch als möglich zu kommen, mindestens aber ans 5000-Meter-Limit. Um 9.45 h haben wir Punkt 5075 erreicht. Dort befindet sich eine markante, aber gut gedeckte Spalte, welche die Fortsetzung des seitlichen Gletscherschrundes bildet. Hier wollen wir ein wenig verweilen, bevor wir wieder ins Lager zurückkehren. Beim Dösen machen sich bei mir die ersten Anzeichen von Hypoxie bemerkbar, einer zwar lästigen, aber ungefährlichen Erscheinung in großen Höhen.
Wir machen uns um 10.30 h auf den Rückweg und treffen um 12 Uhr wieder im ABC ein. Das zu schnell gegangene Tempo macht sich jetzt negativ bemerkbar. Ich fühle mich schwach, schlafe zunächst ein wenig und begebe mich anschließend in die Jurte, wo ich Adam treffe. Ihm geht es merklich schlechter. Ich fürchte, dass der sympatische Engländer, der uns im Basislager mit seinem mitreißenden Gesang und Gitarrenspiel unterhalten hatte, hier am Berg nicht mehr viel ausrichten wird. Das Mittagessen stärkt mich wieder ein wenig, ein leichtes Gefühl von Schwäche und Unwohlsein bleibt mir aber den Rest des Tages erhalten. Valerij lässt heute das Mittagessen ausfallen und bleibt bis frühabends im Zelt liegen.
Ich besorge bei Maria noch zwei Kocher. Ab Lager 2 ist es vorbei mit den Bequemlichkeiten, die man uns hier und im Basecamp bislang zukommen ließ. Dort und in den anderen Hochlagern ist man auf sich selbst gestellt. Um dort oben Wasser zu gewinnen, werden wir Schnee schmelzen müssen, schon allein deswegen sollten wir zwei Kocher mitführen. Zudem ist der Kocher ein elementarer Ausrüstungsgegenstand. Wenn der dort oben ausfallen würde, käme das für uns einer mittleren Katastrophe gleich und würde das vorläufige Aus unserer Unternehmung bedeuten.
Auch das ABC steht inmitten einer atemberaubenden Szenerie. Hier findet sich aber, wie bereits erwähnt, nichts Liebliches mehr, kein bisschen pflanzliches Leben.Stattdessen eine rauhe und eiszeitähnliche Hochgebirgswildnis, in welcher der Mensch nur für begrenzte Zeit als Gast geduldet wird. Eindrucksvoll erhebt sich die eisige Nordflanke des Pik Lenin wie ein schneeweißer Riese nahezu 3000 Meter über das Lager hinweg. Gletscherbrüche, Spalten und Seraks faszinieren, imponieren. Immer wieder kracht oder knackt es. Etwa, wenn durch die Mittagssonne ausgelöste Nassschneelawinen donnernd ihren Weg durch Steilrinnen suchen, bald krachend ein Eisserak zusammenbricht, oder sich Steinschlag klackernd aus umliegenden Felswänden löst ...Nebel zieht gespenstisch über den Gletscher hinweg, der bis vor wenigen Minuten noch von der Sonne beschienen war, Schneefall setzt ein - dieses Schauspiel soll sich von nun an fast täglich turnusgemäß in den Nachmittagsstunden wiederholen. Und wir wollen tatsächlich dort hinauf! Je nach Stimmungslage löst bei mir der Anblick dieser um uns herrschenden Urgewalten, diese übermächtige Nordflanke unseres Berges heroische Euphoriezustände, oder aber Zweifel und manchmal gar eine fast schon ängstliche Beklemmung aus. Mit diesen ständig wechselnden Stimmungslagen werde ich im Laufe unserer Expedition umgehen müssen, sie realistisch zu deuten wissen müssen. Subjektive Angstgefühle gegen die objektive Gefahr aufwiegen, und die richtigen Entscheidungen treffen. Abenteuer sind nur bedingt aus Spaß gemacht. Abenteuer sind oft Plage, an Masochismus grenzende Selbstquälerei, Auslotung der eigenen Grenzen und Fähigkeiten. Sie können Schmerzen, Zweifel, Ungewissheit und Ängste verursachen. Manchmal werden sie sogar erst hinterher zu einem guten Erlebnis. Und unser persönliches Abenteuer will hier erst einmal richtig beginnen, am Rande des Leningletschers, auf 4400 Metern Höhe, auf dem Sprung zum Lager 2...
09.08.2012
7.15 h Abmarsch, mit im Seil ist Ivan aus der Ukraine, der den Berg bereits bestiegen hat und nun seinen Kumpel im Lager 2 abholen will. Wir haben heute gehörig viel Gepäck geschultert, denn wir möchten Lager 2 fix einrichten und die folgenden zwei Nächte dort oben zubringen.
Den Steilhang bis unter die große Spalte kennen wir ja bereits. Dahinter bleibt´s weiterhin steil, wenn auch nicht mehr gar so extrem. Die Route flacht schließlich ab, das am Fuße eines Schneehanges klebende Lager 2 gerät in unseren Blickfang, erscheint uns aber noch Unendlichkeiten entfernt.Nach einer weiteren, diesmal deutlich harmloseren Steigung, fällt die Route ab in die sogenannte Pfanne. Dieses Gletscherplateau erhielt den Namen aufgrund seiner Exposition. Mittags und Nachmittags kann die Sonne dort gnadenlos hineinbrennen. Man höre und staune: es kann einem auf dieser Höhe tatsächlich mal viel zu warm werden! Der Weg zum Lager 2 und ganz besonders die Passage durch die Pfanne dürfte der wohl objektiv gefährlichste Teil der Pik-Lenin-Besteigung sein, da man sich kontinuierlich unter der von drohenden Seraks bespickten, übermächtigen Nordflanke des Berges bewegt. Selbstverständlich können sich aus dieser heraus bei ungünstigen Bedingungen auch gewaltige Schneelawinen lösen.
Nun ist das Lager 2 wahrlich kein Ort eitler Wonne. Tagsüber ist es oft unerträglich heiß, nachts schweinekalt, das Lager bietet wenig Platz und alles ist entsprechend eng, Vor allem ist es schlicht und ergreifend verschissen, was natürlich auch eine Trinkwasserproblematik schafft. Dieses wird normalerweiser aus geschmolzenem Schnee gewonnen, der in und um das Lager herum komplett kontaminiert ist. So kann es beim Aufkochen durchaus passieren, dass einem Partikel von Toilettenpapier im Topf herumschwimmen. Früher befand sich das Lager in der weitaus mehr Platz bietenden Pfanne. Ich vermute, dass der Positionswechsel wohl spätestens nach den schrecklichen Ereignissen im Jahr 1990 erfolgte, als eine durch ein Erdbeben ausgelöste Eislawine das gesamte Lager mitsamt den damals dort anwesenden 40 Personen unter sich begrub.
Insbesondere das letzte Stück bis zum Lager hinauf scheint für uns nicht enden zu wollen. Während Ivan gut akklimatisiert ist, keuchen und schnaufen wir, und nach Ankunft ist noch lange nicht Feierabend, denn es gilt, das Zelt aufzubauen, Trinkwasser zu schmelzen, zu kochen, anschließend noch 150 bis 200 m aufzusteigen, um die Schlafhöhe zu überschreiten ...
Wir warten, bis die beiden Ukrainer ihr Zelt abgebaut haben, um deren Platz für unser Zelt zu benutzen. Mit dem Wasser haben wir insofern Glück, alsdaß in der Nähe unseres Zeltplatzes ein Loch in den Gletscher geschlagen wurde, aus dem man Wasser schöpfen kann. Allerdings muss dieses entweder abgekocht oder chemisch behandelt werden. Der Zeltaufbau geht langsam und äußerst mühsam vor sich. Wir taumeln dabei fast schon vor Anstrengung und Erschöpfung. Das Zelt müssen wir mit Hilfe von schweren Steinbrocken abspannen, welche als Anker unter dem Schnee vergraben werden. Der Liegekomfort lässt schlussendlich zu wünschen übrig, aber wir werden uns keinesfalls einen neuen Zeltplatz suchen. Es wäre ohnehin fraglich, ob wir im vollbestandenen Lager überhaupt einen besseren Stellplatz finden würden.. Übrigens soll sich der Liegekomfort im Laufe unserer Aufenthalte im Lager 2 stets noch mehr zum schlechten verändern, denn die Kule unter uns soll durch unsere Körperwärme mehr und mehr aussschmelzen und uns in zusehends unergonomische Liegepositionen bringen.
Nach dem Zeltaufbau und der Aufnahme von einigermaßen hinreichend Flüssigkeit machen wir uns getreu der Formel "hoch gehen, tief schlafen" nochmals widerwillig auf den Weg. Wir mühen uns die steile Flanke oberhalb des Lagers hinauf, hinter der Abflachung gehen wir dann noch ein gutes Stück weiter, bis 230 Höhenmeter oberhalb des Lagers. Oben rechts stehen die Zelte einer schweizer Expedition. Dieser Platz dient als wenig genutzte Alternative zum eigentlichen Lager 2, er ist sauber, ruhiger und entzückt mit einer Aussicht über den Leningletscher hinweg bis nach Achik Tash. Doch es gibt auch Nachteile: mit Sack und Pack sind bis dorthin zusätzliche 200 Höhenmeter durch die steile Flanke hinauf zu bewältigen, und der Platz ist arg windausgesetzt. Letzteres war das Hauptargument für uns, das Zelt nicht dort oben zu platzieren, da es immer wieder über längere Zeiträume hinweg unbewacht und verlassen dort oben stehen soll.
Nachdem tagsüber die Sonne oftmals richtiggehend brannte, setzt gegen abend zunächst unangenehm feuchter Schneefall ein. Ausgerechnet dann, als wir vor dem Zelt zu kochen und zu essen beginnen wollen. Verglichen mit meinen, bzw. unseren Erlebnissen an Aconcagua und Ojos del Salado sind die Nächte in dieser Höhe weniger kalt.
10.08.2012
Da es heute nicht allzu sehr eilt, warten wir die ersten Sonnenstrahlen ab, bis wir aus unserem innen unangenehm vereisten Zelt hinauskriechen, um uns für die Akklimatisierungstour zum Vorgipfel Razdelnaya bereitzumachen. Anstatt des Müsli erwische ich eine Packung Chili con Carne zum Frühstück, welches ich dann reichlich missgelaunt in mich hineinschaufle.
Die Crux der Exkursion zur 6148 m hohen Razdelnaya ist der sich Ewigkeiten hinzuziehen scheinende, sehr steile Schlussanstieg. Nach etwas mehr als 4 Stunden habe ich es geschafft, ich bin oben. Es ist sehr windig hier.Windprobleme am Lenin beginnen für gewöhnlich erst ab der Razdelnaya, da man sich nun mehr oder weniger frei exponiert auf dem Nordwestkamm des Pik Lenin befindet, während man sich zumindest bis Lager 2 noch unter den Wetterschutz der Nordflanke duckt. Auf dem plateauartigen Gipfel befindet sich zu meiner Überraschung ein grösseres Zeltlager, ergo Lager 3. Früher befand sich dieses im Sattel zwischen Razdelnaya und dem Anstieg zum Hauptgipfel. Auch dort stehen weiterhin Zelte, doch scheint es sich eingebürgert zu haben, dass viele Teams ihr Lager eben auf dem Gipfelplateau einrichten. Von der Razdelnaya aus eröffnet sich zum ersten Mal der atemberaubende Ausblick nach Süden, in den tadjikischen Pamir.Ein nicht enden wollendes Meer aus eisigen Gipfeln, von menschlichen Siedlungen ist hier gar nichts zu sehen.Während Valerij noch nachrückt, begebe ich mich zu einer Kuppe in mehreren hundert Metern Entfernung vom Camp, wo sich der vielleicht 20 Meter höhere höchste Punkt der Razdelnaya befindet. In diesen Höhen bedeutet dies immerhin einen Mehraufwand von 30 min hin und 20 min zurück. Als ich wieder das Lager erreiche, ist inzwischen Valerij dort eingetroffen. Das Wetter ist schon nicht mehr so gut und es ist klar, dass die fast immer eintreffende nachmittägliche Wetterverschlechterung ihren Lauf nehmen wird. Dennoch will Valerij ebenfalls vor zum höchsten Punkt. Ich willige ein, ermahne ihn aber noch, wirklich nur bis zum gespurten Punkt vorzugehen und dann unverzüglich den Rückzug anzutreten. Ich möchte ihm noch das Funkgerät übergeben, doch er verzichtet mit dem Hinweis, er habe ja schließlich noch das GPS.
Im Abstieg wird dann das Wetter, wie erwartet, immer schlechter, die Sichtweiten sind sehr eingeschränkt. Einerseits mache ich mir schon ein paar Gedanken darüber, ob Valerij dann auch tatsächlich selbständig wieder hier herunterfinden würde, andererseits ist die Spur so ausgetreten, dass man sofort bemerkt, wenn man aus dieser heraustritt, da man dann unmittelbar in den Schnee einbricht. Zudem hatte Valerij unseren Aufstieg per Backtrack aufgezeichnet.
Ich bin inzwischen wieder im Lager 2 und warte und warte. Nun ist es für mich nichts neues, auf Valerij zu warten, da ich das eigentlich immer tue. Doch wann ist die Grenze erreicht? Macht er vielleicht gerade mal wieder Extratouren, oder könnte etwa schon Gefahr in Verzug sein? Das Wetter bleibt nun natürlich schlecht, miserable Sichtweiten, immer wieder Schneeschauer. Und in diesen Höhen rennt man nicht einfach mal schnell den Buckel hinauf, um zu sehen, was los ist. Es bleibt schließlich nicht mehr viel Zeit bis zu Eindunkeln. Wenn Valerij jetzt nicht gleich dort oberhalb der Flanke auftaucht, muss ich einen Notruf absetzen. Dann sehe ich ihn. Ich bin unendlich erleichtert, aber auch verärgert.
Als Valerij am Zelt eintrifft, ist er völlig erschöpft, aber gottseidank unversehrt. Nach seinem Bericht hat sich folgendes zugetragen: entgegen meiner dringenden Empfehlung hat er auf der Razdelnaya nach Erreichen des gespurten Geländepunktes nicht etwa unmittelbar den Rückweg angetreten, sondern hat dort oben etwa anderthalb zusätzliche Stunden verbummelt. Im Abstieg war er, wie auch immer, aus der deutlich spürbaren Spur herausgekommen, und nachdem er sich im Whiteout-Gelände verirrt hatte, konnte er auch den Backtrack nicht bedienen. Nur der günstige Umstand einer Nebellichtung führte ihn wieder auf die sichere Spur zurück. Das Gelände dort oben ist außerhalb der Spur mit überschneiten Spalten durchzogen, die Flanken führen in verheerende Gletscherbrüche hinein. Ich wage nicht, darüber nachzudenken, wie das hätte ausgehen können....
11.08.2012
Heute wollen wir ins ABC zurückkehren. Wir sind froh darüber, freuen uns auf die Fassilitäten, die das Lager 1 uns zu bieten hat - in vieler Hinsicht ein krasser Gegensatz zum Lager 2. Wie schon erwähnt, ist Lager 2 schon aus hygeinischer Sichtweise ein abstoßender Ort. Zwar relativ windgeschützt durch die mächtige Nordflanke des Berges bietet dieses Lager auch keine sonderliche Aussicht. Die Eindrücke der eisigen Nordflanke und der nahen Gletscherbrüche haben allerdings schon was für sich, man wähnt sich, ja man befindet sich, inmitten einer arktisch anmutenden, menschenfeindlichen, und dennoch atemberaubenden Eiswüste.
Es gibt noch mehr Faktoren, die das Lagerleben gerade im Camp 2 wenig angenehm gestalten. Wie ich´s oben schon erwähnt habe - kaum hat man etwas Zeit zur Muße, möchte sich´s mit dem Essen vor dem Zelt etwas gemütlich machen, oder eben mit dem Kochen beginnen, setzt Schneefall ein, und es wird kalt. Die Nächte sind lang, denn oft liegt man schon gegen 18 Uhr im Schlafsack, dem einzigen wirklich kuscheligen Ort hier oben. Doch kaum ist man mal am Eindösen, verspürt man Urindrang, der in grossen Höhen gar noch gefördert wird. Also stolpert man wieder mal notbekleidet hinaus in Kälte, Schnee und Dunkelheit. Die grossen Höhen führen neben körperlichen durchaus auch zu seelischen Veränderungen, zumindest nachts in den Träumen, die oft ungwöhnlich wirr sind. Der Hypoxie, einem kurzfristigen Gefühl von Luftzufuhrmangel, kann übrigens durch richtige Atemtechnik einigermaßen vorgebeugt werden. Diese Technik habe ich übrigens jetzt erst am Pik Lenin für mich herausgefunden.
Der Abstieg zum ABC fällt uns leicht, wir werten diesen Tag mit dem anschließenden Aufenthalt im ABC bei Unterhaltung mit Gleichgesinnten und bei üppiger Kost als Ruhetag.
12.08.2012
Wir steigen wiederum auf ins Lager 2. Unser Gepäck ist merklich leichter, als bei unserem Anstieg vor drei Tagen, führen wir doch nur noch die restlichen Gaskartuschen, ein paar Lebenmittel und unsere Schlafsäcke mit. Auch unsere Akklimatisierung ist selbstverständlich vorangeschritten.Timur vom Pamir-Expeditions-Team ist mit bei uns im Seil, da er einem Gast beim Abstieg ins ABC behilflich sein soll.
13.08.2012
Von den nunmehr drei Nächten auf 5400 Metern war dies die miserabelste. Ich konnte nur schlecht schlafen, und wenn, dann mit Alpträumen. Dazu noch leichtes Schädelbrummen und Hypoxieanfälle bei Dösen in den frühen Morgenstunden. Genau in diesen morgendlichen Halbschlafphasen tritt bei mir die Hypoxie erfahrungsgemäß am häufigsten auf.
Draußen weihnachtet es sehr. Eine Gruppe Italiener kehrt vom Lager 3 zurück. Deren Bericht bestärkt uns in unserer Entscheidung, heute nochmals ins ABC abzusteigen und auf Wetterglück für einen Gipfelversuch am 16. oder am 17. zu hoffen. Oben hatten Leute in mehr als kniehohem Neuschnee Richtung Gipfel gespurt, seien dort aber aufgrund der Mühen und der Tatsache, dass sie bei schlechter Sicht von der Route abgekommen seien, vorläufig gescheitert. Der 14. als Gipfeltag wäre in mehrerer Hinsicht nicht der beste gewesen: akklimatisierungstechnisch sicher einen Tick zu früh, mit ziemlicher Sicherheit wäre noch keine Spur bis zum Gipfel gelegt, und der Wetterbericht prophezeiht für diesen Tag starke Winde sowie Wetterverschlechterung am Nachmittag.
Da uns der letzte Anstieg zum Camp 2 schon relativ leicht gefallen ist, sehen wir auch kein Problem darin, jetzt in das uns so angenehm gewordene ABC zurückzukehren, um anderntags erholt und bei besten Kräften wieder hinaufzusteigen.
14.08.2012
Nach dem Verzehr der besten Rühreier aller Zeiten gehen wir´s an. Abmarsch 8.30 h, Ankunft Lager 2 14.30 h, zwischendurch 45 Minuten Pause. Als wir durch die Pfanne gehen, zieht gerade mal Nebel auf, sodass wir in dieser nicht gebraten werden. Nicolai Pawlowitsch besucht uns im Zelt. Er hat immer noch die Absicht, mit uns zusammen zum Gipfel zu gehen. Sowohl für den 15., als auch für den 16. sind ganz ordentliche Verhältnisse vorhergesagt. Eine Gruppe Tschechen bestätigt, dass in der Gipfelroute derzeit kniehoch Neuschnee liegt. Es werden morgen, am 15. sicher einige Bergsteiger den Gipfel versuchen, darunter auch lokale Bergführer mit ihren Gästen, weshalb die Chancen gut stehen, dass am 16., also an unserem anvisierten Gipfelversuch, bis zum Gipfel gespurt sein wird.
15.08.2012
Es ist uns gelungen, im Lager 3 ein Zelt anzumieten, weshalb wir unser überdimensioniertes und viel zu schweres Zelt im Lager 2 stehenlassen können. Dies ist für uns ein sehr großer Vorteil, auch wenn man bei so einer Vorgehensweise nicht mehr ganz von "by fair meanings in alpine style" sprechen kann. Der Anstieg auf die Razdelnaya bleibt dennoch äußerst mühsam. Wir wollen auf keinen Fall auf dem Gipfel übernachten, sondern haben das angemietete Zelt unten im Sattel stehen. Somit schlafen wir tiefer, als wir heute gegangen sind, wenn auch nur geringfügig. Ein weiterer Vorzug ist die Tatsache, dass wir zum Schluss nicht mehr ansteigen müssen, wenn wir morgen vermutlich am Ende unserer Kräfte vom Gipfel zurückkehren werden.
16.08.2012
Eigentlich war es unsere Absicht, um 3 Uhr morgens aufzubrechen, doch ein nächtlicher Schneesturm vereitelt unseren Plan. Wir warten. Nicolai Pawlowitsch, der sein Zelt oben im Razdelnayalager stehen hat, lässt sich über Funk nicht erreichen, weil er sein Gerät ausgeschaltet hat, weshalb wir über unseren Aufschub und die weitere Vorgehensweise nicht mit ihm reden können. Er taucht dann um 4 Uhr morgens bei uns auf und quetscht sich auch noch zu uns in das ohnehin schon enge Zelt. Wir liegen da und warten. Geschlafen haben wir in dieser Höhe mehr schlecht als recht. Immerhin, denn viele werden in einer Höhe von 6100 Metern kein Auge zutun, unter Kopfschmerzen leiden, manche werden sich gar übergeben, oder schlimmer ... wir befinden uns nun im Grenzbereich der sogenannten Todeszone, hier zehrt der Körper sich sogar im Ruhezustand langsam selber auf.Wir müssen da durch, einen unendlich langen, qualvollen Tag und zwei miserable Nächte bestehen. Erholsam wird es erst wieder, wenn wir wieder weiter unten sein werden.
Um 5.30 h, kurz vor der Dämmerung, hat sich das Wetter weitgehend beruhigt, wir brechen auf. Obwohl ich gegenüber Valerij längst schon vorangekündigt hatte, dies nicht zu tun, habe ich gestern abend die Riemensteigeisen von meinen Expeditionsstiefeln entfernt. Einfach nur deshalb, weil ich befürchtete, die Steigeisen könnten das Zelt beschädigen. Dies stellt sich nun als fataler Fehler heraus, welcher mir schlussendlich ums Haar den Gipfel gekostet hätte. Ich habe keine Chance, bei den Temperaturen die steifgefrorenen Riemen an meinen Stiefeln zu befestigen. Es besteht wirklich die Gefahr, mir dabei innerhalb kürzester Zeit die Finger zu erfrieren, da ich zum Herumfummeln die Handschuhe abziehen muss. Schlussendlich marschiere ich ohne Eisen los. Gleich zu Beginn gilt es, eine ausgedehnte Steilflanke zu überwinden. Es ist dies der längste zusammenhängende Anstieg auf der Gipfelroute und kostet immens viel Kraft. Umso mehr, wenn man diese Flanke ohne Steigeisen begeht, ich brocke mir also einen völlig unnötigen Kraft- und Zeitverlust ein, über den ich mich maßlos ärgere. Während wir unter größten Mühen bergauf stapfen, erlebe ich einen der schönsten Tagesanbrüche in meinem bisherigen Bergsteigerleben. Nur genießen kann ich gerade mal nichts davon, ich habe von diesen spektakulären Momenten auch keine Bilder gemacht. Es ist zu kalt, ich bin vor Anstrengung halb erschlagen und dazu missgelaunt, ob des dämlichen Fehlers mit den Steigeisen. Tja, so ist es eben manchmal beim Bergsteigen, man erlebt Momente von derart atemberaubender Schönheit, wie man sie so woanders niemals vorfinden könnte, doch die Umstände, in denen man gerade steckt, erlauben eben mal kein genüssliches Zurücklehnen.
Inzwischen ist es vollends Tag geworden, und wir haben die Flanke mit viel Mühen gemeistert, als es mir in einem dritten Anlauf endlich gelingt, die Steigeisen an meine Stiefel gezurrt zu bekommen. Ich komme nun merklich besser und schneller voran, doch Kraft und Zeit sind bereits in erheblichem Maße verschossen. Unter vielen russischen Bergführern, die uns seit Tagen kennen und beobachten, gelten wir eigentlich mit zu den aussichtsreichsten Aspiranten für den Gipfel, doch jetzt sind wir, die wir vorne gestartet sind, schon weit ins Mittelfeld zurückgefallen, und die ersten Zweifel regen sich in mir, ob ich noch in der Lage sein werde die nötige Energie aufzubringen, um es bis zum Gipfel zu schaffen. Valerij, der seine Steigeisen von Beginn an an den Stiefeln hatte, geht heute voran. Es folgt ein langes Flachstück, bis unter das sogenannte Messer, einem schmalen, steilen und ausgesetzten Firngrat, welcher als die technische Schlüsselstelle auf der Lenin-Normalroute gilt. Gefährlich kann hier die Firnflanke im Falle eines Sturzes werden, dazu kann der Grat überwächtet sein. Aus meiner Sicht sollte ein Absturz über die Firnflanke allerdings keine Todesgefahr bergen, da er in Schnee ausläuft und auch die Fallhöhe absehbar ist, doch etwa ein gebrochenes Bein in nunmehr fast 6800 Metern Höhe wäre schon fatal genug. Vor uns legen die Serben ein Fixseil in den Grat.
Nach dem Messer wird das Gelände abermals flach, vor uns erhebt sich eine mächtige Bergflanke. Doch dies ist nicht der Gipfel, denn diese Flanke wird nun in Aufstiegsrichtung links umgangen, erneut wird es steil. Ich bin fix und fertig.Verschiedene Gefühlswallungen verursachen ein Wechselbad. Immer wieder plagen mich Zweifel, doch glücklicherweise gibt es auch Momente, in denen mich ein Gefühl von Siegeseuphorie übermannt, wo ich wieder daran glaube, den Gipfel zu schaffen.
Nach Überwindung der Steigung erhebt sich dann endlich der Gipfelaufbau vor unseren Augen. Ein Stück weit bergab, dann wiederum flach, und wir befinden uns unter seinem Anstieg. Nun obsiegt wieder das Gefühl, den Gipfel doch noch zu schaffen, ich beginne sogar, mit dem Berg zu reden. Das Wetter verschlechtert sich, die Bewölkung verdichtet sich, leichter Schneefall setzt ein. Der Aufstieg übers Gipfelplateau zieht sich unsäglich in die Länge. Dreimal meine ich, nun endlich den Gipfel vor mir zu haben, dreimal dann die Enttäuschung, dass nach einer Erhebung dahinter noch eine weitere folgt. Dann bin ich soweit. Ich bin bereit, aufzugeben. Wenn die nächste Erhebung nicht der Gipfel sein sollte, dann ist es aus. Ich kann dann einfach nicht mehr und muss mich damit abfinden, den Gipfel eben knapp nicht erreicht zu haben. Valerij ist mir inzwischen weit voraus. Mit ihm ein russisches Pärchen. Ich komme auf die Erhebung. Wieder nicht der Gipfel. Weiter hinten erblicke ich eine weitere Erhebung. Drei Personen im Nebel. Die Szene erscheint mir, als stünden sie dort oben versammelt um einem Altar, an einem geheiligten Ort. Ich bin mir nun sicher, das dort oben ist der Gipfel. Und irgendein Hebel legt sich nun in meinem Kopf um. Ich muss dort hinauf, zum Altar, zum geheiligten Ort! Und ich marschiere weiter, weiter, weiter ... Ich bin nun auf Rufweite zu Valerij, das russische Pärchen ist inzwischen an mir vorbeigekommen, sie haben es mir bestätigt, dort oben ist er ... jetzt höre ich Valerij durch den Wind brüllen "Günter, komm´ hoch, das hier ist der Gipfel!"
Was für ein unscheinbarer, unspektakulärer Ort.Noch dazu höchst unwirtlich, mit Sichtweiten von nicht einmal 10 Metern, die gesamte Umgebung ist zugenebelt, der Wind heult erbärmlich, peitscht uns Schneegischten in die Gesichter. Linkerhand registriere ich ein etwa kniehohes Kreuz, neben dem sich eine kleine Inschrift, ein Kasten oder sowas in der Art, befindet. Rechts eine ebenfalls verhältnismäßig kleine Büste des Namensgebers Wladimir Iljitsch Lenin, umwoben von ein paar im Sturm flatternden Devotionalien. Wir haben es geschafft, 7134 Meter Höhe, der Gipfel des Pik Lenin ist erreicht! Ich lasse einen animalischen Brüller los, der sich aus der Tiefe einer instinktiven Urkraft zu lösen scheint und in dieser Art mir wenige Minuten zuvor noch unvorstellbar gewesen zu sein schien. Es ist dies die Energie jenseits der Normalität, die in uns allen steckt, für gewöhnlich schlummert sie verriegelt hinter einer Barriere und wird meist nur in Extremsituationen, im Wahnsinn, oder wie jetzt, in Momenten höchster emotionaler Erregung abrufbar.
Hastig schießen wir ein paar Fotos in die Runde, und blindlings, ohne Blick ins Display und ohne langes Posieren, fotografieren uns noch schnell gegenseitig. Die Hände werden rasch kalt, die Zeit drängt, der Ort eignet sich unter den gegebenen Umständen ohnehin nicht zum längeren Verweilen. Um 15.30 h habe ich den Gipfel betreten, um 15.39 h verlassen wir diesen wieder. Nicht weit hinter uns folgen noch die Serben, auf die Chilenen treffen wir unten am Bergfuß. Sie wollen unbedingt ebenfalls zum Gipfel, auch wenn dabei absehbar ist, dass sie Lager 3 erst spät in der Nacht erreichen werden. Die Chilenen werden übrigens später über längere Zeit als vermisst gelten, doch schlussendlich sollen sie allesamt - mit Gipfelerfolg und fast alle unversehrt - wieder auftauchen.
Im Abstieg bin ich froh über das Fixseil der Serben im "Messer", denn es ist für für Valerij eine gute Sicherungshilfe. Eigentlich läuft alles prima, ich voraus, Valerij immer mindestens in Sichtweite hinter mir her, bei orientierungsmäßig heiklen oder sonstigen zweifelhaften Passagen, wie eben dem Messer, bin ich direkt bei ihm. Zum guten Schluss geht es den langen Steilhang in Richtung Lager 3 hinunter. Dort verliere ich die Aufstiegsspur, was ich aber als nicht allzu dramatisch nehme. In einer kurzen Nebellichtung erkenne ich unter uns Lager 3 in vielleicht gerade mal 300 Metern Luftlinie. Ich habe am frühen Morgen in Spurnähe eine Spalte gesehen und teile dies Valerij mit. Da wir außerhalb der Spur sind, sollten wir also aufpassen. Ich sehe aber eine problemlose Abstiegsmöglichkeit am Rande des Firns, wo abgeblasener Fels sichtbar ist. Zu Valerij sage ich noch, er möge nun bitte exakt in meiner Spur bleiben. Doch er orientiert sich nach dem GPS, welches ihm zwar den direkten Weg zum verlorenen Pfad weisen, ihn jedoch durch möglicherweise spaltiges Firngelände führen wird. Ich rufen ihm noch zu, mir doch bitte zu folgen, doch er macht seinen eigenen Weg. Das ärgert mich zwar ein wenig, aber ich mache mir darüber noch keine allzu großen Sorgen.
Ich komme im Lager an und beginne schon mal mit der Trinkwasserzubereitung. Mir ist schon klar, Valerij wird länger brauchen, ist normal ...
... es dämmert nun schon, und so langsam mache ich mir doch Sorgen, das dauert einfach zu lange!Und prompt höre ich draußen jemanden den Namen meines Freundes rufen.Ich vermute zuerst, dass der Zeltwart Valerij durch Zurufen die Orientierung erleichtern will und sich die beiden sicher schon erspät haben. Ich krieche aus dem Zelt, und sehe aber, wie der Zeltwart zügig bergauf stapft, immer noch nach Valerij rufend. Das Wetter ist schlecht, Whiteout, so wie die ganze Zeit unseres Abstieges schon, doch ich hatte eigentlich keine Bedenken, dass Valerij auf diese letzten 300 Meter das Lager nicht finden würde, auch an einen Spaltensturz denke ich noch nicht. Sicher, die Gefahr bestand, aber ich hielt sie für nicht allzu hoch. Der Zeltwart verschwindet vor mir in der Nebelküche, ich keuche hinterher. Nach einer Weile kommen mir plötzlich beide entgegen, der Zeltwart und Valerij. Das Unglaubliche ist tatsächlich geschehen: Valerij ist in eine Spalte gestürzt. Da er das Funkgerät bei sich hatte, konnte er einen Notruf absetzen, der wiederum vom Zeltwart gehört wurde. Schlussendlich wurde er nur leicht verletzt, ein paar Prellungen, und er konnte sich mit Hilfe des Eispickels und der Frontalzacken der Steigeisen selbst befreien. Gottseidank war er eben doch schon ein paarmal beim Eisklettern mit dabei! Ich bin entsetzt und erleichtert zugleich. Das hätte ganz anders ausgehen können! Hinterher sollen wir übrigens erfahren, dass auch einer der Chilenen noch einen Spaltensturz haben, sich dabei leicht verletzen und von seinen Kameraden mittels Seil geborgen werden soll. Im Nachhinein, nach intensiven Gesprächen mit der Gruppe, vermute ich sogar, dass dieser in die gleiche Spalte stürzte, wie Valerij. Eben wohl diese eine, welche ich am frühen Morgen gesehen hatte und die sich ganz nahe bei der Spur befand.
Ich möchte an dieser Stelle ein paar Anmerkungen machen bezüglich des Pik Lenin und seinem Ruf als meistbestiegenen 7000er der Welt: am Gipfeltag waren, außer uns, zwanzig bis dreißig weitere Personen zwischen Lager 3 und Gipfel unterwegs, auf den Routen zwischen den tieferen Lagern sind es für gewöhnlich noch mehr. Man kennt das auch von manchen Modebergen in den Alpen, etwa der Montblanc-Normalroute. Das ist sicher oft ein zusätzlicher Sicherheitsfaktor, aber niemals eine Sicherheitsgarantie! Sowohl am Montblanc, als auch am Pik Lenin sind bei extremen Wetterstürzen oft schon zig Personen gleichzeitig in Bergnot geraten und einige dabei umgekommen, trotz dass sie nicht allein unterwegs waren. Und man kann an diesen Bergen sehr wohl mal allein sein. Etwa dann, wenn man außerhalb der Stoßzeiten unterwegs ist, oder, im ganz schlimmen Fall, wenn man im Whiteout die Route verloren hat und möglicherweise bereits in der Flanke nach Tadjikistan oder schnurstracks in den nächsten Gletscherbruch unterwegs ist. Jenseits der Normalroute, ich hab´s im Falle von Valerijs´s Verirrung bereits angedeutet, ist dieser Berg sehr gefährlich. Bei der Rückkehr vom Gipfel waren wir übrigens auch allein unterwegs. Wir wussten allerdings die Serben und die Chilenen noch hinter uns, und ich selbst hatte kaum mal Zweifel darüber, dass wir den Rückweg etwa nicht finden würden. Valerij´s Erlebnisse haben uns aber eindrücklich gezeigt, wie schnell es an diesem Berg lebensgefährlich werden kann. Wir sind beide sozusagen mit zwei blauen Augen davongekommen. Ich selbst würde kein zweites Mal mehr jemanden mit nicht ausreichender alpiner Erfahrung an einen solchen Berg mitnehmen. Was am Ojos del Salado noch halbwegs verantwortbar war, wurde uns hier am Lenin beinahe zum Verhängnis.
Die Dramatik des Tages soll mit unserer Ankunft im Zelt noch nicht vorüber sein. Kaum haben wir uns in die wärmenden Schlafsäcke verkrochen und begonnen, warmes Wasser in unsere strapazierten und dehydrierten Körper zu träufeln, erreicht uns via Funkgerät ein Notruf. Auf der Razdelnaya sei jemand offensichtlich lebensgefährlich höhenkrank geworden, aber keiner der Bergführer in Lager 3 sei derzeit über Funk erreichbar. Ich wundere mich über mich selbst, über die Tatsache, dass ich am Ende dieses Tages tatsächlich noch die Energie aufbringen kann und mir zutraue, mit den entsprechenden Medikamenten auf die Razdelnaya hinaufzusteigen. Kaum bin ich aber abmarschbereit in den Klamotten, kommt der erleichternde Funkspruch, der Patient befände sich inzwischen in der Obhut eines Bergführers.
17.08.2012
Mit einem geliehenen Seil steigen wir frühmorgens nochmal auf, um die Spalte zu suchen, in welche Valerij gestern gestürzt ist, da er das nagelneue GPS dort drin verloren hat. Der Versuch bei Spindrift und beißender Kälte erweist sich als zwecklos und ist auch nicht ganz ungefährlich, denn die Spalte hat es offensichtlich schon wieder zugeweht.
Wir wollen heute absteigen, zunächst einmal bis ins Lager 2, wiederum ohne Frühstück. Ich selbst habe gestern den ganzen Tag über nur mal ein Snickers gegessen und wir haben beide viel zu wenig getrunken. Die Schneeschmelzerei im Lager 3 war sehr mühsam, denn vor dem Zelt blies der Wind zu stark, als dass man dort hätte kochen können und im beengten Zeltinneren ist mit brennenden Kochern, die zudem den ohnehin schon knappen Sauerstoff wegziehen, sehr behutsam umzugehen. Valerij ist heute extrem geschwächt. Im Lager 2 angekommen, gönnen wir uns endlich ausreichend Essen und Trinken, und wir ruhen uns nochmals aus, ehe wir uns daran machen, das Lager abzubauen.
So begeben wir uns denn am späten Nachmittag noch in den Abstieg zum ABC. Wiederum ist das Wetter schlecht, Nebel und leichter Schneefall, wie eben immer um diese Tageszeit. Doch wir wollen unbedingt heute noch das Lager 1 erreichen, welches uns mit all seinen Bequemlichkeiten wie das Paradies auf Erden anlockt.
Nun haben wir den Leningletscher seit unserer Anwesenheit am Berg doch schon so oft begangen. Er ist uns inzwischen vertraut, wir kennen seine heiklen Passagen und fühlten uns bislang eigentlich immer recht sicher. Für mich ist aber in den vergangenen Tagen zuviel passiert. Nicht, dass ich jetzt eine besonders große Angst hätte,eigentlich nur ein unterschwellig ungutes Gefühl, nach dem Motto "ich bin froh, wenn wir das jetzt auch bald hinter uns gebracht haben".
Und prompt kommt es während unseres Gletscherabstieges gleich zu zwei unangenehmen Zwischenfällen. Zuerst rutscht Valerij, den ich am langen und straffen Seil vor mir hergehen lasse, über eine Geländestufe ab und verschwindet aus meinem Gesichtsfeld. Zunächst denke ich an einen Spalteneinbruch, unter den jetzigen Umständen wäre dies allerdings eine ganz blöde Situation. Das Seil steht komplett unter Zug, ich hänge mit der Pickelbremse im Schnee und kann nichts anderes machen, als so zu verharren und zu hoffen, dass Valerij sich selbst aus seiner vermuteten Misslage befreien kann. Ich rufe zuerst, dann brülle ich nach meinem Partner, ich muss wissen, was los ist und wie es ihm gerade geht. Kein Mensch vor uns, kein Mensch hinter uns. Etwa 10 Minuten verharre ich so, sie kommen mir wie eine halbe Ewigkeit vor. Dann endlich sehe ich wieder Bewegung vor mir. Valerijs Kopf taucht auf und ich höre ihn antworten. Schließlich stellt sich heraus, dass er nicht etwa in eine Schneebrücke eingebrochen, sondern einfach nur eine Steilstufe hinuntergerutscht ist. Es ist die Steilstufe des uns wohlbekannten Gletscherschrundes. Diese gigantische Spalte ist immer noch komplett geschlossen und eigentlich derzeit noch gefahrlos. Wie gesagt, es waren nur die paar Meter die Steilstufe hinunter, eigentlich ein harmloser Ausrutscher, aber dadurch, dass ich geschlagene 10 Minuten von Valerij weder Regung noch irgendeinen Laut vernommen habe, waren dies Momente einer völligen Angespanntheit. Hinterher soll sich rausstellen, dass später durchaus noch Personen hinter uns gekommen wären, nur wusste ich dies in diesen bangen Augenblicken ja noch nicht.
Leider ist noch nicht alles ausgestanden. Weiter unten folgt die Schlüsselstelle des Gletschers, eine unangenehm weit geöffnete Spalte, deren überlappende Ränder wenig vertrauenserweckend scheinen. Diese mit unseren schweren Rucksäcken zu überspringen, ist tatsächlich nicht einfach und auch nicht ganz ungefährlich. Ich sehe Valerij seinen schweren Rucksack abziehen, Schwung holen, schwupp, ein kurzes Streifgeräusch und der Rucksack verschwindet in der Spalte. Nicht nur teuere alpine Ausrüstungsgegenstände, nein, auch essentielle Dokumente, wie Reisepass I-Phone und Flugticket scheinen nun unwiderruflich für hunderte oder gar tausende von Jahren in den Tiefen des Eises verschwunden zu sein.
Wir können vorläufig nichts anderes machen, als einfach nur absteigen, um endlich in das sichere Lager 1 zu gelangen. Unterwegs schon besprechen wir uns aber. Ich vertröste Valerij darauf, dass wir unten im Lager mit den Bergführern sprechen werden, vielleicht sehen sie eine Möglichkeit, morgen in die Spalte abzuseilen, um den Rucksack vielleicht doch noch zu bergen.
Zum Schluß sichere ich Valerij noch per "Toter Mann" den letzten Steilhang hinunter, da eines seiner Steigeisen seit dem Abstieg von der Razdelnaya nun auch hinüber ist. Was sind wir schließlich froh, als wir endlich wohlbehalten im ABC eintreffen!
Bei Pamir Expeditions ist es üblich, den Gästen Urkunden zu überreichen, auf welchen die erreichte Höhe eingetragen wird. Für Gipfelsiege werden Kuchen gebacken, die dann an alle Anwesenden verteilt werden. Die Zeremonie wird von einem reichlich besoffenen russischen Bergführer durchgeführt, was großes Amusement hervorruft.
18.08.2012
Valerij ist mit Sergeij und einem zweiten Bergführer zur Spalte aufgestiegen, um einen Versuch zu wagen, den Rucksack doch noch dort bergen zu können. Ich verbleibe solange im Lager, schlurfe erst gegen 9.15 h zum Frühstück. Das Palaver in der Jurte mit Italienern und einer Bergsteigergruppe aus dem Tiroler Außerfern wird so anregend, dass dabei sogar die leckeren Frühstückseier kalt werden.
Valerij und die beiden Bergführer kehren zurück. Es ist ihnen tatsächlich gelungen, den Rucksack zu bergen. Sergeij war an zwei Seilen abgeseilt, es hat gerade mal so gereicht, um den Rucksack zu fassen zu kriegen, der sich dort unten zum Glück verkantet hat und nicht etwa noch tiefer in die Spalte gerutscht ist. Der Inhalt ist vollständig und unversehrt, nur die Lawinenschaufel bleibt in den Tiefen der Spalte verschollen.
Am späten Nachmittag noch gehen wir die Rückkehr ins Basislager an. Eine einzige kitzlige Stelle muss dabei noch passiert werden, nämlich die kurze Steinschlagpassage im Moränenhang. Inzwischen bin ich voller Misstrauen ob unserer gegenwärtigen Fortune, aber wir kommen nun wirklich ohne weitere Zwischenfälle und unversehrt im Basislager an.
19.08.2012
Normalerweise müssten wir nun bis zum 22.08. in Achik Tash ausharren, doch es gelingt uns, sowohl die Rückfahrt nach Osch, als auch den Flug von dort nach Bishkek gegen einen kleinen Aufpreis vorzudatieren. Heute jedoch bleiben wir noch hier, unternehmen eine entspannende Wanderung zusammen mit Sergeij, Dima und unseren moldawischen Freunden Igor und Leonid im Bereich von Achik Tash, bis vor zum Gletscher. Wir bewundern die Vielfalt an Blumen, überhaupt sind wir wieder froh, nach vielen Tagen und Nächten in Eis und Schnee endlich wieder hier auf dieser wunderschönen und klimatisch angenehmen grünen Wiese zu sein. Abends gönnen wir uns noch kirgisische Sauna in einer eigens dafür eingerichteten Jurte. Das Abendessen gerät zu einem unterhaltsamen Abschiedsfest. Auch Kuchen gibt es nochmal: dieser ist für Valerij gemacht, anlässlich seines glücklich überstandenen Spaltensturzes.
20.08.2012
Es ist soweit. Wir verlassen Achik Tash, das Basislager des Pik Lenin. Mit im Fahrzeug sitzen die Serben, mit welchen wir uns inzwischen bestens angefreundet haben. Mit ihnen verbringen wir auch noch unsere Zeit in Osch, wo wir gemeinsam auf den Suleimanberg steigen, gediegen in einem Restaurant speisen und uns noch auf ein paar Getränke in verschiedenen Lokalen der Stadt bis spät in die Nacht begeben.
Auf dem Rückweg zum Hotel raunt uns eine junge Einheimische auf englisch zu, ob wir denn keine Angst hätten. "But this is Osh" fügt sie hinzu, als wir augenscheinlich emotionslos verneinen. Und sie hat durchaus recht, wir wissen das ...
... vor uns auf einer Kreuzung stehen gepanzerte Fahrzeuge, mehrere Uniformierte tragen Maschinenpistolen, eine Wodkaflasche kreist. Wir sind jetzt nur noch wenige hundert Meter von unserem Hotel entfernt, und ich bin heilfroh, als wir unbescholten an der Rezeption ankommen.Wir hatten einen schönen Tag in dieser Stadt zugebracht, dies war der einzige negative Vorfall, den wir hier erlebt haben. Allerdings war mir diese Situation wirklich unheimlich. Osch war in jüngster Vergangenheit mehrfach Schauplatz von blutigen Auseinandersetzungen zwischen Kirgisen und Angehörigen der dort ebenfalls lebenden Volksgruppe der Usbeken. Speziell für diese Stadt besteht seitens des Auswärtigen Amtes eine Reisewarnung.
21.08.2012
Wir fliegen zurück nach Bishkek, wo wir den Tag mit Friseurgang, Shoppen und Besorgungen machen in Begleitung von Valerijs Cousine Aksana zubringen. Abends folgen wir dann der Einladung ins Haus von Valerijs Tante. Eine äußerst charmante und gebildete Dame mittleren Alters kredenzt uns ein leckeres traditionelles Diner auf. Da die Tante eine Französischlehrerin im Ruhestand ist, komme ich zu der Gelegenheit, mitten im zetralaisatischen Kirgistan meine Französischkenntnisse radezubrechen.
22./23.08.2012
Zusammen mit Aksana und deren Sohn Edil fahren wir für zwei Tage in ein Ferienressort am Nordufer des Yssik Kul. Dieser auf 1600 m Seehöhe gelegene See ist nach dem Titicacasee der zweitgrößte Gebirgssee der Welt. Der Yssik Kul weist ein wohltemperiertes, minimal salzhaltiges Wasser auf und ist umgeben von bis zu 5000 m hohen Bergen. Wir machen zwei Tage lang nichts anderes als Baden, Sonnen, Essen ... was für eine Wohltat, nach all den zurückliegenden Strapazen!
24.08.2012
Ich musste gestern Abschied nehmen von Aksana und Edil, die ich beide sehr liebgewonnen habe. Leider auch von Valerij, der ein paar Tage früher, als ich in die Heimat zurückkehren muss.
Kirgistan ist ein Land, welches im großen Maße von Hochgebirgen geprägt ist. Der flächenmäßige Anteil am Pamir ist verhältnismäßig gering, verglichen mit dem Gesamtausmaß dieses Gebirges, aber auch im Vergleich mit einem weiteren zentralasiatischen Hochgebirge, dem Tienshan. Die geographische Grenze zwischen den beiden Gebirgen verläuft in etwa auf Höhe des von Usbekistan her einschneidenden Ferganatals. Mit Pik Pobeda und Khan Tengri erheben sich im kirgisisch-kasachischen Grenzgebiet des Tienshan zwei weitere 7000er, die gleichwohl zu den Gipfeln des Schneeleopardordens zählen.
Nach derart hohen Bergen steht mir bei zwei mir verbleibenden Tagen nicht der Sinn. Dennoch möchte ich meine Reise mit einer weiteren Besteigung abrunden. Gerade mal 40 km südlich von Bishkek befindet sich der Ala-Archa Nationalpark. Es ist dies ein wunderschönes Gebiet mit Bergen bis knapp 4900 m Höhe. Der Ala-Archa-Nationalpark ist sehr gut erschlossen, es existieren neben einem "Alplager" mit zugehörigem Hotel noch eine Berghütte und eine Biwakunterkunft. Landschaftlich kontrastiert diese Gegend in vieler Hinsicht zu dem von uns besuchten Teil des Pamir. Im Unterschied zum Letzteren weisen die Täler im Ala-Archa dichte Tannenwälder auf, das Gebirge erscheint insgesamt felsiger, die vergletscherten Hochgipfel mit ihren schwindelerregenden Steilflanken bieten Eiskletterern und Nordwandbegehern mit extremen Eiscouloirs und Nordflanken ein reichhaltiges Betätigungsfeld.
Der Einfachheit halber lasse ich für ein paar zusätzliche Kun (kirgisische Währung) die Logistik von meiner Agentur Pamir Expeditions übernehmen. Pamir Expeditions wird An- und Abfahrt organisieren und ich werde mich auf der in 3300 m Höhe gelegenen Razek-Hütte nicht ums Essen kümmern müssen, da der dortige Hüttenwart über mein Kommen informiert und dieser für mich kochen wird. Das ist auf der Razek normalerweise nicht üblich.
Um 9 Uhr werde ich von Svetlana und unserem Fahrer vom Hotel abgeholt. Die Fahrt bis hinauf zum Alplager, welches sich am Eingang des Nationalparks befindet, dauert von Bishkek aus nicht einmal eine Stunde. Mein Aufstieg zur Razekhütte vollzieht sich durchs prächtige Hochtal des Aksay-Flusses. Das Teilstück vom Bergwald bis hinauf zum Knieholz und zu den Bergwiesen weckt Erinnerungen an meine früheren herbstlichen Exkursionen in der slowakischen Hohen Tatra. Jenseits der Baumgrenze zeigt sich das Gebirge dann vergletschert. Atemberaubend schroffe und steile, mit einem Eisschmelz überzogene Zähne ragen in den Himmel.Sie sind deutlich weniger hoch, als die wuchtigen, behäbigen und breitschultrigen Riesen der pamirischen Trans-Alai-Kette. Dafür mehr Fels, mehr Senkrechte, Kanten, Spitzen, scharfe Konturen. Eben anders. Am Eingang eines atemberaubenden Bergkessels, welcher ringsum von solchen Berggestalten umschlossen ist, befindet sich die für westliches Empfinden wohl etwas heruntergekommene, jedoch praktische Razekhütte Neben der Hütte gibt es auch Zeltmöglichkeiten.
Bei Ankuft lerne ich Ramon kennen, einen jungen, sympathischen Kerl, der derzeit Hüttenwartsdienst leistet. Dies findet hier oben turnusgemäß statt. Ramon steht praktisch am Ende eines mehrwöchigen Hüttendienstes, so erklärt er mir. Ich will mich noch nicht zur Ruhe setzen, sondern lieber die Gegend so gut, als mir die zwei Tage hergeben, auskundschaften. Ich möchte bis zum Biwak aufsteigen, welches sich am äußersten Ende des Bergkessels, sozusagen auf Tuchfühlung mit den am hintersten im Tal stehenden Eisriesen, befindet. Weglos, mit unregelmäßig erscheinenden Steinmännchenmarkierungen steigt die Route parallel zum Gletscher empor. Das Wetter verschlechtert sich zusehends, zuerst zieht Nebel auf, dann setzt feuchter Schneefall ein, welcher mir die Klamotten nässt. Ich lasse mich aber nicht irritieren und steige tatsächlich hinauf bis hinter das Biwak. Dort stehe ich dann im Angesicht einer urwilden Hochgebirgsszenerie, die mir den Atem raubt. Die gewaltige Nordwand der Karona ragt direkt vor meinen Augen auf, deren Einstieg könnte ich von meinem Standpunkt aus möglicherweise in einer halben Stunde erreichen.
25.08.2012
Doch Nordwände und Eiscouloirs gut und recht, mir steht der Sinn nach einem schlichteren Ziel für meine Abschlußtour. Der Utschitel ist da genau der Richtige. Mit 4500 m Höhe gehört er durchaus mit zu den Großen im Gebiet und ist dennoch von der Razek aus über eine einfache Route ersteigbar, welche bei günstigen Bedingungen nicht über die Ansprüche einer hochalpinen Wanderung hinausgeht. Diese Bedingungen sind derzeit erfüllt, ich brauche nicht einmal die Steigeisen. Viel Schotter, grobes Geröll und zum Schluss noch etwas Schnee auf einem technisch unproblematischen Grat, dann stehe ich nach gut 1200 gestiegenen Höhenmetern auf dem Gipfel dieses wunderbaren Aussichtsberges. Gewaltig ist die Aussicht nach Westen, zu den nahestehenden, eisigen Nachbarn. Da sich der Tienshan hier abrupt aus der Ebene heraus hochhebt, überblickt man diese von hier oben selbstverständlich auch, bis über die Grenze nach Kasachstan hinweg. Der Höhenunterschied zur Ebene vermittelt ein Gefühl von enormer Abgehobenheit. Allerdings ist es dort unten leider etwas diesig. Trotz Dunst kann ich aber Bishkek erkennen. Zu Beginn meiner Reise war ich auf dem Balkon meines Hotels gestanden, meine Neugier erregte der Blick hinauf zu schneeweißen, mir bis dahin noch völlig unbekannten Bergen. Genau auf einem dieser Gipfel stehe ich jetzt und blicke nun hinab auf die Stadt. Ich bin allein auf dem Gipfel, ein eher schwacher, aber unangenehmer Wind bläst und es ist saukalt. Im Abstieg begegnen mir weitere Aspiranten , die allesamt in Zelten bei der Hütte genächtigt haben, ich war Ramons einziger Gast. Vor meiner Rückkehr ins Tal bereitet mir Ramon noch ein schlichtes, aber gutes Mittagessen zu. Dann heißt es, Abschied nehmen, denn ich habe mit Svetlana und unserem Fahrer eine fixe Abholzeit unten im Alplager vereinbart. Das Prachtwetter mit strahlen blauem Himmel setzt sich auch bei meinem Abstieg von der Hütte fort, im Gegensatz zu 4500 m Höhe kann ich hier aber nun im T-Shirt wandeln. Kurz unterhalb der Hütte treffe ich noch auf eine Steinbockherde. Es sind nicht die gleichen, wie bei uns in den Alpen.
26.08.2012
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