Mittwoch, 28. Mai 2008
Zu den Heiligtümern des West-Garhwal
Zu den Heiligtümern des West-Garhwal
Gangesquelle-Tapoban, Dotital, Yamunotri – Kurztreks im zentralen indischen Himalaja
Das mächtigste Gebirge der Welt, der Himalaja, gilt ja bekanntlich bei seinen Bewohnern generell als heilig. Gipfel, Flüsse, Quellen, Bergseen werden oft als Wohn- oder Geburtsstätten der Götter angesehen, als Orte von spiritueller Kraft. Die bekanntesten Beispiele sind wohl der tibetische Kailash, oder der Machapuchare in Nepal. Beide Gipfel sind aus religiösen Gründen zur Besteigung verboten. Die meisten Heiligtümer des Hochhimalaja sind buddhistischer Prägung, der Garhwal hingegen ist mit seinen Pilgerorten Yamunotri, Gangotri, Kadarnath und Badrinath die Pulsader des Hinduismus im Himalaja. Dev Bhoomi – heilige Erde – lautet der geläufige Beiname in Indien für den Garhwal. Eine Yatra ist eine Pilgerfahrt und die Char Dham, die Wallfahrt zu allen vieren dieser heiligen Stätten, kommt in etwa der Bedeutung von Rom, Jerusalem oder Santiago de Compostela im christlichen Glauben gleich. Alle vier Tempel liegen versteckt tief im Inneren des westlichen Garhwal, inmitten spektakulärer Berglandschaft. Ihre Besuche lassen sich jeweils zu großzügigen Trekkingtouren zwischen Gletschern, tosenden Wasserfällen und wilden Schluchten, überragt von spektakulären sechs- bis siebentausend Meter hohen Gipfeln, ausweiten. Ein besonderer Berg ist der Shivling, der Phallus des Gottes Shiva. Man nennt ihn wegen seiner spektakulären Form auch das Matterhorn Indiens, dabei sollte es umgekehrt - das Matterhorn ist der Shivling der Alpen – heißen, denn schließlich überragt der mächtige Shivling mit seinen 6543 m Höhe das Matterhorn um mehr als 2000 Meter! Der Garhwal steht in allererster Reihe von Süden her wie eine Mauer im hereinbrechenden Monsun, und ist somit niederschlagsreich und gilt auch außerhalb der Monsunzeit als sehr wetteranfällig. Große Schneemengen und ausgedehnte Vergletscherungen im Hochgebirge und ein dschungelartiges Subtropengrün in den Vorbergen bilden hier einen Gegensatz zu den tibetisch geprägten Gebieten im Monsunschatten, wie Spiti, Ladakh, Dolpo oder Mustang, wo man auf karge, ockerfarbene Bergwüsten trifft, die verhältnismäßig schwach vergletschert sind und Sommers wie Winters kaum Niederschläge erhalten.
Geographisch gesehen erhebt sich der Garhwal, gemächlich ansteigend, aus der nordindischen Tiefebene und steigert sich mit der Nanda Devi zu einer Höhe von 7816 Metern. Die Nanda Devi ist zudem der höchste Gipfel, welcher sich vollständig auf indischem Territorium befindet. Im Osten schließt sich das Gebiet von Kumaon an. Kumaon und Garhwal bilden seit November 2000 den neuen indischen Bundesstaat Uttarkand, anfänglich auch Uttaranchal genannt. Im Norden grenzt der Garhwal an Tibet, eine nahe, aber faktisch undurchdringliche Grenze, und zwar im politischen wie auch im geographischen Sinne. Gigantische Eiswände hoher Bergriesen, und von tückischen Spalten zerrissene Mammutgletscher versperren von Natur aus praktisch ein Durchkommen. Dort, wo das nicht der Fall ist, verwehren Militär und Grenzposten einen Grenzverkehr hinüber zum ungeliebten Nachbarn China. Die wenigen Straßen, die mühevoll mitten durch die wilde Bergwelt bis zur Grenze der beiden Konfliktnachbarn hinaufgesprengt wurden, sind Produkte militärstrategischer Pläne.
Der westliche Garhwal bleibt - für himalajische Höhenverhältnisse moderat - fast immer unter und reckt sich nur vereinzelt knapp über der 7000-Meter-Grenze. Diese wird nur knapp überschritten durch die Gipfel von Chaukhamba I (7138 m), Chaukhamba II (7068 m) (Chaukhamba = die Himmelssäulen, das Massiv steht am oberen Ende des Gangotri-Gletschers) und Satopanth (7075). Unabhängig von der Höhe befinden sich im Gebiet, neben dem bereits erwähnten Shivling (6543 m), einige weitere renommierte Gipfel, wie etwa der Nilkantha (6596 m), Kedarnath (6940 m) oder Phating Pithwara (6904 m). Der Westgarhwal ist alpinistisch betrachtet eine unendliche Spielwiese für extreme Unternehmungen. Viele Berge lassen sich selbst auf den Normalrouten nur mit enormen alpintechnischen Fertigkeiten ersteigen.
Was ist ein Land ohne seine Bewohner? Die Garhwalis jedenfalls unterscheiden sich schon in den Gesichtszügen von den meisten Volksgruppen des indischen Flachlandes. Auch wenn ihre Sprache mit dem Hindi verwandt ist, stellt das im Garhwal gesprochene Idiom einen eigenen Dialekt dar. Wie auch in vielen anderen Regionen auf dieser Erde sind die typischen Trachten in erster Linie bei den Frauen erhalten. Zu langen Röcken tragen sie auffällig gewickelte Kopftücher, die in den kalten Bergregionen allerdings mehr und mehr durch Wollmützen ersetzt werden, wie man das auch in Ladakh oder in Spiti beobachten kann. Die dominierende Religion im Garhwal ist der Hinduismus.
Die Planung dieser Trekkingurlaubs erfolgte ohne Ehrgeiz zu besonderen alpinistischen oder sportlichen Leistungen. Zum Einen sollte es ein Trip werden, der sich ohne größeren logistischen Aufwand inszenieren lassen sollte, zum Anderen ist Dana, meine Reisebegleiterin, zum ersten Mal in einem solchen Gebiet und konditionell nicht so austrainiert. Am Ende der Ursprungsidee steht dann ein Plan, bei dem landschaftliche Ästhetik und kulturelles Erleben sich zu einer idealen Symbiose ergänzen sollen, mit viel Genuss und verhältnismäßig geringen körperlichen Strapazen. So sollte sich auch die mühevolle Anfahrt durch Etappeneinteilung relativ bequem gestalten. Von Delhi aus sind es gerade mal 6 Busstunden bis zum illustren Wallfahrtsort Haridwar. Die zweite Etappe soll uns bis nach Uttarkashi, einer Kleinstadt tief im Inneren des Garhwal und Ausgangspunkt für den Vorgebirgs-Trek hinauf zum Dodital (Tal = See) bringen und dann erst, nun bestens akklimatisiert, wollen wir hinauf ins auf 3048 Metern Höhe gelegene Gangotri ziehen. Für das Trekking zum Gangesursprung (Gaumukh), weiter über den Gangotri-Gletscher zur Bergwiese (Bugyal) Tapoban (4463 m), abermals den Gletscher zum anderen Ufer hin überquerend zu einem weiteren Bugyal mit dem Namen Nandanban (4337 m) und das Ganze wieder zurück nach Gangotri habe ich zwischen 6 und 8 Trekkingtage veranschlagt. Dass der Plan, wie so oft auch bei früheren Gelegenheiten, während der Reise aus verschiedenen Gründen modifiziert werden musste, stellt die Notwendigkeit der gründlichen Vorplanung einer solchen Reise keinesfalls in Frage.
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Direktflug Frankfurt – Delhi, Landung 4 Uhr morgens, Taxifahrt zum Kashmiri – Gate, 7 Uhr Abfahrt nach Haridwar – alles geht zu Beginn recht schnell und routiniert, was man bei meiner dritten Niederkunft in der indischen Hauptstadt auch erwarten darf. Dana geht es nicht gut, sie hat bereits von zuhause eine heftige Erkältung nach Indien eingeschleppt. Sonst sind oft die Airconditionanlagen auf Interkontinentalflügen die Gefahrenquelle für Erkältungskrankheiten. Zum ersten Mal seit langem bleibe ich von diesem Schicksal verschont. Erfahrungsgemäß tritt bei einem anschließenden Aufenthalt in großen Höhen wochenlang keine Besserung solcher Infektionen ein, gegenteilig verstärken sie sich dort meistens noch.
28.04.2008
Nach dem nordindischen Winter folgt jetzt im Tiefland die heißeste Jahreszeit, die sich bis zum Auftreten des Monsun (normalerweise Anfang Juni) ständig steigert. Ich empfinde die Hitze diesmal weniger lästig, als bei meinen beiden vorhergehenden Aufenthalten, da die Luft jetzt wenigstens trocken ist. Heute morgen durfte auch Dana das Erwachen am Kashmiri-Gate erleben (siehe Reisebericht "Wo Himmel und Erde zusammentreffen"), sicher ein Schock für Leute, die zum ersten Mal ein Land wie Indien bereisen und keine psychologische Vorbehandlung auf derartige Verhältnisse erhalten haben :-)).
Die heutige Fahretappe führt uns durch´s nordindische Flachland hindurch direkt an den Rand der Himalaja-Vorberge (Shivalik-Gebirge). Haridwar gilt für Hindus als einer der geheiligsten Orte Indiens. Für sie ist Haridwar der Platz, wo der Ganges das Gebirge endgültig verlässt und sich breit und träge ins Flachland hinauswälzt. Ghats sind Treppen an Flussufern, die Gläubigen zu rituellen Bädern dienen. Der Har-Ki-Pairi-Ghat in Haridwar ist diesbezüglich einer der bedeutendsten und wird selbstverständlich dementsprechend häufig frequentiert. Im Inder-Kutir-Guesthouse finden wir eine schlichte Unterkunft. Dana geht es gar nicht gut, sie bleibt am Nachmittag im Hotel zurück. Ich erkunde derzeit das Stadtgebiet und verbrenne mir bei diesem Anlass gleich das Genick, da ich beim Verlassen des Hotels dummerweise nicht an die dringend nötige Sonnencreme gedacht habe. Meine Gesichtshaut ist zwar durch die zurückliegenden Winter- und Frühjahrstouren in den schneebedeckten Alpen schon gut an die Sonne gewöhnt, der Nacken war aber dort durch die nötige Jacke meist vom Sonnenlicht abgedeckt. Das Hotel liegt nur wenige Meter vom Ganges-Ufer entfernt, gleich um die Ecke erreicht man durch eine kleine Nebengasse das Flussufer mit einem Minitempel. Dort sitzen dann auch schon eine Gruppe von Sadhus. Sadhus sind hinduistische Wanderasketen, allgemein als Heilige verehrt. Ein Sannyasin wird als besitz- und heimatloser Asket definiert, inwiefern oder ob überhaupt ein Unterschied dieser Beruf (-ung)sgattungen besteht, ist mir nicht bekannt.
Ich schlendere weiter zu einer Brücke, die einen schmutzigen, nur wenig Wasser führenden Nebenbach überquert. Hier scheint offenbar ein Treffpunkt für Anhänger des sogenannten linken Pfades zu sein, die dem Gott Shiva huldigen, dem Herrn der Zerstörung. Auf dem Hin- und Rückweg vom Hotel zum Zentrum soll ich immer wieder diese Brücke passieren und ständig kreisen dort süsslich dampfende Haschisch-Chillums. Kurz hinter besagter Brücke folgt eine weitere, große, die auf´s jenseitige Ufer des Ganges führt. Parallel zu den dortigen Ghats zieht sich schnurgerade eine Allee bis zu einer weiteren Brücke entlang. Sämtliche Bäume sind dort mit kleinen hinduistischen Schreinen versehen, die meist Shiva geweiht sind und unter deren schattigen Baumkronen jeweils kleinere Gruppen dösender oder meditierender Asketen zusammengeschart sind. Auch kleinere Chai- und Imbissbuden befinden sich hier. Wieder am anderen Ufer angekommen, befinde ich mich nun im Zentrum der Stadt, wo sich auch der Fokus für die heiligen Zeremonien rund um den Har-Ki-Pairi-Ghat befindet. Hinter dem Flussufer entfaltet sich ein lebendiger Basar, die Gerüche Indiens kitzeln meine Nase: Dhal-Gerichte, Süssigkeiten, Bidis, Räucherkerzen, dampfende Chaiküchen. Fast der gesamte Uferbereich in der Stadt ist in einem Abstand von wenigen Metern vom Ufer in den Fluss hinein durch Halteketten versehen, welche zur Sicherheit der Badenden dienen, da der Ganges eine reißende Strömung hat. Gebadet wird praktisch überall, doch besonders hier, am und um den Har-Ki-Pairi, schart sich die Mehrzahl der Pilger, Sadhus und Touristen. Das heilige Bad wird jedoch nicht immer mit spirituellem Ernst genommen, sehr oft erscheint es nicht anders, als bei uns in den sommerlichen Badeanstalten. Es wird gelacht, herumgespritzt und sonst herumgealbert, Erinnerungsfotos werden geschossen. Nur die Sadhus verlieren beim Baden niemals ihre würdevolle spirituelle Haltung. Manchmal vergeistigt wirkend, gelegentlich ernst oder sich gekehrt, häufig aber auch den Fremden offen anlachend, scheinen sie dabei niemals den eigentlichen Sinn ihres Tuns zu vergessen. Die Saison für westliche Touristen scheint augenscheinlich noch nicht angebrochen zu sein, am Nachmittag sehe ich überhaupt keine und abends nur wenige. Am frühen Abend fahre ich mit der Seilbahn zum auf dem Hang über der Stadt thronenden Mansa-Devi-Tempel auf. Der wie im Buddhismus von links nach rechts begangene Tempel besteht innen aus verschiedenen kleinen Schreinen, in denen jeweils ein Pujari (Tempelpriester) sitzt, der die Gläubigen mit heiligen Weihen versieht und auch eine Spende erwartet. Der Hauptschrein ist der Göttin Durga gewidmet. Die Hauptattraktion stellt für mich persönlich aber das wunderbare Panorama dar: hier oben wird einem so richtig bewusst, dass in Haridwar tatsächlich der Ganges das Gebirge verlässt, auch wenn diese unbedeutenden Bergzüge, die sich unmittelbar ins Flachland herabsenken, die Dimensionen des Hochhimalaja nicht annähernd erahnen lassen.
Ich nehme noch einen kurzen Chai auf der Veranda des dem Tempel benachbarten Restaurants und blicke hinab auf den breit sich in die diesige Ferne des offenen Flachlands hinauswälzenden Ganges und auf das schlauchartig ans Kanalufer sich schmiegende Haridwar. Der Fluss wird übrigens oberhalb des Ortes durch einen Staudamm zweigeteilt, der Har-Ki-Pairi befindet sich demnach nicht am Hauptfluss, sondern eben am Kanalufer. Unten im Ort gehen die ersten Lichter an, es wird Zeit für mich, der allabendlichen Ganga-Aarti-Zeremonie unten an den Ghats beizuwohnen. Die Puja zu Ehren der Göttin Ganga wird auch an anderen Orten entlang des Ganges jeden Abend zum Sonnenuntergang zelebriert, doch hier, in Haridwar, ist sie besonders eindrucksvoll. Bis ich wieder unten bin, sind beide Flussufer rund um den Ghat über und über mit Menschen gefüllt. Eifrige Spendeneintreiber wuseln umher, schließlich gebe auch ich mich gegen eine Quittung spendewillig, denn sonst hat man wirklich keine Ruhe :-))! Flussabwärts geschaut, am unteren Ende des Ghats, befindet sich der Haupttempel, wo die Feier ihren Ausgang findet. Mit der untergehenden Sonne treten mehrere Pujaris mit brennenden Fackeln aus dem Tempel heraus und begeben sich zum Ufer, wo mit kreisenden Bewegungen die Puja zu Ehren der lebensspendenden Flussgöttin zelebriert wird. Das Spektakel wird begleitet von sakralischen Gesängen, die Gläubigen setzen kleine Blumenboote mit brennenden Kerzen in den Fluss. Kleine Mädchen gehen mit den brennenden Flammen durch die versammelte Audienz hindurch. Ein Jeder fasst kurz mit der Hand in die Flamme und fährt sich anschließend mit der die Flamme berührten Hand über´s Haupt. Ich selbst gehe der Flamme aus dem Wege, habe Angst, in meiner Unerfahrenheit mir die Pfoten zu verbrennen. Bevor ich endgültig ins Hotel zurückkehre, nehme ich noch einen Happen in einer der vegetarischen Dhabas. In der heiligen Stadt Haridwar gibt es übrigens nirgendwo Fleisch!
29.04.
Nach dem Frühstück fahren wir mit dem Bus weiter nach Rishikesh, welches nur eineinhalb Fahrstunden von Haridwar entfernt ist. Von dort aus folgt die lange, kurvenreiche Fahrt tief hinein in die grünen Himalaja-Vorberge bis nach Uttarkashi. Steile Feldterrassen, tief unter uns schwindelerregende Schluchten, üppig grüne Berglandschaft und dramatisch an deren Hängen klebende Bergdörfer prägen die Impressionen, die am Busfenster vorbeiziehen. Um 17.30 h treffen wir gut durchgeschüttelt und mit verknoteten Gliedmassen in Uttarkashi ein. Das Städtlein befindet sich im Tal des Baghirati-River, welcher später, nach dem Zufluss weiterer Bergbäche, den Namen Ganges erhält. Für 150 Rupien (ca. 2 Euro 50!) ist rasch eine Unterkunft gegenüber dem sich an der Hauptstrasse befindlichen Busbahnhof gefunden. Von hier aus wollen wir, wenn möglich schon am folgenden Tag, unsere Akklimatisierungstour hinauf zum Dodisee beginnen. Wir erkundigen uns im Hotel nach der Möglichkeit, einen Träger zu engagieren. Nach dem Abendessen in einer Dhaba stellt sich uns Anil als Guide vor. Einen Guide hätten wir für den Doditaltrek nicht gebraucht, der Träger alleine hätte es getan. Dennoch ist es nicht ungünstig, einen Einheimischen dabeizuhaben, der die Gegend kennt, und mit dem man auf englisch kommunizieren kann, was bei den meisten Nur-Trägern nicht der Fall ist. Es ist schließlich und endlich auch alles bezahlbar, und zwei Einheimischen ist mit einem vorübergehenden Arbeitsplatz ebenfalls geholfen, also willigen wir ein.
30.04.
Nach dem Frühstück werden noch ein paar Besorgungen im Basar getätigt. Zuviel Zusatzproviant wird nicht nötig sein, da sich nach Aussage von Anil auf dem Weg zum Dodital einige Dhabas und Teastalls befinden. Er stellt uns Babbu, kurz Babbs genannt, vor, einen jungen Studenten aus Uttarkashi, der die Trägerarbeit übernimmt. Der Trek zum Dodital hatte vor Jahren noch seinen Ausgangspunkt in einem Ort, der in der 1:150.000er-Karte der Schweizerischen Stiftung für alpine Forschungen, übrigens dem besten Kartenwerk, welches für dieses Gebiet zur Verfügung steht, mit dem Namen Neganri bezeichnet ist und auf etwa 1100 Metern Seehöhe liegt. In Neganri fließt der Bergbach Kaldi Gad in den Bagirati hinein. Inzwischen führt aber eine Strasse entlang des Kaldi Gad aufwärts bis zu einer kleinen Ansammlung von Teestuben und Behausungen, welche von den Einheimischen als Sangam Chatti bezeichnet wird, und welche sich an einer Konfluenz zweier Bergbäche befindet. Die Karte bezeichnet hier die Höhenangabe von 1532 Metern. Wir stärken uns zunächst noch mal im Schatten einer der dortigen Dhabas. Um 11.20 Uhr werden die Rucksäcke geschultert und die ersten Schritte auf unserer Trekkingtour getan. Auch wenn es dabei anhaltend steil aufwärts geht, bietet die Strecke mit einer Nettogehzeit von ca. zweieinhalb Stunden und etwa 600 Aufstiegsmetern eine ideale Eingehetappe.
Der gut ausgebaute Mauleselpfad erinnert mich an gleichartige Wege im Tessin oder im Piemont, allerdings führen die steilen Serpentinen durch üppig grün wuchernden Subtropenwald, der uns bei dem mittäglichen Aufstieg hochwillkommenen Schatten spendet. Unter dem Schatten spendenden Dach eines derzeit unbewirteten Teastalls gönnen wir uns nach einer Stunde Gehzeit die erste Pause. Kurz darauf trifft eine etwa 30-köpfige Gruppe von Schülern und Lehrern der Mussoori-Public-School mitsamt Führer und Begleittross ein. Die Kerosinkocher werden in Gang gesetzt, Mittagspause. Wir hingegen setzen unseren Weg fort, der uns alsbald ins malerisch in den Hang gebaute Garhwali-Dorf Agoda führt. Im oberen Teil der Ortschaft rasten wir erneut unter der schattigen Krone eines riesigen Wahlnussbaumes, der zum blumenbestandenen Garten einer kleinen Lodge gehört, von der aus wir bei wohltuendem Chai entspannende Blicke schweifen lassen können über die steilen Terrassenfelder und die Schieferdächer der Bauernhäuser hinweg in den Schluchteneinschnitt, bis hinunter zur Schluchtenkreuzung, wo wir unsere Wanderung begonnen haben. Im gegenüberliegenden Hang braust ein Wasserfall wie ein silberner Faden über aalglatte, nassglänzende Felsplatten hinweg. Von der Lodge aus ist es nur noch ein kurzes Stück bis zu unserem Etappenziel Bebra-Gate. Wir lassen uns von den dramatischen Tiefblicken hinunter in die Schlucht beeindrucken, und die sich jetzt ins Blickfeld schiebenden Bergkuppen oberhalb der Baumgrenze tragen noch Schneefelder vom erst kürzlich vergangenen Winter. Um in die Almsiedlung Bebra-Gate zu gelangen, führt der Weg aus der Hauptschlucht hinaus und bringt uns entlang eines Nebenbaches über eine Brücke hinweg in das von steilen Felswänden und Waldbergen umragte Lager.
Da wir schon um 15.30 Uhr eintreffen, bleibt genügend Zeit zum Relaxen. Die eintreffenden Schüler aus Mussoori begeben sich unverzüglich zum Baden im Gebirgsbach. Wir positionieren unsere Zelte etwas abseits von der Dhaba und dem kleinen Übernachtungshäuschen für Leute, die ohne Zelt unterwegs sind. Weiter vorne befindet sich ein zweiter Teastall, danach reihen sich ein paar Bauernhäuser hangaufwärts. Ein bekannter indischer Stahlkonzern hat seine Führungsriege zum Teamtraining hierher geschickt. Sie machen mich neugierig mit ihrem Bericht von einem Gipfel namens Darwa Top (4131 m). Der 3700 Meter hohe Darwa-Pass ist mir bereits ein Begriff. Er dient u.a. als Übergang ins Tal der Hanuman Ganga, von wo aus man das Dorf Hanuman Chatti erreichen und von dort aus zum Tempel von Yamunotri gelangen kann. Diese Option habe ich ausgeschlossen, da ich Dana nicht so schnell auf solche Höhen hinaufdrängen will und auch der Rückweg von Yamunotri aus bis nach Gangotri mir sehr umständlich erscheint. Der Gang hinauf zum Pass und zurück als Tagesausflug wäre eine Variante, das Ganze mit einem Gipfel garniert allerdings noch verlockender. Ab dem Pass würde allerdings noch sehr viel Schnee liegen, in den sie teilweise tief eingesunken seien. Die Gruppe hat den Darwa Top übrigens in Begleitung eines örtlichen Bergführers erklommen. Ich male mir schon aus, dass ich ja von der gelegten Spur profitieren könnte ... :-))
Abends gibt es dann Folklore, aufgeführt von einer Gruppe garhwalischer Männer, die Tanz und Gesang präsentieren, begleitet von zwei in der Mitte positionierten Trommlern. Das Innovationsteam des Stahlkonzerns ist aufgefordert, die Tänze nachzuahmen. Teil des Trainingsprogramms? Das nächtliche Glockengebimmel von den in der Umgebung grasenden Packtieren vermittelt eine mir so vertraute und geliebte Klangkulisse, wie ich sie auch von den Almen der heimischen Alpen oder der von mir so oft besuchten Karpaten her kenne. Auch entfernte Rufe höre ich, vermutlich einige Viehhirten auf der Suche nach verlorengegangenen Tieren. Ängstliche Seelen könnten sich jetzt auch gewisse Szenen aus dem Film "Blairwitch" ausmalen ... :-))
01.05.
Um sechs Uhr schleiche ich schon ums Zelt, Dana schläft noch. Chai, Chapatti und Omelette zum Frühstück, gegen 8.30 Uhr sind wir wieder auf dem Weg. Zunächst geht es steil an den oberen Behausungen vorbei. Beim Ausstieg aus dem Talkessel von Bebra Gate bietet sich uns ein herrlicher Rückblick zurück auf das in die enge Talfurche hineingeklemmte Bebra Gate. Bald erreichen wir wiederum den Rand der Hauptschlucht. Der Fluss tobt mehrere hundert Meter tief unter uns. Eine Gruppe von Linguren ergreift die Flucht. Die schwarzgesichtige, langschwänzige Affenart sieht man hier wesentlich seltener, als ihre Brüder, die Rhesusaffen. Was die Affen betrifft, habe ich noch nirgendwo so viele gesehen, wie auf dieser Reise durch den Garhwal. Im Stadtgebiet ist bei den Rhesusaffen Vorsicht geboten, sie können mitunter sehr aggressiv und unverschämt sein, und man sollte nicht vergessen, dass Indien eines der Länder mit der weltweit höchsten Tollwutverbreitung ist.
Hoch über der Schlucht zieht der schöne Weg durch die bewaldete Bergflanke.
Felsdurchsetzte, baumlose Grasberge mit leuchtenden Schneeflecken treten ins Gesichtsfeld. Zwei Adler kreisen hoch über unseren Köpfen. Die Vegetation ist eine Wonne für sich: der Rhododendron entfaltet gerade seine ideale Blüte auf etwa 3000 Metern, viele weitere Pflanzen, Bäume Sträucher und Grasarten entzücken, leider kenne ich von den meisten deren Namen nicht. Seit meiner ersten Himalaja-Tour rund um die Annapurnas im März 2002 habe ich keine Rhododendronblüte mehr erleben dürfen und die Reminiszenz an damals kehrt in meine Gehirnwindungen und in meine Seele zurück. Unterwegs rasten wir in insgesamt drei Teastalls, die Route ist diesbezüglich wirklich komfortabel ausgestattet! Um 16.15 erreichen wir den Dodital, einen von steilen Waldbergen eingekesselten, malerischen Bergsee auf 3045 Metern Seehöhe. Auch hier befindet sich eine kleine Dhaba, geräumige Zeltwiesen, ein paar Bauernhäuser und ein direkt am Seeufer situierter Tempel, der Ganesh geweiht ist. Ganesh ist der unverwechselbare Gott mit dem Elefantenkopf. Er steht unter anderem für Klugheit und wird somit gerne vor Prüfungen oder anderen, die menschliche Intelligenz herausfordernden Lebenshürden um Beistand gebeten. Der See hat nach Süden hin einen Ausfluss. Der Pujari des Ganesh-Tempels soll mir später erklären, dass der ausfließende Bach den Namen Assi Ganga trägt, was bedeuten soll, dass darin 80 Quellbäche vereinigt sind, die wiederum hinunter zum Baghirati-River und damit dem Ganges zugetragen werden. Wer das wohl nachgezählt hat?
Abends lädt mich der Tempelpriester zur Puja ein. Ich darf zusammen mit den örtlichen jungen Mädchen eine der Tempelglocken bedienen, bis mir selbst die Ohren klingeln. Anschließend erhalte ich den Segen des Pujari, welcher mir unter gemurmelten Mantras mittels eines roten Punktes auf meine Stirn erteilt wird. Der Punkt in der Stirnmitte zeigt eine der spirituellen Kraftzentren des menschlichen Körpers an. Es gibt noch weitere, doch dieses ist das einzige von außen sichtbare. Auch Blüten, Räucherkerzen sowie das Wasser des Dodisees dienen als Sakrilegien während der Zeremonie. Für den Tempel am Dodital sind übrigens vier Priester zuständig. Für die Teilnahme an einer Puja wird immer eine Spende erwartet, deren Höhe der Teilnehmer selbst bestimmt, auch wenn gar mancher Pujari den Ausländer zu einer oft hohen Opfergabe überreden will.
02.05.
Dana legt heute einen Resting-day ein, was ihrer Akklimatisation zugute kommt und sie so obendrein noch ihre zähe Erkältung etwas auskurieren kann. An einem so schönen Flecken, wie dem Dodital kann man sich durchaus einen schönen Tag machen. In den umliegenden Wäldern wimmelt es zudem vor exotischen Vögeln und anderen Tieren. Das Baden im See ist allerdings untersagt. Ich ziehe zusammen mit Anil in Richtung Darwa-Pass. Wir haben nur leichtes Gepäck, gefüllt mit Tagesverpflegung, sowie warme Jacken dabei. Steil und schön geht es die nördlich des Seeufers markant einschneidende Schlucht aufwärts. Die Auslaufkegel vieler Frühjahrslawinen ziehen aus steilen Seitencouloirs zum Hauptbach hinunter. Nach einer Zeit steigen wir linkerhand in einer Nebenschlucht empor. Langsam erheben wir uns über die Baumgrenze hinweg. Die Schneefelder um uns werden größer, aber der Weg bis in den Pass hinein lässt sich problemlos begehen. Die Aussicht von dort oben ist fantastisch: die beiden Gipfel des eisbedeckten Bandarpunch (6387 m, 6316 m) sind hier ganz nah. Im fernen Westen leuchten ganze Ketten schneeweißer Bergriesen, deren genaue Benennung mir von hier aus allerdings kaum möglich ist. Etwa 150 Meter unter uns kann ich eine kleine Ansammlung von Schäferhütten ausmachen. Anil erklärt mir, dass dort normalerweise das Nachtlager aufgeschlagen wird, wenn man vor hat, entweder die Tour hinüber nach Hanuman Chatti oder den wesentlich anspruchsvolleren Trek über den hochalpinen Bamsaru Khal (4787 m) zu machen, welcher den Trekker ins obere Baghirati-Tal bringt. Man erreicht dieses dann auf etwas oberhalb der Hälfte der Fahrstrecke zwischen Uttarkashi und Gangotri. Dieser Trek erfordert einen hohen Aufwand an Logistik, eine gute Kondition der Teilnehmer und einen zuverlässigen Führer, weshalb ich ihn für diese Reise ausgeschlossen habe.
Der Darwa Top und sein 4075 Meter hoher Vorgipfel liegen noch komplett unter Schnee. Mir ist die Aufstiegsroute nicht ganz klar und ich kann die Spuren unserer Vorgänger leider nicht ausmachen. Anil behauptet, wir seien hier, im Pass, bereits auf dem Darwa Top. Somit kennt er diesen Berg gar nicht und kann damit auch nicht die richtige Aufstiegsroute anführen. Durch die fortgeschrittene Tageszeit scheint die Schneedecke auch schon recht durchfeuchtet, in einem Steilhang weiter oben sichte ich ein Schneemaul. Hmmm. Würde ich weitergehen, wäre Anil als Führer diskreditiert. Ich zaudere mit mir selbst. Soll ich eine trotz der Umstände durchaus gut mögliche Gipfeloption einfach sausen lassen? Ja, diesmal werde ich! Gemütlich plaudernd über Familie, Frauen, das Leben in Deutschland und in Indien, über Anils Pläne, eine eigene Trekkingagentur aufzubauen und andere Dinge verbringen wir gut anderthalb Stunden auf der Passhöhe. Die Aussicht ist auch von hier aus herrlich und ringsum herrscht tiefste Einsamkeit! Verlockend erscheint mir auch der dramatische Taleinschnitt, der hinunter nach Hanuman Chatti führt. Die Bewölkung bauscht sich langsam immer mehr auf, die Fernsicht gen Westen wird diesig und lässt die dortigen Berge bald nur noch wie eine verschwommene Fata Morgana erscheinen. Das Phänomen der nachmittäglichen Wetterverschlechterung hat sich uns in den vergangenen beiden Tagen schon gezeigt und soll für den Rest unseres Trekkings schon fast zur festen Regel werden. Frühmorgens zu marschieren, wäre die beste Tageszeit, sowohl was die klare Sicht betrifft, als auch bezüglich der sich nach 10 Uhr zunehmend unangenehm bemerkbar machenden Hitze, der man hier im Vorgebirge noch besonders stark ausgesetzt ist. Dana ist leider keine allzu willige Frühaufsteherin und braucht dann morgens auch eine gewisse Zeit. Hier auf dem Doditaltrek hat man allerdings den Vorteil, meistens in Schatten spendenden Wäldern unterwegs zu sein.
Durch die beiden wilden Schluchten geht es dann im flotten Abstieg wieder zurück zu den Gestaden des Dodital. Auch Dana war heute aktiv. Sie war mit Harsha, einem indischen Naturliebhaber, den wir bereits bei einer Pause an einem der Teastalls kennen gelernt haben, auf Vogelexpedition. Ich mache ihn neidisch mit dem Bericht, dass wir unterwegs einen Monal an uns vorbeifliegen sehen haben. Ich spaziere dann noch mit Dana rings um den See, wobei wir im Unterholz drei weitere Monals ausmachen, an die ich mich mit meinem Fotoapparat heranzupirschen versuche. Wieder zurück in der Dhaba, zieht ein heftiger Wind auf, und wir fürchten beinahe schon um unsere Zelte. Bei den Schülern aus Mussoori flattert bereits ein Überzelt unkontrolliert im Wind umher. Ein paar zuckende Blitze, Donnergrollen, ein kurzer Schauer, dann beruhigt sich das Wetter wieder. Gestern abend hatten wir übrigens das gleiche Spektakel. Zum Sonnenuntergang nehmen wir an der Puja teil, wo uns anschließend der Pujari einen längeren Vortrag über die Entstehung des Tempels und die heilige Bedeutung des Doditals hält. Als Übersetzer ist uns Harsha dienlich. Harsha ist übrigens ein Mann mit einer bemerkenswerten menschlichen Einstellung und frei von jeglicher Arroganz bezüglich Herkunft und Beruf, was bei einer großen Anzahl von wohlhabenden Indern leider Gottes nicht immer der Fall ist. Vom Tempel aus begeben wir uns noch gemeinsam in Harsha´s Lodge. Dort erhalten wir bei schummrigem Kerzenlicht eine kurze Einweisung in die erste und sehr einfache Yogaübung der transzendentalen Meditation. Harsha lässt auch noch ein paar Erläuterungen zum Hinduismus folgen. Er spricht etwa das Kastensystem an. Es sei im Ursprung dieser Religion nicht vorgesehen gewesen, dass dieses zur Unterdrückung oder Diskriminierung der höheren gegenüber der niedrigeren Kasten missbraucht würde. Eine Koexistenz auf gleicher Ebene, wenn auch in verschiedenen Berufssparten sei der wahre Sinn. Will heißen, dass man den Schuhmacher genauso benötigt, wie den Chettri (Krieger) zu Landesverteidigung oder den brahmanischen Priester zum Feiern der heiligen Puja. Auch auf die Tätigkeiten während einer Puja geht er ein: jede dieser, für im Christentum erzogene Personen wie Götzendienst erscheinenden Rituale, ist reine Symbolik und man muss den spirituellen Sinn, der dahintersteckt, kennen und verstehen. Das ist auch dem Christentum nicht fremd. Zum Vergleich verweise ich auf die Hostie als objektives Nahrungsmittel im Bezug zu deren Symbolik während der Eucharestiefeier. Was Harshas Bemerkungen über das missbrauchte Kastensystem anbelangt, bestätigt sich meine eigene Theorie zu Religion generell: praktisch jede Religion kann zum Guten und zum Schlechten ge- oder missbraucht werden. Es spielt meiner Ansicht nach keine Rolle, für welche Religion man sich entscheidet. Wesentlich ist, welche moralischen Grundsätze und Verhaltensweisen ich mir aus dieser ableite.
Die Nächte am Dodital haben so etwa 5 bis 6 Grad plus, doch der Wind verstärkt das Kälteempfinden, weshalb wir schlussendlich froh sind, uns in die warmen Schlafsäcke und unter´s winddichte Zelt verkriechen zu können. Nachts werde ich durch ein eigenartiges Geräusch geweckt. Ein kurzes, sehr lautes Bellen, das fast schon dem Hupen einer Pressluftfanfare gleicht. Ich kann dieses Geräusch in keinster Weise etwas mir Bekanntem zuordnen.
03.05.
Beim Frühstück erfahre ich von Harsha, um was für ein Tier es sich heute nacht gehandelt hat: ein Barasinga ist eine Hirschart, welche ein Geweih mit zwölf Hörnern besitzt, was aus dem Hindi-Wort "Barasinga" ("Zwölfhorn") auch hervorgeht. Das Tier ist harmlos und zeigt sich normalerweise äußerst selten. In diesem Fall ist unser Barasinga vermutlich zum Salzlecken an den See hinuntergekommen. In den Wäldern des Vorhimalaja leben übrigens auch Raubkatzen und Bären, von Letzteren eine besondere Art, die sich durch eine längliche, sehr schlanke Körperform kennzeichnet. Der Dhababesitzer und ein paar weitere Locals machen sich über einen Mann lustig, den man im Volkschargon wohl als Dorfdeppen bezeichnen würde. Der Depp plädiert für eine Straße, die bis zum See hinaufführen soll. Das alles wird mir von Harsha übersetzt. Mit der Anfügung des Kommentars, dass gewisse geschäftstüchtige Strassenbauingenieure bereits den gleichen Gedanken des Dorfdeppen ausgebrütet haben. Welche Folgen das für die Teastallbesitzer, Träger, Führer und Maultiertreiber hat, wenn eine beliebte Trekkingroute stirbt, das habe ich an anderer Stelle schon ausgeführt. Harsha erläutert weitere Gesichtspunkte: den Eingriff in ein bislang intaktes Tierhabitat und die einschneidende Konsequenz, wenn eine Straße den Wohnort eines Tieres und dessen Futterplatz durchtrennt, sowie die Kettenreaktion auf andere Tiere und Pflanzen in derselben Nahrungskette. Aber auch die Gefahr des Überfahrenwerdens und die Stresssituation eines Tieres, welches gezwungen ist, über eine befahrene Straße zu wechseln.
Heute ist Abstiegstag, Aufbruchszeit 9.15 h. Der erste Teastall auf dem Rückmarsch befindet sich inmitten einer Alm, von der aus man die schneeweiße Kuppe des Bandarpunch über mit Neuschnee getünchte 4000er-Gipfel hinausragen sieht. Wir treffen Harsha wieder, der vor uns aufgebrochen war. Er hat hier seine Bekannten wiedergefunden, die im Anstieg zum Dodital zurückgeblieben waren und auf die er eigentlich oben am See gewartet hatte. Der Grund war, dass es dem kleinen Buben in der Gruppe nicht so gut ging. Jetzt wollen sie alle zusammen abermals zum Dodital hinaufgehen. Die Mutter des Buben, eine zierliche, attraktive Frau in den Enddreißigern, war übrigens vor Jahren an einer kleinen Privatexpedition am Everest beteiligt. Wegen Wetterumschwungs mussten sie nur kurz unterhalb des Gipfels umkehren. Die Expedition verwendete allerdings Sauerstoff. Zuvor war uns eine größere indische Trekkinggruppe entgegengekommen. Die Bekannte von Harsha erklärt uns, dass diese Trekkinggruppe von Bachandri Pal geführt wird. Bachandri Pal erreichte im Jahr 1984 als erste indische Frau den Gipfel des Mount Everest. Im weiteren Abstieg finden wir sämtliche Teastalls verlassen vor. "Wirtesunntig", wie es Dana trefflich auf schwyzerdütsch ausdrückt. Am Nachmittag erreichen wir schließlich wieder unseren Ausgangspunkt Sangam Chatti, wo wir einen raschen Rücktransport per Jeep zurück nach Uttarkashi ergattern können. Für gerade mal 50 Rupien mehr erhalten wir im Hotel Shiv Anand, ebenfalls an der Hauptstraße nahe zum Busbahnhof gelegen, eine merklich bessere Unterkunft, als in dem Hotel vier Tage zuvor. Bei der Auszahlung von Anil und Babbs wundere ich mich noch ein wenig über die rasche Akzeptanz der beiden. Nicht, dass ich ihnen zu wenig gezahlt hätte, ich bin über die Empfehlungen in meinem Reiseführer gegangen. Doch normalerweise bin ich es gewohnt, dass es immer Diskussionen um den Lohn gibt und/oder zusätzliche Trinkgeldforderungen gestellt werden.
04.05.
Die Antwort folgt prompt am nächsten Morgen. Wir hatten mit Anil ein Treffen um 10 Uhr vereinbart. Noch vor 8 Uhr will ich schnell an den nahen ATM-Automaten eilen, um etwas Bargeld rauszulassen, da erwartet mich Anil bereits an der Rezeption. Er erklärt mir, dass er nicht mit nach Gangotri kommt, wie wir das miteinander am Dodital abgemacht haben. Ich sehe schon, wo das Problem liegt und biete ihm einen vernünftigen Zuschlag auf den bereits ausgezahlten Lohn. Doch der gute Junge bekommt den Hals nicht voll. Er schwafelt was 1500 Rupien am Tag allein für sich selbst, was vollkommen überzogen und inakzeptabel ist. Ich gebe ihm und Babbs jeweils 500 Rupien drauf, so dass bei ihm 600 und bei Babbs 350 pro Tag herausspringen. Es reicht ihm nicht. Also gut, ich mache kurzen Prozess und beende hiermit unseren Kontrakt. Ich sehe kein Problem, in Gangotri einen neuen Träger oder Guide ausfindig zu machen. Jetzt beginnt er, mir hinterherzulaufen, doch ich lasse mich auf nichts mehr ein. Mir war schon bei anderer Gelegenheit bereits aufgefallen, dass er irgendwo auch ein rechtes Schlitzohr ist. Er wird nun fast lästig und ich muss ihm schlussendlich zu verstehen geben, dass Dana und ich beim Frühstück gerne allein sein möchten. Sein Argument, wir würden in Gangotri oben keine Genehmigung für unser Trekking bekommen, schreckt uns nicht ab. Wir kennen derartige Argumentationen in Indien zu genüge. Ich deute das so, wie die häufig verwendete Aussage von Rikshafahrern und Hotelschleppern, das benannte Hotel habe geschlossen oder sei abgebrannt, weil sie einen gerne in ein Hotel bringen wollen, wo sie selbst Vermittlungsgebühr erhalten. In diesem Fall versucht Anil uns vorzugaukeln, wir wären wegen der Beantragung der Permission auf seine Hilfe angewiesen. Zur Genehmigung für Goumuk muss ich anführen, dass mir diese Neuerung auch von Harsha und den Stahlkonzernmanagern bereits zugetragen worden ist. Es ist eine neue Regelung, die zu Beginn des Monats Mai in Kraft tritt, also gerade mal vor ein, zwei Tagen und die unter anderem die Besucherzahl im Gebiet der Gangesquelle auf 150 pro Tag reglementieren soll. Nur eines glaube ich Anil nicht: dass die Genehmigung nur in Uttarkashi, aber nicht in Gangotri zu erhalten ist. Beim Frühstück beschließen Dana und ich jedenfalls, dass wir schleunigst den Schuh machen und uns hinauf nach Gangotri begeben. Gesagt, getan. Wir finden einige weitere Touristen, die mit uns ein Jeeptaxi teilen. Um 10.15 h verlassen wir Uttarkashi und schippern über die abenteuerliche Bergstraße hinauf nach Gangotri. Ein paar unserer Mitfahrer steigen bereits in Gangnani (2133 m) aus, ein Minidörfchen, das wegen seiner heißen Quellen beliebt ist. Ein Pärchen aus Neuchatel verlässt uns schließlich in Harsil (2745 m) und wir selbst erreichen Gangotri gegen 14.30 h.
Der Schock folgt auf den Fuß, beim Einchecken im Hotel Marisha. Als ich unter der Rubrik "going to" "Tapoban" eintrage, fragt mich der Mann an der Rezeption; "You have permission?" Ich verneine und erhalte zur Antwort "Permission only in Uttarkashi". Wumm, das saß! Somit hatte Anil recht, und wir stehen erst mal da, wie die Deppen. Ich beschließe, unverzüglich zum Checkpost hinaufzumarschieren, um mir dort genaueste Informationen einzuholen. Ich gehe in Begleitung von Svona, einem jungen Kroaten, der soeben im Nachbarzimmer eingecheckt hat. Er war mir kurz vor unserer Ankunft in Gangotri bereits aufgefallen, wie er mitsamt seinem Rucksack die Straße entlanggelatscht war. Er sei von Harsil aus nach Gangotri hinaufgewandert, erklärt er mir. Am Checkposten angekommen, erfahren wir folgendes: es besteht keine Chance, ohne Erlaubnisschein das Gebiet jenseits des riesigen Eisentors zu betreten. Wie bereits erwähnt, wird die Anzahl der täglichen Besucher auf 150 Personen limitiert, das schließt auch Guides und Porter mit ein. Eintritt pro Person 350 Rupien für zwei Tage, jeder weitere Tag kostet 175 Rupien Zuschlag, für Guides und Porter zahlt man einen Minimalbetrag. Dann kommt´s aber noch dicker: der Erlaubnisschein wird nur für die Dauer von zwei Tagen ausgestellt und gilt nur bis Bujbasa, bzw. von dort aus zu einem Aussichtspunkt, 500 m von der Gangesquelle entfernt! Die generelle Begrenzung des Aufenthaltes auf zwei Tage steht dann im Wiederspruch zu der Vorschrift, dass jeder Zusatztag 175 Rupien kosten soll. Wie denn, wenn man ohnehin nur zwei Tage bleiben darf?? Ich lasse mir noch die genaue Adresse mit Wegskizze für das Forestry Departement in Uttarkashi geben. Dieses ist nämlich nicht leicht zu finden und befindet sich irgendwo außerhalb des Stadtgebiets. Im Büro des Forestry Departements ist die Permission zu beantragen.
Abends sitzen wir im Restaurant, die meiste Zeit über im Schein der Kerosinlampe, da die Stromausfallzeiten im argen Missverhältnis zu den Stromfließzeiten stehen. Im Ort ist bereits eine größere Anzahl von westlichen Trekkingtouristen eingetroffen. Und alles dreht sich um das Thema Permission. Wir tun uns schließlich zu einer Gruppe zusammen und ein Beschluss wird gefasst: ich werde zusammen mit Svona morgen in Allerherrgottsfrühe per Jeeptaxi nach Uttarkashi zurückkehren, ausgestattet mit den Reisepässen von vier verschiedenen Nationen: Dana (Schweiz), Gaetano (Italien), Yan (Korea) und natürlich Meinereiner. Die Ortschaft Gangotri ist den Winter über vollkommen verlassen und findet erst seit ein paar Tagen langsam wieder zum Leben zurück. Strom, Wasser, alles funktioniert noch sehr provisorisch und darin liegt der Grund, warum es bislang noch nicht möglich ist, die Permission vor Ort ausgestellt zu bekommen: das zuständige Büro benötigt ein funktionierendes Faxgerät und Internetanschluss. Im Moment geht in Gangotri aber noch nicht einmal die Telefonleitung. Die Nächte hier oben sind kalt, und die Zimmer selbstverständlich unbeheizt. Das Wasser, wenn es denn überhaupt läuft, ist ebenfalls kalt. Wenigstens sind die Hotelbetten mit angemessen dicken Decken ausgestattet und nicht etwa nur mit einem löchrigen Laken, wie jene im Tiefland.
05.05.
Svona scheint wohl schon losgefahren zu sein, als ich am Taxistand eintreffe. Ich fahre daher zusammen mit Demis, einem Bergführer aus dem Trentino und Sesram, dessen indischen Begleiter. Diese Bekanntschaft könnte für eventuelle spätere Unternehmungen im indischen Himalaja ein Glückstreffer sein. Demis kontaktiert Sesram seit bereits 10 Jahren für sämtliche Unternehmungen, die er hier in Indien bislang unternommen hat, sowohl Trekkingtouren, als auch Expeditionen. Er ist mit Sesram äußerst zufrieden, sein Service sei immer perfekt gewesen und die finanzielle Abrechnung stets sehr fair. Auf mich selbst macht Sesram einen aufrichtigen und intelligenten Eindruck, rundum sympathisch und vertrauenserweckend. Die Fahrt runter nach Uttarkashi hingegen könnte grauenhafter nicht sein,13 Personen sind im Fahrzeug zusammengepfercht, zweien davon wird´s unterwegs schlecht und sie reihern links und rechts aus den Fenstern heraus. Ich bin dann zu zweiten Mal froh, mit Sesram und Demis gefahren zu sein, als ich sehe, wo wir aussteigen und wo wir hinauf gehen. Ich habe aufrichtige Zweifel, ob ich das gefunden hätte! In Indien die Leute fragen, noch dazu etwas wie das Forestry Departement Office, ist ein fast schon sinnloses Unterfangen. Nach 10 falschen Antworten kann man von Glück sagen, wenn die elfte dann richtig ist ;-)).
Wir werden gebeten, die Namen, Ausweis- und Visanummer, Geburtsdaten und weiteren Schnickschnack sämtlicher Teilnehmer leserlich auf ein Blatt Papier aufzunotieren - und dabei ja nichts vergessen! Das Ganze wird nämlich nach Dehra Dun (Hauptstadt von Uttarkand) gefaxt, anschließende Wartezeit vier bis fünf Stunden! Wir beschließen, ins Städtchen hinunterzuschlendern. Zuerst machen wir eine kleine Pause an einem Teastall, als Svona des Weges kommt. Der Fuchs hat tatsächlich eigenständig die richtige Fährte aufgenommen! Er war, wie schon vermutet, bereits mit einem früheren Jeeptaxi losgefahren. Gemeinsam vertreiben wir uns die Zeit in Uttarkashi, schauen einem Gaukler bei seiner Vorführung zu, gehen Essen, lassen uns beim Friseur die Haare stylen, bummeln durch den Basar. Als wir zum Office zurückkehren, werden uns dort weitere anderthalb Stunden Wartezeit aufgebrummt. Das Bild der auf dem Dach des Offices herumturnenden Affen erscheint uns wie eine treffliche Karikatur! Schließlich und endlich halten wir mit glücklichen Minen, das preziöse Papier in dankbarer Huldigung küssend, die herbeigesehnten Permits in den Händen. Bis wir heute Gangotri erreichen werden, wird es bereits Nacht sein. Nicht so schlimm, ich hatte Dana gesagt, wenn´s dumm läuft, würde ich wohl in Uttarkashi übernachten müssen. Wenigstens dies ist nun glücklicherweise nicht der Fall. In Gangnani lassen wir es uns nicht nehmen, kurz anzuhalten, um ein schnelles Bad zum Sonnenuntergang an den dortigen heißen Quellen zu nehmen. Taschentuchgroße Handtücher sind an einem benachbarten Verkaufsstand zu erwerben. Das Badebecken selbst ist um diese Uhrzeit viel zu heiß, da jetzt die Beimengung von kaltem Wasser fehlt, weshalb wir mit einer wonnigen Dusche unter den aus Rohren fließenden Wasserstrahlen vorlieb nehmen. Dieses kurze, aber erquickliche Bad während der traumhaft schönen Dämmerungszeit wird von uns als kleine Belohnung für den an sich verlorenen Tag empfunden. Eine halbe Stunde vor Ankunft machen wir einen abermaligen Zwischenstop zum Chai in einer Dhaba. Bemerkenswert ist für mich das große Foto, welches an der Wand prangt, mit einer Winterlandschaft aus den Alpen. Die Kirche, die Brücke, die Berge im Hintergrund, dieses Bild ist mir seit Kindesbeinen bekannt und vertraut. Es hing immer schon als Gemälde, genau aus dem selben Betrachtungswinkel heraus festgehalten, allerdings als Sommerlandschaft, im elterlichen Wohnzimmer. Der Originalschauplatz ist übrigens im Berchtesgadner Land zu finden. Ansonsten hängen in der Dhaba lauter Besoffene rum, unter anderem der Bruder unseres Fahrers. Der Fahrer hat mich und Dana vor zwei Tagen übrigens von Sangam Chatti zurück nach Uttarkashi chauffiert, und mich heute Mittag auch gleich wieder erkannt und freudig begrüßt. Etwa 10 Kilometer vor Gangotri macht er uns auf eine abzweigende Straße aufmerksam, wo nach 50 Kilometern die indisch-tibetische Grenze erreicht werden kann. Wie bereits oben erwähnt, dient die Straße wohl zu rein militärstrategischen Zwecken und nicht etwa als Grenzübergangsmöglichkeit für Reisende. Schon gar nicht zum jetzigen Zeitpunkt, wo die nervöse Regierung in Bejing wegen den Unruhen, die in Tibet anlässlich der bevorstehenden Ausrichtung der Olympiade durch China ausgebrochen sind, sämtliche Ausländer zum Verlassen Tibets gezwungen hat. Gegen 21.30 h sind wir endlich wieder zurück in Gangotri. Von meinen Mitantragstellern ist niemand mehr wach. Dana erklärt mir, dass sie allesamt nicht mehr mit unserer Rückkehr am heutigen Tage gerechnet und ein Treffen für morgen früh 9 Uhr vereinbart haben.
06.05.
Ich sitze frühmorgens alleine beim Frühstück und es gelingt mir auf Anhieb, einen Träger für Dana zu organisieren. Yamradj, ein junger Nepalese, stellt sich mir als Porterguide vor. Für 400 Rupien pro Tag ist er bereit, die Arbeit zu übernehmen. In dem abgetakelten Gebäude gegenüber dem "Marisha" sind alle nepalesischen Träger untergebracht. Tagsüber kann man sie, erkennbar an ihrem mitgeführten Tragegeschirr, bestehend aus einem starken Seil mit Kopfriemen, am Taxistand sehen, wie sie auf Kundschaft warten. Viele von ihnen, wie auch Yamradj, halten sich ab Ende April bis etwa September in Indien auf, um dann Anfangs Oktober zum Saisonbeginn in ihrem eigenen Land wieder zur Stelle zu sein. Bei vielen Indern sind sie nicht sehr beliebt. Vorurteile gegen Ausländer und Existenzangst um den eigenen Arbeitsplatz gibt es schließlich überall, nicht nur bei uns in Deutschland.
Um 10.15 h steht unsere internationale Truppe zum Abmarsch bereit, bestehend aus Dana (Schweiz) und mir (Deutschland), Gaetano, dem nach London emigrierten Italiener, Yan, dem Koreaner und schließlich dem Nepalesen Yamradj als unserem Porterguide. Zuvor gibt Dana noch eine Chairunde an eine kleine Gruppe älterer Sadhus aus. Die Sadhus trifft man zu Hunderten hier im Ort. Sie lächeln die Angrezi, so nennt man in Indien die westlichen Ausländer, ganz lieb an und bitten um Chaiiii, Teeee, oder Chappattiii. Selten habe ich sie dabei aber aufdringlich erlebt. Frohgemut marschieren wir, die Permission griffbereit zur Präsentation, gen Eingangstor. Kurz vor dessen Erreichen kommen uns Demis und Sesram mitsamt ihren acht engagierten Portern entgegen. "Macht euch auf den nächsten Tiefschlag bereit! Habt ihr Kerosin dabei?" Haben wir gottseidank nicht. Für´s Kerosin sei eine extra Permission nötig. Demis ist am Boden zerstört. Sein Plan war es, in einer 10-tägigen Expedition einen der 6000-er zu besteigen und mit Skiern abzufahren. Das Ganze ist natürlich in zweifacher Hinsicht illegal: erstens wegen der 10 Tage und zweitens ist für jeden Berg in Indien, der höher ist, als 6000 Meter, eine Permit nötig, die mehrere tausend US-Dollar kostet. Doch wenn man nicht gerade einen Modeberg besteigt, wo viele andere Expeditionen ebenfalls zugegen sind, wer will das dann kontrollieren? Und was die Anzahl der Tage anbelangt: was soll passieren? Sollen sie uns ins Gefängnis werfen? Im Höchstfall ist ein Strafe zu bezahlen. Das Wichtigste ist, sich mittels des Erlaubnisschein Eintritt zu verschaffen, alles andere wird sich schon ergeben. So sehe auch ich es. Ich will von meinem Plan, bis zur Gangesquelle und weiter bis Tapoban zu gehen, ebenfalls nicht abrücken, werde diesen aber etwas modifizieren müssen. Nandanban werde ich auslassen, das ich sonst für eine Nacht Kerosin, Lebensmittel und Zelt mitschleppen hätte müssen. Die Exkursion zum unbenannten Vorgipfel des Shivling (5040 m) kann ich ebenfalls knicken, dort liegt zur Zeit noch zu viel Schnee. Dana wird sicher nicht nach Tapoban mitkommen, der Kälte wegen, und die größere Höhe erfordert zudem auch etwas mehr Kondition. Ihre Erkältung hat sie ohnehin noch nicht los. Ich will sie aber in Gangotri nicht allzu lange warten lassen, weshalb ich den Rückmarsch Tapoban – Gangotri in einem Tagesmarsch bewältigen will. Den Verlängerungstag will ich dann bei den gestrengen Herren am Eingangstor mit Krankheit entschuldigen.
Nach einer Abfertigung, die fast noch die Willkür der ehemaligen DDR-Grenzer übertraf, stehen wir endlich im gelobten Land und werden mit neidischen Blicken von den Touristen auf der anderen Seite des Tors begafft, die heute in Gangotri angekommen sind und soeben von der nur in Uttarkashi erhältlichen Permission in Kenntnis gesetzt worden sind. Neben dem Checkposthäuschen steht ein kleiner Tempel, dessen Dach von einer eleganten, weißen Pyramide überragt wird. Es ist dies der Gipfel des Sudarshan Parbat (6507 m). Was für ein beeidruckender Auftakt! Die Fortsetzung des Weges bietet sogleich typisches Himalajatrekking: ein dramatisch in eine felsige Schluchtenflanke gesprengter Pfad führt uns hoch über den wild schäumenden Fluten des Baghirati-River taleinwärts. In unser Blickfeld gerät nun das eisige Dreigestirn der Baghirati-Gipfel. Von vorne besehen sind das Baghirati II (6512 m), Baghirati III (6454 m) und im Hintergrund Baghirati I (6856 m). Die Schlucht ist zunächst steil und eng und wird von plattigen Granitfelsen überragt. Mehrere Nebenbäche und ein mit Erdreich verschmutzter Lawinenkegel sind zu überqueren. Die Lawine ist aber nicht etwa auf unserer Talseite hinuntergegangen, sondern kam aus einem Couloir am gegenüberliegenden Baghirati-Ufer. Das muss ein gewaltiger Abgang gewesen sei, wenn er so weit den Gegenhang hochschossen ist. Unterwegs können wir häufig Rudel von Blauschafen (Hindi: Bharal) beobachten, die ein wenig unseren Steinböcken ähneln und nicht allzu scheu sind, weshalb man sich diesen Tieren sehr gut für schöne Fotos annähern kann.
Der erste Lagerplatz heißt Chirbasa (3606 m), wo sich in der Saison auch Teastalls und Dhabas befinden. Jetzt ist Chirbasa noch verlassen, die Fassilitäten werden wohl erst in wenigen Tagen besetzt. Chirbasa heißt übrigens Kiefernwald, und tatsächlich ist das Lager von einem schattenspendenden Kiefernwäldchen überwachsen. Hier hat sich die Schlucht bereits geweitet, die Granitplatten über uns sind wenig vertrauenserweckenden, steinschlag- und erdruschträchtigen Erosionshängen gewichen, ebenfalls typisch für´s Himalaja-Trekking. Es folgen jetzt einige Passagen, die für ihre Gefährlichkeit berüchtigt sind, insbesondere jetzt, gegen Mittag. Dann nämlich setzt für gewöhnlich der Wind ein und erhöht die Steinschlaggefahr beträchtlich. Wir kommen alle unversehrt hinüber, und bald schon liegt uns unser Etappenziel zu Füssen, das Lager Bujbasa (3792). Bujbasa heißt eigentlich Birkenwald, doch von den Birken ist keine einzige mehr übriggeblieben, weshalb die Gegend hier einen wüstenhaft-trostlosen Eindruck macht. Die Birken indes wurden allesamt verfeuert, zum Wohle des Tourismus! Jetzt kocht man dort eben mit Kerosin, vielleicht hätte man das früher auch schon so machen sollen. Auch dieser Vorgang ist kein unbekanntes Problem in den Trekkinggebieten des Himalaja.
Bujbasa bietet zur Unterkunft ein Resthouse, bestehend aus mehreren Gebäuden, wo sich zusätzlich auch große, mit Feldbetten ausgestattete Militärzelte befinden, für die Zeit, wenn die großen Touristenmassen hier einbrechen (obwohl sie in dieser Saison offensichtlich so groß nicht werden können). In direkter Nachbarschaft befindet sich ein Ashram, der ebenfalls Touristen aufnimmt und bekocht. Im Nachhinein würde ich eher diesen als Nachtquartier empfehlen, denn das Haupthaus, in dem wir übernachten, gleicht einer abgewrackten Militärbaracke, Essen und Übernachtung sind relativ teuer und das Personal nicht unbedingt freundlich. Neben dem hölzernen Hauptgebäude stehen – außer den Zelten - noch ein paar recht neu aussehende Steinhäuser, in denen ebenfalls übernachtet werden kann, die aber noch mehr kosten. Die Nacht ist wiederum kalt, und wir sind froh über unsere schweren Decken. Wir sind übrigens die einzigen Übernachtungsgäste. Es sind uns zwar mehrere Gruppen begegnet, die sich auf dem Rückmarsch nach Gangotri befanden, aber außer uns ist heute offenbar keine weitere Gruppe flussaufwärts gegangen. Ich hätte mir im Vorfeld nie gedacht, dass wir auf einer der weltbekanntesten Trekkingrouten, wie der hinauf zur Gangesquelle, praktisch allein unterwegs sein würden. Es muss aber noch angefügt werden, dass morgen, am 07. Mai, in Gangotri das Fest der Tempeleröffnung stattfinden wird. Mit der Tempeleröffnung gilt dann auch die Trekking- und Pilgersaison als eröffnet.
07.05.
Kurz vor unserem Aufbruch zum Goumukh kommt es zum Riesenknatsch zwischen Dana und mir. Sie kehrt zurück nach Gangotri, ich gehe mit Gaetano, Yan und Yamraj weiter in Richtung Gangesquelle. Lange habe ich davon geträumt, diesen Trek zur Gangesquelle einmal machen zu können. Doch ich hätte nie gedacht, dass ich dabei einmal wutschnaubend bergauf stapfen und mich einem derart spirituellen und geheiligten Ort mit soviel negativen Gedanken im Kopf nähern würde. Kurz hinter Bujbasa schiebt sich der langersehnte Shivling ins Blickfeld. Was für ein Berg! Was für eine schneidige Figur! Ein wahrhaft perfektes Werk von natürlicher Ästhetik! Wir erreichen den Aussichtspunkt, wo das Forestry Departement das Fernrohr aufstellen will. Yamraj macht noch einen fotogenen Kopfstand auf einem Felsen. Heute verspüre ich noch keinen absoluten Drang, bis unter´s Gletschertor abzusteigen. Auch Gaetano und Yan geben sich mit der Aussicht vom Hügel herab zufrieden. Nach einer guten Stunde des Innehaltens, während der ich auch meine Fassung wieder halbwegs zurückgewinne, verabschiede ich mich von meinen zwei Begleitern, die von hier aus nach Gangotri zurückkehren, und Yamradj und ich steigen über die Seitenmoräne auf den Gletscher hinauf, wobei ich die Eiswände des Gletschertors näher besehen kann. Ein frischer Ausbruch schimmert grünlich/bläulich inmitten des stumpfen, schmutzigen Graus des älteren Eises. Am Fuß der Eiswand liegen die Reste des Ausbruchs als schneeweißer, großer Scherbenhaufen, aus dem, scheinbar wie aus dem Nichts, das Wasser des Baghirati herausströmt. Das ist also der Ursprung des heiligsten aller Flüsse Indiens!
Selbstverständlich lässt sich auch im Himalaja der beängstigend schnelle Gletscherrückgang beobachten. Das Gletschertor Goumuk verschiebt sich praktisch jedes Jahr ein Stück weiter nach hinten. Einst hatte sich Goumuk direkt in Gangotri befunden. Ich habe leider keine Kenntnis darüber, wie lange das her ist. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass bis Ende des 19. Jahrhunderts die Gletscher noch gewachsen sind. Inzwischen sind es von Gangotri nach Goumuk 22 Kilometer! Das soll natürlich nicht heißen, dass der Gletscher seit Beginn der aktuellen Wärmezeit 22 Kilometer Eismasse verloren hat, sondern offensichtlich bereits schon einmal durch eine glaziale Wärmephase gegangen zu sein scheint.
Auf dem fast gänzlich schuttbedeckten Gletscher existieren nur noch Pfadspuren sowie ein paar Steinmännchen. Der Gangotri-Gletscher misst übrigens eine Gesamtlänge von etwa 30 Kilometern (Vergleich dazu: der längste Gletscher der Alpen, der Aletschgletscher, misst 14 Kilometer) und ist zwischen zwei und vier Kilometer breit. Die Verhältnisse hier sind gut vergleichbar mit denen vergangenen Jahres auf dem Baltoro-Gletscher im Karakorum. Meine größte Sorge war, dass der Gletscher noch schneebedeckt sein könnte, und somit die gefährlichen Spalten nicht erkennbar seien. Das ist nun glücklicherweise nicht der Fall. Wir gehen also den Gletscher aufwärts, uns dabei orographisch links haltend. Ein paar grünschimmernde Seen haben sich inmitten dieser gewaltigen, öde und trostlos wirkenden Geröllwüste gebildet, immer wieder schaut an Spaltenrändern und Löchern das blanke Eis hervor, was mir bisweilen wie die aufgerissenen Rachen eines Haifischrudels erscheinen mag, jederzeit bereit, unachtsame Opfer mit Haut und Haaren zu verschlingen. Zum guten Schluss steigen wir steil durch Schotter und Blockwerk die Seitenmoräne empor. Von unten her erkennen wir am Moränenrand ein paar Fähnlein. Dort oben sei die Höhle des Baba, erklärt mir Yamradj. Bei diesem seit 15 Jahren einsam dort droben hausenden heiligen Asketen wollen wir um Nachtquartier bitten, denn wir sind schließlich ohne Zelt und ohne Kocher unterwegs. Das ist durchaus üblich, denn der Baba des "Rishi-Ashram" nimmt gerne Touristen bei sich auf und bekocht diese normalerweise gegen eine Spende. Man sollte allerdings auf gewisse Dinge eingestellt sein, denn schließlich übernachtet man bei einem Asketen und nicht etwa im First-Class-Hotel ...
Bevor wir hoch kommen, erklärt mir Yamradj, wie man in Indien einen Sadhu zu begrüßen hat: nicht etwa Namaste und schon gar nicht Hello, sondern mit einem langgezogenen "Hari Om", wobei die rechte Hand theatralisch zur Brust geführt wird. Der Ashram besteht, wie zuvor angedeutet, aus einer Höhle, der aber ein schlichtes Steinhäuschen vorangebaut ist. "Hari Om" schreit da Yamradj in die Eingangstür hinein. Ich höre eine dumpfe Antwort aus dem düsteren Hintergrund, und dann kommt einer herausgekrochen! Ja, wie soll ich sagen? Man sieht ihm wirklich an, dass er bereits seit 15 Jahren als Einsiedler hier droben wohnt, wenngleich er mir noch recht jung erscheint, vielleicht Anfang bis Mitte Dreißig? Der lange Zottelbart reicht ihm bis fast zum Bauchnabel herab, und auch die Haare sind ein Gewirr aus zusammengedrehten Zöpfen, nie geschnitten, nie gekämmt, nie rasiert, gewaschen immer nur mit eisigem Bergwasser. Seine völlig abgetragene, verschlissene und auch recht schmutzige Kleidung ist allerdings dem eisigen Klima hier droben angepasst, des Weiteren trägt er eine Wollmütze auf dem Kopf, unter die er ein Tuch geklemmt hat, das sein Gesicht bis unter die Nase verdeckt. Halfttaped nennt er das – im Übrigen spricht er gar kein so schlechtes Englisch. Das mit dem Tuch ist wohl eine meditative Übung, die er so vermutlich über Jahre hinweg betreiben wird, wie damals, als er fünf Jahre lang geschwiegen hat. Dass das alles kein Firlefanz ist, beweist die Auswahl seines Standortes. Sicher herrschen im Sommer auf Tapoban halbwegs erträgliche Temperaturen, er erhält Besuch von vielen Touristen und von Einheimischen. Doch im Winter dort oben, das wäre für unsereins das kalte Grauen! Meterhoch Schnee, Temperaturen bis unter minus 30 Grad, gnadenlose Stürme, totale Einsamkeit, in einem Notfall keinerlei Hilfe von außen möglich! Im Winter lebt der Baba von den Vorräten, die er den Sommer über gehortet hat. Er sitzt fast die ganze Zeit über in seiner kargen Behausung, meditiert, betet, isst und trinkt dabei nur sehr wenig, schläft. In den Dörfern Zanskars überleben die Menschen den Winter zwar auf eine ähnliche Weise, doch hier kommen nochmals verschärfende Bedingungen hinzu: der Baba besitzt keine Tiere und somit auch keine Heizmöglichkeit, und trifft über das Winterhalbjahr auch keine anderen Menschen, und im Vergleich zu seiner schlichten Behausung erscheint manches Zanskar-Haus schon fast wie eine Villa. Der Baba führt mich hinab in die stockfinstere Höhle. Dort ist ein kleiner Schrein eingerichtet, der dem Gott Shiva geweiht ist. Wem denn sonst, denn die Tapoban-Wiese befindet sich direkt im Schatten des mächtig über ihr aufragenden Shivling.
Der Baba reicht uns heißen Tee und bereitet uns etwas zu essen. Er erklärt mir, dass er schon von den beiden Kletterbuam Alexander und Thomas Huber besucht wurde, als er noch oben am See gehaust habe. Von Zeit zu Zeit wechselt der Baba nämlich seinen Wohnort, insgesamt drei Residenzen stehen ihm zur Verfügung, die sich allesamt in unmittelbarer Nähe zueinander befinden. Nach dem Essen gibt er mir ein schön gebundenes, voluminöses Buch in die Hände, verlegt von der Hare-Krishna-Vereinigung. Es ist die englische Übersetzung der Bhagavad-Gita, welche als eines der bedeutendsten Werke hinuistisch-religiöser Literatur gilt. Später schaut auch Yamradj hinein, er begnügt sich mit den farbenfrohen Bildern die Szenen aus der Hindu-Mythologie zeigen, denn Yamradj kann nur Hindi-Schrift lesen. Nach dem Essen begebe ich mich auf Erkundungsgang. Der allmächtige Shivling über uns hat sich zwischenzeitlich fast völlig in Wolken gehüllt. Die Höhle des Baba befindet sich direkt am Moränenabhang und damit am Kopfende der recht ausgedehnten Tapoban-Wiese. Ich marschiere auf den Shivling zu und komme zu einem einsamen Zelt. Der Besitzer ist zusammen mit einem Porterguide hier. Aber nicht etwa aus touristischen Gründen, denn er arbeitet für den World-Wildlife-Found. Ich gehe weiter. Die Wiese wird an ihrem Westrand von einem recht tiefen Gletscherbach durchzogen und je weiter ich nach hinten gehe, desto feuchter und sumpfiger wird das Gelände. Ich komme zu einem weiteren Zeltlager, bestehend aus etwa einem halben Dutzend Zelten. Es sind nur die Träger dort anwesend. Die koreanische Kleinexpedition ist derzeit am Meru zugegen, im Anschluss daran soll dann der Shivling bestiegen werden. Zeitrahmen insgesamt: 45 Tage. Laut Aussage der Träger soll die Besteigung des Meru schwieriger sein, als die des Shivling. Diese Aussage ist wohl sehr relativ, denn das hängt sicher davon ab, für welche Route man sich entscheidet. Vom Shivling jedenfalls weiß ich, dass noch die leichteste Route sehr hohe alpinkönnerische Anforderungen stellt. Weiter hinten wird die Wiese sehr sumpfig und ist von unzähligen Wasserdrainagen durchzogen, weshalb dort praktisch kein Weiterkommen mehr ist. Ich steige zunächst seitwärts zu einem riesigen Felsblock auf, um mir eine gute Übersicht und eine fotogeeignete Position zu verschaffen. Die derzeit hohe Durchfeuchtung des Wiesengrunds ist frühjahrsbedingt, der Schnee ist hier offenbar erst kürzlich hinweggeschmolzen und hat Seen, Sümpfe und Wasserlachen auf der großen Wiese hinterlassen. Die aus dem flachen Wiesengrund aufsteigenden Grashänge sind fast ausschließlich noch schneebedeckt. Ich spaziere hinüber zu den gegenüberliegenden Hängen, wo weit weniger Schnee liegt, und von deren Hügeln aus ich mir ebenfalls schöne Aussichtsmöglichkeiten verspreche. Das abverlangt allerdings einen Gang durch ein Wasserlabyrinth und zum guten Schluss muss ich noch über den tiefen und recht schnell dahinfließenden Gletscherbach hinweg. Es dauert ein wenig, bis ich eine geeignete Stelle zum hinüberwaten gefunden habe. Mitten im Hang stoße ich auf ein Almgebäude, weshalb ich behaupte, auch Tapoban ist ein Bugyal, also eine Almwiese, auch wenn sie für eine solche verdammt hoch liegt. Da man über den Gletscher und anschließend noch den steilen Moränenwall erklimmen muss, um hier hoch zu kommen, vermute ich, dass dafür am ehesten Ziegenherden in Betracht kommen. Auf dem Rückweg verbringe ich noch eine gute Zeit damit, eine größere Blauschafherde zu beobachten.
Abends sitzen ich, der Baba und Yamradj im kargen Ashram beieinander. Der Baba hatte uns ursprünglich ein kleines Hüttchen zu Nächtigung präpariert, mit Mauern aus aufgetürmten Steinen und einer großen Plane darüber. Gegen Abend beginnt es jedoch zu schneien, und der Baba fordert uns auf, direkt bei ihm im Ashram zu schlafen. Allerdings zieht er vor dem Zubettgehen eine Trennfolie zwischen seine und unsere Schlafstelle. Ich schlüpfe in meinen Schlafsack und wir erhalten genügend zusätzliche Decken, die uns wärmen, wenngleich diesen ein wenig angenehmer Geruch entströmt. Nachts lässt der Baba wiederholt sein Glöckchen läuten, und hin und wieder bricht er abrupt in lautes Gekicher aus. Ich meine, es ist so gegen vier oder halb fünf Uhr morgens, als ich erneut geweckt werde. Diesmal hat der Baba ein Feuer entfacht, das er immer wieder auf´s Neue mit getrocknetem Gras nährt, dabei ständig das gleiche Mantra vor sich her murmelnd. Für mich persönlich soll diese Nacht dort droben bei diesem Asketen als einer der Höhepunkte an Eindruck und Erlebnis auf dieser Trekkingreise in Erinnerung bleiben.
08.05.
Der Baba backt uns dicke, schmackhafte Rotis zum Frühstück, dazu gibt es Reis, Dahl und heißen Chai. Über das Essen, welches er uns mit seinen bescheidenen Mitteln zubereitet, können wir uns wirklich nicht beklagen, es ist bekömmlich und reichlich. Ich bin bereits vor dem Frühstück durch die frühmorgendliche Kälte zu einem nahen Aussichtshügel hinaufgegangen, da ragte der Shivling noch frei und wolkenlos im Halbdüster des Morgengrauens über Tapoban auf. Ein beeindruckender Moment, allerdings reichten die Lichtverhältnisse für ein Foto noch nicht aus. Bis wir das Frühstück beendet haben, hat sich Gott Shiva allerdings schon wieder in einen modrigen Wolkenmantel gehüllt. Dass es heute schon so früh zuzieht, verspricht nichts Gutes, wir sollten mit unserem Aufbruch keine Zeit verlieren. Der über Nacht gefallene Schnee fiel allerdings nicht so üppig aus, wie erwartet, bei meinem Ausguck zum Morgengrauen erschien mir die Landschaft wie an einem typischen Inversionstag im Spätherbst. Die umliegenden Grashänge waren von zartem Weiß überzuckert, der Gletscher war vollständig verschluckt von einer wattebauschenen Nebeldecke, und ich stand hoch darüber, zwei Stockwerke oberhalb von Wolke 7 :-))! Etwas frappiert bin ich über die Abrechnung des Baba für Kost und Logis. Ich vermute, dass er wegen der neuen Vorschriften des Forestry Departements ein wenig um seine Wintervorräte fürchtet, aber den Aufenthalt hier oben war es mir allemal wert.
Es wird dann doch 8.30 Uhr, bis wir endlich aufbrechen. Wir gehen zusammen mit dem Menschen vom WWF. Flugs habe ich mich den Moränenwall hinuntergehangelt. Dieses weglose, typische Tourengelände liegt mir, ich bin schließlich derart häufig in solchem Terrain unterwegs. Am anderen Gletscherufer machen wir plötzlich eine einsame Person aus. Diese ist geradewegs dabei, ins vollkommen verlassene Hochtal des Raktavarn-Gletschers hinaufzusteigen. Ich ahne schon, wer das sein könnte ... Wir rufen laut und geben per Handzeichen zu verstehen, er solle sofort wieder umkehren. Er hat verstanden. Wir warten, bis er durch das unwegsame Gelände zu uns gefunden hat. Es ist Svona, mein kroatischer Freund. Irgendjemand hatte ihm gesagt, er solle linkerhand hinaufsteigen. Er ist ohne Schlafsack und Lebensmittel unterwegs. Wenn er dort hinaufgegangen wäre, dann wäre das ganz sicher eine bittere Erfahrung für ihn geworden. Ich gebe ihm genaueste Instruktionen, wie er von hier aus sicher nach Tapoban hinaufgelangt. Der Baba muss dann um seine Wintervorräte wohl doch nicht so arg fürchten, denn schon naht der nächste Gast ...
Während unseres Abstiegs frage ich Yamraj, wie der Baba denn überhaupt heiße. Wenn ich mir das richtig aufnotiert habe, trägt er den Namen Muni Moheraj. Mit der dichten Bewölkung geht leider auch das große Bergpanorama flöten, so auch die drei Baghiratis. Der im Hintergrund gletscheraufwärts gestern noch so markant schillernde Kharchakund (6612 m) tritt heute überhaupt nicht in Erscheinung. Was für ein Jammer, ich habe diese beeidruckende Berggestalt überhaupt noch nicht fotografiert! Wir erreichen wieder Goumuk. Diesmal sind jede Menge Touristen zugegen, aber immer noch keine badenden Sadhus. Schade, da fehlt doch glatt ein Stück Dekoration! Mir ist nicht bekannt, inwiefern von Sadhus eine Permission verlangt wird. Ich kann mir das aber überhaupt nicht vorstellen. Diesmal will auch ich nicht einfach so an der heiligen Quelle vorbeischreiten. Ich beschließe, hinunterzugehen, um ein kurzes Bad zu nehmen. Ein paar Touristen halten sich meiner Meinung nach zu nahe an der sonnenbeschienenen Eiswand auf. Eine tödliche Gefahr lauert da, wenn der Gletscher plötzlich kalbt! Auch Steine und Felsbrocken ragen absturzbereit über den oberen Rand der Gletscherkante hinaus. Ich treffe ein einige Bekannte hier unten. Zwei Deutsche, mit denen ich mich in Gangotri unterhalten habe, der Mexikaner, der mit uns zusammen im Jeeptaxi saß und Demis, der inzwischen auch mit einer Permission für´s Kerosin ausgestattet ist. Das Wasser ist natürlich eiskalt und mein Bad dementsprechend kurz. So nahe am Gletschertor erscheint die riesige Eiswand schon viel beeindruckender, als vom Aussichtshügel aus, wo Yamradj auf mich wartet.
Weiter geht´s, die prächtige Schlucht auf Gangotri zu öffnet sich vor uns, die Berge ringsum wirken wie unheimliche Geisterschlösser, ihre Gipfel und steilen Kare sind von schaurig-feuchten Nebelschwaden umgarnt. Wir machen wiederholt kurze Pausen, damit Yamradj hin und wieder ein Schwätzchen mit seinen heute vielbeschäftigten Landsleuten halten kann. Man merkt es, die Saison ist eröffnet, und es wurden gestern wohl zahlreiche Permissions ausgestellt, denn Träger und Packtiere ziehen in ganzen Karawanen bergan und das Verhältnis Träger/ Tourist dürfte mindestens 5:1 zugunsten der Träger stehen. Ein junger Hund kommt uns entgegen, es ist der gleiche, den wir gestern schon gesehen haben, als wir zur Gangesquelle hochgegangen sind. Putzig wirkt er, lieb und anhänglich . Er legt sich mitten auf den Weg und ich sehe, es geht ihm nicht gut. Er scheint geschwächt und schluckt andauernd. Wie gesagt, es sind viele Trekker auf dem Weg, und gar manche von ihnen lassen sich dazu hinreißen, kurz stehen zu bleiben, um den süßen Hund zu streicheln. Ich bin kein Tierarzt, aber ich mache mir Gedanken. Niemals werde ich, wenn ich in Indien unterwegs bin, vergessen, dass dieses Land von der höchsten Tollwutrate weltweit betroffen ist. Zum Beginn des Krankheitsbildes gehört, dass die Tiere zunächst zahm und anhänglich werden. Ein an Tollwut erkranktes Tier bekommt eine zunehmende Aversion gegen Wasser, was im Endstadium dazu führt, dass er nicht einmal mehr seinen eigenen Speichel ertragen kann, daher die schaumige Schnauze (austriefender Speichel!).
Ein heftiger, kalter Wind hat inzwischen eingesetzt, die warme Jacke muss wieder her. Ich drehe mich dabei um, blicke nach hinten. Die Baghirati-Gipfel sind vollständig hinter einem Wolkenvorhang verschwunden und bei Chirbasa regnet es bereits. Ich schätze, dass es auf Tapoban zwischenzeitlich wieder schneit. Gangotri hingegen scheint von Niederschlägen verschont zu bleiben. Dies sei oft der Fall, so Yamradj. Die Berge ringsum riegeln Gangotri dermaßen ab, und so käme es häufig vor, dass es ringsum regne oder schneie und Gangotri trocken bleibe. Wir kommen zum Eingangstor. "You are one day too late!" lautet der Kommentar des Mannes in Uniform. Mit leidensvoller Mine berichte ich von Magenschmerzen und Verdauungsproblemen und dass ich daher marschunfähig gewesen sei. Ich sehe dem verschmitzten Grinsen des Beamten an, dass er mir kein Wort glaubt. Ich muss sagen, heute wirken die Herren wesentlich menschlicher, als noch vor drei Tagen, als sich ihre steinernen Minen zu keiner Zuckung bewegen ließen. Ich zahle meine 175 Rupien Überziehungsgebühr und werde durchgelassen. Auf der anderen Seite des Tors stehen etwa ein Dutzend indische Touristen, die mit flehenden Gesichtsausdrücken auf die Beamten einreden. Yamradj übersetzt mir, spitzbübisch lachend: sie würden "bitte, bitte, lieber Herr" sagen. Doch das nützt hier nichts. Wer immer noch glaubt, in Indien könne man alles mit einem kleinen Scheinchen erledigen, der wird sich so manches Mal täuschen. Viele kleine Beamten haben eine Riesenangst um ihr schönes Pöstchen. Die Korruption wird in vielen (natürlich lange nicht in allen!) Bereichen massiv bekämpft und mein Freund Sesram hat diesbezüglich kommentiert, viele hätten Angst, dass schlagartig mal ein Helikopter am Horizont erscheinen könnte, besetzt mit einem ranghohen Beamten aus dem Ministerium, und wehe, wenn dann nicht alles seine Richtigkeit hätte! Die Kehrseite der Medaille ist Dienst nach Vorschrift. Dabei gibt es dann kein Pardon und alle logischen und humanistischen Argumente verpuffen am grauen Fell des Amtsschimmels.
Ich habe es Yamraj schon gesagt und es war mit ein Argument für eine frühere Rückkehr nach Gangotri: ich habe ein Geldproblem, will heißen, meine Rupien gehen zur Neige, und in Gangotri gibt es keine offiziellen Institutionen für Geldwechsel und auch keinen Geldautomaten. Ich setze darauf, dass ich in irgendeinem Hotel oder bei einem Ladenbesitzer tauschen kann. Nach dem Einchecken laufe ich mir die Hacken ab, durch den Basar, zu Hotelrezeptionen, ja sogar im Ashram, aber niemand ist bereit, meine Euro entgegenzunehmen. Das ist mir in Ladakh und in Himachal noch nirgends passiert. Die wenigen, wie etwa der Apothekenbesitzer, die eine grundsätzliche Bereitschaft zum Geldwechseln signalisieren, nehmen nur Dollars. Ich merke, die Leute hier kennen den Marktwert des Euro nicht und zögern deshalb. Eine saublöde Situation, denn jetzt muss ich meinen Yamradj zu einem guten Teil mit Euro auszahlen, und wo soll er die wieder einwechseln? Ich gebe ihm dafür einiges mehr, als ursprünglich abgemacht. Da die Saison jetzt losgeht, werden nun täglich Massen von europäischen Touristen nach Gangotri hochströmen. Ich erkläre ihm, er soll sich an diese wenden und erläutere noch, welche Nationen dafür in Frage kommen. Zusätzlich notiere ich ihm den aktuellen Kurs. Er bleibt ein wenig skeptisch und es tut mir auch aufrichtig leid um ihn. Doch ich bin sicher, dass er unter den vielen nun eintreffenden Gästen sehr bald eine aufrichtige Person finden wird, die bereit ist, ihm das Geld für den gültigen Kurs einzutauschen. Mir bleibt noch ein wenig Tageslicht, um die wenigen, aber sehenswürdigen Attraktionen Gangotris zu besichtigen. Gangotri ist ein wirklich schöner Ort, der auf dramatische Weise in die enge Baghirati-Schlucht hineingeklemmt ist und ringsum von steilen Felsen und Berge überragt wird. Als allererstes begebe ich mich zum Tempel, der vom gestrigen Eröffnungsfest her noch bunt mit Blumen und Girlanden geschmückt ist. Der Tempel wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts von einem Gurkha-General erbaut und ist für gläubige Hindus von herausragender Bedeutung. Unterhalb des Schreins, wo der Baghirati vorbeifließt, befindet sich ein Badeghat. Am gegenüberliegenden Ufer ist ein weiterer, doch der reicht nicht mehr bis ans Wasser, da der Baghirati kurz oberhalb der Ortschaft von einem kleinen Wasserkraftwerk manipuliert ist. Oberhalb dieses verlandeten Ghats steht ein riesiger, moderner Ashram. Es ist das feudalste Gebäude in Gangtri. Wenn man auf jener Uferseite stromabwärts spaziert, erreicht man einen Aussichtspavillon, welcher einen ergreifenden Blick auf den Gaurikund gewährt. Der Gaurikund ist eine superenge Schlucht aus beigefarbenen, glattgeschliffenen Kalkfelsen. Kurz vor dem Schluchteneinschnitt stürzen zwei Wasserfälle spektakulär über die senkrechten Kalkfelsen herab. Man kann sich mittels einer Brücke aufs andere Ufer zurückbegeben und auf den dortigen Felsen, direkt neben den Stellen, wo die beiden Bachläufe über die Felskante kippen, meditieren oder sonstwie den schönen Ort genießen. Doch sollte man sehr vorsichtig sein, falls die Felsen nass und rutschgefährlich sind. Einen Absturz mit anschließendem, unfreiwilligem Canyonning durch die enge Schlucht hindurch würde einen wohl direkt ins nächste Karma spülen :-))!
09.05.
Die Rückkehr nach Uttarkashi im überfüllten Jeep-Taxi und im Stau wird durch einen sympathischen Gesprächspartner aus Frankreich etwas erträglicher. In Uttarkashi stürme ich zuerst zum Geldautomaten, der gottlob funktioniert. Als ich herauskomme, steht Anil vor mir. Wir reichen uns die Hände und ich erkläre ihm mein Reiseziel. Durch die frühere Rückkehr von Goumuk und Tapoban habe ich ja ein wenig mehr Zeit und daher den Beschluss gefasst, nun auch den Yatra-Tempel von Yamunotri zu besuchen. Das passt dann auch insofern in meine Trekking-Pläne, als daß der Tempel von Yamunotri vom Dorf Chanki Chatti aus erwandert werden muss und obendrein sich noch die Option anbieten würde, von Yamunotri aus zur eigentlichen Quelle der Yamuna, dem Gletschersee Saptarishi Kund (4421 m), hinaufzuwandern. Anil hilft mir, den richtigen Bus zu finden. Es fährt nämlich einer direkt nach Barkot, einer Ortschaft, die bereits im Tal der Yamuna liegt. Somit bleibt mir ein Umsteigen in Dharasu erspart, ich werde aber dennoch in Barkot zwischenübernachten müssen. Ich danke Anil, dass ich mit seiner Hilfe auf Anhieb den richtigen Bus gefunden habe, wir wünschen uns alles Gute und gehen somit in gutem Einvernehmen auseinander.
Die Straße zwischen Dharasu und Barkot verbindet die beiden Täler der Baghirati und der Yamuna. Die Strecke ist landschaftlich sehr eindrucksvoll. Ich blicke aus steilen Terrassenhängen hinab in fruchtbare Täler, wo märchenhafte Häuschen mit Schieferdächern in die Landschaft gestreut sind. In unzähligen Kurven windet sich der Bus höher und höher, von etwa 900 Meter in Dharasu bis zu einer Passhöhe auf vielleicht 2500 Metern. Frischer Kiefernduft strömt in die geöffneten Busfenster hinein, das Klima wird in dieser Höhe wieder erträglicher. Beim Herunterkurven vom Pass kommt dann plötzlich eine Sperre mittels eines in die Straße hineingezogenen Astes. Blast – Sprengarbeiten. Und schon knallt es. Zwei- oder dreimal, dann wird der Ast beiseite gezogen und die Fahrt fortgesetzt. Eine Gruppe von Arbeitern räumt noch schnell die gröbsten Felsbrocken weg, die bis auf die Fahrbahn gestürzt sind. Zum Straßenbau im Himalaja will ich mich nicht mehr weiter auslassen, das habe ich an anderen Stellen schon zu genüge getan. Ganz sicher ist er Fluch und Segen und ebenso sicher wird er weiterhin unaufhaltbar und schnell vorangetrieben werden.
Die Ortschaft Barkot macht einen recht wohlhabenden Eindruck. Nachts lasse ich das Fenster geöffnet und vom Bett aus blicke ich hinauf zur Mondsichel, im Hang gegenüber blinken die Lichter der dort hineingebauten Ortschaft. Traumhaft.
10.05.
Während ich zum Frühstück mein Samosa verzehre und an meinem heißen Chaiglas nippe, beobachte ich gegenüber eine kleine Gruppe älterer Herren, die wirklich noch das Bild des klassischen Pilgers verkörpern. Ihre hageren Körper sind in schlichte Shalwar Kamiz gekleidet, Köpfe und Rumpf mit Tüchern gegen die morgendliche Frische eingehüllt, in einer Hand halten sie jeweils einen Pilgerstock aus Bambus. Im modernen Indien hat sich die Art des Pilgerns verändert. So, wie bei uns Reisebusse zu den bekannten Wallfahrtsorten in Europa verkehren, ist es inzwischen auch hier. In erster Linie reiche Familien und Mittelständler unternehmen ihre Wallfahrt auf diese Weise. Manchmal bin ich mir nicht ganz im Klaren über ihre Beweggründe, denn viele erwecken bei mir den Eindruck, sie seien reine Erholungsurlauber. Vermutlich sind es zwei Faktoren, welche diese Leute motivieren: der religiöse und auch der des erholsamen Familienurlaubs. Dennoch sieht man immer noch viele Wallfahrer, wie diese alten Herren, die zumindest Teile der Strecke zu Fuß bewältigen, und dann sind da natürlich auch noch die Sadhus, die Wanderheiligen, die zum alltäglichen Bild auf den Straßen entlang der bekannten Pilgerrouten gehören.
Heute morgen soll ich Opfer einer Verarschung werden. Ganz deutlich frage ich nach dem Bus nach Chanki Chatti. Jeder kennt diesen Ort hier. Als ich im bereits fahrenden Bus sitze, wiederhole ich es beim Bezahlen dem gleichen Kondukteur, den ich beim Einsteigen schon gefragt habe, abermals: "Chanki Chatti". Ich wundere mich noch, warum, in Gottes Namen, wir denn flussabwärts fahren. Habe ich doch nicht richtig in die Karte geschaut? Liegt Barkot vielleicht noch gar nicht im Yamuna-Tal? In einer weiteren Ortschaft wechseln wir über eine Brücke das Flussufer und fahren nun ein Nebental hinauf, diesmal bachaufwärts. So, das soll nun die Yamuna sein? So klein? Nach zwei Stunden Fahrzeit kommen wir in einer Ortschaft an und ich frage die Leute auf der Straße: wir sind hier in Purola. Das ist völlig falsch, ich muss wieder nach Barkot zurückkehren. Voller Wut fahre ich den Kondukteur an, der an einer nahen Chaibude herumhängt: "You told me Chank Chatti" Der zuckt nur desinteressiert die Schultern. Es nutzt alles nichts, mit dem nächsten Bus kehre ich nach Barkot zurück und stelle fest, dass mir der Halunke vorhin den doppelten Fahrpreis abkassiert hat. Vielleicht war das sein Beweggrund, mich in den falschen Bus zu lotsen, um sich selbst ein ordentliches Bakshish zu verschaffen.
In Barkot erfahre ich dann, das ich die Hauptsraße aufwärts gehen muss. Dort befindet sich ein Jeeptaxistand, von wo man nach Hanuman Chatti, bzw. weiter hoch bis nach Chanki Chatti hinauffahren kann. Das Jeeptaxi startet, wie gewöhnlich, völlig überfüllt und die Fahrt wird erneut ungemütlich. Diesmal fließt die Yamuna richtig herum. Und die Straße steilt sofort auch mächtig bergan, denn unser Zielort, Chanki Chatti, liegt bereits wieder auf 2470 Metern. Ich kann erfreulicherweise von hinten aus dem Fahrzeug hinaussehen. Wir fahren eine hochdramatische Schlucht hinauf, die Abgründe neben den Autoreifen sind mitunter schwindelerregend. Dann erscheint plötzlich ein Tempel, auf eine kecken Bergspitz gesetzt, welcher mitten aus dem Schluchtengrund herausgewachsen scheint. Ich komme in Chanki Chatti an, just als dort ein Gewitter aufzieht. Die Umgebung ist ein einziger Rummelplatz mit hunderten von Pilgern, dazu Träger, Teebuden- und Dhababesitzer, deren lauthals herausgekrähten Angebote von allen Seiten auf mich einschallen. Ich überquere den matschigen Parkplatz und entdecke zu meiner Überraschung Sesram in Begleitung einer Schottin, die ich ebenfalls schon von Gangotri her kenne. Ich nehme am Tisch der beiden Platz und sehe ein paar Tische weiter vorne auch Dana, wild gestikulierend, mit ein paar Locals. Ich bin froh und erleichtert, sie so zu sehen. Offensichtlich geht es ihr gut und sie scheint auch gut zurechtzukommen. Ich hatte mir, offen gestanden, schon Sorgen um sie gemacht, denn sie ist schließlich zum ersten mal in so einem Land.
Ich will mit meinem Aufbruch warten, bis der erste Regenschauer wieder ein wenig nachgelassen hat und nehme derweil einen Happen zu mir. Der Umtrieb hier ist unglaublich. Es sind tausende von Pilgern unterwegs zum Tempel. Von hier aus bis hinauf nach Yamunotri sind es noch 5 Kilometer auf etwa 600 Höhenmeter. Die Fahrstraße endet hier und es beginnt ein betonierter und mit Geländern gesicherter Fußweg, der serpentinenartig und steil die spektakuläre Schlucht hinaufführt. Alle paar hundert Meter ist jeweils ein Welldach gebaut, unter welchen man bei starken Regenschauern kurz innehalten kann. Unterwegs begegnen mir viele Menschen, die sehr glücklich scheinen. Mir geht es genauso. "Jeamatadi!" rufen sie, und nach ein paar mal hinhören habe ich es schließlich auch drauf und rufe laut "Jeamatadi!" Nach zwei Dritteln des Anstieges erreicht man einen kleinen Tempel, der sehr fotogen im steilen Schluchtenhang steht. Man braucht den Weg nach Yamunotri übrigens nicht zu Fuß zurückzulegen, denn hunderte von nepalesischen Trägern bieten hier teils sehr aufdringlich ihre Dienste an. Man hat die Wahl, sich entweder in einer Sänfte bergwärts tragen zu lassen, sich von einem oder zwei Begleitern beim Gehen stützen zu lassen, hoch auf dem Pferderücken zu reiten, oder man lässt sich das Gepäck in einem Weidekorb tragen. In diese werden auch kleine Kinder und nicht allzu schwere ältere Personen hineingesetzt. Gruppen von Straßenfegern sind damit beschäftigt, den Weg sauber zu halten. Nur gilt die Rücksicht auf Sauberkeit leider für die Schlucht selber nicht. Das sieht man ganz besonders dann, wenn man schließlich oben am Tempel ankommt. Die Umweltsituation ist schlicht und ergreifend katastrophal. Unmengen von Müll wurden dort die Abhänge hinuntergeworfen, einfach furchtbar! Dennoch ist Yamunotri für mich ein wirklich entzückender Ort, mit einer fast schon magischen Atmosphäre. Der Tempel schmiegt sich fantastisch an eine senkrechte Felswand, die Yamuna schäumt als Bergbach direkt darunter vorbei. Die Schlucht erscheint hier besonders steil und beengend. Ein kleines Brücklein führt über die kristallklare Yamuna hinweg zum Tempelaufgang. Die letzten zweihundert Meter bis dorthin gleichen einem Jahrmarkt, bestehend aus Teastalls, Dhabas, Souvenir- und Devotionalienläden. Um den Tempel herum gibt es auch einige Ashrams, in denen man übernachten kann. Ich begebe mich zu jenem rechts oben am Berg, wenn man die große Stahlbrücke überquert. Es stellt sich später heraus, dass ich mich dabei verwechselt habe und es sich nicht um den im Reiseführer empfohlenen handelt. Das dem Tempel angebaute, etwas marode erscheinende Gebäude ist der Ashram des obersten Tempelpriesters. Dieser Ashram hat unter anderem den Vorzug, dass er mit dem heißen Wasser der sich im Tempel befindlichen Quelle geheizt wird. Alle anderen Unterkünfte sind unbeheizt und kalt ist es jetzt im Frühjahr nachts allemal auf über3000 Metern! Wieso man diese Unterkünfte hier Ashrams nennt, ist mir nicht ganz klar. Ein Ashram ist eine religiöse Lehrstätte, hier aber handelt es sich um bloße Pilgerunterkünfte, ich habe extra nachgefragt. Demnach müssten diese richtigerweise "Dharamshalla" heißen, was eben Pilgerherberge bedeutet.
Nach meiner Ankunft lasse ich mir in der Dhaba meiner Unterkunft ein wohlschmeckendes Thali auftischen und beobachte durch´s offene Fenster die nicht abreißen wollende Schlange von Pilgern, die schluchtaufwärts auf den Tempel zuströmt. Ich habe vor, morgen zum Saptarishi Kund hinaufzuwandern. In meinem Reiseführer steht, der Weg führe direkt an der Yamuna entlang aufwärts. Wenn das wahr ist, weshalb ist ein Führer dann "unabdingbar", wie es weiter heißt? Nach dem Essen starte ich eine Vorbegehung und stelle fest, es geht kein Pfad die Yamuna entlang. Also nicht lange gezaudert, ich frage im Ashram nach einem Führer. Die zucken die Achseln und verweisen mich auf zwei junge Burschen, die morgen ebenfalls zum Saptarishi Kund hinauf wollen. Sie sagen, sie hätten schon einen Führer, wollen bei diesem aber noch versuchen, den Preis zu drücken. Durch meinen Einstieg ins Unternehmen wird die Sache für sie ohnehin billiger. Wir bleiben zusammen noch beim Chai in der Dhaba sitzen. Die beiden kommen aus Dehra Dun und sind wohl sehr häufig zum Trekking im indischen Himalaja unterwegs. Sie geben mir auch ein paar Ratschläge für interessante Touren hier im Garhwal und im benachbarten Kumaon. Der Charras-Konsum der beiden stimmt mich allerdings noch bedenklich. Ich bin wirklich gespannt, ob die beiden morgen früh um halb sechs wirklich schon auf der Matte sind und wie es um ihre Fitness bestellt ist.
11.05.
Wie gestern abend abgemacht, finde ich mich um 5.30 h mit meinem Handtuch am Badebecken des Tempels ein. Von den Jungs ist noch keiner zu sehen. Ich tauche vorsichtig die Füsse ins dampfende Becken und stelle fest, das Wasser ist viel zu heiß für ein Vollbad. Es ist wohl das gleiche Problem, wie an den Hot Springs in Gangnani: vermutlich wird erst zur eigentlichen Badezeit, wenn viele Leute kommen, kaltes Wasser beigemischt, so dass das Wasser badetaugliche Temperaturen erhält. Dann aber entsteht sicher, aufgrund der vielen, vielen Badenden, ein hygienisches Problem. Ich beschränke mich auf ein wenig Abwaschen. Eine Dusche mit Schöpfkelle und kaltem Wasser war mir gestern Abend im Ashram zuwider, ich hatte so schon genug gefroren. Der heißen Quelle von Yamunotri sagt man übrigens nach, dass, wer darin badet, von einem schmerzhaften Tod verschont wird. Hoffentlich wird das Benetzen mit dem Wasser auch anerkannt :-))! Als ich noch schnell ein Foto vom Hauptaltar des Tempels schieße, dreht sich der dort sitzende Pujari verärgert um. "No photo!" Ich entschuldige mich und will ihm vorführen, dass ich bereit bin, das Foto wieder zu löschen. "Let it!" begegnet er mir barsch. Ich begebe mich alsdann zum Frühstück zurück in den Ashram, dort erscheinen dann meine beiden Mitwanderer. Kurz darauf trifft unser Führer ein, ein älterer, hagerer Typ, nach Aussage meiner Begleiter sehr erfahren. Den Kalindi Khal würde er normalerweise etwa zweimal im Jahr überqueren, sagt er von sich selbst. Der Kalidi Khal ist ein alpiner Pass mit nahezu 6000 Metern Höhe. Er bietet für gut ausgerüstete und alpin ambitionierte Trekker eine abenteuerliche Möglichkeit, von Ganotri hinüber in den Pilgerort Badrinath zu gelangen. Hierzu geht man von Goumuk aus nicht nach Tapoban, sondern nach Nandanban und geht dann, grob erklärt, hinter dem 7000er Satopant hindurch.
Um 7 Uhr marschieren wir los. Mit von der Partie ist ein Ashram-Besitzer aus Yamunotri. Die Angabe, der Weg würde direkt die Yamuna aufwärts führen, ist dann weit gefehlt. Direkt hinter dem Ashram, wo ich untergebracht bin, geht es recht steil auf einem Pfad durch herrlichen Wald aufwärts. Bald schon tauchen die ersten Schwierigkeiten in Form von steilen Altschneefeldern auf. Für mich kein Problem, für den Ashram-Besitzer und den Führer auch nicht, wohl aber für die beiden Jungs. Einer von ihnen trägt Sportschuhe und wir müssen mühevoll gut ausgekuhlte Spuren schlagen, damit er halbwegs sicher durchkommt. Irgendwann stehen wir vor einem Schneefeld, welches ein supersteiles Kar zudeckt. Hier bleiben die beiden Jungs endgültig zurück. Ich muss auch anfügen, wer hier ausrutscht und nicht unmittelbar wieder bremsen kann, würde volle Rakete abgehen. Wir gehen also zu dritt weiter. Der Weg vollführt einen Riesenbogen durch steile Berghänge hindurch, anschließend folgt ein Zickzackweg, den wir zuvor schon von weitem im offenen Hang erkennen konnten. Wenn man den Weg nicht kennt, dann hat man ohne Führer wenig Chancen, ihn zu finden, besonders jetzt im Frühjahr, wo große Stücke des schmalen und nicht immer deutlich ausgetretenen Pfades noch unter Schnee liegen. Wir erreichen schließlich die Zone, wo die Schneedecke noch vollkommen geschlossen ist. Ein Felsen befindet sich hier, als kleiner Hinduschrein markiert. Hier will der Führer nicht mehr weiter gehen. Ich bin enttäuscht. Das Problem ist, er spricht nur sehr wenig englisch, wie auch der Ashrambesitzer. Sie können mir also nicht erklären, wieso hier schon Ende sein soll. Ich bewege sie dazu, noch ein Stück weiter aufwärts zu gehen. Da würde ein recht steiler Hang folgen, der aus meiner Sicht in der jetzigen Situation aber machbar wäre. Noch vier Kilometer seien es bis zum See. Ich gebe mich geschlagen, allein würde ich den Weg unter der geschlossenen Schneedecke wohl kaum finden, und der Führer will mich sowieso nicht gehen lassen. Ich wäre gerne selbständig noch den Steilhang hochgegangen, nur um zu sehen, was dahinter kommt. Ich machen den beiden verständlich, sie könnten ja kurz auf mich warten, ich würde dann gleich wieder zurückkommen. Der Führer will mich aber nicht gehen lassen. Er bittet mich sogar darum, es nicht zu tun. Ich gebe mich geschlagen und wir packen unseren Proviant zum Lunch aus. Ein weiteres Argument spricht für die Umkehr: das Wetter zieht immer mehr zu. Auch wenn das Ziel nicht erreicht wurde, eine schöne Tour war´s denn auf alle Fälle. Vorhin etwa konnten wir Yamunotri in fast direkter Falllinie, hunderte von Metern tief unter uns sehen. Dann die herrlichen, zugeschneiten Viertausender-Gipfel, die uns umgeben, einfach wunderbar! Der Umkehrpunkt dürfte bei knapp 4000 Metern liegen. Recht flott steigen wir jetzt ab und treffen wieder auf die beiden Jungs, die vor dem Schneefeld auf uns gewartet haben. Wir sind noch nicht unten, da bricht auch schon das Gewitter über uns herein. Triefend nass erreichen wir den Ashram und lassen den schönen Wandertag bei mehreren Chairunden ausklingen.
Abends wird es ruhig in Yamunotri. Ich stehe auf der großen Brücke und genieße den Moment. Es ist kalt, der Himmel übe mir ist jetzt sternenklar, drüben leuchtet der Tempel im schummrigen Licht einiger Glühbirnen, unter mir rauscht die junge Yamuna. Dieses Wasser wird irgendwann auch den Ganges treffen, aber erst in der Stadt Allahahbad, nach einer langen, langen Reise weit durch´s Tiefland hindurch. Der Ganges gilt als der heiligste Fluss Indiens, die Yamuna gehört zu den vier heiligsten. Ich werde die Yamuna wieder treffen, viele Tagesreisen von hier entfernt ...
12.05.
Heute ist der definitiv letzte Trekkingtag, die Etappe wird kurz und bequem. Gut gelaunt und mit flottem Tempo laufe ich die Schlucht hinunter, entgegen dem aufsteigenden Pilgerstrom, der allerdings in den frühen Morgenstunden noch nicht so dicht ist, wie zu anderen Tageszeiten. Ein kleiner Abstecher steht mir noch im Sinn. Kurz vor Erreichen des Jeepparkplatzes von Chanki Chatti führt eine auffallende Brücke ans andere Ufer der Yamuna. Dort folgt man einem schmalen Pfad aufwärts und gelangt so in ein bilderbuchhaftes Garhwali-Dorf mit wunderschönen, traditionellen Häusern und einem interessanten Tempel. Das Dorf heißt Kharsali. Es ist so nah an Chanki Chatti und doch so abseits vom dortigen Trubel. Hier leben auch die Pujaris von Yamunotri.Desweiteren sollen die Einwohner von Kharsali erfahrene Sammler von ayurvedischen Kräutern und Pflanzen sein, die in den grünen Hängen der umliegenden Berge zuhauf gedeihen. Drei Kinder führen mich zum uralten Dorftempel. Er ist gebaut wie ein Turm, aus Naturstein und durch fachwerkartige Holzbalken statisch verstärkt. Im Inneren geht es über in dicke Baumstämme geschnitzte Leitern durch die Dunkelheit aufwärts, bis wir im obersten Stockwerk den Altar erreichen. Er ist Someshwar geweiht, dem Gott des Mondes und eines mir nicht bekannten Rauschmittels namens Soma. Ich erhalte die heiligen Weihen und lasse eine Spende zurück. Auch die vielen traditionellen Häuser von Kharsali sind eine Augenweide: aufwändige und kunstvolle Schnitzereien mit vielen Details kann man hier entdecken. Noch dazu liegt das Dorf malerisch auf einem Plateau überhalb der Yamuna-Schlucht, mit Blick auf schneebedeckte Himalaja-Berge, zu denen wogende Felder im Vordergrund eine malerische Kulisse bilden.
Die Rückkehr nach Chanki Chatti ist wiederum der blanke Horror. 13 Personen plus zwei Kleinkinder in einem noch kleineren Jeep, als der, den wir in Gangotri hatten. Wirklich schade um die landschaftlich so schöne Strecke! Dem nicht genug, man will mich heute offensichtlich zwei verschiedenen Foltermethoden unterziehen, denn im Bus erhalte ich zunächst nur einen Stehplatz und anschließend einen superengen Sitzplatz auf der ungeliebten Rückbank. In irgendeinem Kaff muss ich noch umsteigen, um zu meinem nächsten Ziel, der Hill Station Mussoori, zu gelangen. Wir durchfahren abermals eine typische Himalaja-Vorgebirgslandschaft. Was mir neu auffällt, sind viele schöne, strohgedeckte Bauernhäuschen in den steilen Hängen. Nachdem wir mit etwa 800 Metern einen Zwischentiefpunkt erreicht haben, geht es mit heulendem Motor wieder aufwärts bis ins auf 2000 Metern Höhe gelegene Mussoori. Unterwegs blicke ich hinab in einen winzigen See mit viel zu großen Ausflugsbooten drauf. An der Straße befinden sich zahlreiche Imbissbuden und eine Seilbahn verkehrt zum See hinab. Erst, als unser Fahrzeug die andere Hangseite erreicht, erblicke ich die Hauptattraktion dieses Ausflugsziels: ein enormer, in zwei Fallstufen über helle, glatte Felsen herabstürzender Wasserfall. Hinterher soll ich herausfinden, dass es sich bei den Wasserfällen um die Kempty Falls handelt. Eine der besten Straßen des gesamten Himalaja (zeitweise sogar mit Mittelstreifen!) kündigt den mondänen Erholungsort Mussoori an. Die einstigen Kolonialherren gründeten sowohl im Himalaja-Vorgebirge als auch in den Bergen des indischen Südens sogenannte Hill Stations, hoch gelegene Orte, die ein angenehmes Klima bieten. Wenn es unten heiß ist, ist die Luft hier angenehm kühl. Dennoch sind diese Hill Stations nicht zu hoch gebaut, so dass es im Winter dort droben nicht zu kalt wird.
Mussoori ist die der Hauptstadt Delhi am nächsten gelegene Hill Station. Wenn die Luft klar ist, was eher im September/Oktober der Fall ist, so kann man von hier oben Teile der hohen Berge des Garhwal in der Ferne leuchten sehen, etwa den Bandarpunch oder den Surgnalin (6252 m). Ich selbst habe mich mit einem diesigen Blick hinab in die Ebene, wo sich die Hauptstadt von Uttarkand, Dehra Dun, ausbreitet, und die Aussicht auf die Vorberge zu begnügen. Im Hotel Laxmi Palace übernachte ich übrigens für 300 Rupien, worüber ich erleichtert bin, denn es ist Hochsaison und die Stadt ist von indischen Familien aus der Mittel- und Oberschicht übervölkert und gilt für indische Verhältnisse als nicht unbedingt billig. Mussoori verteilt sich über eine kammähnliche Hügelkette und bietet mir die allerletzte Möglichkeit, nochmals Bergluft zu schöpfen, bevor ich morgen den Himalaja endgültig verlassen und in die Affenhitze des Flachlandes zurückkehren werde. Auch wenn mir der Ort nicht sonderlich spektakulär düngt, um sich ein wenig zu entspannen, lohnt Mussoori sich allemal. Kurios erscheinen dann so manche Ecken in der Stadt: Lampen und Straßenschilder wie am Trafalgar-Square! Nachts, wenn die Uttarkand-Hauptstadt Dehra Dun in der Ebene als weit ausgebreitetes Lichtermeer glänzt, sieht man sie deutlicher, als in der diesigen Luft des Tages.
13.05.
Kurz nach 6 schon begebe ich mich auf einen Spaziergang auf der Camel´s –Back-Road. Außer mir scheint nur noch das Militär aktiv zu sein. Mit Startnummern versehen, das Gewehr am Lauf haltend und den Schaft auf der Schulter aufliegend, rennen sie im Kampfanzug die Camel´s-Back-Road hinunter, später soll ich sie mit Marschgepäck die Mall entlangstürmen sehen. Und da ist dann noch die pensionierte Musiklehrerin, die mir Privatstunden zum Erlernen der Sitar anbietet. Ja, wenn ich ein halbes Jahr hier oben bleiben würde, aber dann würde ich mich ganz sicher auch zu einem Hindi-Sprachkurs an der renommierten Landour Language School anmelden!
Frühstücksmöglichkeiten findet man in Mussoori vor 8 Uhr leider keine, und die Seilbahn (hier rope way genannt) hinauf zum Gun Hill geht auch erst nach halb Neun. Doch die Fahrt dort hinauf will ich mir noch gönnen, auch wenn ich dort oben nur ein riesiges Betonplateau, umzingelt von einem Reigen an Ausflugslokalen, vorfinde. Die Aussicht wird ob des Dunstes, auch nicht besser, weshalb ich bald schon wieder talwärts fahre. Aus der Seilbahnkabine heraus sichte ich das Dach der "Mussoori-Public-School" . Das ist die Schule der Jugendlichen vom Dodital. Ich schlendere über die Mall zurück zum Hotel, nehme mein Gepäck auf und begebe mich hinunter zum nahen Busbahnhof. In Dehra Dun angekommen, finde ich mit Hilfe zweier junger Studenten, mit denen ich im Bus ins Gespräch gekommen war, einen Anschluss nach Rishikesh, meinem nächsten Ziel. Dort angekommen, mache ich keine langen Geschichten, und steige in dem nicht sehr sauberen Hotel Surya gegenüber dem Busbahnhof ab, da ich sowieso nur eine Nacht hier bleiben will.
Rishikesh ist dann doch wieder indischer, als Mussoori. Durch Staudammprojekte ist der dortige Triveni Ghat verlandet und der Kiesstrand unterhalb zur Zeit zu einer unschönen Baustelle verkommen. Dennoch lohnt es sich für mich, zum Sonnenuntergang der Ganga Aarti Puja beizuwohnen. Sie ist nicht ganz so spektakulär, wie die in Haridwar, dafür ruhiger und entspannender. Viele Sadhus bevölkern die Stadt, besonders rund um den Triveni Ghat haben die Asketen mehrere kleine Schreine eingerichtet, der süße Duft von Räucherkerzen liegt permanent in der Luft. Aus einem Lautsprecher tönen den ganzen Tag über Gebete und Gesänge. Am Mittag bin ich weit hinaus in Richtung der Ashrams spaziert. Ich habe dabei auch den Ashram des berühmten Maharishi Manesh Yogi, in dem einst die Beatles residierten, am anderen Ufer im Hang ausmachen können. Auf dem Rückweg blieb ich am Gangesufer und spazierte unterhalb der Elendshütten vorbei, welche sich am ausgetrockneten Flussbett, welches auf den Ganges zuführt, befinden. Die Leute graben dort das ganze Kiesbett um und leeren das Grabgut durch aufgestellte Siebe, in der Hoffnung, dann irgend was brauchbares oder wertvolles zu finden. Die Bauern aus den Vorbergen haben ganz sicher ein sehr mühevolles und karges Leben. Doch die Leute hier in diesem Flussbett, sie subsistieren nur, das ist wirkliches Elend.
Als ich unter der Dusche stehe, fällt mal gerade wieder der Strom aus. Ich stehe platschnass in vollkommener Umnachtung, doch es gelingt mir, mich zu meinem Rucksack vorzutasten, um meine Stirnlampe aus der Lasche zu ziehen. That´s India! Eine Stirnlampe gehört zur Grundausstattung eines Trekkers, in Indien aufgrund der häufigen Stromausfälle allerdings auch zu der eines jeden Travellers.
14.05.
Zum Abschied spaziere ich frühmorgens nochmals zum Triveni-Ghat. Hinter dem Ghat befindet sich ein alter und mir interessant erscheinender Tempel, der dem Gott Rama, dem Schöpfer, geweiht ist. Der Pujari bemerkt meine Neugier und bittet mich, hereinzutreten. Im Innenhof befindet sich ein quadratisches Wasserbecken, welches mir der Priester mit dem Namen "Rishi Kund" benennt. Er sagt, dies sei das Wasser der Yamuna (???). Ich bekomme auch noch den Rest des Tempels, begleitet mit Erläuterungen des Pujari, gezeigt. Schließlich verabschiede ich mich mit einer kleinen Spende und gehe frühstücken. Während der Busfahrt nach Delhi beschließe ich spontan, heute noch nach Agra weiterzufahren. Ich hatte ursprünglich vor, den Besuch des Taj Mahal von Delhi aus als Tagesausflug zu machen. Am Kashmiri Gate muss ich den Busbahnhof wechseln. Bei dieser Gelegenheit entdecke ich, dass es für die Motorrikshas dort ebenfalls einen Pre-Paid-Schalter gibt und man sich daher nicht unnötigerweise von der dortigen Rikshamafia abzocken zu lassen braucht. Die Busse nach Agra fahren am Sarai Khale Khan ab. Dort steige ich in einen abfahrbereiten Luxus-Bus ausgestattet mit hochbequemen Sitzen und Klimaanlage. Von solchen Bussen habe ich bislang immer nur gehört, konnte aber bislang nie einen solchen ausfindig machen. Wieder Erwarten dauert die Fahrt nochmals sechs Stunden und bis ich in Agra eintreffe, ist es Nacht. Willig lasse ich mich von einem Schlepper in ein Hotel namens Evergreen fahren, welches sich im Viertel des Idgah-Busbahnhofs befindet, in welchem ich angekommen bin. Bei einem kurzen Rundgang stelle ich fest, dass ich mich hier am Hintern der Stadt befinde, nicht einmal eine Dhaba ist in unmittelbarer Nähe aufzufinden. Das Hotel hat nur Zimmerservice, weshalb ich mein Abendessen auf einem wackligen Nachttischchen einnehmen muss.
15.05.
Um sechs Uhr früh ordere ich eine Riksha, der Schlepper von gestern sitzt schon mit drin. Ich wimmle ihn ab, ich will keine Pauschalführung. Am Eingang des Taj werde ich gezwungen, meinen Reiseführer in einem Cloak Room zurückzulassen. "Guide-books not allowed!" Ich nehme mir aber deswegen trotzdem keinen der vor dem Eingang sich recht aufdringlich anbiedernden Führer. Ich habe mir vorgenommen, den Besuch des Taj zu zelebrieren, mir dabei Zeit zu lassen. Und noch was: Agra ist, was Schlepper, Händler, Führer und sonstnochwas anbelangt, eine besonders unangenehmer Ort. Ausgenommen sind das Gelände des Taj, oder innerhalb der Mauern des Roten Fort. An diesen Orten findet man seine Ruhe vor sämtlichen Belästigungen. Der Eintrittspreis ist für indische Verhältnisse glatter Wucher: 750 Rupien für alle Nicht-Inder! Es ist heute bewölkt, und die Luft sehr diesig. Ich denke, es erübrigt sich, das Taj näher zu beschreiben, das Bild kennt jeder und nähere Erläuterungen dazu finden sich in jedem Reiseführer. Dennoch sind besonders die Details von großer Faszination. Sämtliche Muster, die das Monument außen wie innen zieren, sind Edelsteinintrusionen verschiedenster Genre. Hinter dem Taj treffe ich eine alte Bekannte wieder: der durch eine grüne Auenlandschaft hindurch träge vor sich hindümpelnde und leider äußerst verschmutzte Fluss ist die Yamuna, die übrigens auch durch Delhi fließt. Im morgendlichen Dunst kann ich flussaufwärts die langgezogene Sandsteinmauer des Roten Forts erkennen, ein weiterer Programmpunkt für mich in Agra. Vom Stadtgebiet ist auf dieser Seite nichts zu sehen. Nur ein kleines Dorf befindet sich am anderen Ufer. Ein Ruderboot setzt gerade über. In diesem Dunst erscheint mir die gesamte Szenerie wie Phantasmen aus einem tropischen Fiebertraum. Gut vier Stunden bringe ich in aller Gemütsruhe auf dem Gelände des Taj zu. Anschließend spaziere ich ein wenig durch´s dem Taj unmittelbar angrenzende Viertel Taj Ganj, wo es mir gelingt, das im Reiseführer empfohlene Restaurant Sheela ausfindig zu machen. Hier sitzt man angenehm in einem schattigen, ruhigen Garten mit Palmen und exotischen Pflanzen. Per Fahrradriksha lasse ich mich anschließend vors Rote Fort bringen. Es ist furchtbar, jeder Rikshafahrer ist darauf bedacht, einem ein Ganztagspaket aufzuschwatzen, es ist fast schon zum Problem, wenn man sich einfach nur von einem Punkt zum anderen bringen lassen will. Auch das Rote Fort ist nicht billig, normalerweise 350 Rupien, aber in Kombination mit der Taj-Mahal-Eintrittskarte reduziert sich der Preis auf 250 Rupien. Ich muss sagen, das Rote Fort in Agra hat mehr zu bieten, als jenes in Delhi. Eines haben die beiden Forts gemeinsam: in beiden Monumenten stand vorübergehend der später nach Persien verschleppte Pfauenthron. Das Rote Fort birgt eine Anzahl von faszinierenden Palästen in seinem Inneren, zumeist aus weißem Marmor, einer aber auch aus rotem Sandstein. Die Hitze fordert ihren Tribut, doch ich finde ein ruhiges, schattiges Plätzchen auf dem breiten Sims eines riesigen Fensterbogens, wo ich mich der Länge nach hinlege. Wenn ich den Kopf ein wenig drehe, sehe ich geradewegs hinüber zum Taj Mahal.
Ich entschließe mich noch zu einem kleinen Bummel durch den authentischen Johri Bazar bei der auffälligen Moschee Jami Majid. Was in Agra, außer der bereits erwähnten ständigen Belästigungen, auffällt, ist die furchtbare Verdreckung der Stadt. Müll und Gestank an allen Ecken und Enden. Man muss schon die Frage stellen, wo die Stadtväter das viele Geld für die Eintritte anlegen! Bevor ich ins Hotel zurückkehre, lasse ich mich von einem Rikshafahrer überzeugen, für morgen eine Zugfahrkarte zu reservieren. Diesen Gedanken habe ich ohnehin schon gehabt, da die Fahrt mit dem Zug schneller und bequemer sein soll und der Bahnhof Agra Cantonment (auch Agra Cantt genannt) sich ganz in der Nähe meines Hotels befindet. Ich bezahle auf dem Buchungsbüro und lasse mich zum nächsten Cyber-Cafe schippern. Als ich nach einer Stunde zurückkehre, ist meine Fahrkarte noch nicht fertig. Mir wird versprochen, dass man mir diese ins Hotel liefert, sobald sie fertig ist.
Es ist schon längst dunkel, und es ist noch niemand vom Büro hier aufgetaucht. Zum ersten Mal bekomme ich Zweifel. Ich habe bezahlt, aber ich habe überhaupt keinen Beleg zur Hand. Welchen Grund sollte der Junge vom Büro denn haben, extra hier heraus zu fahren? Gut, das finanzielle Desaster hielte sich mit 230 Rupien in Grenzen, aber dennoch. Haben mich meine guten Erfahrungen in Indien jetzt zu leichtsinnig werden lassen? Sie haben nicht, denn sie werden wieder einmal bestätigt: ein Motorrad braust vors Hotel, ein junger Mann steigt ab und überreicht mir meine Zugfahrkarte. Vor lauter Freude darüber drücke ich ihm ein großzügiges Bakschisch in die Hand.
16.05.
Die Zugfahrt nach Delhi dauert etwa viereinhalb Stunden und ist somit tatsächlich schneller und auch sicherer, als die Busfahrt. Ich komme zudem an der New Delhi Railway Station an, welche direkt an das Touristenviertel Paharganj grenzt. Dort beziehe ich für 160 Rupien ein Zimmer in der Camran Lodge. Diese findet man im Main Bazaar, sie ist Teil einer alten, aber immer noch benutzten Moschee, schlicht und mit besonderem Charme! Zuerst treibt es mich zum Bücherkauf an den Connaught Place. Dort findet man Trekking-Literatur über den Himalaja in Hülle und Fülle. Ich will Delhi aber nicht verlassen, ohne zuvor einen kleinen Bummel durch´s authentische Old Delhi gemacht zu haben. Dazu muss ich nur die Brücke über die Bahngleise überschreiten. Anschließend Einkäufe in Paharganj. Morgens pre paid (wird für 220 Rupien vom Hotel organisiert) zum Flughafen hinaus. Dort treffe ich Dana. Wir trinken zusammen einen Friedenskaffee. Ich freue mich besonders über ihre Aussage, dass sie auf jeden Fall noch mal nach Indien reisen will. Vielleicht nicht in den Himalaja, eher in den Süden. Auf dem Rückflug und der gemeinsamen Zugfahrt von Frankfurt bis Offenburg tauschen wir unsere Reiseerlebnisse aus. Ich bin erleichtert darüber, dass die Trekkingtour zu so vielen heiligen und friedvollen Orten schließlich und endlich auch für uns beide im Frieden zu Ende geht.
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