Baltoro-Trek zu den Basislagern von K2, Broad Peak und Hidden Peak
Baltistan gehört wohl zu den abgelegensten und am schwersten zugänglichen von Menschen bewohnten Flecken auf dieser Erde. In Pakistans Provinz Northern Areas eingebunden, und zwischen China, Indien und Kaschmir eingezwängt, ist es eine reine Bergregion. Auch wenn die Zugänge in jüngerer Zeit durch den Bau des KKH (Karakorum Highway) und der Skardu Road erleichtert und auch für Motorfahrzeuge erreichbar gemacht wurde: wer einmal den Landweg von Islamabad/Rawalpindi hinauf nach Skardu genommen hat, der weiß, wovon ich rede, ganz zu schweigen von der halsbrecherischen Jeepstrecke zwischen Skardu und dem Dorf Askoli, dem Startpunkt für den Baltoro-Trek. Der Himalaya wird gemeinhin als das höchste Gebirge der Welt angesehen. 10 von 14 Achttausender-Gipfeln stehen dort, darunter der Höchste, Mount Everest mit 8848 m Höhe. Das sich im Nordwesten anschließende Karakorum ist flächenmäßig viel kleiner, als der Himalaya. Dennoch stehen die verbliebenen 4 der 14 Achttausender allesamt im Karakorum. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich alle vier Karakorum-Achttausender, darunter der K2, zweithöchster Berg der Welt, praktisch in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander befinden, so wird klar, die Baltoro-Muztagh-Gruppe ist definitiv das höchste Bergmassiv auf diesem Planeten. Dieses Gebiet, das Zentrum des Karakorum, ist schon längst nicht mehr nur für große Bergsteigerexpeditionen zugänglich. Die Trekkingtour über den Baltoro-Gletscher hinauf zum Basislager des K2 ist für höhentaugliche, gesunde und fitte Wanderer im Rahmen einer zwei- bis dreiwöchigen Trekkingtour gut durchführbar.
Dass die politischen Grenzen auf dem indischen Subkontinent keine glücklichen sind, zeigte sich schon bald nach dem Abzug der Engländer, als sich Pakistan nach einem kurzen, aber blutigen und mit Völkermord auf beiden Seiten einhergehenden Bürgerkrieg von Indien lossagte (Partition). Kurz darauf wurde die Gründung des Staates Bangladesh, damals zunächst Ost-Pakistan, ebenfalls durch Bürgerkrieg erzwungen. Der Punjab wird durch die indisch-pakistanische Landesgrenze zerschnitten. Die Bergprovinz Kaschmir bleibt bis auf den heutigen Tag Konfliktherd zwischen den Atommächten Pakistan und Indien. Durch letztgenannte Situation büßte die Hauptstadt Baltistans, Skardu, ihre Bedeutung als Handelsplatz ein, und die Verbindung zur ethnischen Verwandtschaft im indischen Ladakh wurde gekappt. Dass Baltistan und sein Hauptstädtlein seitdem dennoch nicht vollkommen ins Wachkoma verfallen sind, ist dem sich bereits in den Dreißiger Jahren dort kontinuierlich etablierten Bergtourismus zu verdanken.
Wenn man in die Gesichter der Baltis schaut, scheint in ethnischer Hinsicht zunächst nichts oder nur wenig auf die Verwandtschaft mit den tibetischen Nachbarn in Ladakh oder im chinesisch okkupierten Tibet hinzuweisen. Auch den Buddhismus haben sich die Baltis schon vor Jahrhunderten abgestreift, und sind stattdessen zur Lehre des Propheten konvertiert. Ein klarer Beweis einer Relation ist aber die Sprache, denn "Balti-Language" ist ein tibetischer Dialekt, der mit der offiziellen pakistanischen Verkehrssprache Urdu etwa soviel wie Deutsch mit Chinesisch gemeinsam hat. Der aufmerksame Reisende, insbesondere wenn er bereits in den tibetischen Gebieten des Himalaya unterwegs war, wird aber noch viele weitere Indizien für die tibetische Herkunft der Baltis entdecken. Ich werde versuchen, einige davon im Verlaufe meines Berichtes aufzuzeigen. Bezüglich der Religion ist es noch wissenswert, dass die Baltis, im Gegensatz zur in Pakistan dominierenden Mehrheit der Sunniten, Schiiten sind, was wegen der ständig auf´s Neue aufkeimenden blutigen Konflikte zwischen den beiden Glaubensgruppen eine mitunter fatale Rolle spielt. Man sollte deshalb nicht gleich erschrecken, wenn etwa, wie von uns gesehen, in einem Lebensmittelladen in Skardu das Bild des Ayatollah Khomeini an der Wand prangt, oder ein Banner über der kleinen Moschee von Askoli die Aussage "Live like Ali, die like Hussain" skandiert. Die gefährliche politische Situation der baltischen Schiiten als ständig bedrohte Minderheit muss meiner Einschätzung nach zwangsläufig zu einem Identifikationsbedürfnis und zum Anlehnen an eine starke Schutzmacht führen, und muss vielleicht nicht unbedingt einen undifferenzierten Hass auf den Westen signalisieren.
Die abenteuerliche Alpingeschichte des Karakorum hat bekanntermaßen unzählige Bücher gefüllt. Hierbei einen historischen Abriss zu versuchen, würde kein zufriedenstellendes Resultat erbringen. Daher empfehle ich diesbezüglich Interessierten, mit einem oder mehreren der vielen bereits geschriebenen Bücher vorlieb zu nehmen. Kurze Anmerkung: der Nanga Parbat, bekannt auch als Schicksalsberg der Deutschen, obwohl ebenfalls in Pakistan stehend, gehört nicht ins Karakorum. Der Nanga Parbat ist der westlichste Achttausender des Himalaya und wer den Karakorum Highway hinauffährt, wird irgendwann oberhalb der Abzweigung zur legendären Fairy(tale) Meadows (Märchenwiese) zur eigens als Aussichts- und Fotopunkt eingerichteten Stelle kommen, wo sich die drei großen Gebirge Zentralasiens treffen: Hindukusch, Karakorum und Himalaya. Bei gutem Wetter kann man von dort aus den Nanga Parbat sehen.
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Zugegeben, ich habe diesmal ein etwas mulmiges Gefühl. Pakistan hat in seiner kurzen Geschichte wohl noch nie so richtig zu den sicheren Reiseländern auf dieser Erde gehört, und wenn man die aktuellen Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes liest, scheint es dort derzeit mehr Landesteile zu geben, in denen man sich als westlicher Ausländer besser nicht blicken lässt, als Gegenden mit relativer Sicherheit. Dennoch stand dort ausdrücklich zu lesen: Nanga Parbat, Hunza und Baltistan sind ruhig. Doch um das gelobte Land zu erreichen, bleibt einem oftmals der Weg durch weniger sichere Provinzen zumindest in Teiletappen nicht erspart, oder man kommt bei der Einreise per Flugzeug zunächst in Islamabad an, welches heuer leider alles Andere als im Ruf eines Friedenshortes steht. Exakt eine Woche vor meinem Abflug stürmte die pakistanische Armee die zuvor von religiös motivierten Extremisten besetzte Lal Masjid (Rote Moschee) mitten im Stadtgebiet. Offiziell gab es 70 Tote, wie viele es wirklich waren, bleibt Spekulation. Genau einen Tag vor meinem Flug kam es dann noch zu einem Selbstmordattentat im Sektor F 8 der Stadt. Beim Umsteigen in Doha (Katar) in die Maschine nach Islamabad mache ich außer mir keinen weiteren Ausländer aus. Wo, zum Kuckuck, steckt Peter Krämer? Hat er zu guter Letzt die Hosen voll gekriegt und die Reise wegen der jüngsten Vorfälle doch noch abgeblasen? Na, das wäre ja nicht ganz unverständlich! Dann wäre ich wohl der einzig verbliebene Depp, der jetzt noch nach Islamabad reist. Doch zu guter Letzt fällt mir ein Stein vom Herzen, als ich in der Warteschlange vor der Immigration in Islamabad stehe und ein junger, deutsch aussehender Mann auf mich zukommt, der auf dem Hinflug übrigens von den selben Gedanken geplagt war, wie ich. Der Grund, warum wir uns in Doha nicht gefunden haben, war die Tatsache, dass das Abfluggate bis zum Schluss hin nicht angeschrieben stand. Ich selbst habe mich an der an einem Gate anstehenden Menge von Leuten orientiert, die alle pakistanisches Aussehen hatten, und dort gefragt.
Mr. Manzoor, unser pakistanischer Führer, soll uns vom Flughafen abholen, und da wir, wie gesagt, die einzigen westlichen Ausländer zu sein scheinen, müsste er uns wohl schnell erkennen, sobald wir den Arrival-Sektor verlassen. Wohl mehr als hundert Leute warten dort, doch es interessiert sich niemand für uns. Selbst die in vergleichbaren Ländern so lästigen Kofferträger, Taxifahrer, Hotelschlepper und sonstigen "Dienstleute" scheinen hier zu fehlen. Und niemand, der vielleicht ein Schildchen mit unseren Namen oder dem Hinweis "Shipton-Trekking" hochhält, oder der uns zuwinkt. Wir beschließen, uns zu teilen. Einer links, der andere rechts hinaus, damit wir ja nicht übersehen werden. Ratlos treffen wir gleich danach wieder zusammen. Doch dann löst sich doch noch jemand aus der Menge. Ein untersetztes, gedrungenes Männlein in einen landestypischen, schneeweißen Shalwar Kamiz gekleidet, fragt nach unseren Namen. Was sind wir erleichtert. Er habe drei Personen erwartet, entschuldigt sich Manzoor, denn er wusste nicht, dass unser dritter Mann, Tobias Selinger, bereits seit über eine Woche im Land weilt und sehnsüchtig in Skardu unser Eintreffen erwartet.
Hätte er nicht die Reverenzen von Barbara Hirschbichler, ich hätte unserem Manzoor auf Anhieb wohl keine allzu große Bergtauglichkeit zugetraut. Doch dieses so unscheinbar wirkende Männnlein ist bereits seit 20 Jahren Führer im Baltoro-Gebiet und war schon mit Berühmtheiten wie Kurt Albert und dem unlängst bei einem Autounfall verstorbenen Wolfgang Güllich auf Expedition. Für alle Nicht-Bergsteiger möchte ich noch erwähnen, dass Wolfgang Güllich die Stunts im bekannten Kinoknüller "Cliffhanger" für Silvester Stallone gespielt hat.
Manzoor ist ein besonderer Mann und ein besonderer Führer. Wir haben ihm während unseres Pakistan-Aufenthaltes fast alles zu verdanken, doch davon nach und nach. Zunächst brausen wir per Taxi hinein nach Rawalpindi. Die Nachbarstadt von Islamabad hat für ankommende Touristen viele Vorteile. So sind die Hotels dort viel billiger, als in der Hauptstadt. Da es die Islamisten in erster Linie auf´s Establissement abgesehen haben, sind potentielle Anschläge zudem vor allem in Islamabad selbst, und nicht im volksgeprägten Rawalpindi zu erwarten. Obwohl Rawalpindi (ebenso wie Islamabad) über keine nennenswerten touristischen Sehenswürdigkeiten verfügt, entspricht das Treiben in der Stadt, besonders in den Basarvierteln, dem bunten und exotischen Bild einer typischen südasiatischen Metropole. Wir kommen für 2000 Rupien die Nacht im Hotel "Paradise Inn" im Saddar Bazaar unter. Nachdem wir Quartier genommen haben, erfolgt eine kurze Besprechung mit Manzoor, denn vorab sind einige bürokratische Gänge zu tätigen. Beim Trekking in Pakistan wird zwischen "Open Zone" und "Restricted Area" unterschieden. Die Open Zones sind weder genehmigungspflichtig, noch braucht man dafür zwingend einen Führer. Bei den Restricted Areas sind Permit und ein staatlich registrierter Guide (Führer) Pflicht. Da der Baltoro-Trek ins Grenzgebiet zu China und Indien führt, zählt er zu den Restricted Areas. Man hat hierzu im Ministerium für Tourismus in Islamabad mitsamt Führer zu einem sogenannten "briefing" zu erscheinen. Zu diesem Briefing sind einige Papiere und Passfotos nötig. Zudem ist für die anzuheuernden Porter (Träger) eine Versicherung abzuschließen. Nach Beendigung des Trekking hat man wiederum zum "debriefing" anzutanzen. Da Tobias extra wegen dieser Prozedur nicht noch mal nach Islamabad zurückkehren wollte, werden wir das Briefing ohne ihn erledigen. Aus Sicherheitsgründen und wegen der Zeitersparnis wollen wir zudem einen Inlandsflug von Islamabad nach Skardu buchen, weshalb wir diesbezüglich noch zum Büro der Fluggesellschaft PIA müssen.
So sind wir dann auch den ganzen Vormittag über auf Achse, leider nur mit mäßigem Erfolg. Als wir im Büro der Versicherung eintreffen, ist gerade Stromausfall. Stromausfälle sind ein Ungemach, das in den Städten des indischen Subkontinents zum alltäglichen Leben gehört. So ist es dort selbstverständlich, dass die Leute stets Lampen oder Kerzen zur Hand haben, zumal diese Ausfälle für gewöhnlich mehrmals am Tag geschehen. Wir gehen zur Bank, um das Geld für die Versicherung einzuzahlen. Dort besteht ein sturer Angestellter darauf, dass die Summe in Dollars eingezahlt werden muss. Wir haben doch gerade eben alles in Rupien gewechselt. Auch Euros will er nicht. Zurückwechseln muss man das Geld wiederum beim Money Changer (Geldwechsler), die Bank ist dafür angeblich nicht zuständig. Nun, ich bin ja nicht zum ersten Mal in so einem Land, derartige Ärgernisse erlebt man häufig, scheinen sogar eher die Regel als die Ausnahme, und unabänderlich und je besser es einem gelingt, dabei Ruhe zu bewahren, um so mehr tut man sich selbst einen Gefallen, denn, wie gesagt, so läuft das eben hier. Wir benötigen noch Fotokopien vom inzwischen geschriebenen Antrag für das Briefing. Typisch Asien, die Kopiermaschine steht mitten auf offener Strasse, in direkter Nachbarschaft zum Herrn mit der dieselknatternden Zuckerrohrpresse, ein Strassenfriseur seift weiter drüben gerade einen Kunden ein. Der beißende Holzkohlenrauch eines schmuddelig aussehenden, nahen Essensstandes zieht zu uns her, das Geschirr wird von einem Bediensteten in der Rinne an einem Wasserhahn gewaschen, zwischen hupenden Autos, knatternden Dreiradrikschas (hier Quinquis genannt) und pedalbetriebenen Verkaufsständen fliegender Händler, die ununterbrochen klingelnd im Slalom ihr Weiterkommen im mittäglichen Verkehrsaufkommen suchen. Menschen drängen sich überall. Mit und ohne Turban, alte Männer mit langen Bärten, in gebeugter Haltung auf Stöcke gestützt, Frauen verschleiert, oder ihren Sari auch offen tragend, niemals aber in westlicher Kleidung. Auch die Männer tragen fast alle ihren traditionellen Shalwar Kamiz. Dieses Chaos, ich liebe es und ich hasse es, dennoch erscheint es mir hier im Vergleich zu Delhi noch relativ gebändigt. Und was ich vermisse, ist der Duft der Räucherkerzen. Der Schweiß der drückenden Affenhitze rinnt uns über die Gesichter, das Hemd klebt am gebadeten Leib. Die Sehnsucht nach der frischen und klaren Bergluft des Karakorum überkommt uns ...
Die Berge müssen warten, das Briefing kann frühestens morgen früh stattfinden. Tobias hängt ungeduldig in Skardu herum, wir müssen ihn vertrösten. Dafür soll er von uns eine nagelneue Olympic bekommen, die wir für ihn hier in Rawalpindi auftreiben können. Die von ihm aus Deutschland mitgebrachte war ihm während der ersten Woche kaputt gegangen. Hier in Pakistan sind solche Artikel übrigens mindestens genauso teuer, wie in Deutschland, aber als leidenschaftlicher Fotograf kann er eben nicht ohne seine Olypmpic, und schon gar nicht ganz ohne Fotoapparat. Die Warterei hat für ihn derzeit dennoch einen Vorteil: er kann sich von den in der Vorwoche zugezogenen Krankheiten und Plagen kurieren. So muss er sich derzeit noch mit einem Flohzirkus herumbalgen und die Verdauung ist auf schnellen Durchmarsch getunt.
Auch am nächsten Tag werden wir nicht fertig. Es ist Freitag und in islamischen Ländern bekanntermaßen Sonntag. Nach dem Freitagsgebet um 12 Uhr hat man in Amtsstuben und größeren Läden praktisch keine Chance. So sind bei unserem Eintreffen im Ministerium die zuständigen Beamten bereits weg, im Nachbarbüro werden wir noch kurz zum Tee gebeten. Die beiden Herren sind neugierig und freundlich. Über uns an der Wand hängt ein Bild der 79er-Expedition von Reinhold Messner und Friedel Mutschlechner, als die Beiden den Gipfel des K2 ohne Zuhilfenahme von Sauerstoff und Hochträgern im Alpinstil bezwangen, was vor ihnen noch niemand gewagt hat. Wir werden zum Schluss noch darüber informiert, dass es genügen würde, wenn morgen nur Manzoor hier erschiene. Gemeinsam müssen wir dann aber anschließend zum Büro des Alpine Club of Pakistan. Die Regelung, dass das eigentliche Briefing, wo zumindest der ernannte "leader" (Anführer) der Gruppe (in diesem Falle Peter) mit dem guide zu erscheinen hat, im Alpine Club und nicht mehr im Ministerium stattfindet, ist neu, und im Nachhinein betrachtet auch sinnvoll. Die Beamten im Ministerium sind Bürokraten, die weder Interesse noch Ahnung von der Bergwelt Pakistans und den dort vorherrschenden Probleme haben, ganz im Gegensatz zu den Leuten vom Alpine Club, die alle selbst Bergsteiger sind, und deren Anliegen auch ganz im Sinne des dringend nötigen Umweltschutzes stehen. Expeditionen hingegen müssen sich weiterhin mit den Bürohengsten des Ministerium herumärgern, wo man die Wartenden nach Erfahrung eines guten Freundes erst mal Ewigkeiten lang im Gang versauern lässt, und auch Manzoor spricht sich nicht gerade löblich darüber aus, wie willkürlich dort oft mit den Antragstellern umgegangen wird. Wir fahren wieder zurück nach Rawalpindi. Entgegen meiner Erwartungen sind im Stadtgebiet von Islamabad zwar an vielen Ecken Sicherheitskräfte präsent, es gibt jedoch keine Straßensperren oder Kontrollen.
Den Nachmittag und den Abend verbringen Peter und ich mit Herumstöbern in verschiedenen Läden des Sadar Bazaar und mit einem Besuch im Internetcafé. Im Netz steht zu lesen, dass die Überschreitung des Gondogoro La für die Saison 2007 nicht mehr möglich wäre, da der Gletscher abgerutscht sei und eine riesige, unpassierbare Spalte aufgerissen habe. Manzoor hatte diesbezüglich schon Andeutungen gemacht, allerdings schloss er die Möglichkeit der Passüberquerung noch nicht vollständig aus. Die Überschreitung des 5700 m hohen Gondogoro La steht im Ruf einer anspruchvollen, hochalpinen Begehung, bei der, je nach Bedingungen, Pickel und Steigeisen nötig werden können. Sie wäre bezüglich der großen Höhe und von den Anforderungen her eines der Highlights unserer Tour gewesen. Zudem wechselt man das Tal, d.h. man muss nicht den gleichen Weg über den Baltoro-Gletscher zurück nach Askole nehmen, sondern gelangt ins Hushe-Tal und kehrt von dort aus per Jeep nach Skardu zurück.
Ein paar Musiker ziehen trommelnd, mit bunten Turbanen um ihre Köpfe gewunden durch die Straßen. Der vom Präsidenten Pervez Musharraf erst kürzlich gefeuerte Justizminister sei wieder eingesetzt, erklären uns die Leute. Da General Musharaf seine Macht durch einen Militärputsch manifestiert hat, wird dieser Akt von vielen Leuten als ein erster Schritt zur versprochenen Rückkehr in die Demokratie gedeutet. Wir erleben keine Krawalle, sondern viele erfreute Menschen, die mit Böllern und Raketen ein kleines Volksfest inszenieren. In einer Buchhandlung finde ich meine Lektüre für unterwegs: "burial at sea" vom indischen Autor Kushwandt Singh. Bücher sind übrigens traumhaft billig, doch ich will mit weiteren Einkäufen noch warten, bis wir von unserer Trekkingtour zurückgekehrt sind. Gegen 22.30 h entlädt sich ein heftiges Monsungewitter, die Straßenzüge ersaufen vorübergehend in den Wasserfluten, und der Strom fällt natürlich auch wieder mal aus. Nur im benachbarten "Kentucky fried chicken" brennt kurioserweise weiter Licht. Ach ja, das Essen: wir haben unsere ersten Kostproben der pakistanischen Küche im Restaurant des "Paradise Inn" bereits folgenfrei verdaut, und ich muss sagen, das food hier schmeckt echt klasse! Ebenfalls köstlich war die frischen Mangoshakes, zu denen uns Manzoor eingeladen hatte. Wir hatten zuerst Bedenken, doch befürchtete Lateralschäden blieben auch hier Gott sei Dank aus.
Anderntags um 12.30 h ist es so weit: wir haben einen Termin zum Briefing im Alpine Club. Ein überaus sympathischer Herr mit einem schneeweißen Ayatollah-Bart empfängt uns. Mr. Tharek erweist sich als äußerst kompetenter und verständnisvoller Mensch. Er selbst ist ein eingefleischter Berggänger, mit über 40-jähriger Trekkingerfahrung. Wir führen ein wenig Smalltalk unter anderem über die großen Ereignisse an den 8000ern des Karakorum. Ich persönlich habe beim Briefing einen eher politischen Grund vermutet, so Richtung Staatsgeheimnis und Grenzverletzung, dass man vielleicht dazu vergattert wird, keinesfalls den vorgegebenen Weg zu verlassen, oder Aufklärung über Konsequenzen im Falle illegaler Grenzübertretungen erhält, doch Mr. Tharek kommt auf den wirklich einzigen Punkt zu sprechen, der ihm persönlich am Herzen liegt: die kritische Umweltsituation auf dem Baltoro-Gletscher, bedingt durch die hohe Frequentierung. Für dieses Jahr sind in den Bergen Pakistans allein 50 Expeditionen angemeldet, wir sind die Trekkinggruppe Nr. 149. Die große Mehrzahl dieser Trekkinggruppen und Expeditionen wird auf dem Baltoro-Gletscher unterwegs sein. Mr. Tharek sieht das Problem weniger bei den Touristen selbst, die, überwiegend aus Ländern mit einem generell hoch entwickelten Umweltbewußtsein kommend und meist auch mit einer verantwortungsbewussten Einstellung, ohnehin nur einen geringen Prozentsatz an der Gesamtzahl der durchmarschierenden Personen ausmachen. Auf jede Trekkinggruppe kommt in etwa die vier- bis fünffache Anzahl an Portern (Träger), vom enormen Personalaufwand der großen Expeditionen ganz zu schweigen. In den größeren Camps, welche sich nicht auf dem Gletscher befinden, wurden in den letzten Jahren Toilettenhäuschen eingerichtet, auf dem Gletscher selbst ist das bislang noch nicht möglich. Es wird immer noch nach geeigneten Lösungen gesucht. Den meisten Einheimischen, so auch den Trägern, fehlt es völlig an Umweltbewusstsein. Es mag auch sicher schwierig sein, Leuten, von denen manche nicht einmal die Schule besucht haben, den Sinn von Müllsammeln oder gar Prinzip und Idee des sogenannten sanften Tourismus zu vermitteln, zumal deren Englischkenntnisse, wenn überhaupt vorhanden, nur sehr rudimentär sind. Die Erziehung dieser Leute zu einer umweltgerechten Handlungsweise muss aber laut Mr. Tharek hauptsächlich über die Touristen erfolgen. Will heißen, wir haben dafür Sorge zu tragen, dass der durch unsere Trekkinggruppe verursachte Müll wieder mit uns ins Tal zurückkehrt und nicht etwa in der Landschaft liegen bleibt. Wir sind auch dazu angehalten, Verfehlungen zu kritisieren. Es ist wichtig, den Leuten bewusst zu machen, dass eine verschmutzte Landschaft Touristen vom Besuch einer Region abhalten kann, was schließlich zu einer direkten existenziellen Bedrohung der für den Tourismus arbeitenden Einheimischen führen würde.
Zu guter Letzt bekommen wir unsere Permit ausgehändigt. Peter Krämer wird kurzerhand zum "leader" unserer Gruppe ernannt und darf die denkwürdige Unterschrift unter das im feierlich-formalen Schreibstil gehaltene Dokument setzen. Der voraussichtliche Routenverlauf wurde von Mr. Manzoor verfasst, wobei er vorsorglich viele Varianten und Ausweichmöglichkeiten mit aufgenommen hat, um uns alle Optionen offenzuhalten. So etwa auch den noch schwierigeren Übergang über den Vigne-Pass als eventuelle Alternative zum Gondogoro La.
Mit dem Inlandsflug wird´s nix. Die Maschinen müssen den Flughafen von Skardu auf Sicht anfliegen, also genauso wie etwa die Flüge von Delhi nach Leh in Ladakh oder von Kathmandu nach Jommoson im Kali-Kandaki-Tal. Fällt dann ein Flug aus, was sehr häufig geschieht, dann wird am folgenden Tag zuerst die Passagierliste vom Vortag abgearbeitet. Der für uns frühestmöglich genannte Abflugtermin ist jedenfalls völlig inakzeptabel, da wir ohnehin schon zu viel Zeit verloren haben. Morgen früh werden wir den Local Bus nehmen und voraussichtlich zwischen 22 und 30 Stunden unterwegs sein, inshallah, wie Manzoor immer so schön zu sagen pflegt. Tobias muss abermals telefonisch vertröstet werden. Er hockt schon den vierten Tag dort oben in Skardu und erwartet innigst unser Eintreffen.
Ein landestypischer, heruntergekommen ausschauender Bus mit Steinschlagschäden an der Windschutzscheibe trägt den schillernden Namen "Masherbrum". Wer noch nie in Südasien gereist ist, mag einen Schrecken bekommen bei dem Gedanken, mit diesem Gefährt eine so lange Reise, noch dazu auf dem berühmt-berüchtigten Karakorum-Highway, anzutreten. Ich bleibe locker, ich kenne das schon, und auch für Peter ist das nicht neu, da er schließlich vor 11 Jahren einen ausgedehnten Süd/Südostasientrip unternommen hat, wobei er 9 Wochen nur allein in Nepal unterwegs war. Wie so üblich, wird das Gepäck auf´s Dach gehievt, gut verschnürt und per Plane vor eventuellen Monsunschauern und allzu viel Staub geschützt. Mit einer Stunde Verspätung starten wir dann um 17 Uhr. Es sitzen nur Männer im Bus, überwiegend Armeeangehörige, die in Baltistan stationiert sind. Wir sind die einzigen Ausländer. Die Leute hier sind kontaktfreudig und höflich, Aufdringlichkeiten haben wir bislang überhaupt keine erlebt. Man stelle sich das mal etwa in Indien vor! Wir fahren von Rawalpindi aus zunächst ein Stück weit, bis wir in der Abenddämmerung auf den legendären Karakorum Highway gelangen. Der scheint hier zumindest noch nicht so legendär und abenteuerlich, wie man ihn sich vielleicht vorstellen mag. Die Gegend ist noch relativ dicht besiedelt, wir passieren quirlige Straßenorte mit lebhaften Basaren, ringsherum saftig-grüne Hügellandschaft, die soeben ins goldgelbe Glühen der rasch versinkenden Tropensonne eingetaucht wird. Von den eisstrotzenden Bergketten des Karakorum, Himalaya oder Hindukusch ist hier weit und breit noch nichts zu sehen. So kurven wir die ganze Nacht hindurch, mein Höhenmesser zeigt dabei nur geringfügige Höhengewinne an. Ich denke an die ähnlich lange Strecke zwischen Manali und Delhi in Indien, wenn man aus dem Himalaya wieder in die Hauptstadt zurückkehrt. Auch dort kurvt man Ewigkeiten lang durch´s grüne Himalaya-Vorgebirge, bis man nach Stunden endgültig ins Flachland hinausfährt. Umgekehrt ist es genauso, wobei man in Manali ja immer noch nicht die richtig hohen Berge erreicht hat. In gewisser Hinsicht bin ich froh, dass wir nun doch auf dem Landweg ins Karakorum reisen, wenigstens für die Hinfahrt. Zum Einen natürlich wegen dem KKH, dann auch wegen der großartigen und abwechslungsreichen Landschaft, auch wenn man 8 bis 9 Stunden in der Dunkelheit zurücklegt, aber auch dieses intensive Erleben der Dimensionen, in die man sich begibt, sozusagen die angemessene Annäherung. Eine Reise zu den höchsten Gebirgen der Welt muss zwangsläufig mit einem gewaltigen Aufwand bei der Anfahrt verbunden sein, welcher sich schließlich und endlich auch in der Größe und Mächtigkeit der dortigen Berge wiederspiegelt. Verglichen mit den ersten Expeditionen in den Massiven Zentral- und Südasiens zu Zeiten, als hier noch gar keine Straßen existierten und man wochen- bis monatelang zu den jeweiligen Basislagern unterwegs war, ist es für uns ohnehin schon wieder viel zu einfach und bequem geworden.
Im fahlen Morgenlicht blicke ich mit müden und fast schon gleichgültigen Augen durch´s staubbehaftete Busfenster hinaus in eine sich jetzt vollkommen verwandelte Landschaft. Nichts mehr ist geblieben von dem satten Grün, stattdessen nun eine ockergelbe Bergwüste, Steine, Fels, Schutt, bizarre, karge Bergspitzen, dornige Büsche, nur wenige Bäume. Kaum noch streifen wir Ortschaften, und wenn, dann sind es nur winzige, staubgraue Gebirgsnester. Direkt unterhalb der schmalen Straßentrasse gähnt, steil und direkt abfallend, eine beeindruckende Schlucht. Milchkaffeefarbene Wassermassen wälzen sich unruhig durch das Flussbett. Ich habe einen alten Bekannten wieder gefunden, den Indus. Der Indus, einer der drei heiligen Ströme Indiens, Traum meiner frühen Jugend, er wird an unserer Seite bleiben bis hinauf nach Skardu. Vor zwei Jahren habe ich seine Spur verloren, beim Kloster Lamayuru, in Ladakh, in Indisch-Tibet. Unsere Fahrtrichtung führt entgegen des Flusslaufes und unser Ziel Skardu wäre zumindest kilometermäßig gar nicht mehr so weit entfernt von Ladakh. Allerdings weiß jeder, der schon mal per PKW oder LKW im Himalaya oder Karakorum unterwegs war, wie lange sich zum Beispiel 100 Kilometer auf diesen Straßen und unter den jeweiligen Konditionen hinziehen können. Zudem liegt zwischen Baltistan und Ladakh das geteilte und gefährliche Kaschmir, in besseren Zeiten von dessen Bewohnern und seinen Besuchern als das wahre Shangri-La gepriesen, heute auf unabsehbare Zeit politisches Krisengebiet und zudem noch unter den Folgen des furchtbaren Erdbebens um Weihnachten vor zwei Jahren leidend. Der KKH hat jetzt das Erscheinungsbild, wie ich ihn mir immer vorgestellt habe. Eine kurvenreiche, enge Trasse, spektakulär in steile Schluchtenabhänge gesprengt, über und über gespickt mit Schlaglöchern, die Fahrbahn regelmäßig mit Schuttresten vergangener Erdrutsche garniert, gelegentlich von herabströmenden Gebirgsbächen überflutet, und bei Gegenverkehr streift so manches Mal das innen fahrende Fahrzeug fast an den seitlichen Felsen, während der außen Fahrende beinahe schon frei mit einem Rad über der Schlucht zu hängen scheint. Betrachtet man die Bauweise der Straße, so kann man sich fragen, von wo wohl die größere Gefahr herrührt: von den gähnenden Abgründen der Indusschlucht unter uns, oder von den in den steilen Flanken bedrohlich überhängenden riesigen Fels- und Gesteinsbrocken über uns? Auch der KKH wird, wie praktisch alle Straßen dieser Art in Zentral- und Südasien, fast ausschließlich von LKWs, Bussen, Jeeps oder Militärfahrzeugen befahren. Was man in Indien schon häufig bewundern kann, ist in Pakistan zu einer wahren Kunst erhoben worden: die bunt bemalten und verzierten Busse und LKWS sind wahre Schmuckstücke. In ihrer Schrillheit, mit farbenfrohen Bildern bemalt, die Fahrerkabinen häufig mit filigranen Holzschnitzereien versehen, mit im Fahrtwind rotierenden Windmühlen ausgestattet und den klirrend am Boden schleifenden Kettenvorhängen behangen gleichen sie manchmal Jahrmarktkarussells oder Kirmesbuden. Im Raja-Bazar von Rawalpindi soll es Werkstätten geben, wo diese Lastwagen entsprechend aufgepeppt und präpariert werden.
Wir machen Lunch-Break in Chilas, uralter Handelsplatz und Pilgerdurchgangsstätte. Hinter Chilas macht uns Manzoor noch auf die Abzweigung zur Märchenwiese aufmerksam. Die Fairy(-tale) Meadows ist der bezaubernde Zielpunkt des Kurztrekkings zum Fuß des 8125 Meter hohen Nanga Parbat. Tobias war übrigens in seiner ersten Woche dort oben. Der Nanga Parbat, den man von diesem Abschnitt des KKH aus bei klarem Wetter bewundern kann, bleibt heute leider in Gewölk verborgen. Etwa 50 Kilometer vor Gilgit verlassen wir den KKH. Der KKH selbst führt weiter nach Norden, überwindet den 4709 m hohen Kunjarab-Paß und somit die Grenze zu China, und findet nach etwa 1300 km Länge sein Ende im chinesischen Kashgar, Knotenpunkt an der noch berühmteren Seidenstraße. Wir jedoch fahren nun weiter auf der Skardu-Road, die weiterhin dem Lauf des Indus folgt, und keinesfalls weniger abenteuerlich ist. Nach einer auffallenden Brücke beginnt schließlich Baltistan. Bis Skardu ist es dann allerdings immer noch recht weit. Zum Finale, es ist schon dunkel und ein stürmischer Regen hat eingesetzt, stehen wir nur 15 Kilometer vor Skardu sozusagen vor der Schlüsselstelle unserer Fahrt. Der Bus muss auf einer bedrohlich im Wind schwankende Hängebrücke zum anderen Ufer übersetzen, was Zeit und Nerven kostet. Ein Teil der Passagiere muss aussteigen, um das Gewicht des Fahrzeugs zu reduzieren. Als Touristen und somit Gäste besteht Manzoor darauf, dass wir sitzen bleiben sollen, um nicht etwa in die ungemütliche Sturmnacht heraustreten zu müssen. Wir hätten uns zugegebenermaßen außerhalb des Fahrzeugs wohler gefühlt, aber das Vertrauen der Baltis darauf, dass Allah schon danach schauen wird, dass uns nichts passiert, ist groß und die Besorgnis darüber, einem Gast Ungemach zuzumuten, noch größer. Wir erreichen, Allah sei Dank, unbeschadet das andere Ufer und nehmen die letzten Schlaglöcher bis nach Skardu unter die Reifen.
Manzoor empfiehlt uns das neue Masherbrum-Hotel, ein wirklich guter Laden mit für uns Westler sehr günstigen Preisen. Das Masherbrum wurde erst vor wenigen Jahren gebaut und scheint den ehemaligen Insider-Treffpunkten wie K2-Motel, Concordia-Motel oder Indus-Hotel den Rang abzulaufen. Doch heuer sind sämtliche Unterkünfte in Skardu gut belegt. Wir sind mitten in der Hochsaison und anlässlich des 50jährigen Besteigungsjubiläums des Broad Peak und der drastischen Senkung der Kosten für die Expeditionspermits hat dieses Jahr ein wahrer Boom eingesetzt.
Gestern war es bereits 22 Uhr, als wir im Hotel ankamen, und folglich stockdunkel. Frühmorgens trete ich auf den Balkon und erblicke eine ausgedehnte, waldbestandene Schwemmebene, dahinter karge, ockergelbe Berge, die zu einem Taleinschnitt zusammenlaufen. Schaue ich nach rechts, kann ich Sanddünen erkennen. Ein entzückendes Bild, und die Kleinstadt Skardu kann sich ob ihrer schönen Lage oberhalb des Indus-Ufers wahrlich sehen lassen. Skardu selbst gewinnt die Sympathien seiner Besucher durch seinen lebhaften Basar, den vielen Möglichkeiten, herzhaft Essen zu gehen, und vor allem mit einer guten Auswahl an lohnenden Ausflügen und Wanderungen in der näheren Umgebung. Der Extremwanderer Bert Simon widmet einen großen Teil seiner Homepage mit Bildern und Infos der Hauptstadt Baltistans: http://www.skardu.de/
Im Speisesaal sind um 7 in der Früh unter anderem die Mitglieder einer tibetisch-chinesischen Expedition anwesend. Diese vom chinesischen Staat betreute Expedition hat vor wenigen Tagen nach langen, unternehmungsreichen Jahren das Endziel ihres Projektes erreicht, nämlich alle 14 Achttausender zu besteigen. Allerdings glaube ich kaum, dass dabei immer die gleichen Mitglieder zugange waren, zumal der eine oder andere dieser Gruppe gerade mal das Alter hat, wo man daraus schließen kann, dass er oder sie zu Beginn des Projekts wohl noch in die Windeln gemacht hat. Im Speisesaal hängt übrigens auch ein Foto eines älteren Herrn: Lino Lacedelli und Achille Compagnoni waren es, die 1954 als erste Menschen den Gipfel des K2 erreicht haben. Das Foto in baltischer Tracht wurde während des Besuchs Lacedellis in Skardu anlässlich des 50jährigen Besteigungsjubiläums im Jahr 2004 aufgenommen.
Nach dem Frühstück werden wir von Mr. Matin abgeholt. Matin, ein junger, charmanter Mann mit dem Aussehen eines Playboys, dem in Deutschland sicherlich die halbe Damenwelt zu Füssen liegen würde, ist sozusagen der Geschäftsführer bei Shipton-Trekking. Im Büro lernen wir Mr. Ghulam Razool, den aus dem später noch zu erwähnenden Karakorum-Dorf Korphe stammenden Ehemann von Barbara Hirschbichler kennen, der sowohl zusammen mit Barbara Chef der Trekking-Agentur, als auch Manager der Himalaya-Karakorum-Hilfe vor Ort ist. Shipton-Trekking ist dann auch kein wirklich kommerzielles Unternehmen, diese eher kleine Agentur soll vielmehr den Zweck erfüllen, der Bevölkerung Baltistans Arbeitsplätze zu verschaffen und den Besuchern des Landes nicht nur die Berge, sondern auch die Kultur und die Eigenarten seiner Menschen zu vermitteln. Gründerin des Unternehmens sowie der Karakorum-Himalaya-Hilfe ist Barbara Hirschbichler. Barbara ist in Bergsteigerkreisen bestens bekannt als mehrfache 8000er-Bezwingerin und Extremkletterin. Unter anderen sind auch die Huber-Buam in ihrem Projekt dabei. Alexander und Barbara haben ja bereits gemeinsame Expeditionen hinter sich, so etwa die Bezwingung des Cho Oyu (8201m) im Alpinstil. Infos über Shipton-Trekking http://www.shipton-trekking.de/ sowie Karakorum_Himalaya-Hilfe e.V. http://www.karakorum-himalaya-hilfe.com/ und Barabara Hischbichler www.dav-badreichenhall.de/Berichte/B_Hirschbichler2001.htm
Wir inspizieren zunächst die Baustelle für das Waisenkinderheim, wobei uns Ghulam Razool und Matin mit erklärenden Worten zur Seite stehen. Eine große Anzahl von Arbeitern ist derzeit mit dem Kellerfundament beschäftigt. Die Löcher für die Kellerräume wurden dabei ausgesprengt, die aus Kostengründen einzig praktikable Methode. Dazu waren vier- bis fünfhundert kleinere Sprengungen nötig. Die durch die Explosionen zerborstenen Steine dienen praktischerweise gleich wieder als Baumaterial. In unmittelbarer Nachbarschaft zum Kinderheim ist des Weiteren noch eine Schule geplant. Ghulam Razool schätzt die Gesamtkosten des Projekts auf etwa 150 Millionen Rupien, also grob gerechnet 180.000 bis 200.000 Euro, wobei die genaue Summe derzeit noch schwer abschätzbar ist. Mit den Baumaßnahmen wurde übrigens erst im März diesen Jahres begonnen, die voraussichtliche Bauzeit wird von unseren Begleitern auf etwa zwei Jahre geschätzt.
Am Schalter der PIA nehmen wir noch die Reservierung für den Rückflug von Skardu nach Islamabad vor. Die Chancen, dass es klappt, stehen etwa bei 50 zu 50, weshalb wir uns genügend Luft nach hinten nehmen, für den Fall, abermals den Überlandweg einschlagen zu müssen.
Mit dem Geländewagen begeben wir uns hernach in Begleitung von Mr. Razool zu einem kleinen Ausflug hinauf an den idyllischen Satpara-Lake. Unterhalb des Sees ist ein Staudamm-Projekt in Konstruktion, die Zufahrtsstraße ist bei unserer Anfahrt vorübergehend wegen der momentanen Arbeiten zur deren Sicherung gesperrt. Mittels Betonmauern soll ein besonders Steinschlag- und erdrutschgefährdetes Teilstück abgesichert werden, eine Sysiphusarbeit in den Regionen der zentralasiatischen Gebirgsmassive. Wer jemals dort schon unterwegs war, und die unzählbaren potenziellen Gefahrenstellen für abgehende Muren oder Felsstürze gesehen hat, der weiß, was ich meine. Warten - Geduld gehört, wie wir inzwischen wissen, mit zum Erlebnis Pakistan. Wer keine Geduld hat, sollte nicht hierher kommen. Bei aller Warterei gibt es doch immer wieder interessante Beobachtungen und Bekanntschaften zu machen. Wir verlassen das Fahrzeug und schlendern umher. Die Fahrer der wartenden LKWs interessieren sich für uns, wir schütteln eine Hand nach der anderen, beantworten Fragen über unsere Herkunft, unsere Familien, unsere Meinung zu Pakistan, ob es schön sei in Deutschland, und, und, und ... Ein junger Paschtune bittet mich gar zum Haschrauchen in seine Fahrerkabine. Normalerweise gilt in Pakistan eine abgeschlagene Einladung etwa zum Tee oder zum Essen als eine grobe Beleidigung des Gastgebers durch den Eingeladenen, allerdings kann man gewisse Dinge auch in Pakistan ablehnen, so dass der Paschtune mir auch nicht weiter böse ist, als ich mich ihm gegenüber als strikter Abstinenzler oute, was ja schließlich auch der Einstellung eines nach dem Koran lebenden Muslim gleichkommt.
Wer sich in Skardu aufhält, und ein wenig Zeit hat, sollte sich den Besuch des Satpara-Sees nicht entgehen lassen. Der von ockergelben Bergketten umrahmte See ist beliebtes Ausflugsziel, auch bei den Einheimischen. Man kann an seinem Ufer in einem idyllisch gelegenen Restaurant essen oder Tee trinken, und wenn man Glück hat, trifft man dort pakistanische Urlauber oder Wochenendausflügler, die aus der Laune heraus zu singen und zu tanzen beginnen, wie das jetzt bei unserem Aufenthalt der Fall ist. Etwa 20 männliche Personen bilden einen Kreis und singen, jeweils einer tanzt in der Mitte, wobei die Rolle des Tänzers ständig durchgewechselt wird, der Abtretende wird immer mit Freudengeheul und Applaus belohnt. Als Trommel für den Rhythmus dient ein leerer Benzinkanister. Unterhalb des Sees kann man im Rahmen einer kleinen Wanderung noch einige uralte Buddha-Statuen besichtigen. Leider reicht für Peter und für mich die Zeit nicht mehr für diese interessante Exkursion, die unser Tobias bei seinem doch schon recht langen Aufenthalt hier in Skardu natürlich längst schon absolviert hat, einschließlich natürlich dem Aufenthalt am Satpara-Lake, weshalb er jetzt auch nicht mehr bei unserer kleinen Exkursion mit dabei ist.
Nach unserer Rückkehr erfolgt der Materialcheck im Garten von Shipton-Trekking. Ich habe bislang immer zu den Leuten gehört, die nur ein mitleidiges Lächeln für Kleingruppen übrig hatten, die mit einem ganzen Tross an Mannschaft und Material durch die Landschaft ziehen. Entscheidend, in welchem Rahmen sich die Größe des Unternehmen abspielt, ist jedenfalls, ob man sich dazu entschließt, nur mit einem Führer und ein paar Trägern, von denen einer zusätzlich den Job als Koch übernimmt, loszuziehen, oder ob man einen extra Koch mitsamt Küchenzelt engagiert. Mir erscheint es jedenfalls schwierig, für den Baltoro-Trek die erste Variante durchzusetzen, und wenn ich´s im Nachhinein bedenke, habe ich auch unterwegs keine einzige derartige Kleingruppe gesehen. Jedenfalls beschließen wir die Option Koch/Küchenzelt und ich bin zunächst blank entsetzt über die von Manzoor und Razool benannte nötige Anzahl von 24 Trägern. Meine eigenen Vorstellungen hätten sich auf vielleicht 6 bis 8 Trägern belaufen. Ich setze mich dafür ein, die Anzahl der Träger zu verringern, was dann über die Reduzierung des mitgenommenen Materials möglich sein soll. Unter anderem fallen der Streichung drei Stühle und ein Tisch zum Opfer. Die endgültige Anzahl der benötigten Träger lässt sich laut Manzoor erst benennen, wenn die Lebensmittel, das Kerosin und weitere noch nötige Artikel eingekauft sind. Außerdem gibt man uns zu verstehen, dass sich die Anzahl der Träger unterwegs mit Abnahme der Mengen an zu tragenden Lebensmitteln und Kerosin nach und nach reduzieren wird, so dass wir voraussichtlich nur noch mit der Hälfte der ursprünglichen Mannschaft unsere Tour beenden werden.
Wir treffen uns anschließend mit Tobias zur Krisensitzung im Garten des Concordia-Hotels, in dem er schon seit seinem Eintreffen in Skardu residiert. Er hat hier auf unsere Rückkehr vom Satpara-Lake gewartet. Ich stehe noch deutlich unter Schock, und auch der paradiesische Ausblick vom blumenbestandenen Hotelgarten aus über das weite Flussbett des Indus kann mich vorerst noch nicht runterbringen. Wir diskutieren eifrig. Ich glaube, es war die Aussage von Tobias, die mir den Schrecken vor dieser Sache nahm: "Ich habe keine Lust, wegen ein paar Euro hin und her Hunger zu schieben!". Und in der Tat, wenn man nachrechnet, entpuppt sich das bevorstehende Großunternehmen tatsächlich als für uns durchaus annehmbar, zumal wir die anfallenden Kosten durch drei teilen können. In Pakistan gelten staatlich festgelegte Löhne, sowie Höchsttragegewichte für die Porter. Unterschieden wird zwischen Low- und High-Altitude-Porters. Letztere kommen nur bei Expeditionen ab 6000 Metern zum Einsatz und erhalten einen wesentlich höheren Lohn, als die herkömmlichen Träger. Derzeit ist ein Low-Altitude-Porter, und nur diese kommen schließlich für unser Unternehmen in Betracht, mit 330 Rupien (etwa 4 Euro) pro Tag zu entlohnen, wobei das getragene Höchstgewicht 25 Kilo beträgt. Es ist eine leidige Rechnerei, Fakt ist aber, dass sich die Anzahl der Träger mit der Anzahl der Träger erhöht, will heißen, jeder mitmarschierende Träger hat selbstverständlich seine eigenen Bedürfnisse an Verpflegung, Brennstoff und Ausrüstung, wodurch wiederum neue Träger nötig werden, um das alles zu transportieren. Für gewöhnlich führen Expeditionen und größere Trekkinggruppen noch eine oder mehrere Ziegen, Dzos oder Schafe mit, welche dann an einem Ruhetag von den Trägern geschlachtet und zusammen mit den Teilnehmern feierlich verspeist werden. In unserem Falle reicht die Zeit nicht für einen Ruhetag und bei "kleineren" Gruppen, wie in unserem Fall, wird das Mitführen eines Schlachttieres auch nicht unbedingt erwartet. Als Ersatz erhält dafür jeder Träger ein sogenanntes "Meat-Money", also Fleischgeld, in Euro gerechnet ein sehr geringer Betrag. Die Etappen auf dem Baltoro-Trek sind genau festgelegt. Es ist kein Problem, die Träger dazu zu überreden, an einem Tag zwei oder gar drei Etappen zurückzulegen, die Bezahlung erfolgt dann aber pro Etappe. Bis zu einer gewissen Etappenanzahl sind die Träger zur Selbstversorgung verpflichtet, danach tragen die Trekkingteilnehmer die Kosten für das "Porterfood". Auch für die Rückkehrer ist wiederum der zurückzulegende Etappenlohn auszuzahlen Zusätzlich fällt noch ein geringer Zuschlag für die Trägerausrüstung an. Alles in allem kommt uns die Trekkingtour nun doch teuerer, als wir ursprünglich geplant hatten, aber durch drei geteilt, bleibt dennoch alles im annehmbaren Rahmen. Dafür werden wir auf dieser Trekkingtour einen bislang ungekannten Luxus genießen, wie er mir persönlich in den Bergen noch nie zuvor zuteil geworden ist.
Es folgt ein Besuch beim Spezereienhändler im Basar, wo Manzoor und Sadigh, unser Koch, die Lebensmittel gemäß Einkaufsliste schon bereitgestellt haben. Die Liste wurde zuvor insoweit erstellt, dass man uns nach und nach verschiedene Lebensmittel vorschlug. Alles hörte sich lecker an, und wir hatten wirklich keine Ahnung, wie viel und was wir nun wirklich für unseren Trek brauchen würden. Als wir den Laden betreten, erschrecken wir ob der riesigen Menge der bereits in Plastiktüten verpackten Waren. Allerdings ist das nicht gleich das Ultimatum, denn wir werden um endgültige Absegnung gebeten, bzw. Aussortierung der aus unserer Sicht nicht benötigten Dinge, was eine gute Stunde in Anspruch nimmt. Wir werden uns mit der Anstellung eines Kochs und Hilfskochs zwar diesmal einen außergewöhnlichen Luxus leisten, aber was zuviel ist, ist zuviel. So reduzieren wir unseren Proviant um gut ein Viertel. Den Geschäftsinhaber stört´s nicht, wie wir die Ware hin- und hersortieren, denn er macht heute durch uns ohnehin ein Riesengeschäft. Es ist schon bemerkenswert, wie bereits eine kleine Trekkinggruppe, wie die unsere, eine beachtliche Menge an Geld in die Region einbringt und dazu noch zwar vorübergehende, dafür aber überdurchschnittlich gut bezahlte Arbeitsplätze für die Einheimischen bieten kann, ohne dass sich die Teilnehmer, auf Euro und westliches Niveau umgemünzt, in den finanziellen Ruin stürzen müssten. Es ist eigentlich fast unglaublich, mit wie wenig Einsatz eine beachtliche Hilfe für die regionale Wirtschaft möglich ist. Die Einkäufe im Basar gehen noch weiter: drei Kerosinkocher werden benötigt, dazu die passenden Düsen, eine Kerosinlampe, alles für ein paar Euro. Dann noch frisches Gemüse beim Gemüsehändler, und auch ein wenig frisches Obst soll nicht fehlen. Inzwischen ist es Nacht geworden in Skardu, wir führen noch schnell ein paar kurze Telefonate nach Deutschland von einem kleinen Krämerladen aus, dann brausen wir wieder durch´s nächtliche Skardu, ich hinten auf der Ladefläche, ein warmer Nieselregen stäubt mir ins Gesicht – ich fühle mich, wie Gott in Pakistan!
Die Vorbereitung unseres Treks ist nun endlich abgeschlossen, und nach dem Frühstück brechen wir mit zwei Jeeps von Skardu aus auf. Ziel ist das Minidorf Askoli, die hinterletzte Siedlung vor Beginn einer völlig unbewohnten Bergwildnis, durch welche uns unsere Trekkingtour führen wird. Auf dem zweiten Jeep befinden sich, nebst Ausrüstung und den Lebensmitteln, Sadigh, unser Koch, Salman, der Hilfskoch und vier oder fünf bereits angeheuerte Träger. Der Rest der Mannschaft wird erst in Askoli eingestellt. Die Fahrzeit dorthin beträgt unter guten Bedingungen etwa 7 Stunden, anfänglich noch auf einer asphaltierten Straße, die aber bald schon einer Schotterpiste weicht, dem Lauf des Shigar-Rivers aufwärts folgend. Die Landschaft zeigt sich von Beginn an atemberaubend, eine großartige, karge Gebirgswüste, felsig, mit ockerfarbenen Bergen, blendend weiß glänzenden Gletschern am Horizont, ausgedehnten Sanddünen und paradiesisch anmutenden Oasendörfern, die ihren grün spriessenden Reichtum an nahrhaften Feldfrüchten allein dem ausgeklügelten Bewässerungssystem mit dem Schmelzwasser der eisigen, schneebedeckten Bergriesen zu verdanken haben. Das Wasser der in der Umgebung entspringenden Quellen dürfte dabei eine untergeordnete Rolle spielen. Die riesigen Wassermengen der Hauptflüsse Shigar- und Braldu-River dagegen führen viel zu viel Sand, um zur Bewässerung oder als Trinkwasser zu taugen. Unterwegs machen wir einen kleinen Abstecher in Mr. Manzoor´s Heimatdorf, ganz in der Nähe der Ortschaft Shigar. Der Hausherr lädt zum Tee und was sich so bescheiden anhört, artet in ein mittelprächtiges Bankett mit allen erdenklichen Leckereien aus. Manzoor lässt es an nichts fehlen: verschiedene Gebäcke, Obst, Gemüse, Süßigkeiten, Eier und natürlich Tee. Auch der Dorflehrer ist anwesend und eine interessante Konversation entspinnt sich. Wir lernen Manzoor´s Kinder kennen, nicht aber seine Frau. Die Frauen in den Dörfern ziehen sich meist zurück, wenn Fremde dort auftauchen, oder ziehen keusch ihre Schleier vor´s Gesicht. Um Ärger zu vermeiden, und die großzügige Gastfreundschaft der Einheimischen nicht zu gefährden, sollte man keinesfalls ungefragt Fotos von Frauen machen. Inwiefern die Frauen hier unterdrückt oder diskriminiert sind, will ich hier wertefrei halten, da man bei genauer Betrachtung der Dinge und Verhältnisse keine generell gültige Aussage möglich ist. Es ist jedenfalls interessant, zu hören, wie manche Pakistani über die Sitten und Gebräuche bei uns im Westen denken, besser gesagt, über deren aus ihrer Sicht einhergehenden Verfall.
Nach unserem opulenten Mahl setzen wir die beschwerliche Reise fort. Der Straßenzustand wird seit geraumer Zeit zunehmends miserabler, bei diesem ständigen Geschaukel und Geschüttel sollte man möglichst nicht zur Anfälligkeit für Seekrankheit neigen. Bald verlassen wir das Shigar-Valley und folgen nun dem Braldu-River talaufwärts. Zu den obligatorischen Unbequemlichkeiten gesellen sich nun noch allerhand Gefahren. So müssen wir eine durch Stein- und Felsschlag bedrohte Passage durchfahren, in der erst kürzlich eine Gruppe Chinesen den Tod fand. Von Mal zu Mal müssen wenig vertrauensvoll erscheinende Hängebrücken gequert werden, deren knarzende Bretter über wild tosende, hellbraune Fluten gespannt sind, Bachbetten werden durchfahren, in denen manch einer gar zu Fuß Schwierigkeiten hätte, hinüberzukommen. Unser Respekt gilt den stabilen und robusten Fahrzeugen, aber vor allen Dingen unseren beiden Fahrern, wenngleich der Lenker des zweiten Jeeps ein recht ungemütlicher, rauhbeiniger Choleriker zu sein scheint. Ich habe bislang schon zahlreiche vergleichbare Fahrten durch wilde Gebirgsgegenden erlebt, doch die Fahrt von Skardu nach Askoli toppt alles: sie ist die waghalsigste und halsbrecherischste, die ich bislang mitgemacht habe. Kurz vor Askoli glaube ich uns beim Durchqueren eines erdrutschträchtigen Bachbetts am Rande einer steil abstürzenden Flanke endgültig verloren, doch auch hier bringen uns unsere Fahrer sicher hinüber.
Askoli – die hinterste Siedlung im Braldo-Tal auf der orographisch rechten Flussseite. Nur noch das Dorf Korphe am jenseitigen Ufer ist noch ein kleines Stück weiter stromaufwärts situiert. In Korphe fand Greg Mortinson einst das Ende seines Irrweges. Bei der Rückkehr von einem gescheiterten K2-Besteigungsversuch hatte er sich hoffnungslos auf dem Baltoro-Gletscher verlaufen. Gefunden und gerettet wurde er von einem seiner Träger, Mouzafer Ali, ein Bewohner des Dorfes Korphe, in welches er Mortinson hinverbrachte, wo diesem eine ihm bislang ungekannte Gastfreundschaft zuteil wurde von Leuten, die, fast völlig isoliert von der Außenwelt, in bitterer Armut zu subsistieren hatten. Damals versprach Mortinson den Bewohnern, zurückzukehren, um im Dorf eine Schule zu bauen. Aus dieser einen Schule wurden inzwischen um die Hundert, großen Wert legte Mortinson dabei stets auf die Ausbildung der Mädchen. Das Shigar-Tal hat dadurch den Beinamen "Tal der Schulen" erhalten und der einstige Krankenpfleger ("Dr. Greg") und Bergsteiger kehrt bis zum heutigen Tag regelmäßig hierher zurück, inzwischen vollkommen seinem karikativen Lebenswerk verschrieben, das er nun auch auf weitere Bergregionen Pakistans ausgedehnt hat. Es gelang ihm sogar, eingefleischte Talibankämpfer zu bekehren und für seine Sache zu gewinnen. Pflichtlektüre eines jeden Baltistan-Besuchers ist die als Reportage verfasste Geschichte dieser "Ein-Mann-Mission": "Three cups of tea" von Greg Mortinson und Oliver Relin, Verlag: http://www.penguin.com/
Das Dorf Askoli mit seinem korrupten und raffgierigen Bürgermeister kam einst in dieser Reportage nicht sonderlich gut weg. Inwiefern sich die Zeiten und die Besetzung des Bürgermeisteramtes hier inzwischen geändert haben, weiß ich nicht. Ein sehr authentisches und interessantes Dorf ist Askoli jedenfalls. Die Häuser gleichen denen in Tibet, und die Bewohner scheinen mir noch stark in ihren Traditionen verhaftet. Das wundert mich ein wenig, da Askoli der Ausgangspunkt für sämtliche Trekkinggruppen und Expeditionen in Richtung K2, Gasherbrums, Broad Peak, sowie Biafo- und Hispar-Gletscher ist. Somit dürften pro Saison wohl mehrere Hundert Fremde durch dieses Dorf kommen. Doch Askoli ist jediglich Durchgangsstation, kaum jemand bleibt hier länger als eine Nacht. Es ist ein Rummelplatz für anwerbende Träger, Expeditionsköche, Pferdemänner, Kerosin- und Lebensmittelhändler (im begrenzten Umfang!) und Jeepfahrer. Nach Einstellung des Personals und einer anschließenden Übernachtung auf den vorgegebenen Zeltplätzen zieht man anderntags für gewöhnlich weiter.
Die Anstellung der Träger ist dann noch mal ein Akt für sich. Wir hatten ja bereits in Skardu die Mitnahme eines Porter-Chiefs, auf Urdu Sirdar, abgelehnt, ohne dabei genau zu realisieren, was für einen Betätigungsbereich dieser hat. Der Sirdar trägt kein Gepäck, aber er hat die absolute Befehlsgewalt über die Träger. Stellt man keinen Sirdar ein, überlässt man diesen Job dem Führer, also unserem Manzoor. Es muss noch hinzugefügt werden, dass es unüblich ist, bei kleineren Trekkinggruppen, wie wir eine sind, einen Träger-Chef einzustellen. Dies machen für gewöhnlich nur Expeditionen und die großen Trekking-Gruppen. Doch eines gilt: ein Balti wird dem anderen Balti niemals die Arbeit oder das Geschäft wegnehmen, indem er den Fremden auf die Unnutz von dessen Tätigkeit oder Ware aufmerksam macht. So bekamen wir auch von Manzoor häufig zu hören: "Wie Sie wollen. Es ist Ihre Entscheidung!". Andererseits hat Manzoor aber niemals versucht, uns zu Dingen zu überreden, die wirklich unnötig oder gar zu teuer gewesen wären, wenngleich seine Vorstellung über mitzuführende Lebensmitteln und anderer Luxusgüter für unseren Geschmack in einen Überschwang von Komfort ausgeartet wäre.
Manzoor ist im Shigar-Valley ein allseits bekannter und respektierter Mann, und ein schlauer und erfahrener Fuchs dazu. So schlägt er uns einen frühzeitigen Aufbruch vor, in der weisen Voraussicht, dass mit dem fortgeschrittenen Morgen immer mehr potenzielle Träger eintrudeln werden, was schnell zu Streitereien und Hektik führen kann. Die Prozedur der Trägereinstellung und das präzise Abwiegen und Verteilen der einzelnen Gepäckstücke nehmen dann noch eine gewisse Zeit in Anspruch und wird von uns mit Neugierde verfolgt. Manzoor erweist sich hier als souveräner Herr der Lage. Ein Träger hatte sich übrigens bereits gestern Abend mit einem Gepäckstück aus dem Staube gemacht, um sich auf diese Weise die Beteiligung an unserem Unternehmen zu sichern. Ich sage es hiermit: es ist für einen Fremden unmöglich, eine größere Gruppe von baltischen Trägern selbst zu organisieren und unter Kontrolle zu halten. Wir lernen diese Männer als zuverlässige und humorvolle Begleiter kennen und schätzen, aber sie sind nicht auf den Kopf gefallen und gelegentlich auch gehörige Schlitzohren. Allerdings soll uns einer dieser berüchtigten Trägerstreiks, von denen ich schon so oft gehört habe, erspart bleiben, was aber sicher auch Mr. Manzoor´s unangefochtener Autorität zu verdanken ist.
Die Träger machen sich schließlich auf den Weg, sie werden uns auf dieser Trekkingtour immer voraus sein. Insbesondere Sadigh, unser Koch, muss stets flink auf den Füßen sein. Er trägt zwar nur leichtes Gepäck, dennoch ist es im Berufsstand eines Kochs sicher ungewöhnlich, dass man dabei noch ein guter Marschierer zu sein hat. Der zwar schmächtig, aber energisch und ehrgeizig wirkende junge Mann war übrigens schon in einem der besten Hotels in Skardu tätig, und dass er sein Handwerk versteht, davon wird er uns im Laufe der Tour immer wieder auf´s Neue zu überzeugen wissen. Wir schultern unsere Rucksäcke und folgen Manzoor durch´s Dorf. Auch von Askoli aus sind übrigens schon einige außergewöhnlich schön modellierte Berggestalten zu bewundern, für Karakorum-Verhältnisse allerdings von unbedeutender Höhe. Tobias wird durch den Zuruf eines männlichen Bewohners "Sir, no foto!" vom fotografieren einer Frau abgehalten. Insbesondere hier auf dem Land sollte man nie vergessen, bezüglich der Sitten und Verhaltenscodes Vorsicht und Fingerspitzengefühl walten zu lassen, um eventuellen Ärger zu vermeiden.
Wir verlassen Askoli durch eine alleeartige Gasse, welche links und rechts durch Bäume und Natursteinmauern begrenzt ist, hinter denen sich blühende Gärten und tibetisch anmutende Häuschen verstecken. Zunächst gehen wir auf einem breiten Fahrweg, dann zieht ein dramatisch in die Felsen gesprengter Weg zunächst bergauf, hoch über den wild tosenden Braldo-River. Während auf unserer Flussseite ab sofort nur noch komplett unbesiedelte Einöde folgen wird, blühen am gegenüberliegenden Ufer weiterhin die üppig bestellten Felder von Korphe. Ein paar kleine, flache Steinhäuschen ducken sich zwischen das Grün, darüber wachen aber auch schon die kargen, ockerbraunen Bergspitzen und wüstenhaften Geröllhalden, die bereits voll und ganz die Szenerie auf unserer Uferseite für sich eingenommen haben. Ein auffällig spitz modellierter Berg fährt drüben zum Firmament empor. Vermutlich handelt es sich hierbei um den in Mortinson´s Geschichte als "Korphe-K2" benannten Gipfel. Da dieser Berg zwar schnittig aussieht, aber noch von der 6000-Meter-Marke weit entfernt ist, dürfte er vermutlich keinen offiziellen Namen tragen. Laut Manzoor bleiben im Karakorum die meisten Berge unter 6000 Metern unbenannt, es gibt deren so viele!
Das Dorf Askoli befindet sich auf etwa 3000 Metern und unser Weg wird in den nächsten Tagen nur sehr langsam an Höhe gewinnen, was einer relativ sicheren Akklimatisation zugute kommt. Auch wenn uns die Berggipfel, die hier beidseitig des Braldo-Tales emporsteigen, bereits entzücken, sie haben, wie gesagt, insbesondere hier, so nah am Herzen des Karakorum, keine Bedeutung. Mir fällt auf, dass die Vergletscherungen bis auf etwa 4000 Meter herunterreichen. Hier unterscheidet sich das Karakorum gewaltig von Ladakh oder Spiti. Ich erfahre von Manzoor, dass man in Baltistan den Monsun kennt, wenngleich er hier normalerweise in einer sehr abgeschwächten Form eintrifft. Ich vermute, dass ein Großteil der Niederschläge von den hohen Bergketten abgefangen wird. Dies würde auch die außergewöhnlich starken Vergletscherungen und den Schneereichtum der Berge erklären, die so im Gegensatz zu den trockenen, wüstenhaften Tälern stehen.
Heute morgen ist Manzoor übrigens in der traditionellen Kluft der hiesigen Bergbewohner erschienen. Dazu gehört der pyamaartige Shalwar Kamiz, sowie als Kopfbedeckung der sogenannte Pakol, hier in Baltistan auch Baygpi Nating genannt, welcher bei praktisch allen Bergstämmen Pakistans und Afghanistans verbreitet ist, und somit nicht als Erkennungsmerkmal für Taliban-Kämpfer angesehen werden kann, wie man das vielleicht fälschlicherweise aufgrund der gesendeten Nachrichtenbilder unserer Fernsehschirme schließen könnte. Manzoor wird diese Tracht für die gesamte Zeit unseres Trekkings nicht mehr ablegen. Darauf angesprochen, erklärt er, dass inzwischen die meisten Führer in Baltistan westliche Bergklamotten tragen, er selbst aber lehnt dies aus Prinzip ab, was wiederum die Würde dieses Mannes unterstreicht.
Kurz nach einer Konfluenz – der Biaho- trifft auf den Braldo-River – überschreiten wir das schäumende Kaffeebraun des Biaho-Rivers mittels einer eindrucksvollen Hängebrücke. Die fruchterregende, ehemalige Hanfseilbrücke, welche auf alten Bildern noch dokumentiert ist, hat ausgedient und wurde zwischenzeitlich durch eine vertrauenserweckendere Drahtseilkonstruktion ersetzt. Im Teehäuschen am anderen Ufer ist auch ein "Brückenwärter" anwesend, der Mautgebühren kassiert, und zwar pro Person, also für die gesamte Mannschaft. Der zu zahlende Obolus ist aber dennoch nicht der Rede wert. Danach wird eine wüstenhafte Einöde durchquert und anschließend die sich bis ans Flussufer drängende, riesige Endmoräne des Biafo-Gletschers überschritten. Hier zweigt der sogenannte Biafo-Hispar-Trek von unserer Route ab. Der Biafo-Hispar-Trek führt über die beiden namensgebenden Gletscher hinweg ins obere Hunza-Tal, aber auch in den Einzugsbereich des mächtigen 7000ers Spantik, einem der meistbestiegenen Gipfel seiner Klasse in Pakistan. Vor zwei Jahren war eine Expedition der Sektion Konstanz des Deutschen Alpenvereins an diesem Berg zugegen. Mein Bergkamerad Peter Metzger, sowie Bernd Kern konnten damals den Gipfelsieg für sich verbuchen. Der damalige Anmarsch zum Spantik war übrigens bis hier, an den Fuß des Biafo-Gletschers identisch mit unserem Weg.
Nach einem kleinen Abstieg erreichen wir nach 4 Stunden Marschzeit das Lager Korophon, welches sich auf 3000 Metern Seehöhe befindet. Somit hatten wir den ganzen Morgen über wohl ein wechselndes Auf und Ab, aber bislang praktisch keinen Höhengewinn. wir halten hier unsere Mittagsrast. Zu diesem Anlass finden wir ein liebevoll gedecktes Tischtuch vor. Tee, Nudelsuppe, Kekse, frische Mangos, heiße Chapattis, einfach köstlich! Korophon ist ein von schattigen Bäumen bestandener Platz zu Füssen der Gletschermoräne. Es bleibt noch anzufügen, dass schattige Rastplätze auf dem Baltoro-Trek eher die Ausnahme sind, da Bäume selten oder gar nicht wachsen. Dzongs ( = Kreuzung aus Yak und Rind) und Pferde weiden hier. Auch ein Militärcamp gibt es in Korophon, wie praktisch überall in der Nähe der Touristencamps. Die Militärcamps sind ein wahrer Schandfleck auf Gottes Erden. Ist die Umweltsituation auf dem Baltoro-Trek allgemein schon mangelhaft – auch die Zustände in den Touristencamps lassen sehr zu Wünschen übrig – so häuft sich rings um die Militärbasen der Dreck zu meterhohen Bergen. Konservendosen und vor allen Dingen leere Kerosinkanister rosten und gammeln dort vor sich hin. In Korophon befindet sich die letzte klare Quelle, danach gibt es nur noch Gletscherwasser. Dieses Quellwasser verschone ich noch von der Desinfizierung, und ich kann ruhigen Gewissens behaupten, dass dieses Wasser einwandfrei ist.
Wir folgen weiterhin dem Braldo-River stromaufwärts. Zum Biafo-Hispar-Trek, ein Wildnistrek mit prächtiger Bergkulisse, bleibt noch anzufügen, dass es sich um einen sogenannten "no restricted" Trek handelt, d.h., man kann ihn ohne Formalitäten, und wenn man will, auch ohne Führer unternehmen. Es sind dort allerdings schon viele Touristen, die ohne Führer unterwegs waren, auf Nimmerwiedersehen in den zahlreichen riesigen Gletscherspalten verschwunden.
Nach dem Essen folgt ein Nickerchen, dann schultern wir erneut die Rucksäcke. Der Pfad bleibt nun dicht am Braldo-Ufer, bald direkt auf Wasserhöhe, bald weit darüber. Die Aussichten sind dabei stets spektakulär. Das riesige Kiesbett mit den vielen, sich aufgabelnden Flussarmen, sowie die von diesen umspülten Sand- und Kiesbänke erwecken den Eindruck einer archaischen Urlandschaft, als sei man etwa am Tag zwei der Schöpfung, noch weit entfernt vom Auftritt der Spezies Mensch auf unserem Planeten. Viele Gletscher sind bereits zu sehen, die Berggipfel hüllen sich allerdings teilweise in Wolken. Eine klassische Steppenvegetation säumt das Flussufer, bestehend aus dornigen Büschen, krüppelhaften Bäumchen, aber auch vielen bunten Blumen, gewachsen zwischen Schutt und Staub. Dieses Grün soll bald ganz verschwinden, spätestens auf dem Gletscher wird man für lange Zeit so gut wie keine Pflanze mehr sehen. Wir biegen nun ins Pangma-Tal ein, welches vom Dumordo-River durchflossen wird, folgen diesem ein gutes Stück flussaufwärts, bis der Strom mittels einer Hängebrücke gequert wird. Nun folgt nur noch ein kleiner Aufstieg und ein kurzes Wegstück auf der erreichten Uferseite stromabwärts, dann durchschreiten wir nach 2.45 h Gehzeit die Pforten des Lagers Jula. Am Eingang begrüßt uns Manzoor mit einem herzlichen Handschlag und den Worten: "Welcome to Jula-Camp!". Auch die Träger empfangen uns mit freudigem Hallo und Applaus, die Zelte sind schon aufgebaut, der Tee kocht und das Abendessen dünstet bereits in den Töpfen.
Das Wahrzeichen von Jula ist der markante Bahur Das, eine über 6000 Meter hohe, elegante Berggestalt, dessen Gipfelgrat durch einen schnittigen Firnkamm verziert ist. Man erblickt diesen Gipfel unmittelbar über dem Mündungsdelta des Dumordo- in den Braldo-River, welches er wie ein riesenhafter Wächter überragt. Jula gehört zu den Hauptcamps auf dem Baltoro-Trek. Etwa ein Dutzend Toilettenhäuschen und fließend Wasser gibt es dort. Auch wenn die hygienischen Zustände in diesen Einrichtungen noch einiges zu wünschen übrig lassen, so sind sie doch ein Anfang auf dem Weg zur Verbesserung der Umweltsituation im Baltoro-Gebiet. Man zahlt auch einen geringen Obolus an einen dort anwesenden Aufseher. Ich steige vor dem Abendessen noch ein kleines Stück weit auf, und genieße die Ruhe und die Aussicht auf einem abgelegenen Felsen. In der Umgebung dominiert das Ockergelb von Schuttbergen und -hängen, aber auch aschgraue, kompakt erscheinende Felsmassive finden sich hier. Packpferde und Esel grasen friedlich in den kargen Hängen. Schließlich locken mich die köstlichen Gerüche aus Sadigh´s Küche wieder hinunter in unser Lager. Heute haben wir übrigens von einem Lawinenunglück am Gasherbrum II erfahren, bei dem zwei Deutsche ums Leben kamen und ein Japaner schwerstverletzt geborgen wurde.
Ich möchte nochmals auf die baltischen Träger eingehen: keiner von ihnen trägt Bergschuhe- oder –stiefel. Fast immer sind sie mit Sportschuhen aus Gummi ausgerüstet, die dazu noch oft bereits durchlöchert sind. Diese Leute sind dennoch unheimlich schnell unterwegs, und das noch mit durchschnittlich 25 Kilo Gepäck obenauf. Ein weiterer typischer Ausrüstungsgegenstand der Träger ist ein langer Holzstock zum Stützen oder Ausbalancieren. Angeblich wird die Gondogoro-La-Überquerung im gleichen Schuhwerk getätigt, wobei selbstgebastelte Kordeln, die um die Schuhe gebunden werden, die bei uns üblichen Steigeisen oder Grödeln ersetzen...
Nachts rauscht gleichmäßig der Bach, ab und zu ruft ein Esel. Der Himmel ist frühmorgens noch klar, doch nach und nach bilden sich erneut Wolken. Wir wandern zunächst aus dem Pangma-Tal raus und befinden uns bald wieder an den Gestaden des Braldo-Flusses. Dort gibt es zwei Pfade, einen oberen, der bei Hochwasser benutzt wird, und einen unteren, auf dem wir unseren Weg fortsetzen. Den Fluss zu beobachten, wird nie langweilig. Das milchkaffeebraune Wasser tost und bildet wilde Stromschnellen aus. Manchmal scheint es mir, als wollen gefangene Teufel aus den gischtenden Fluten herausspringen. Deutlich hört man das Mahlen der im Wasser rotierenden Steine. Das Resultat sind außergewöhnlich rund und glatt geschliffene Exemplare aller Größen. Die Berge der Umgebung fahren als wilde Felszacken in den Himmel, an denen sich Wolkenfetzen wie Zuckerwatte verfangen. Die Bewölkung trübt zwar etwas die Aussicht, sie macht dafür das Wandern erträglich, denn wenn die Sonne scheint, dann brennt sie gnadenlos vom Himmel herab. Verschwindet die Sonne abends dann vollends, dann wird es hingegen schnell kalt.
Mittagsrast in Skam Tsok auf 3300 Metern. Es ist 11.20 h. Am Nachmittag gehen wir noch weiter bis ins Lager Paiju, wo wir übernachten wollen. Die ausgedehnten Block- und Steinfelder, die wir unterwegs durchschreiten, vermitteln eine eindrückliche Stimmung von der Verlorenheit des Menschen in der Wildnis. Und weiterhin fasziniert der Fluss. Er sendet krakenartige Nebenarme durch sein enormes Kiesbett, um bald darauf wieder durch Engpässe durchzuschießen, die dem Wasser nur einen einzigen Kanal lassen. In diesen Passagen fließt das Wasser besonders schnell, beängstigende Stromschnellen bilden sich dort, die jeden Extremkanuten den Atem verschlagen würden. In den braunen Fluten schwimmen bereits die ersten glasigen Eisbrocken als Vorboten des nahen Gletschers.
Das Lager Paiju (3450 m) ist eines der wenigen schattenspendenden Orte auf dem Baltoro-Trek. Man zeltet hier unter den grünen Bäumen eines Hains. Aussichtreich sind die Waschgelegenheiten installiert: Beim Rasieren oder Zähneputzen steht man hoch über dem urzeitlich erscheinenden Flussbett und genießt das Panorama. Die mächtigen Felsbastionen der Trango-Gruppe sind von hier aus in der Ferne bereits auszumachen. Ein junger Mann aus Lettland besucht uns. Er sucht verzweifelt nach einem Träger, der bereit ist, mit ihm in zwei Tagen zum Broad-Peak-Basecamp hinaufzustürmen. Seine Expedition hatte das Unterfangen einer Besteigung wegen des in den letzten Tagen anhaltend ungeeigneten Wetters abbrechen müssen. Die Zeit war abgelaufen, und er und die Gruppe waren bereits auf dem Rückmarsch, als ihm die Nachricht von guten Wetterprognosen zuteil wurde. Er will jetzt alles versuchen, dieses Schönwetterfenster auszunutzen. Er ist zwischenzeitlich durch den langen Aufenthalt in großen Höhen bestens akklimatisiert und traut sich nun einen Gipfelgang in zwei Tagen ab Basislager zu. Er findet seinen Träger und wir sollen ihn später wiedertreffen, summitted, also mit Gipfelerfolg. Anlässlich des 50-jährigen Besteigungsjubiläums soll der Broad-Peak in dieser Saison mehr Gipfelbesucher, als jemals zuvor in einer Saison empfangen. Im Küchenzelt scheinen sich heute sämtliche Fliegen Baltistans versammelt zu haben. Das Gemeinschaftswerk von Sadigh und Salman entlockt uns dennoch höchste Lobeshymnen.
Ab heute endet die Selbstversorgung unserer Träger und sie erhalten das von uns gekaufte Porterfood. Es werden auf unserem Trek noch zwei bis drei weitere Verteilvorgänge folgen, bei denen genauestens verwogen wird, damit ja niemand zu kurz kommt. Mützen und die praktischen langen Hemden der Shalwar Kamiz dienen zum Empfang der jeweiligen Rationen. Es war vorgesehen, dass zwei Träger morgen zurückkehren. Es verlassen uns aber vier Träger, was wiederum mit irgendeiner Familienclangeschichte zu tun hat. Dass wir ab heute deswegen zwei neue Träger einstellen müssen, macht die eh schon leidige Rechnerei noch komplizierter. Nachts trommeln leichte Regengüsse auf die Zeltwand.
Um 5.15 hören wir Mr. Manzoors vertraute Stimme, die einem kurzen Rütteln an der Zeltwand folgt: "Good morning, Sir, morning call!". Der Anblick der Trango-Türme im fahlen Morgenlicht entschädigt die frühe Weckzeit. Bald schon allerdings sind sämtliche Bergspitzen wieder von wabbelnden Wolkenbäuschen umwoben. Weiterhin folgen wir dem Braldo-River. Doch heute werden wir seinen Ursprung erreichen, das riesige Tor des Baltoro-Gletschers und wir werden dann, abgesehen von den Gletscherbächen, die schlängelnd ihren Weg durch Eis und Schutt suchen, für längere Zeit keinen Flusslauf mehr sehen. Als grau-braun bis schwarz gefärbter Koloss zeigt sich die Gletschzunge des Baltoro-Glacier, und aus deren riesigen Schlund schießen die braunen Fluten des Braldo-Rivers, welcher bereits unmittelbar nach Austritt aus dem Gletscher ein überraschend breites Flussbett für sich einnimmt. Der Aufstieg auf den Gletscher erfolgt über einen gut ausgetretenen Pfad. Der Einsatz von Steigeisen erübrigt sich, denn hier geht man überwiegend auf Schutt, das Eis schimmert nur gelegentlich zwischen Geröll und riesigen Gesteinsbrocken hindurch. Die Schuttdecke des Baltoro-Gletschers hat eine konservierende Wirkung für das Überleben einer der größten zusammenhängenden Eismassen außerhalb der Polarzonen. Er schützt das Eis praktisch wie eine Decke vor dem zu schnellen Abschmelzen durch Sonneneinwirkung. Wenn man sich auf dem Gletscher befindet, kommt man sich vor, wie in einer Steinwüste.
Nicht immer ist es leicht, den richtigen Weg zu finden, da sich Pfadspuren oft in unübersichtlichen Blockfeldern verlieren, oder ein Pfad über längere Distanzen hinweg überhaupt nicht mehr vorhanden ist. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich Greg Mortinson einst im Nebel in diesem Wirrwarr aus Eis, Gestein und riesigen Spaltenlabyrinthen verlaufen hatte. Von nun an dominieren als Blickfänge Great Trango-Tower (6286 m), Uli-Biaho-Tower (6109 m), Nameless-Tower, Paiju-Peak (6610 m) und Lobsang-Spire (6707m). In vielen dieser hier senkrecht gen Himmel fahrenden Felswände befinden sich mit die größten Bigwallklettereien der Welt. Der Doppelgipfel der Cathedral misst zwar "nur" 5828 bzw. 5866 m, wirkt aber durch die Nähe seiner gewaltigen Felswand besonders pompös. Bei all diesen Felsrouten dürfte sich kombiniert, also mit Eis, wohl kaum vermeiden lassen. Wir stapfen durch ein großes Sandbecken und erreichen das Lager Koburtse (3930 m), just als ein mittelschwerer Regenschauer losbricht. Wir finden Unterschlupf im Teastall des Besitzers, wo uns auch gleich das Mittagessen gereicht wird. Anschließend halten wir ein kleines Schläfchen, und als wir wieder weiterziehen, haben sich die Niederschläge schon wieder eingestellt. Wir satteln die Hühner und reiten nach Urdukas, dem bislang schönsten Campsite. Obwohl wir heute den größten Teil der Strecke schon auf Gletscher zurückgelegt haben, befindet sich Urdukas wiederum an dessen begrünten Rand, so dass uns eine Nacht auf kaltem Eis vorerst noch erspart bleibt. Hinter dem Camp streben Berge empor, in deren Hängen sich gelegentlich Ibex-Bergziegen blicken lassen sollen. Die Spitze des eisigen Urdukas-Peak steht direkt über dem Lager.
Anderntags ist Abmarsch um 7.30 h. Am Lagerausgang befinden sich ein paar Trägergräber. Auch die Gedenktafel eines tödlich verunglückten Österreichers befindet sich dort. Es handelt sich hierbei um den Kufsteiner Markus Kronthaler. Er leitete 2006 eine Expedition, die auf den Spuren Hermann Buhls die Chogolisa und den Broadpeak bestiegen. Am 07.07. gelang dem Expeditionsteilnehmer Peter "Resl" Ressmann die bislang höchste Skiabfahrt vom Broadpeak aus 7500 Metern Höhe. Markus Kronthaler hingegen überlebte den Abstieg nicht.
Nach etwa einer Stunde Marschzeit auf dem Gletscher eröffnet sich der Blick auf eine der schönsten und beeindruckendesten Berggestalten des gesamten Baltoro-Gebiets. Der Masherbrum wartet mit grandiosen Eisflanken und einer ehrfurchtgebietenden Höhe von 7821 m auf. Doch der Berg läßt sich heute Zeit, uns sein wahres Gesicht zu zeigen, denn zunächst bleiben seine markante Spitze und seine schneeweißen Flanken von dampfenden Wolkengebilden eingewoben. Das Wetter bessert sich aber zusehends, die Aussage unseres lettischen Freundes trifft zu. Und so können wir uns schließlich doch noch bei strahlend blauem Himmel am Anblick auf die gewaltige Nordflanke eines der schönsten Berge des Karakorums und der Welt sattsehen. Die eigentümliche Spitze des Masherbrum mag uns wie ein gebogener Geierschnabel erscheinen. So ergötzen wir uns auch während unserer Mittagsrast an diesem exklusiven Panorama. Unterwegs sind uns noch zum Schluss zu eindruckvolle, gelegentlich sogar haushohe, schneeweiße Seraks erschienen.
Schließlich drängt sich in gerader Linie gletscheraufwärts ein weiterer spektakulärer Berg ins Bild, der durch seine regelmäßige Pyramidenform und kühne Steilheit beeindruckt: es ist der Gasherbrum V (7133 m), übrigens ein sehr gefährlicher Berg, wie uns Manzoor erklärt. Das Lager Goro II (4380 m) ist unsere erste Übernachtungsstätte direkt auf dem Gletscher. Sie befindet sich nur wenig unterhalb der Konfluenz des Biange-Gletschers mit dem Baltoro. Über den Biange-Gletscher gelangt man zum Fuß des Mustagh-Tower (7264 m), gleichfalls ein begehrtes Ziel unter Extrembergsteigern. Goro II ist stark den Winden ausgesetzt, doch das Panorama verdient eine genauere Beschreibung: die den Baltoro-Gletscher nach Süden hin begrenzenden Berge gehören allesamt der Masherbrum-Gruppe an. Die vier eleganten Spitzen auf Südwest sind die Urdukas-Peaks, zwischen diesen und dem Masherbrum ragt der Mandu-Peak (7127 m) mit seinen Vasallen empor. Der südöstliche Nachbar des Masherbrum, und mit diesem über einen Grat verbunden, ist derYermandu Kangri (7163 m). Direkt überm Lager ist es der Biarchedi (6781), welcher ostseitig vom Yermanendu-Gletscher und westseitig durch den Biarchedi-Gletscher begrenzt wird. Die gewaltige Eis-und Felswand des Biarchedi ist wirklich zum Greifen nah, daher erscheint der Berg vom Lager aus gesehen trotz "geringer" Höhe besonders imposant. Überhaupt sind hier die Berge wieder ein Stück höher geworden, denn der Baltoro-Trek steigert sich diesbezüglich wie Mussorgskis Moldau-Sinfonie. Je weiter man nach oben kommt, desto höher, eisiger, gigantischer, aber auch menschenfeindlicher zeigt sich die uns umgebende Bergwelt.
Ein paar Träger vergnügen sich mit dem Herumklettern in Turnschuhen an den ums Lager herumstehenden, blanken Serakobelisken. Das funktioniert dadurch, dass deren Oberfläche durch die Einstrahlung der Nachmittagssonne angetaut ist, es bleibt aber dennoch ein recht heikler Zeitvertreib. Peter fühlt sich schon seit geraumer Zeit miserabel. Das Fatale an dieser Situation ist, dass wir aufgrund des nun sehr engen Zeitrahmens praktisch keinen Ruhetag einlegen können und auch stets zwei bis drei "offizielle" Etappen auf einen Tag zusammenlegen müssen.
Das Lager Concordia (4650 m) ist gemeinhin das Ziel sämtlicher auf dem Baltoro wandernden Trekkinggruppen. Hier sieht man zum ersten Mal den K2, oder Chogoli, wie die Einheimischen den zweithöchsten Berg der Welt nennen. Und hier kann man über vielerlei Optionen entscheiden, ob man etwa in einem anstrengenden Tagesausflug zum K2-Basecamp und zurück geht, ob man vielleicht zusätzlich noch den zweitägigen Abstecher ins Gasherbrum-Basislager angeht, ob man über die Passhöhe Gondogoro La ins Hushe-Tal hinübergeht, oder aber eine beliebige Kombination aus diesen Möglichkeiten in Betracht zieht. Unser Ziel für die Mittagspause ist jedenfalls Concordia, und dort wollen es wir von Peter´s Befinden abhängig machen, ob wir dann am Nachmittag noch zum Broad-Peak-Basecamp weitergehen und dort übernachten werden, oder ob wir die Nacht auf Concordia zubringen werden. Dominierend auf dem Weg zur Concordia ist jedenfalls die massige Erscheinung des Broad-Peak. Er mag nicht zu den schönsten Achttausendern gehören, aber es ist der erste seiner Klasse, den wir auf unserem Trek zu Gesicht bekommen. Die klaren Verhältnisse bescheren uns jedenfalls beste Aussichten, nicht nur auf den Broad-Peak! Erwähnung verdient noch der "Hausberg" von Concordia. Wie der sagenhafte Argus wacht auf Süd der Mitre-Peak (6025 m) über dem Lager. Auch dieser Berg ist, verglichen mit seiner Umgebung, von der Höhe her ein Kleiner, der aber durch die dramatische Nähe zum Camp und durch seine elegante, schlanke Figur Bedeutung erhält. Den K2 bekommt man übrigens erst kurz vor Ankunft auf Concordia zu sehen. Wenn man kurz vor Ankunft auf Concordia seinen Blick beharrlich in Marschrichtung nach links wendet, kann man zusehen, wie der zweithöchste Berg der Welt langsam, aber sicher hinter seinem Versteck hervortritt, bis er schließlich in seiner vollkommenen Schönheit als perfekte Pyramide dasteht. Bei Ankunft in Concordia klagt Peter über Kopfschmerzen, die sich aber kurz nach Einnahme von zwei Aspirin-Tabletten wieder verflüchtigen. Wir machen die Fortsetzung des Weges von seiner Entscheidung abhängig, und die lautet weitergehen.
Was nun folgt, ist von fast unbeschreiblicher Herrlichkeit! Ich lege hiermit jedem Baltoro-Trekker nahe, es keinesfalls beim Besuch von Concordia zu belassen. Zwar sieht man von dort aus auch den K2, aber nichts geht über diese Annäherung über den Godwin-Austin-Gletscher direkt auf die mächtige Pyramide des K2 zu. Ein wolkenfreier Himmel, die goldene Abendsonne bestrahlt den König des Karakorum und die ihn umgebenden Vasallen, und wir rücken diesem Giganten näher und näher, wieviel mehr Glück braucht man noch auf diesem Trek?
Der Marsch hinauf ins Broad-Peak-Basecamp ist recht anstrengend, doch in dieser einzigartigen Kulisse könnte man dabei himmelhoch jauchzen! Neben dem Protagonisten faszinieren auch noch weitere Berge, so etwa auf der Westseite der felsige Marble Peak, östlich macht der Camel-Peak mit seinen beiden Höckern seinem Namen Ehre und die weiße Spitze direkt neben dem K2 trägt den Namen Little Angel Peak. Als wir in den langen Schatten des Marble-Peak treten, bekommen wir zum ersten Mal einen Vorgeschmack darauf, dass uns oben im Camp eine kalte Nacht erwartet. Wir sind mit einer reduzierten Mannschaft aufgestiegen, im Transportgepäck befindet sich das provisorische Küchenzelt, bestehend aus einer Plane, die über eine aus Steinen aufgetürmte Mauer gespannt wird. Heute sitzen wir alle zusammen, einschließlich unserer Träger, die sonst immer separat essen. Sadigh lässt den Kocher fauchen, das Eis darunter schmilzt zu einer Wasserlache, Wärme breitet sich unter der Plane aus, nur der Sauerstoffgehalt lässt zu wünschen übrig, und die Aufnahmefähigkeit des menschlichen Körpers an Sauerstoff ist auf 5150 m Höhe ohnehin schon spürbar reduziert!
Um 8.30 brechen wir auf, ohne Gepäck. Bis das andere Ende des Broadpeak-Basecamps erreicht ist, sind gut drei Kilometer zurückzulegen. Im letzten Camp lernen wir Aziz aus Shimshal kennen, einen jungen Hunza-Bergsteiger, der frisch vom Gipfel des Broadpeak zurückgekehrt ist. Die Achttausender-Besteiger sind allesamt am erbärmlichen Zustand ihrer Gesichter zu erkennen: völlig verbrannt, herunterhängende Hautfetzen, rissige Lippen. Wir erfahren auch, dass sich am Broadpeak vier Hochcamps befinden. Im weiteren Aufstieg fließt linkerhand, also im Westen, ein weiterer Gletscher in den Godwin-Austin ein. Dort hinten befinden sich unter anderem die Berge Skilbrum (7360 m) und Pisherong Kang. In diesem Gebiet soll sich laut Manzoor vor ein paar Jahren ein dramatisches Unglück ereignet haben, als eine riesige Lawine eine ganze Expedition mitsamt ihrem Basislager hinwegfegte. Am Skilbrum wurde bereits Alpingeschichte geschrieben. Die 1957er Karakorum-Expedition mit Markus Schmuck, Kurt Diemberger, Fritz Wintersteller und Hermann Buhl hängte die Erstbegehung dieses Gipfels direkt hinter die Broadpeak-Erstbegehung an, in einer für die damalige Zeit sensationell schnellen Abfolge.
Mit dem Wetter sind wir heute nicht ganz so glücklich, wie am Vortag, der K2 wird ständig von Wolken umtanzt. Schließlich treffen wir direkt am Bergfuß des K2 auf die ersten Zelte des mehrere Kilometer langen K2-Basecamps. Blickt man von dort hinaus zum Ende des Godwin-Austin-Gletschers, so erkennt man das Windy Gap (chin.: Skyang La, 6150 m), ein eisiger Durchschlupf hinüber nach China.
Hier im Bascamp habe ich den Eindruck, dass wir die großartigste Aussicht auf diesen Berg eigentlich schon hinter uns gelassen haben, nämlich der vom Broadpeak-Basecamp aus. Hier, im K2-Basecamp scheinen wir dem Berg schon zu nahe gerückt, um seine tatsächlichen Ausmaße zu erkennen. Dafür kann man nun den Bergfuß von Nahem bewundern, die Einstiegsrouten suchen, und sich bei den zahlreichen dort anwesenden Expeditionen umtun. Die Amical-Expedition um Gerlinde Kaltenbrunner und Ralf Dujmovitz hat ihre Zelte am hintersten Ende des Camps aufgeschlagen. Wir besuchen zuerst den Memorial-Tower, ein turmartiger Felsen am westlichen Bergfuß des K2, wo sich die Gedenktafeln der an diesem Berg verstorbenen befinden. Der Tower ist indes gar nicht so einfach zu erreichen. Zunächst muss ein durchs blanke Gletschereis fließender Bach gequert werden, ein Hunza aus einer russischen Expedition schlägt uns freundlicherweise mit seinem Pickel Trittstufen. Der Gang am anderen Ufer durch pfadloses Geröll- und Blockgelände ist ebenfalls Hochtourengelände, am Tower selbst führt ein kleiner Pfad empor. Auffallend ist, dass in jüngster Zeit verstärkt russische Bergsteiger hier verunglückt sind. Das lieg sicher an deren hoher Risikobereitschaft, da die Russen meines Eindrucks nach das Bergsteigen oft noch mit einer gewissen Machoeinstellung angehen. In manchen Fällen mag auch der Vergleich mit dem berühmt-berüchtigten Russisch-Roulette trefflich sein. Die russische Expedition, deren Camp wir anfangs besucht haben, ist derzeit an der Westwand des Berges zugegen, eine äußerst schwierige und gefährliche Route. Im Nachhinein erfahre ich, dass diese Expedition erfolgreich verlaufen sein soll, im Gegensatz zum Gipfelversuch von Gerlinde Kaltenbrunner, die am sogenannten Flaschenhals kurz unterhalb des Gipfels wegen Schneebrettgefahr abbrechen musste.
Wenn wir schon mal da sind, dann wollen wir auch das komplette Camp besuchen, und so marschieren wir noch die gut zwei bis drei Kilometer bis hinter zu Amical. Bei Jasmin-Expeditions werden wir zum Tee und zum Essen eingeladen, unser Manzoor hat ohnehin überall Freunde. Wir kehren anschließend zurück zum Broadpeak-Basecamp und steigen gleich darauf ab bis nach Concordia, wo uns die zurückgebliebenen Träger schon einige Kilometer vor dem Camp entgegenkommen. Wir werden herzlich umarmt, die Jungs nehmen uns die Rucksäcke ab, und um 19.30 h, mit Einbruch der Dunkelheit, kommen wir im Lager an. Peter hatte heute krankheitsbedingt einen langen und qualvollen Tag zu bestehen, doch anbetrachts der langen Unternehmung in großer Höhe hielt er sich sehr tapfer! Wir essen noch im Schein der Kerosinlampe und diesmal bin ich es, der sich beschissen fühlt. Kopfweh, Erschöpfungsgefühl, ich will nur noch schlafen. Meine Eigendiagnose lautet leichter Sonnenstich. Ich war den ganzen lieben, langen Tag ohne Kopfbedeckung in der Sonne und auf dem gleißenden, reflektierenden Gletscher unterwegs, und in diesen Höhen wirken die Sonnenstrahlen ohnehin viel intensiver. Morgen früh soll die Entscheidung fallen, wie´s weitergeht. Ich will auf alle Fälle das Gasherbrum-Basecamp noch mitnehmen, der Gondogoro-La ist praktisch schon abgeschrieben, doch damit können alle Beteiligten leben. Auch Tobias möchte noch die Gasherbrums sehen, und Peter will seine Entscheidung davon abhängig machen, wie er sich morgen fühlt.
Frühmorgens fällt dann der Beschluß: Tobias, ich, Manzoor und drei Träger, sowie Salman, unser Hilfskoch werden zum Gasherbrum-Basecamp aufsteigen, Peter wird einen Ruhetag auf Concordia einlegen und morgen im Laufe des Tages mit dem Rest unserer Mannschaft nach Goro II absteigen, wo wir schließlich wieder hinzustoßen werden. Der Besuch der Gasherbrums an einem Tag ist praktisch unmöglich, wir müssen oben übernachten, wobei wir dem Gedanken eigentlich nicht abgeneigt sind, abermals in großer Höhe und im Angesicht so berühmter Berge eine Nacht zuzubringen, auch wenn diese sicher unangenehm kalter werden wird, und nächtliche Hypoxieanfälle aufgrund der großen Höhe obligatorisch sind. Kochen wird für uns dort oben übrigens nicht etwa Salman, sondern unser treuer Mr. Manzoor. Es ist dann schon urkomisch, wie dieser sich beim gemeinsamen Abendessen unter der Plane tausendmal für den Umstand entschuldigen wird, uns auf fast 5300 Metern Höhe ausnahmsweise keinen Nachtisch anbieten zu können!
Der Marsch hinauf zu den Gasherbrums geizt wahrlich nicht an gewaltigen Eindrücken. Er führt abermals in ein arktisähnliches Ambiente mit gigantischen Eisriesen als Kulisse, bis zu wohnblockhohe Seraks türmen sich am Weg, der glasklare Gletscherbach stürzt in verwirrenden Serpentinen durch einen weißblau schimmernden Eiskanal. Rechterhand grüßt das mächtige Schild der Chogolisa deren Nordostgipfel mit 7654 m, und der Südwestgipfel mit 7668 m Höhe auftrumpfen. An der Chogolisa hatte sich einst ein dramatisches Stück Alpingeschichte zugetragen: Hermann Buhl und Kurt Diemberger wollten den Erstbegehungen von Broadpeak und Skilbrum noch eins draufsetzen und stiegen zur Chogolisa auf. Dabei wurden sie vom heranziehenden Monsum überrascht, Hermann Buhl stürzte auf 7300 Metern Höhe mit einer abbrechenden Wächte mehrere tausend Meter die Nordwand hinunter. Seine Leiche blieb nach meinem Wissensstand bis zum heutigen Tag verschollen.
Links ragt ein besonders eleganter Berg in die Lüfte: der Gasherbrum IV (6706 m) ist noch steiler als der K2, allerdings weniger massig. Er gilt als ein besonders schwieriger und gefährlicher Berg. Im weiten Gletscherfeld erkennt man als winzigen, schwarzen Punkt das Ali-Camp, das für gewöhnlich als Ausgangslager für die Überschreitung des Gletscherpasses Gondogoro-La dient. Um 1 Uhr nachts wird von dort aufgebrochen. Es soll noch ein weiteres Lager weiter oben existieren, welches eine kürzere Überquerung, bzw. eine etwas gnädigere Aufbruchzeit ermöglicht, dafür ist aber die Übernachtungshöhe noch ein gutes Stück nach oben geschoben, was beste Akklimatisierung voraussetzt, oder aber zumindest eine schlaflose Nacht mit dröhnendem Brummschädel bereiten kann. Der Anstieg über den Schuttgletscher erfolgt sanft, wir gewinnen nur langsam an Höhe. Es ist verdammt heiß heute, und wir sind froh über jedes Wölkchen, das die Sonne vorübergehend bedeckt. Das Heiß der Tage steht, wie zuvor erwähnt, ganz im Gegensatz zur nächtlichen Kälte.
Der auffälligste und beeindruckendste Berg auf unserem Weg ist aber zweifelsohne der Golden Thrown. Er erscheint uns tatsächlich wie ein riesiger Thron, mit zwei gigantischen Armlehnen, dazwischen – schneeweiß - Sitz und Rückenlehne aus purem Eis und Schnee. Wir gehen geradewegs darauf zu, und erwarten jeden Augenblick, dass plötzlich hinter uns ein donnerndes Erdbeben den Boden erzittern lässt, während ein Riese, vielleicht der Herr dieser Berge, gegen dessen Füsse wir wie Ameisen erscheinen würden, zu seinem Thron zurückkehrt.
Wir folgen dem Baltoro Gletscher praktisch bis zu dessen oberen Ende, und bislang ist von den beiden Achttausendern Gasherbrum I und II nichts zu sehen. Erst zum Schluss der Etappe biegen wir in einen neuen Gletscherzufluß, dem Abruzzi-Gletscher, ein, und hier zeigt sich uns endlich der Gasherbrum I, der aufgrund seines langen Nicht-Sichtbar-Seins von seinen Entdeckern auch den Beinamen Hidden Peak (versteckter Berg) erhielt. Nun, wenn der Gasherbrum I der Hidden Peak sein soll, dann ist der Gasherbrum II wohl der "Most Hidden Peak", denn diesen bekommt man erst dann zu Gesicht, wenn man das äußerste obere Ende des Gasherbrum-Basecamps (5150 m) erreicht hat. Dort macht man es sich am besten auf einem der in der Gletschermoräne herausragenden Aussichtshügel bequem. Bis wir oben sind, hat sich der Gasherbrum II leider schon teilweise in Wolken gehüllt. Wir können zwar das gesamte Ausmaß des Berges in Augenschein nehmen, aber vernünftiges Foto soll einfach nicht möglich sein. Im Labyrinth des den Bergen vorgelagerten South Gasherbrum Glaciers können wir zwei zum Basislager zurückkehrende Bergsteiger ausmachen, die auf dem riesigen, zerrissenen Gletscher wie zwei Ameisen erscheinen. Der Gang hinauf auf unsere Aussichtskuppe, die mit ca. 5300 Metern Höhe den höchsten Punkt unserer Trekkingtour darstellt, lohnt sich heute abend mit oder ohne Prachtpanorma zum G II, denn großartig sind von hier aus die Ausblicke in eine eiszeitlich anmutende Landschaft. Das unglaubliche Panorama auf die von der Abendsonne bestrichenen Gipfel jenseits, westlich des Basecamps zieht uns in seinen magischen Bann. Am oberen Ende des Abruzzi-Gletschers ist der Conway-Saddle (5973 m) auszumachen, dieser führt hinüber nach China. Darüber erhebt sich der Sia Kagri (7422 m). In Blickrichtung rechter Hand befinden sich weitere Gipfel des Massivs Baltoro-Kangri, zu dem auch der Golden Thrown gehört. Allein der Gasherbrum II will sich uns weiterhin nicht richtig entblößen. Wir beschließen, es morgen in Allerherrgottsfrühe noch einmal zu versuchen. Ganz im Gegensatz zur eisrotzenden Pracht fristet das vorgeschobene Militärcamp unter uns ein elendes Dasein und schaut aus, wie eine dem Verfall preisgegebene Arktisstation. Die abgewohnten, ehemals weißen Biwakschachteln sind dreckig schwarz verfärbt, drumherum türmt sich der Müll. Das ganze Gebiet jenseits der Bergketten gehört bereits zu China, und der Siachen-Gletscher war in Zeiten offener Grenzstreitigkeiten das höchstgelegene Kampfgebiet der Welt. Vor dem bereits erwähnten tödlichen Lawinenunglück am Gasherbrum II ist einer internationalen Expedition übrigens noch zum ersten Mal in der Geschichte des G II eine sensationelle Überschreitung des Berges von China hinüber nach Pakistan gelungen. Nach dem Unglück sind alle weiteren noch verbliebenen Expeditionen von diesem Berg abgezogen, da die Lawinensituation anhaltend extrem gefährlich blieb.
Frühmorgens machen wir uns nochmals auf den Weg zum Aussichtshügel. Wir sind dicke eingepackt, denn es ist saukalt. Ein Trupp Soldaten kommt uns entgegen. In Bergstiefeln und Zivilkleidung, die Gewehre lässig über der Schultern hängend, sehen sie aus, wie Hasardeure oder eine Schmugglerbande. Wie wir das zuvor bereits bei den anderen Militärcamps erlebt haben, sind diese Männer freundlich zu uns Touristen, und bleiben gerne auf ein Schwätzchen stehen. Nur wenn man versucht, ihre Camps zu fotografieren, können sie recht nervös reagieren. Hoffnungsfroh verharren wir in der Kälte, ständig das Wolkenspiel um den Gipfel des G II im Auge. Wiederum ist G I gut zu sehen, doch sein kleinerer Bruder will auch heute nicht so recht. Schließlich kehren wir zum Frühstück ins Lager zurück, ein langer Abstieg wartet!
Mit wildem Tempo gehen wir den Rückweg an, der auch mit ein paar Gegenanstiegen gespickt ist. Unterwegs bewundere ich die durchlöcherten Gummiturnschlappen unseres Salman. Ich selbst trage hochwertige Hochtourenstiefel, mit denen ich volle Pulle in den Schotter rein kann. Trotz dieses Vorteils bin ich nicht schneller, als unsere vollbepackte Trägerschaft mit ihrem scheinbar so unzulänglichen Schuhwerk. Hungrig und erschöpft treffen wir um die Mittagszeit wieder in Concordia ein. Der anfangs so schöne Tag hat sich zu einem regnerischen gewandelt. Unsere Zelte stehen nicht mehr dort, Peter und der Rest der Mannschaft sind in diesem Falle schon nach Goro II aufgebrochen. Manzoor lässt es sich nicht nehmen, uns eine Gelegenheit zu einem Mittagessen zu besorgen, welches wir im trockenen Zelt zwischen wild und fast etwas inzuchtsgeschädigt aussehenden Burschen einnehmen, während draußen der Regen auf die Zeltwand plätschert. Wir befinden uns hier in einer Art Kaufladen und Porterkantine, wo verschiedene Lebensmittel oder Kerosin verkauft werden, und auch Ausrüstungsgegenstände deponiert werden können. Vor ein paar Tagen mussten wir übrigens prompt hier auf Concordia ein neues Fass (25 Liter) Kerosin nachkaufen, ganz so, wie Mr. Manzoor es mir prophezeit hatte. Ich hatte allerdings auch nicht mit einer derartigen Verschwendung des Brennstoffs gerechnet. Die beiden Kocher fauchen praktisch ständig vor sich hin, egal, ob gerade was auf dem Feuer steht, oder nicht.
Nach zweieinhalb strammen Marschstunden erreichen wir schließlich Goro II. Der Himmel bleibt regentrüb, doch außer ein paar eher erfrischend wirkender Tropfen, bleiben wir von der Nässe verschont. Die Sicht auf die umliegenden Gipfel ist allerdings schlecht, wenngleich das wilde Wolkenspiel um die schroffen Bergspitzen eine gespenstisch-schaurige Szenerie suggeriert. Uns wird zudem um so mehr bewusst, was für ein Glück uns die vergangenen Tage beschert war, denn wer heute zum K2 will, wird nicht viel davon haben. Wie lange es dauert, bis es wieder so wird, wie bei unserem Aufenthalt dort, ist gleichfalls ungewiss. Es soll schon Gruppen gegeben haben, die den gesamten Baltoro-Trek auf und ab nur im Nebel erlebt haben!
Wie immer, werden wir per Handschlag und herzlichen Umarmungen von unserer Mannschaft empfangen. Die Zelte stehen, und das Abendessen ebenfalls. Peter war übrigens bereits heute morgen um Acht hierher aufgebrochen. Ein zweiter Ruhetag in Concordia wäre ihm dann doch zu viel geworden, wenngleich er über diesen Tag dort einiges zu erzählen weiß. So etwa von einer gewissen Schottin, die wir ebenfalls bei den Gasherbrums im Zelt einer tschechischen Expedition kennengelernt hatten, und der Verkupplungsversuch unserer haschischberauschten Träger zwischen ihr und Peter. Oder der Tobsuchtsanfall einer Amerikanerin anlässlich der Weigerung ihrer Träger, mit ihr zusammen bei zweifelhaftem Wetter den Gondogoro-La zu überschreiten, wobei sämtliche gerade auf Concordia anwesenden Träger und Führer in die Streiterei involviert gewesen sein sollen.
Besagte Schottin ist heute ebenfalls in Goro II. Wir laden sie zum Abendessen ein. Tia, so heißt sie, ist eine Marke für sich, und um Unterhaltungsmangel braucht man sich in ihrer Anwesenheit nicht zu sorgen. Sie war am Broad Peak auf etwa 7000 Metern gescheitert, aber immerhin, Respekt! Beruflich ist sie wohl so eine Art Finanzjongleurin mit momentaner Auszeit. Sie spricht alle möglichen Sprachen, unter anderem Urdu, wobei sie an die anwesenden Pakistani mächtig austeilt, was zwar zu ausgelassener Fröhlichkeit führt, aber auch sicher Ehrfurcht und Schrecken vor westlichen Frauen einflößt.
Nachts regnet es, und anderntags erwacht unser armer Peter mit Fieber und Durchfall. Wir haben aber keine Chance, die Zeit rinnt uns davon, wir müssen weiter absteigen. Der gute Manzoor schlüpft heute in die Rolle des Hakim (so wird im Morgenland der Onkel Doktor genannt). Ein Bild zum Schmunzeln, wie er stets dicht hinter Peter herläuft, dessen Rucksack tragend, eine Tasse baumelt am Schulterriemen, die volle Teekanne hält er in der Hand, und bei jeder Gelegenheit reicht er Peter eine heilsame Tasse dampfenden Chai. Peter soll hinterher über diesen Tag aussagen, es sei ein besonders denkwürdiger gewesen, und er will das Datum 3. August für immer als seinen persönlichen Passionstag in Erinnerung behalten. Respekt, er hält sich tapfer und so erreichen wir auch zum guten Schluss das Lager Urdukas. Dort ist ein echter Arzt anwesend, ein Pakistani, der selbst auf Trekkingtour ist. Abermals neue Tabletten, aber Pillen hat unser Peter ja schon genug geschluckt, nicht immer ganz freiwillig. Diese hier scheinen zu helfen, oder wie auch immer, tags darauf geht es Peter jedenfalls wieder um Welten besser. Das Wetter ist seit unserer Rückkehr von den Gasherbrums allgemein schlechter geworden, immer wieder übersprühen uns leichtere Regenfälle, der Wind bläst, viel Gewölk und Nebel zieht um die Gipfel und verleiht diesen eine finstere Aura. So erscheinen mir die Trango-Gruppe und deren Nachbarn heute wie verwunschene Felskastelle. Irgendein böser Geist mag dort droben sein Domizil haben. Manzoor meint, dass es jetzt oben in Concordia bereits schneien würde. Wir jedenfalls hatten tagsüber eine herrlich frische und für´s Marschieren optimal temperierte Luft, die mit den wohligen Düften eines Sommerregens geschwängert war. Unterwegs wurden wir zum ersten mal wieder grüner Flora ansichtig, im unteren Teil der Flanke der NW-Biale-Kette. Das ist wahrlich ein Entzücken nach dem langen Aufenthalt in einer Wildnis, die praktisch kein Leben duldet, auch wenn es noch so faszinierend war! Dieses schüttere, zarte Grün erscheint uns einfach wieder als ein Symbol des Lebens nach all dem starr gefrorenen Eis und den kahlen, leblosen Steinen und Felsen der letzten Tage.
Auch auf Urdukas ist das Grün unterhalb der aalglatten Platten der über dem Lager aufragenden Felswände wieder präsent, auch ein paar Wasserfälle stürzen hier herunter. Wasserfälle gibt es übrigens auf dem Baltoro-Trek überraschenderweise nur wenige zu sehen. Ein bisschen erinnern mich die Felsen von Urdukas an die bei Kletterern so populären Platten im schweizerischen Haslital am Grimselpass. Ich habe heute Manzoor gebeten, mir etwas von dem bei den Einheimischen so heißgeliebten und von den Touristen (zu unrecht!) verschmähten Balti-Tee zu kredenzen. Dieses Getränk ist völlig identisch mit dem tibetischen Buttertee, Herstellungsverfahren und Zutaten sind dieselben. Er hat die braune Farbe von Kaba, und mit frischer Butter wurde nicht gegeizt. Resultat: exzellent! Ich habe schon mehrmals Buttertee getrunken, sowohl in Nepal, als auch in Spiti und Ladakh. Niemals habe ich einen mit ranziger Butter vorgesetzt bekommen, wie man das allenthalben in alten Bergsteigergeschichten so liest. Der Buttertee in Baltistan verdient aber ein extra Lob, es ist mit Abstand der beste und köstlichste, den ich bislang probiert habe. Ab sofort bestehe ich darauf, bei den Pausen, wie die Träger auch, mit Buttertee versorgt zu werden. Warum komme ich Ochse nur so spät auf diese Idee? Auch die in Tibet so populäre Tsampa gibt es in Baltistan. Diese wird hier Chapa genannt. Heute haben wir durch unsere recht frühe Ankunft zum ersten Mal "free time to relax" . Tobias nutzt die Zeit, sich von Sadigh Kochrezepte erklären zu lassen und diesem bei der Zubereitung gleich zur Hand zu gehen. Wer in Urdukas Wasser abfüllen will, sollte dies möglichst schon bei der Ankunft tun, denn frühmorgens kann es sein, dass aufgrund der Kälte kein Wasser läuft. Ein letztes Mal erklimme ich vor unserem Abmarsch die aussichtsreiche Felsplatte des Lagers, genieße den Blick hinüber zu den Trangos, wo morgendliche Nebelschleier unbeweglich vor den senkrechten Felswänden verharren.
Um 7.40 h brechen wir auf und gehen einen langen Abstieg. Nach Verlassen des Baltoro-Gletschers begleiten uns wiederum die mokkabraunen Fluten des Braldo-Flusses, Stein- und Geröllwüste und ockerfarbene Steppenlandschaft werden durchschritten. War es morgens noch heiter bis wolkig, so hat es ab Tagesmitte immer mehr zugezogen, starker Wind treibt uns Sandkörner in die Augen und zwischen die Zähne. Am schönsten wird´s am Abend, als die Sonne mit angenehmer Milde nochmal zurückkehrt und eine fantastische Stimmung zaubert. Bei einem Wasserlauf hole ich einige unserer Träger ein, die gerade das Abendgebet zum Sonnenuntergang verrichten. Ein auf seiner Isomatte kniender Träger im letzten Licht der untergehenden Sonne, das sind Bilder, die reizen, gemacht zu werden, die man aus Rücksicht auf die Sitten aber keinesfalls machen sollte, es muss eben ein unvergesslicher Anblick bleiben. Die lange Tagesetappe führt uns über Paiju weiter bis ins kleine Lager Mundong Dera, welches wir um 19.00 in der kurz zuvor hereingebrochenen Dunkelheit erreichen. Unter den Trägern herrscht Rückkehrstimmung. Der Rückmarsch kann ihnen nicht schnell genug gehen. Sie bekommen schließlich das Geld für die zurückgelegten Etappen, egal ob wir nur die Hälfte der Zeit dafür brauchen. So sind sie schneller wieder bei ihren Familien, oder können in Askoli gleich wieder bei der nächsten Trekkinggruppe anheuern.
Mit der heutigen Etappe wollen wir unser Endziel Askoli erreichen. Um 4.30 h ist Wecken, um 5.45 h machen wir uns auf den Weg. Manzoor insistiert darauf, dass wir heute allesamt unser Gepäck den Trägern übergeben. Für mich ist das ein sehr ungewohntes Gefühl. Meinen Rucksack betrachte ich immer als mein persönliches Schneckenhaus und außer dem sperrigen Winterschlafsack habe ich während des ganzen Treks nichts weiter abgegeben. Mir erscheint das, als wären wir versprengte Bomberpiloten, die irgendwo in der Wüste über Feindesland abgeschossen wurden, und nun zu Fuß zurückkehren müssen. Kurz vor Jula treffe ich zwei ehemalige Träger von uns, zu Pferd. Sie sagen, Barbara Hirschbichler und Ghulam Razool seien in Jula an der Brücke und würden auf uns warten. Um 8.30 h treffen wir in Jula ein und unsere Träger haben ein zweites Frühstück vorbereitet. Dort erfahren wir, dass Barbara und Razool tatsächlich an der Brücke auf uns warten. Es wird eine herzliche und freudige Zusammenkunft. Die Beiden sind auf dem Weg hinauf ins Pangma-Tal, das Camp Jula und die Brücke befinden sich ja bereits am unteren Taleingang. Barbara beabsichtigt dort unter anderem eine Erstbegehung, die ihr bei ihrem letzten Aufenthalt dort wegen eines zu kurzen Seils entgangen ist. Im Übrigen ist das Pangma-Tal, auch wenn es nicht so spektakulär ist, wie der Baltoro, ein Hort der absoluten Einsamkeit. Ein Tip für diejenigen, die zum zweiten Mal ins Baltoro-Gebiet gehen. Witzig sind die Träger der Beiden, ein wahres Altersheim! Allesamt sind es bereits in die Jahre gekommene Herren mit krummen Buckeln und faltigen Gesichtern, die sonst aufgrund ihres Alters sonst kaum mehr auf Treks und Expeditionen mitgenommen werden. Hier bei Barbara erhalten sie wenigstens vorübergehend wieder mal Lohn und Arbeit.
Nach diesem erfreulichen Zufallstreffen setzten wir unseren Rückmarsch fort, und um 12 Uhr erreichen wir Korophon, das Lager unterhalb der Moräne des Biafo-Gletschers, wo sich die Trinkwasserquelle befindet, aus der ich bereits beim Hinmarsch undesinfiziert getrunken hatte. Wiederum sind die weidenden Dzos anwesend. In der Fortsetzung des Weges queren wir abermals die mautpflichtige Brücke, aber der Kassierer ist dort schon abgezogen. Um 15.30 h erreichen wir Askoli. Dort tönen aus den Lautsprechern der kleinen Moschee tibetisch klingende Gesänge, die an der riesigen Felswand gegenüber vom Dorf als faszinierender Effekt wiederhallen. Eine seltsame Stimmung scheint mir hier zu herrschen! Manzoor erklärt uns, es sei heute Totengedenktag. Ein verdächtig krank dreinschauendes Huhn wird bei unserer Ankunft kurzerhand geschächtet. Ebendieses wird uns später mit Pommes Frites serviert. Mit dem Fleisch habe ich irgendwie Probleme, der Zustand des Tieres kurz vor dessen Ableben hat mir gar nicht gefallen.
Alsdann erfolgt die Auszahlung unserer Träger. Wir sitzen zu viert (mit Manzoor) in einem Hauszelt, den Taschenrechner auf dem Tisch und die Namenlisten vor uns. Es ist eine leidige Rechnerei, aus besagten Gründen, weil ja fast jeder Träger anders bezahlt werden muss, sei es, ob er erst später eingestellt wurde, sei es, ob er mit oben in den Basecamps war oder sonstige Varianten. Wir kommen uns vor wie die Herren einer südafrikanischen Mine am Monatsende. Erst Rechnen, dann wird der Name der entsprechenden Person aufgerufen, und der tritt dann ein, um Geld und Trinkgeld zu empfangen. Anhand der Reaktionen unserer Mannschaft ist ersichtlich, dass die Jungs vollauf zufrieden sind mit dem Trinkgeld, das wir ihnen zum normalen Lohn drauflegen. Zum Schluss verteilen wir noch alles an Lebensmitteln und Gebrauchgegenständen, was vom Trek noch übriggeblieben ist. Fida Hussain, dieser schlitzohrige Gauner, reißt sich gleich das begehrteste Stück, den Kocher, unter den Nagel. Tobias und Peter wollen eingreifen und für Gerechtigkeit sorgen. Ich winke ab. Spätestens, wenn wir Askoli verlassen haben, wird sich Fida Hussain den Kocher wieder zurückholen. Er war uns während des Treks dadurch aufgefallen, dass er seine Nase immer zuvorderst hatte, egal, um was es sich drehte. Er war der unangefochtene Wortführer in unserer Trägercrew und gehört zu der Sorte Mensch, die sich selbst die Nächsten sind und dies mit absoluter Zielstrebigkeit durchzusetzen wissen. Unsere Jeeps stehen jedenfalls bereit und wir beschließen, heute noch nach Skardu zurückzukehren, was dann allerdings eine Nachtfahrt unumgänglich macht. Mit herzlichen Umarmungen verabschieden wir uns zuvor noch von unserer treuen Mannschaft.
Um 18 Uhr verlassen wir Askoli. Noch ist es Abend, doch bald schon fahren wir im Stockfinstern. Diese Nachtfahrt hat für uns durchaus etwas Reizvolles und meiner Meinung nach ist sie nicht gefährlicher, als tagsüber zu fahren. Schnell geht´s bei den gegebenen Bedingungen ohnehin nicht und die Fahrzeugscheinwerfer reichen vollkommen aus, um die riskante Wegstrecke genügend gut auszuleuchten. Etwas nervig sind die á-capella-Gesänge eines Männerchors, die aus dem Lautsprecher des Autoradios tönen, eine Kassette unseres Fahrers. Am kribbligsten sind die zahlreichen Hängebrückenüberquerungen. Irgendwie vermittelt uns das Innere des Fahrzeugs ein Gefühl von Geborgenheit im Gegensatz zum Dunkel und der Frische der Nacht und der Einsamkeit der von uns durchfahrenen Wildnis, wo man sich um diese Uhrzeit als Ausgesetzter fast verloren vorkommen würde. Später, als wir uns schon fast wieder im Bereich der Dörfer befinden, halten wir noch zu einem Dinner, in einer schlecht beleuchteten Spelunke, wo hauptsächlich Kraftfahrer Einkehr halten, also nicht anderes, als eine Straßendhaba. Ich persönlich mag solche Kaschemmen.
Um 1.30 stehen wir schließlich vor dem verschlossenen Tor des Masherbrum-Hotels in Skardu. Und auch ansonsten ist der ganze Ort um diese Zeit mausetot. Wir müssen mehrfach rufen und klingeln, ehe der Nachtwächter aus seinem Tiefschlaf erwacht und uns endlich Einlass gewährt. Noch vor dem Zubettgehen wird die erste Dusche seit 11 Tagen genommen. Herrlich. Morgens geht´s dann zum Frühstücksbuffet, aber kulinarisch ist es uns ja auf unserer Tour niemals schlecht ergangen. Dafür gibt es aber durchaus noch weitere zivilisatorische Annehmlichkeiten, die so ein Mittelklassehotel zu bieten hat, und die wir nach 11 Tagen Wildnisaufenthalt durchaus zu schätzen wissen, so etwa einen echten Tisch, gepolsterte Stühle, geheizte Räume ....
In Skardu ist Feiertag, der Bazar hat nur teilweise geöffnet. Wir bummeln zunächst ein wenig durch den Ort, anschließend fahren wir mit Matin zum Büro von Shipton-Trekking. Spätnachmittags unternehmen wir schließlich noch eine kleine Wanderung, die uns unter dem Kharpocho-Fort hindurch hoch über den Indus führt. Der exponiert in den Fels gesprengte Weg ist eindrucksvoll und senkt sich zum Schluss abwärts zu einem einsamen, mit Bäumen bestandenen Sandstrand. Der hellgraue, feinsandige und völlig unverspurte Strand kann durchaus mit den schönsten und einsamsten Karibik- oder Südseestränden gleichziehen. Das Flussbett des Indus ist hier von gewaltiger Größe und das Bewusstsein darüber, am Ufer dieses illustren, zu den drei großen, heiligen Flüssen Indiens gehörenden Stromes zu stehen, ebenfalls, wo ich doch schon in frühester Jugend davon gelesen und geträumt habe. Mir fallen meine Barthaare wieder ein, die ich vor zwei Jahren feierlich dem Zanskar-River übergeben habe. Sind sie hier vorbeigekommen? Oder sind sie in eine der zahlreichen Seichtstellen gespült worden, die dieser riesige Strom häufig in Ufernähe aufweist und die mitunter sogar Gegenströmungen bilden können? Wir schlendern gemütlich zurück, die milde Abendsonne wärmt uns angenehm, und taucht Stadt und Landschaft in zartes Gold. Vom Felsbandweg aus geniessen wir ein letztes Mal das großartige Panorama über die mit viel Grün gesegnete Ortschaft Skardu hinweg rüber zu staubtrockenen, ockerfarbenen Bergen und zum alles beherrschenden, milchkaffebraunen Strom des heiligen Indus. Was für ein malerisches und erfüllendes Finale einer großartigen Trekkingtour!
In Skardu treffen wir viele Bekannte, die wir entweder bereits bei unserer ersten Ankunft dort, oder aber im Verlauf unserer Trekkingtour kennengelernt haben. Mir scheint es jedenfalls so, als würden wir inzwischen halb Skardu kennen. Zudem passiert es immer wieder, dass wildfremde Männer uns auf der Straße die Hand reichen und nach unserer Herkunft fragen, ob es uns gefällt hier in Pakistan und ähnliche Höflichkeiten. In vielen anderen Ländern ist es so, dass, wenn mir ein Fremder die Hand reicht, bei mir sämtliche Alarmglocken läuten, denn in den meisten Fällen will er mir dann etwas verkaufen, mich in irgendein Hotel schleppen oder sonstwie versuchen, aus mir Profit zu schlagen. Hier in Pakistan ist das meistens anders. Sogar in der Grossstadt Rawalpindi suchen immer wieder Leute Kontakt zu Fremden aus reiner Neugier und Gastfreundschaft. Zum Abschied folgen stets Glückwünsche. Ich muss daran denken, was über Afghanistan von den Besuchern, die in den 60er und 70er-Jahren, als das Land noch halbwegs befriedet war, berichtet wurde. Afghanistan sei das gastfreundlichste Land der Welt, hieß es immer wieder. Auf der anderen Seite wurde auch oft von beinahe-Steinigungen und ernsthaften Bedrohungen berichtet, wenn der Reisende zur falschen Zeit am falschen Ort war. Nun, Afghanistan und Pakistan sind Nachbarländer, und haben sicher bis in die heutige Zeit hinein vieles gemeinsam. Das letzte Abendessen in Skardu nehmen wir im Dewan-e-Kes Family Restaurant ein, nachdem wir es im K2-Hotel bei einem Getränk im Garten belassen haben.
Unser Rückflug mit der PIA klappt – wie befürchtet – abermals nicht, dafür kann uns Manzoor einen Privatbus besorgen zum Preis knapp über dem für den Public-Bus. Mit von der Partie wird Dave Stamboulis sein, den wir in Concordia kennengelernt haben. Dave ist Reisefotograf und Autor von Reisebüchern, US-Staatsbürger, mit derzeitigem Hauptwohnsitz in Bangkok und hat sich in erster Linie auf Asien spezialisiert. http://www.davestamboulis.com/
Frühmorgens starten wir. Es heißt nun für Peter, Manzoor und mich, von unserem lieben Gefährten Tobias Abschied zu nehmen. Er wird sich noch ein Weilchen länger in Pakistan aufhalten. Über Gilgit will er noch ins Hunza-Land hinaufreisen, um dort eine weitere Trekkingtour zu unternehmen. Ich beneide ihn, auch für seinen vorangegangenen Besuch des Nanga Parbat. Unser Bus konnte noch mit anderen Fahrgästen, auch Einheimischen, besetzt werden, aber fast jeder Passagier okkupiert einen Doppelplatz. Gestern wurde mit dem Fahrzeug eine größere Gruppe Spanier nach Skardu verbracht. Die Rückfahrt dauert erwartungsgemäss lange, ist aber ein landschaftlicher Genuss. So bekommen wir sozusagen zum Abschied auch noch den Nanga Parbat zu sehen, etwas diesig, aber dennoch gut sichtbar von der Skardu-Road aus, nahe der Bifurkation mit dem Karakorum Highway. Ein Schild an der Straße deklariert den Berg in reißerischer Manier mit "Nanga Parbat – the killer mountain". Nachts fährt unser Bus durchs buchstäblich wilde Kohistan. Die Kohistani geniessen den gleichen Status, wie die Volksgruppen der North-Western-Territories an der Grenze zu Afghanistan. Wie die dortigen Paschtunen leben auch die Kohistani allein nach ihren Stammesgesetzen und damit nach ihrem eigenen Ehrenkodex. Der pakistanische Staat sucht dabei den Konsens, dass wenigstens öffentliche Straßen und die großen Städte unter staatlicher Kontrolle bleiben. So sind diese Gebiete wohl Pakistan, genauer betrachtet aber eigentlich doch nicht.
Die Talibanbewegung wird übrigens zu 99 Prozent von der Volksgruppe der Paschtunen getragen. Wenn man die Handlungsweisen der Taliban betrachtet, und sich einmal den paschtunischen Ehrenkodex, den Pashtunwali, anschaut, so liegt wohl nahe, dass diese übertrieben harten Sitten und Gesetze vermutlich nicht rein religiös, also auf dem Koran begründet sind, sondern dass diese für uns oft so unverständlichen Handlungsweisen auch von der rigorosen Anwendung des Pashtunwali herrühren. Fakt ist für mich persönlich jedenfalls: der Koran wird für die radikal-islamischen Auswüchse im gleichen Maße missbraucht, wie die Bibel einst in Zeiten der mittelalterlichen Inquisition. Der Pashtunwali hat allerdings ebenfalls äußerst tugendhafte Vorschriften: so wird etwa das Gastrecht über alles andere erhoben, und wenn dieses einmal gewährt ist, wird es, wenn es sein muss, mit dem Einsatz des eigenen Lebens, dem Verzicht sämtlicher Besitztümer, oder Verluste in der eigenen Familie aufrechterhalten. Die Pashtunen hatten damals die Auslieferung ihres Gastes Osama Bin Laden verweigert, obwohl sie genau wussten, dass dadurch die Intervention durch die Amerikaner und das vorläufige Ende der Talibanherrschaft in Afghanistan unabwendbar wird.
Insbesondere wegen des blutigen Durchgreifens in der Roten Moschee von Islamabad vor wenigen Wochen soll die Stimmung in Kohistan – und nicht nur dort – derzeit äußerst gereizt sein. Jedenfalls fahren wir im Konvoi von etwa zehn LKWs, und alle 10 Minuten passieren wir einen Militärposten, was einerseits gewisse Bedenken aufkommen lässt, andererseits aber auch wieder beruhigt. Noch in der Nacht müssen wir die Fahrgäste eines liegengebliebenen Busses aufnehmen, vorbei ist es nun mit den bequemen Zweier-Sitzplätzen. Jetzt ist sogar noch der Gang voll besetzt. Von den Einheimischen würde übrigens niemals jemand auf die Idee kommen, einen solchen Zustand zu kritisieren. Es ist selbstverständlich, dass man in einer solchen Situation andere Leute bis zum Zerbersten und auf Kosten der eigenen Bequemlichkeit aufnimmt. Ich habe Ähnliches auch schon etwa auf Busfahrten im tibeto-indischen Spiti erlebt.
Frühmorgens kurven wir wieder durch´s grüne Hügelland, das Karakorum-Gebirge liegt nun hinter uns, den gleichnamigen Highway haben wir hingegen noch nicht verlassen. Die Siedlungsdichte hat hier wieder zugenommen, überhaupt scheint hier fast alles anders, als dort, wo wir herkommen – aus Baltistan. Wir erreichen Rawalpindi schließlich um 12.15 h und beziehen Quartier im Hotel "Regent", welches sich in etwa zwischen Sadhar-Bazar und Raja-Bazar befindet. Es ist wesentlich billiger, als das "Paradise" und in Ausstattung und Service gleich gut.
Zurück in Rawalpindi haben wir unseren letzten Pflichtgang in Pakistan zu tätigen, nämlich den Rapport bei Mr. Tharek vom Alpine Club. So, wie schon bei unserer Ankunft, ist es auch diesmal wieder ein Vergnügen, sich mit diesem so enthusiastisch an der pakistanischen Bergwelt hängenden Herrn zu unterhalten. Auch Umweltfragen werden dabei wiederum aufgegriffen. Ansonsten heißt Rawalpindi für uns nur noch entspannen, bummeln, besichtigen, wenngleich für Letzteres nicht viel Angebot vorhanden ist. Sehenswert ist auf jeden Fall die vom saudischen König gestiftete Faisal-Moschee in Islamabad, ein Wunderwerk moderner Bautechnik. Es ist dies die größte Moschee Pakistans und sie soll zudem die größte geschlossenen Moschee der Welt sein. Hinter der Moschee erheben sich die Margallah-Hills, ein wunderbares Naherholungsziel für die Städter, wo auch ausgedehnte Wanderungen möglich sind. Der von einer gepflegten Parkanlage gesäumte Aussichtspunkt bietet fantastische Aussichten über Islamabad und Rawalpindi, sowie darüber hinweg, wo das weite Flachland mit der Diesigkeit des Horizonts verschmilzt. In Islamabad finden wir einen ausgezeichneten Bücherladen, der sein Riesenangebot über drei Stockwerke verteilt. Bücher sind in Pakistan übrigens spottbillig. Auch in den Raja-Bazar zieht´s uns, des bunten Treibens wegen, Einkaufen selbst empfiehlt sich eher im Saddar-Bazar, da die Qualität dort laut Manzoor besser sein soll. Zum Essen geht´s am ersten Abend zusammen mit Dave ins Jahangir, wo man unter freiem Himmel eine gute einheimische Küche genießen kann. Anschließend begleiten wir Dave zum "Flashman". Es soll der einzige Ort in Rawalpindi sein, wo es Alkohol zu kaufen gibt. Und zwar im Hinterhof eines feudalen Hotels, versteckt in einem schlecht beleuchteten Lagerschuppen. Wir kommen uns dabei beinahe vor, wie Schwarzmarktkäufer zu Zeiten der amerikanischen Prohibition in den 20er-Jahren. Für den letzten Abend hat uns Mr. Manzoor eingeladen, auch Dave wird gebeten, uns zu begleiten. Manzoor führt uns ins nobelste Restaurant der Stadt, ein untrügliches Zeichen dafür, dass auch er mit uns zufrieden war. Zum Diner im Continental Pearl erscheine ich – sehr zur Freude von Manzoor – im traditionellen, auf dem Saddar-Bazar erstandenen Shalwar Kamiz. Im Continental Pearl dinieren die Reichen und Einflussreichen des Landes. Und ich will nicht unerwähnt lassen, wie gut uns die Frauen dort gefallen haben. Viele sind in westlicher Mode gekleidet, einige auch traditionell, aber fast alle ohne Schleier, bildhübsche Gesichter, mit wunderschön langen Haaren, wahre Prinzessinnen des Orients, doch in diesen Kreisen gelten wir als arme Schlucker, noch dazu ohne Ständezugehörigkeit, chancenlos!
In Allerherrgottsfrühe brausen wir durch den noch dunklen Morgen per Taxi gen Flughafen. Manzoor begleitet uns bis zur Abflughalle. Dieser Mann hat uns von der ersten bis zur letzten Minute auf unserer großartigen Reise begleitet, und war stets darauf bedacht, uns dabei das Bestmögliche zu bieten. Wir verabschieden uns von einem prächtigen Menschen und souveränen Führer, und von einem Land, das bei uns zuhause fast nur noch im Zusammenhang mit Ausbildungslagern für Terroristen, grausigen Bombenattentaten und Sammelbecken von feindseeligen Extremisten Eingang in die Medien findet. Wir jedenfalls durften eine ganz andere Seite von Pakistan kennenlernen. Wir verlassen ein Land, wo Gastfreundschaft einen Stellenwert hat, wie kaum noch anderswo, ein Land, in dem uns die Menschen fast immer freundlich und aufgeschlossen empfangen haben, ein Land mit einer Bergwelt, wie es sie auf diesem Planeten kein zweites Mal mehr gibt.
Baltistan gehört wohl zu den abgelegensten und am schwersten zugänglichen von Menschen bewohnten Flecken auf dieser Erde. In Pakistans Provinz Northern Areas eingebunden, und zwischen China, Indien und Kaschmir eingezwängt, ist es eine reine Bergregion. Auch wenn die Zugänge in jüngerer Zeit durch den Bau des KKH (Karakorum Highway) und der Skardu Road erleichtert und auch für Motorfahrzeuge erreichbar gemacht wurde: wer einmal den Landweg von Islamabad/Rawalpindi hinauf nach Skardu genommen hat, der weiß, wovon ich rede, ganz zu schweigen von der halsbrecherischen Jeepstrecke zwischen Skardu und dem Dorf Askoli, dem Startpunkt für den Baltoro-Trek. Der Himalaya wird gemeinhin als das höchste Gebirge der Welt angesehen. 10 von 14 Achttausender-Gipfeln stehen dort, darunter der Höchste, Mount Everest mit 8848 m Höhe. Das sich im Nordwesten anschließende Karakorum ist flächenmäßig viel kleiner, als der Himalaya. Dennoch stehen die verbliebenen 4 der 14 Achttausender allesamt im Karakorum. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich alle vier Karakorum-Achttausender, darunter der K2, zweithöchster Berg der Welt, praktisch in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander befinden, so wird klar, die Baltoro-Muztagh-Gruppe ist definitiv das höchste Bergmassiv auf diesem Planeten. Dieses Gebiet, das Zentrum des Karakorum, ist schon längst nicht mehr nur für große Bergsteigerexpeditionen zugänglich. Die Trekkingtour über den Baltoro-Gletscher hinauf zum Basislager des K2 ist für höhentaugliche, gesunde und fitte Wanderer im Rahmen einer zwei- bis dreiwöchigen Trekkingtour gut durchführbar.
Dass die politischen Grenzen auf dem indischen Subkontinent keine glücklichen sind, zeigte sich schon bald nach dem Abzug der Engländer, als sich Pakistan nach einem kurzen, aber blutigen und mit Völkermord auf beiden Seiten einhergehenden Bürgerkrieg von Indien lossagte (Partition). Kurz darauf wurde die Gründung des Staates Bangladesh, damals zunächst Ost-Pakistan, ebenfalls durch Bürgerkrieg erzwungen. Der Punjab wird durch die indisch-pakistanische Landesgrenze zerschnitten. Die Bergprovinz Kaschmir bleibt bis auf den heutigen Tag Konfliktherd zwischen den Atommächten Pakistan und Indien. Durch letztgenannte Situation büßte die Hauptstadt Baltistans, Skardu, ihre Bedeutung als Handelsplatz ein, und die Verbindung zur ethnischen Verwandtschaft im indischen Ladakh wurde gekappt. Dass Baltistan und sein Hauptstädtlein seitdem dennoch nicht vollkommen ins Wachkoma verfallen sind, ist dem sich bereits in den Dreißiger Jahren dort kontinuierlich etablierten Bergtourismus zu verdanken.
Wenn man in die Gesichter der Baltis schaut, scheint in ethnischer Hinsicht zunächst nichts oder nur wenig auf die Verwandtschaft mit den tibetischen Nachbarn in Ladakh oder im chinesisch okkupierten Tibet hinzuweisen. Auch den Buddhismus haben sich die Baltis schon vor Jahrhunderten abgestreift, und sind stattdessen zur Lehre des Propheten konvertiert. Ein klarer Beweis einer Relation ist aber die Sprache, denn "Balti-Language" ist ein tibetischer Dialekt, der mit der offiziellen pakistanischen Verkehrssprache Urdu etwa soviel wie Deutsch mit Chinesisch gemeinsam hat. Der aufmerksame Reisende, insbesondere wenn er bereits in den tibetischen Gebieten des Himalaya unterwegs war, wird aber noch viele weitere Indizien für die tibetische Herkunft der Baltis entdecken. Ich werde versuchen, einige davon im Verlaufe meines Berichtes aufzuzeigen. Bezüglich der Religion ist es noch wissenswert, dass die Baltis, im Gegensatz zur in Pakistan dominierenden Mehrheit der Sunniten, Schiiten sind, was wegen der ständig auf´s Neue aufkeimenden blutigen Konflikte zwischen den beiden Glaubensgruppen eine mitunter fatale Rolle spielt. Man sollte deshalb nicht gleich erschrecken, wenn etwa, wie von uns gesehen, in einem Lebensmittelladen in Skardu das Bild des Ayatollah Khomeini an der Wand prangt, oder ein Banner über der kleinen Moschee von Askoli die Aussage "Live like Ali, die like Hussain" skandiert. Die gefährliche politische Situation der baltischen Schiiten als ständig bedrohte Minderheit muss meiner Einschätzung nach zwangsläufig zu einem Identifikationsbedürfnis und zum Anlehnen an eine starke Schutzmacht führen, und muss vielleicht nicht unbedingt einen undifferenzierten Hass auf den Westen signalisieren.
Die abenteuerliche Alpingeschichte des Karakorum hat bekanntermaßen unzählige Bücher gefüllt. Hierbei einen historischen Abriss zu versuchen, würde kein zufriedenstellendes Resultat erbringen. Daher empfehle ich diesbezüglich Interessierten, mit einem oder mehreren der vielen bereits geschriebenen Bücher vorlieb zu nehmen. Kurze Anmerkung: der Nanga Parbat, bekannt auch als Schicksalsberg der Deutschen, obwohl ebenfalls in Pakistan stehend, gehört nicht ins Karakorum. Der Nanga Parbat ist der westlichste Achttausender des Himalaya und wer den Karakorum Highway hinauffährt, wird irgendwann oberhalb der Abzweigung zur legendären Fairy(tale) Meadows (Märchenwiese) zur eigens als Aussichts- und Fotopunkt eingerichteten Stelle kommen, wo sich die drei großen Gebirge Zentralasiens treffen: Hindukusch, Karakorum und Himalaya. Bei gutem Wetter kann man von dort aus den Nanga Parbat sehen.
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Zugegeben, ich habe diesmal ein etwas mulmiges Gefühl. Pakistan hat in seiner kurzen Geschichte wohl noch nie so richtig zu den sicheren Reiseländern auf dieser Erde gehört, und wenn man die aktuellen Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes liest, scheint es dort derzeit mehr Landesteile zu geben, in denen man sich als westlicher Ausländer besser nicht blicken lässt, als Gegenden mit relativer Sicherheit. Dennoch stand dort ausdrücklich zu lesen: Nanga Parbat, Hunza und Baltistan sind ruhig. Doch um das gelobte Land zu erreichen, bleibt einem oftmals der Weg durch weniger sichere Provinzen zumindest in Teiletappen nicht erspart, oder man kommt bei der Einreise per Flugzeug zunächst in Islamabad an, welches heuer leider alles Andere als im Ruf eines Friedenshortes steht. Exakt eine Woche vor meinem Abflug stürmte die pakistanische Armee die zuvor von religiös motivierten Extremisten besetzte Lal Masjid (Rote Moschee) mitten im Stadtgebiet. Offiziell gab es 70 Tote, wie viele es wirklich waren, bleibt Spekulation. Genau einen Tag vor meinem Flug kam es dann noch zu einem Selbstmordattentat im Sektor F 8 der Stadt. Beim Umsteigen in Doha (Katar) in die Maschine nach Islamabad mache ich außer mir keinen weiteren Ausländer aus. Wo, zum Kuckuck, steckt Peter Krämer? Hat er zu guter Letzt die Hosen voll gekriegt und die Reise wegen der jüngsten Vorfälle doch noch abgeblasen? Na, das wäre ja nicht ganz unverständlich! Dann wäre ich wohl der einzig verbliebene Depp, der jetzt noch nach Islamabad reist. Doch zu guter Letzt fällt mir ein Stein vom Herzen, als ich in der Warteschlange vor der Immigration in Islamabad stehe und ein junger, deutsch aussehender Mann auf mich zukommt, der auf dem Hinflug übrigens von den selben Gedanken geplagt war, wie ich. Der Grund, warum wir uns in Doha nicht gefunden haben, war die Tatsache, dass das Abfluggate bis zum Schluss hin nicht angeschrieben stand. Ich selbst habe mich an der an einem Gate anstehenden Menge von Leuten orientiert, die alle pakistanisches Aussehen hatten, und dort gefragt.
Mr. Manzoor, unser pakistanischer Führer, soll uns vom Flughafen abholen, und da wir, wie gesagt, die einzigen westlichen Ausländer zu sein scheinen, müsste er uns wohl schnell erkennen, sobald wir den Arrival-Sektor verlassen. Wohl mehr als hundert Leute warten dort, doch es interessiert sich niemand für uns. Selbst die in vergleichbaren Ländern so lästigen Kofferträger, Taxifahrer, Hotelschlepper und sonstigen "Dienstleute" scheinen hier zu fehlen. Und niemand, der vielleicht ein Schildchen mit unseren Namen oder dem Hinweis "Shipton-Trekking" hochhält, oder der uns zuwinkt. Wir beschließen, uns zu teilen. Einer links, der andere rechts hinaus, damit wir ja nicht übersehen werden. Ratlos treffen wir gleich danach wieder zusammen. Doch dann löst sich doch noch jemand aus der Menge. Ein untersetztes, gedrungenes Männlein in einen landestypischen, schneeweißen Shalwar Kamiz gekleidet, fragt nach unseren Namen. Was sind wir erleichtert. Er habe drei Personen erwartet, entschuldigt sich Manzoor, denn er wusste nicht, dass unser dritter Mann, Tobias Selinger, bereits seit über eine Woche im Land weilt und sehnsüchtig in Skardu unser Eintreffen erwartet.
Hätte er nicht die Reverenzen von Barbara Hirschbichler, ich hätte unserem Manzoor auf Anhieb wohl keine allzu große Bergtauglichkeit zugetraut. Doch dieses so unscheinbar wirkende Männnlein ist bereits seit 20 Jahren Führer im Baltoro-Gebiet und war schon mit Berühmtheiten wie Kurt Albert und dem unlängst bei einem Autounfall verstorbenen Wolfgang Güllich auf Expedition. Für alle Nicht-Bergsteiger möchte ich noch erwähnen, dass Wolfgang Güllich die Stunts im bekannten Kinoknüller "Cliffhanger" für Silvester Stallone gespielt hat.
Manzoor ist ein besonderer Mann und ein besonderer Führer. Wir haben ihm während unseres Pakistan-Aufenthaltes fast alles zu verdanken, doch davon nach und nach. Zunächst brausen wir per Taxi hinein nach Rawalpindi. Die Nachbarstadt von Islamabad hat für ankommende Touristen viele Vorteile. So sind die Hotels dort viel billiger, als in der Hauptstadt. Da es die Islamisten in erster Linie auf´s Establissement abgesehen haben, sind potentielle Anschläge zudem vor allem in Islamabad selbst, und nicht im volksgeprägten Rawalpindi zu erwarten. Obwohl Rawalpindi (ebenso wie Islamabad) über keine nennenswerten touristischen Sehenswürdigkeiten verfügt, entspricht das Treiben in der Stadt, besonders in den Basarvierteln, dem bunten und exotischen Bild einer typischen südasiatischen Metropole. Wir kommen für 2000 Rupien die Nacht im Hotel "Paradise Inn" im Saddar Bazaar unter. Nachdem wir Quartier genommen haben, erfolgt eine kurze Besprechung mit Manzoor, denn vorab sind einige bürokratische Gänge zu tätigen. Beim Trekking in Pakistan wird zwischen "Open Zone" und "Restricted Area" unterschieden. Die Open Zones sind weder genehmigungspflichtig, noch braucht man dafür zwingend einen Führer. Bei den Restricted Areas sind Permit und ein staatlich registrierter Guide (Führer) Pflicht. Da der Baltoro-Trek ins Grenzgebiet zu China und Indien führt, zählt er zu den Restricted Areas. Man hat hierzu im Ministerium für Tourismus in Islamabad mitsamt Führer zu einem sogenannten "briefing" zu erscheinen. Zu diesem Briefing sind einige Papiere und Passfotos nötig. Zudem ist für die anzuheuernden Porter (Träger) eine Versicherung abzuschließen. Nach Beendigung des Trekking hat man wiederum zum "debriefing" anzutanzen. Da Tobias extra wegen dieser Prozedur nicht noch mal nach Islamabad zurückkehren wollte, werden wir das Briefing ohne ihn erledigen. Aus Sicherheitsgründen und wegen der Zeitersparnis wollen wir zudem einen Inlandsflug von Islamabad nach Skardu buchen, weshalb wir diesbezüglich noch zum Büro der Fluggesellschaft PIA müssen.
So sind wir dann auch den ganzen Vormittag über auf Achse, leider nur mit mäßigem Erfolg. Als wir im Büro der Versicherung eintreffen, ist gerade Stromausfall. Stromausfälle sind ein Ungemach, das in den Städten des indischen Subkontinents zum alltäglichen Leben gehört. So ist es dort selbstverständlich, dass die Leute stets Lampen oder Kerzen zur Hand haben, zumal diese Ausfälle für gewöhnlich mehrmals am Tag geschehen. Wir gehen zur Bank, um das Geld für die Versicherung einzuzahlen. Dort besteht ein sturer Angestellter darauf, dass die Summe in Dollars eingezahlt werden muss. Wir haben doch gerade eben alles in Rupien gewechselt. Auch Euros will er nicht. Zurückwechseln muss man das Geld wiederum beim Money Changer (Geldwechsler), die Bank ist dafür angeblich nicht zuständig. Nun, ich bin ja nicht zum ersten Mal in so einem Land, derartige Ärgernisse erlebt man häufig, scheinen sogar eher die Regel als die Ausnahme, und unabänderlich und je besser es einem gelingt, dabei Ruhe zu bewahren, um so mehr tut man sich selbst einen Gefallen, denn, wie gesagt, so läuft das eben hier. Wir benötigen noch Fotokopien vom inzwischen geschriebenen Antrag für das Briefing. Typisch Asien, die Kopiermaschine steht mitten auf offener Strasse, in direkter Nachbarschaft zum Herrn mit der dieselknatternden Zuckerrohrpresse, ein Strassenfriseur seift weiter drüben gerade einen Kunden ein. Der beißende Holzkohlenrauch eines schmuddelig aussehenden, nahen Essensstandes zieht zu uns her, das Geschirr wird von einem Bediensteten in der Rinne an einem Wasserhahn gewaschen, zwischen hupenden Autos, knatternden Dreiradrikschas (hier Quinquis genannt) und pedalbetriebenen Verkaufsständen fliegender Händler, die ununterbrochen klingelnd im Slalom ihr Weiterkommen im mittäglichen Verkehrsaufkommen suchen. Menschen drängen sich überall. Mit und ohne Turban, alte Männer mit langen Bärten, in gebeugter Haltung auf Stöcke gestützt, Frauen verschleiert, oder ihren Sari auch offen tragend, niemals aber in westlicher Kleidung. Auch die Männer tragen fast alle ihren traditionellen Shalwar Kamiz. Dieses Chaos, ich liebe es und ich hasse es, dennoch erscheint es mir hier im Vergleich zu Delhi noch relativ gebändigt. Und was ich vermisse, ist der Duft der Räucherkerzen. Der Schweiß der drückenden Affenhitze rinnt uns über die Gesichter, das Hemd klebt am gebadeten Leib. Die Sehnsucht nach der frischen und klaren Bergluft des Karakorum überkommt uns ...
Die Berge müssen warten, das Briefing kann frühestens morgen früh stattfinden. Tobias hängt ungeduldig in Skardu herum, wir müssen ihn vertrösten. Dafür soll er von uns eine nagelneue Olympic bekommen, die wir für ihn hier in Rawalpindi auftreiben können. Die von ihm aus Deutschland mitgebrachte war ihm während der ersten Woche kaputt gegangen. Hier in Pakistan sind solche Artikel übrigens mindestens genauso teuer, wie in Deutschland, aber als leidenschaftlicher Fotograf kann er eben nicht ohne seine Olypmpic, und schon gar nicht ganz ohne Fotoapparat. Die Warterei hat für ihn derzeit dennoch einen Vorteil: er kann sich von den in der Vorwoche zugezogenen Krankheiten und Plagen kurieren. So muss er sich derzeit noch mit einem Flohzirkus herumbalgen und die Verdauung ist auf schnellen Durchmarsch getunt.
Auch am nächsten Tag werden wir nicht fertig. Es ist Freitag und in islamischen Ländern bekanntermaßen Sonntag. Nach dem Freitagsgebet um 12 Uhr hat man in Amtsstuben und größeren Läden praktisch keine Chance. So sind bei unserem Eintreffen im Ministerium die zuständigen Beamten bereits weg, im Nachbarbüro werden wir noch kurz zum Tee gebeten. Die beiden Herren sind neugierig und freundlich. Über uns an der Wand hängt ein Bild der 79er-Expedition von Reinhold Messner und Friedel Mutschlechner, als die Beiden den Gipfel des K2 ohne Zuhilfenahme von Sauerstoff und Hochträgern im Alpinstil bezwangen, was vor ihnen noch niemand gewagt hat. Wir werden zum Schluss noch darüber informiert, dass es genügen würde, wenn morgen nur Manzoor hier erschiene. Gemeinsam müssen wir dann aber anschließend zum Büro des Alpine Club of Pakistan. Die Regelung, dass das eigentliche Briefing, wo zumindest der ernannte "leader" (Anführer) der Gruppe (in diesem Falle Peter) mit dem guide zu erscheinen hat, im Alpine Club und nicht mehr im Ministerium stattfindet, ist neu, und im Nachhinein betrachtet auch sinnvoll. Die Beamten im Ministerium sind Bürokraten, die weder Interesse noch Ahnung von der Bergwelt Pakistans und den dort vorherrschenden Probleme haben, ganz im Gegensatz zu den Leuten vom Alpine Club, die alle selbst Bergsteiger sind, und deren Anliegen auch ganz im Sinne des dringend nötigen Umweltschutzes stehen. Expeditionen hingegen müssen sich weiterhin mit den Bürohengsten des Ministerium herumärgern, wo man die Wartenden nach Erfahrung eines guten Freundes erst mal Ewigkeiten lang im Gang versauern lässt, und auch Manzoor spricht sich nicht gerade löblich darüber aus, wie willkürlich dort oft mit den Antragstellern umgegangen wird. Wir fahren wieder zurück nach Rawalpindi. Entgegen meiner Erwartungen sind im Stadtgebiet von Islamabad zwar an vielen Ecken Sicherheitskräfte präsent, es gibt jedoch keine Straßensperren oder Kontrollen.
Den Nachmittag und den Abend verbringen Peter und ich mit Herumstöbern in verschiedenen Läden des Sadar Bazaar und mit einem Besuch im Internetcafé. Im Netz steht zu lesen, dass die Überschreitung des Gondogoro La für die Saison 2007 nicht mehr möglich wäre, da der Gletscher abgerutscht sei und eine riesige, unpassierbare Spalte aufgerissen habe. Manzoor hatte diesbezüglich schon Andeutungen gemacht, allerdings schloss er die Möglichkeit der Passüberquerung noch nicht vollständig aus. Die Überschreitung des 5700 m hohen Gondogoro La steht im Ruf einer anspruchvollen, hochalpinen Begehung, bei der, je nach Bedingungen, Pickel und Steigeisen nötig werden können. Sie wäre bezüglich der großen Höhe und von den Anforderungen her eines der Highlights unserer Tour gewesen. Zudem wechselt man das Tal, d.h. man muss nicht den gleichen Weg über den Baltoro-Gletscher zurück nach Askole nehmen, sondern gelangt ins Hushe-Tal und kehrt von dort aus per Jeep nach Skardu zurück.
Ein paar Musiker ziehen trommelnd, mit bunten Turbanen um ihre Köpfe gewunden durch die Straßen. Der vom Präsidenten Pervez Musharraf erst kürzlich gefeuerte Justizminister sei wieder eingesetzt, erklären uns die Leute. Da General Musharaf seine Macht durch einen Militärputsch manifestiert hat, wird dieser Akt von vielen Leuten als ein erster Schritt zur versprochenen Rückkehr in die Demokratie gedeutet. Wir erleben keine Krawalle, sondern viele erfreute Menschen, die mit Böllern und Raketen ein kleines Volksfest inszenieren. In einer Buchhandlung finde ich meine Lektüre für unterwegs: "burial at sea" vom indischen Autor Kushwandt Singh. Bücher sind übrigens traumhaft billig, doch ich will mit weiteren Einkäufen noch warten, bis wir von unserer Trekkingtour zurückgekehrt sind. Gegen 22.30 h entlädt sich ein heftiges Monsungewitter, die Straßenzüge ersaufen vorübergehend in den Wasserfluten, und der Strom fällt natürlich auch wieder mal aus. Nur im benachbarten "Kentucky fried chicken" brennt kurioserweise weiter Licht. Ach ja, das Essen: wir haben unsere ersten Kostproben der pakistanischen Küche im Restaurant des "Paradise Inn" bereits folgenfrei verdaut, und ich muss sagen, das food hier schmeckt echt klasse! Ebenfalls köstlich war die frischen Mangoshakes, zu denen uns Manzoor eingeladen hatte. Wir hatten zuerst Bedenken, doch befürchtete Lateralschäden blieben auch hier Gott sei Dank aus.
Anderntags um 12.30 h ist es so weit: wir haben einen Termin zum Briefing im Alpine Club. Ein überaus sympathischer Herr mit einem schneeweißen Ayatollah-Bart empfängt uns. Mr. Tharek erweist sich als äußerst kompetenter und verständnisvoller Mensch. Er selbst ist ein eingefleischter Berggänger, mit über 40-jähriger Trekkingerfahrung. Wir führen ein wenig Smalltalk unter anderem über die großen Ereignisse an den 8000ern des Karakorum. Ich persönlich habe beim Briefing einen eher politischen Grund vermutet, so Richtung Staatsgeheimnis und Grenzverletzung, dass man vielleicht dazu vergattert wird, keinesfalls den vorgegebenen Weg zu verlassen, oder Aufklärung über Konsequenzen im Falle illegaler Grenzübertretungen erhält, doch Mr. Tharek kommt auf den wirklich einzigen Punkt zu sprechen, der ihm persönlich am Herzen liegt: die kritische Umweltsituation auf dem Baltoro-Gletscher, bedingt durch die hohe Frequentierung. Für dieses Jahr sind in den Bergen Pakistans allein 50 Expeditionen angemeldet, wir sind die Trekkinggruppe Nr. 149. Die große Mehrzahl dieser Trekkinggruppen und Expeditionen wird auf dem Baltoro-Gletscher unterwegs sein. Mr. Tharek sieht das Problem weniger bei den Touristen selbst, die, überwiegend aus Ländern mit einem generell hoch entwickelten Umweltbewußtsein kommend und meist auch mit einer verantwortungsbewussten Einstellung, ohnehin nur einen geringen Prozentsatz an der Gesamtzahl der durchmarschierenden Personen ausmachen. Auf jede Trekkinggruppe kommt in etwa die vier- bis fünffache Anzahl an Portern (Träger), vom enormen Personalaufwand der großen Expeditionen ganz zu schweigen. In den größeren Camps, welche sich nicht auf dem Gletscher befinden, wurden in den letzten Jahren Toilettenhäuschen eingerichtet, auf dem Gletscher selbst ist das bislang noch nicht möglich. Es wird immer noch nach geeigneten Lösungen gesucht. Den meisten Einheimischen, so auch den Trägern, fehlt es völlig an Umweltbewusstsein. Es mag auch sicher schwierig sein, Leuten, von denen manche nicht einmal die Schule besucht haben, den Sinn von Müllsammeln oder gar Prinzip und Idee des sogenannten sanften Tourismus zu vermitteln, zumal deren Englischkenntnisse, wenn überhaupt vorhanden, nur sehr rudimentär sind. Die Erziehung dieser Leute zu einer umweltgerechten Handlungsweise muss aber laut Mr. Tharek hauptsächlich über die Touristen erfolgen. Will heißen, wir haben dafür Sorge zu tragen, dass der durch unsere Trekkinggruppe verursachte Müll wieder mit uns ins Tal zurückkehrt und nicht etwa in der Landschaft liegen bleibt. Wir sind auch dazu angehalten, Verfehlungen zu kritisieren. Es ist wichtig, den Leuten bewusst zu machen, dass eine verschmutzte Landschaft Touristen vom Besuch einer Region abhalten kann, was schließlich zu einer direkten existenziellen Bedrohung der für den Tourismus arbeitenden Einheimischen führen würde.
Zu guter Letzt bekommen wir unsere Permit ausgehändigt. Peter Krämer wird kurzerhand zum "leader" unserer Gruppe ernannt und darf die denkwürdige Unterschrift unter das im feierlich-formalen Schreibstil gehaltene Dokument setzen. Der voraussichtliche Routenverlauf wurde von Mr. Manzoor verfasst, wobei er vorsorglich viele Varianten und Ausweichmöglichkeiten mit aufgenommen hat, um uns alle Optionen offenzuhalten. So etwa auch den noch schwierigeren Übergang über den Vigne-Pass als eventuelle Alternative zum Gondogoro La.
Mit dem Inlandsflug wird´s nix. Die Maschinen müssen den Flughafen von Skardu auf Sicht anfliegen, also genauso wie etwa die Flüge von Delhi nach Leh in Ladakh oder von Kathmandu nach Jommoson im Kali-Kandaki-Tal. Fällt dann ein Flug aus, was sehr häufig geschieht, dann wird am folgenden Tag zuerst die Passagierliste vom Vortag abgearbeitet. Der für uns frühestmöglich genannte Abflugtermin ist jedenfalls völlig inakzeptabel, da wir ohnehin schon zu viel Zeit verloren haben. Morgen früh werden wir den Local Bus nehmen und voraussichtlich zwischen 22 und 30 Stunden unterwegs sein, inshallah, wie Manzoor immer so schön zu sagen pflegt. Tobias muss abermals telefonisch vertröstet werden. Er hockt schon den vierten Tag dort oben in Skardu und erwartet innigst unser Eintreffen.
Ein landestypischer, heruntergekommen ausschauender Bus mit Steinschlagschäden an der Windschutzscheibe trägt den schillernden Namen "Masherbrum". Wer noch nie in Südasien gereist ist, mag einen Schrecken bekommen bei dem Gedanken, mit diesem Gefährt eine so lange Reise, noch dazu auf dem berühmt-berüchtigten Karakorum-Highway, anzutreten. Ich bleibe locker, ich kenne das schon, und auch für Peter ist das nicht neu, da er schließlich vor 11 Jahren einen ausgedehnten Süd/Südostasientrip unternommen hat, wobei er 9 Wochen nur allein in Nepal unterwegs war. Wie so üblich, wird das Gepäck auf´s Dach gehievt, gut verschnürt und per Plane vor eventuellen Monsunschauern und allzu viel Staub geschützt. Mit einer Stunde Verspätung starten wir dann um 17 Uhr. Es sitzen nur Männer im Bus, überwiegend Armeeangehörige, die in Baltistan stationiert sind. Wir sind die einzigen Ausländer. Die Leute hier sind kontaktfreudig und höflich, Aufdringlichkeiten haben wir bislang überhaupt keine erlebt. Man stelle sich das mal etwa in Indien vor! Wir fahren von Rawalpindi aus zunächst ein Stück weit, bis wir in der Abenddämmerung auf den legendären Karakorum Highway gelangen. Der scheint hier zumindest noch nicht so legendär und abenteuerlich, wie man ihn sich vielleicht vorstellen mag. Die Gegend ist noch relativ dicht besiedelt, wir passieren quirlige Straßenorte mit lebhaften Basaren, ringsherum saftig-grüne Hügellandschaft, die soeben ins goldgelbe Glühen der rasch versinkenden Tropensonne eingetaucht wird. Von den eisstrotzenden Bergketten des Karakorum, Himalaya oder Hindukusch ist hier weit und breit noch nichts zu sehen. So kurven wir die ganze Nacht hindurch, mein Höhenmesser zeigt dabei nur geringfügige Höhengewinne an. Ich denke an die ähnlich lange Strecke zwischen Manali und Delhi in Indien, wenn man aus dem Himalaya wieder in die Hauptstadt zurückkehrt. Auch dort kurvt man Ewigkeiten lang durch´s grüne Himalaya-Vorgebirge, bis man nach Stunden endgültig ins Flachland hinausfährt. Umgekehrt ist es genauso, wobei man in Manali ja immer noch nicht die richtig hohen Berge erreicht hat. In gewisser Hinsicht bin ich froh, dass wir nun doch auf dem Landweg ins Karakorum reisen, wenigstens für die Hinfahrt. Zum Einen natürlich wegen dem KKH, dann auch wegen der großartigen und abwechslungsreichen Landschaft, auch wenn man 8 bis 9 Stunden in der Dunkelheit zurücklegt, aber auch dieses intensive Erleben der Dimensionen, in die man sich begibt, sozusagen die angemessene Annäherung. Eine Reise zu den höchsten Gebirgen der Welt muss zwangsläufig mit einem gewaltigen Aufwand bei der Anfahrt verbunden sein, welcher sich schließlich und endlich auch in der Größe und Mächtigkeit der dortigen Berge wiederspiegelt. Verglichen mit den ersten Expeditionen in den Massiven Zentral- und Südasiens zu Zeiten, als hier noch gar keine Straßen existierten und man wochen- bis monatelang zu den jeweiligen Basislagern unterwegs war, ist es für uns ohnehin schon wieder viel zu einfach und bequem geworden.
Im fahlen Morgenlicht blicke ich mit müden und fast schon gleichgültigen Augen durch´s staubbehaftete Busfenster hinaus in eine sich jetzt vollkommen verwandelte Landschaft. Nichts mehr ist geblieben von dem satten Grün, stattdessen nun eine ockergelbe Bergwüste, Steine, Fels, Schutt, bizarre, karge Bergspitzen, dornige Büsche, nur wenige Bäume. Kaum noch streifen wir Ortschaften, und wenn, dann sind es nur winzige, staubgraue Gebirgsnester. Direkt unterhalb der schmalen Straßentrasse gähnt, steil und direkt abfallend, eine beeindruckende Schlucht. Milchkaffeefarbene Wassermassen wälzen sich unruhig durch das Flussbett. Ich habe einen alten Bekannten wieder gefunden, den Indus. Der Indus, einer der drei heiligen Ströme Indiens, Traum meiner frühen Jugend, er wird an unserer Seite bleiben bis hinauf nach Skardu. Vor zwei Jahren habe ich seine Spur verloren, beim Kloster Lamayuru, in Ladakh, in Indisch-Tibet. Unsere Fahrtrichtung führt entgegen des Flusslaufes und unser Ziel Skardu wäre zumindest kilometermäßig gar nicht mehr so weit entfernt von Ladakh. Allerdings weiß jeder, der schon mal per PKW oder LKW im Himalaya oder Karakorum unterwegs war, wie lange sich zum Beispiel 100 Kilometer auf diesen Straßen und unter den jeweiligen Konditionen hinziehen können. Zudem liegt zwischen Baltistan und Ladakh das geteilte und gefährliche Kaschmir, in besseren Zeiten von dessen Bewohnern und seinen Besuchern als das wahre Shangri-La gepriesen, heute auf unabsehbare Zeit politisches Krisengebiet und zudem noch unter den Folgen des furchtbaren Erdbebens um Weihnachten vor zwei Jahren leidend. Der KKH hat jetzt das Erscheinungsbild, wie ich ihn mir immer vorgestellt habe. Eine kurvenreiche, enge Trasse, spektakulär in steile Schluchtenabhänge gesprengt, über und über gespickt mit Schlaglöchern, die Fahrbahn regelmäßig mit Schuttresten vergangener Erdrutsche garniert, gelegentlich von herabströmenden Gebirgsbächen überflutet, und bei Gegenverkehr streift so manches Mal das innen fahrende Fahrzeug fast an den seitlichen Felsen, während der außen Fahrende beinahe schon frei mit einem Rad über der Schlucht zu hängen scheint. Betrachtet man die Bauweise der Straße, so kann man sich fragen, von wo wohl die größere Gefahr herrührt: von den gähnenden Abgründen der Indusschlucht unter uns, oder von den in den steilen Flanken bedrohlich überhängenden riesigen Fels- und Gesteinsbrocken über uns? Auch der KKH wird, wie praktisch alle Straßen dieser Art in Zentral- und Südasien, fast ausschließlich von LKWs, Bussen, Jeeps oder Militärfahrzeugen befahren. Was man in Indien schon häufig bewundern kann, ist in Pakistan zu einer wahren Kunst erhoben worden: die bunt bemalten und verzierten Busse und LKWS sind wahre Schmuckstücke. In ihrer Schrillheit, mit farbenfrohen Bildern bemalt, die Fahrerkabinen häufig mit filigranen Holzschnitzereien versehen, mit im Fahrtwind rotierenden Windmühlen ausgestattet und den klirrend am Boden schleifenden Kettenvorhängen behangen gleichen sie manchmal Jahrmarktkarussells oder Kirmesbuden. Im Raja-Bazar von Rawalpindi soll es Werkstätten geben, wo diese Lastwagen entsprechend aufgepeppt und präpariert werden.
Wir machen Lunch-Break in Chilas, uralter Handelsplatz und Pilgerdurchgangsstätte. Hinter Chilas macht uns Manzoor noch auf die Abzweigung zur Märchenwiese aufmerksam. Die Fairy(-tale) Meadows ist der bezaubernde Zielpunkt des Kurztrekkings zum Fuß des 8125 Meter hohen Nanga Parbat. Tobias war übrigens in seiner ersten Woche dort oben. Der Nanga Parbat, den man von diesem Abschnitt des KKH aus bei klarem Wetter bewundern kann, bleibt heute leider in Gewölk verborgen. Etwa 50 Kilometer vor Gilgit verlassen wir den KKH. Der KKH selbst führt weiter nach Norden, überwindet den 4709 m hohen Kunjarab-Paß und somit die Grenze zu China, und findet nach etwa 1300 km Länge sein Ende im chinesischen Kashgar, Knotenpunkt an der noch berühmteren Seidenstraße. Wir jedoch fahren nun weiter auf der Skardu-Road, die weiterhin dem Lauf des Indus folgt, und keinesfalls weniger abenteuerlich ist. Nach einer auffallenden Brücke beginnt schließlich Baltistan. Bis Skardu ist es dann allerdings immer noch recht weit. Zum Finale, es ist schon dunkel und ein stürmischer Regen hat eingesetzt, stehen wir nur 15 Kilometer vor Skardu sozusagen vor der Schlüsselstelle unserer Fahrt. Der Bus muss auf einer bedrohlich im Wind schwankende Hängebrücke zum anderen Ufer übersetzen, was Zeit und Nerven kostet. Ein Teil der Passagiere muss aussteigen, um das Gewicht des Fahrzeugs zu reduzieren. Als Touristen und somit Gäste besteht Manzoor darauf, dass wir sitzen bleiben sollen, um nicht etwa in die ungemütliche Sturmnacht heraustreten zu müssen. Wir hätten uns zugegebenermaßen außerhalb des Fahrzeugs wohler gefühlt, aber das Vertrauen der Baltis darauf, dass Allah schon danach schauen wird, dass uns nichts passiert, ist groß und die Besorgnis darüber, einem Gast Ungemach zuzumuten, noch größer. Wir erreichen, Allah sei Dank, unbeschadet das andere Ufer und nehmen die letzten Schlaglöcher bis nach Skardu unter die Reifen.
Manzoor empfiehlt uns das neue Masherbrum-Hotel, ein wirklich guter Laden mit für uns Westler sehr günstigen Preisen. Das Masherbrum wurde erst vor wenigen Jahren gebaut und scheint den ehemaligen Insider-Treffpunkten wie K2-Motel, Concordia-Motel oder Indus-Hotel den Rang abzulaufen. Doch heuer sind sämtliche Unterkünfte in Skardu gut belegt. Wir sind mitten in der Hochsaison und anlässlich des 50jährigen Besteigungsjubiläums des Broad Peak und der drastischen Senkung der Kosten für die Expeditionspermits hat dieses Jahr ein wahrer Boom eingesetzt.
Gestern war es bereits 22 Uhr, als wir im Hotel ankamen, und folglich stockdunkel. Frühmorgens trete ich auf den Balkon und erblicke eine ausgedehnte, waldbestandene Schwemmebene, dahinter karge, ockergelbe Berge, die zu einem Taleinschnitt zusammenlaufen. Schaue ich nach rechts, kann ich Sanddünen erkennen. Ein entzückendes Bild, und die Kleinstadt Skardu kann sich ob ihrer schönen Lage oberhalb des Indus-Ufers wahrlich sehen lassen. Skardu selbst gewinnt die Sympathien seiner Besucher durch seinen lebhaften Basar, den vielen Möglichkeiten, herzhaft Essen zu gehen, und vor allem mit einer guten Auswahl an lohnenden Ausflügen und Wanderungen in der näheren Umgebung. Der Extremwanderer Bert Simon widmet einen großen Teil seiner Homepage mit Bildern und Infos der Hauptstadt Baltistans: http://www.skardu.de/
Im Speisesaal sind um 7 in der Früh unter anderem die Mitglieder einer tibetisch-chinesischen Expedition anwesend. Diese vom chinesischen Staat betreute Expedition hat vor wenigen Tagen nach langen, unternehmungsreichen Jahren das Endziel ihres Projektes erreicht, nämlich alle 14 Achttausender zu besteigen. Allerdings glaube ich kaum, dass dabei immer die gleichen Mitglieder zugange waren, zumal der eine oder andere dieser Gruppe gerade mal das Alter hat, wo man daraus schließen kann, dass er oder sie zu Beginn des Projekts wohl noch in die Windeln gemacht hat. Im Speisesaal hängt übrigens auch ein Foto eines älteren Herrn: Lino Lacedelli und Achille Compagnoni waren es, die 1954 als erste Menschen den Gipfel des K2 erreicht haben. Das Foto in baltischer Tracht wurde während des Besuchs Lacedellis in Skardu anlässlich des 50jährigen Besteigungsjubiläums im Jahr 2004 aufgenommen.
Nach dem Frühstück werden wir von Mr. Matin abgeholt. Matin, ein junger, charmanter Mann mit dem Aussehen eines Playboys, dem in Deutschland sicherlich die halbe Damenwelt zu Füssen liegen würde, ist sozusagen der Geschäftsführer bei Shipton-Trekking. Im Büro lernen wir Mr. Ghulam Razool, den aus dem später noch zu erwähnenden Karakorum-Dorf Korphe stammenden Ehemann von Barbara Hirschbichler kennen, der sowohl zusammen mit Barbara Chef der Trekking-Agentur, als auch Manager der Himalaya-Karakorum-Hilfe vor Ort ist. Shipton-Trekking ist dann auch kein wirklich kommerzielles Unternehmen, diese eher kleine Agentur soll vielmehr den Zweck erfüllen, der Bevölkerung Baltistans Arbeitsplätze zu verschaffen und den Besuchern des Landes nicht nur die Berge, sondern auch die Kultur und die Eigenarten seiner Menschen zu vermitteln. Gründerin des Unternehmens sowie der Karakorum-Himalaya-Hilfe ist Barbara Hirschbichler. Barbara ist in Bergsteigerkreisen bestens bekannt als mehrfache 8000er-Bezwingerin und Extremkletterin. Unter anderen sind auch die Huber-Buam in ihrem Projekt dabei. Alexander und Barbara haben ja bereits gemeinsame Expeditionen hinter sich, so etwa die Bezwingung des Cho Oyu (8201m) im Alpinstil. Infos über Shipton-Trekking http://www.shipton-trekking.de/ sowie Karakorum_Himalaya-Hilfe e.V. http://www.karakorum-himalaya-hilfe.com/ und Barabara Hischbichler www.dav-badreichenhall.de/Berichte/B_Hirschbichler2001.htm
Wir inspizieren zunächst die Baustelle für das Waisenkinderheim, wobei uns Ghulam Razool und Matin mit erklärenden Worten zur Seite stehen. Eine große Anzahl von Arbeitern ist derzeit mit dem Kellerfundament beschäftigt. Die Löcher für die Kellerräume wurden dabei ausgesprengt, die aus Kostengründen einzig praktikable Methode. Dazu waren vier- bis fünfhundert kleinere Sprengungen nötig. Die durch die Explosionen zerborstenen Steine dienen praktischerweise gleich wieder als Baumaterial. In unmittelbarer Nachbarschaft zum Kinderheim ist des Weiteren noch eine Schule geplant. Ghulam Razool schätzt die Gesamtkosten des Projekts auf etwa 150 Millionen Rupien, also grob gerechnet 180.000 bis 200.000 Euro, wobei die genaue Summe derzeit noch schwer abschätzbar ist. Mit den Baumaßnahmen wurde übrigens erst im März diesen Jahres begonnen, die voraussichtliche Bauzeit wird von unseren Begleitern auf etwa zwei Jahre geschätzt.
Am Schalter der PIA nehmen wir noch die Reservierung für den Rückflug von Skardu nach Islamabad vor. Die Chancen, dass es klappt, stehen etwa bei 50 zu 50, weshalb wir uns genügend Luft nach hinten nehmen, für den Fall, abermals den Überlandweg einschlagen zu müssen.
Mit dem Geländewagen begeben wir uns hernach in Begleitung von Mr. Razool zu einem kleinen Ausflug hinauf an den idyllischen Satpara-Lake. Unterhalb des Sees ist ein Staudamm-Projekt in Konstruktion, die Zufahrtsstraße ist bei unserer Anfahrt vorübergehend wegen der momentanen Arbeiten zur deren Sicherung gesperrt. Mittels Betonmauern soll ein besonders Steinschlag- und erdrutschgefährdetes Teilstück abgesichert werden, eine Sysiphusarbeit in den Regionen der zentralasiatischen Gebirgsmassive. Wer jemals dort schon unterwegs war, und die unzählbaren potenziellen Gefahrenstellen für abgehende Muren oder Felsstürze gesehen hat, der weiß, was ich meine. Warten - Geduld gehört, wie wir inzwischen wissen, mit zum Erlebnis Pakistan. Wer keine Geduld hat, sollte nicht hierher kommen. Bei aller Warterei gibt es doch immer wieder interessante Beobachtungen und Bekanntschaften zu machen. Wir verlassen das Fahrzeug und schlendern umher. Die Fahrer der wartenden LKWs interessieren sich für uns, wir schütteln eine Hand nach der anderen, beantworten Fragen über unsere Herkunft, unsere Familien, unsere Meinung zu Pakistan, ob es schön sei in Deutschland, und, und, und ... Ein junger Paschtune bittet mich gar zum Haschrauchen in seine Fahrerkabine. Normalerweise gilt in Pakistan eine abgeschlagene Einladung etwa zum Tee oder zum Essen als eine grobe Beleidigung des Gastgebers durch den Eingeladenen, allerdings kann man gewisse Dinge auch in Pakistan ablehnen, so dass der Paschtune mir auch nicht weiter böse ist, als ich mich ihm gegenüber als strikter Abstinenzler oute, was ja schließlich auch der Einstellung eines nach dem Koran lebenden Muslim gleichkommt.
Wer sich in Skardu aufhält, und ein wenig Zeit hat, sollte sich den Besuch des Satpara-Sees nicht entgehen lassen. Der von ockergelben Bergketten umrahmte See ist beliebtes Ausflugsziel, auch bei den Einheimischen. Man kann an seinem Ufer in einem idyllisch gelegenen Restaurant essen oder Tee trinken, und wenn man Glück hat, trifft man dort pakistanische Urlauber oder Wochenendausflügler, die aus der Laune heraus zu singen und zu tanzen beginnen, wie das jetzt bei unserem Aufenthalt der Fall ist. Etwa 20 männliche Personen bilden einen Kreis und singen, jeweils einer tanzt in der Mitte, wobei die Rolle des Tänzers ständig durchgewechselt wird, der Abtretende wird immer mit Freudengeheul und Applaus belohnt. Als Trommel für den Rhythmus dient ein leerer Benzinkanister. Unterhalb des Sees kann man im Rahmen einer kleinen Wanderung noch einige uralte Buddha-Statuen besichtigen. Leider reicht für Peter und für mich die Zeit nicht mehr für diese interessante Exkursion, die unser Tobias bei seinem doch schon recht langen Aufenthalt hier in Skardu natürlich längst schon absolviert hat, einschließlich natürlich dem Aufenthalt am Satpara-Lake, weshalb er jetzt auch nicht mehr bei unserer kleinen Exkursion mit dabei ist.
Nach unserer Rückkehr erfolgt der Materialcheck im Garten von Shipton-Trekking. Ich habe bislang immer zu den Leuten gehört, die nur ein mitleidiges Lächeln für Kleingruppen übrig hatten, die mit einem ganzen Tross an Mannschaft und Material durch die Landschaft ziehen. Entscheidend, in welchem Rahmen sich die Größe des Unternehmen abspielt, ist jedenfalls, ob man sich dazu entschließt, nur mit einem Führer und ein paar Trägern, von denen einer zusätzlich den Job als Koch übernimmt, loszuziehen, oder ob man einen extra Koch mitsamt Küchenzelt engagiert. Mir erscheint es jedenfalls schwierig, für den Baltoro-Trek die erste Variante durchzusetzen, und wenn ich´s im Nachhinein bedenke, habe ich auch unterwegs keine einzige derartige Kleingruppe gesehen. Jedenfalls beschließen wir die Option Koch/Küchenzelt und ich bin zunächst blank entsetzt über die von Manzoor und Razool benannte nötige Anzahl von 24 Trägern. Meine eigenen Vorstellungen hätten sich auf vielleicht 6 bis 8 Trägern belaufen. Ich setze mich dafür ein, die Anzahl der Träger zu verringern, was dann über die Reduzierung des mitgenommenen Materials möglich sein soll. Unter anderem fallen der Streichung drei Stühle und ein Tisch zum Opfer. Die endgültige Anzahl der benötigten Träger lässt sich laut Manzoor erst benennen, wenn die Lebensmittel, das Kerosin und weitere noch nötige Artikel eingekauft sind. Außerdem gibt man uns zu verstehen, dass sich die Anzahl der Träger unterwegs mit Abnahme der Mengen an zu tragenden Lebensmitteln und Kerosin nach und nach reduzieren wird, so dass wir voraussichtlich nur noch mit der Hälfte der ursprünglichen Mannschaft unsere Tour beenden werden.
Wir treffen uns anschließend mit Tobias zur Krisensitzung im Garten des Concordia-Hotels, in dem er schon seit seinem Eintreffen in Skardu residiert. Er hat hier auf unsere Rückkehr vom Satpara-Lake gewartet. Ich stehe noch deutlich unter Schock, und auch der paradiesische Ausblick vom blumenbestandenen Hotelgarten aus über das weite Flussbett des Indus kann mich vorerst noch nicht runterbringen. Wir diskutieren eifrig. Ich glaube, es war die Aussage von Tobias, die mir den Schrecken vor dieser Sache nahm: "Ich habe keine Lust, wegen ein paar Euro hin und her Hunger zu schieben!". Und in der Tat, wenn man nachrechnet, entpuppt sich das bevorstehende Großunternehmen tatsächlich als für uns durchaus annehmbar, zumal wir die anfallenden Kosten durch drei teilen können. In Pakistan gelten staatlich festgelegte Löhne, sowie Höchsttragegewichte für die Porter. Unterschieden wird zwischen Low- und High-Altitude-Porters. Letztere kommen nur bei Expeditionen ab 6000 Metern zum Einsatz und erhalten einen wesentlich höheren Lohn, als die herkömmlichen Träger. Derzeit ist ein Low-Altitude-Porter, und nur diese kommen schließlich für unser Unternehmen in Betracht, mit 330 Rupien (etwa 4 Euro) pro Tag zu entlohnen, wobei das getragene Höchstgewicht 25 Kilo beträgt. Es ist eine leidige Rechnerei, Fakt ist aber, dass sich die Anzahl der Träger mit der Anzahl der Träger erhöht, will heißen, jeder mitmarschierende Träger hat selbstverständlich seine eigenen Bedürfnisse an Verpflegung, Brennstoff und Ausrüstung, wodurch wiederum neue Träger nötig werden, um das alles zu transportieren. Für gewöhnlich führen Expeditionen und größere Trekkinggruppen noch eine oder mehrere Ziegen, Dzos oder Schafe mit, welche dann an einem Ruhetag von den Trägern geschlachtet und zusammen mit den Teilnehmern feierlich verspeist werden. In unserem Falle reicht die Zeit nicht für einen Ruhetag und bei "kleineren" Gruppen, wie in unserem Fall, wird das Mitführen eines Schlachttieres auch nicht unbedingt erwartet. Als Ersatz erhält dafür jeder Träger ein sogenanntes "Meat-Money", also Fleischgeld, in Euro gerechnet ein sehr geringer Betrag. Die Etappen auf dem Baltoro-Trek sind genau festgelegt. Es ist kein Problem, die Träger dazu zu überreden, an einem Tag zwei oder gar drei Etappen zurückzulegen, die Bezahlung erfolgt dann aber pro Etappe. Bis zu einer gewissen Etappenanzahl sind die Träger zur Selbstversorgung verpflichtet, danach tragen die Trekkingteilnehmer die Kosten für das "Porterfood". Auch für die Rückkehrer ist wiederum der zurückzulegende Etappenlohn auszuzahlen Zusätzlich fällt noch ein geringer Zuschlag für die Trägerausrüstung an. Alles in allem kommt uns die Trekkingtour nun doch teuerer, als wir ursprünglich geplant hatten, aber durch drei geteilt, bleibt dennoch alles im annehmbaren Rahmen. Dafür werden wir auf dieser Trekkingtour einen bislang ungekannten Luxus genießen, wie er mir persönlich in den Bergen noch nie zuvor zuteil geworden ist.
Es folgt ein Besuch beim Spezereienhändler im Basar, wo Manzoor und Sadigh, unser Koch, die Lebensmittel gemäß Einkaufsliste schon bereitgestellt haben. Die Liste wurde zuvor insoweit erstellt, dass man uns nach und nach verschiedene Lebensmittel vorschlug. Alles hörte sich lecker an, und wir hatten wirklich keine Ahnung, wie viel und was wir nun wirklich für unseren Trek brauchen würden. Als wir den Laden betreten, erschrecken wir ob der riesigen Menge der bereits in Plastiktüten verpackten Waren. Allerdings ist das nicht gleich das Ultimatum, denn wir werden um endgültige Absegnung gebeten, bzw. Aussortierung der aus unserer Sicht nicht benötigten Dinge, was eine gute Stunde in Anspruch nimmt. Wir werden uns mit der Anstellung eines Kochs und Hilfskochs zwar diesmal einen außergewöhnlichen Luxus leisten, aber was zuviel ist, ist zuviel. So reduzieren wir unseren Proviant um gut ein Viertel. Den Geschäftsinhaber stört´s nicht, wie wir die Ware hin- und hersortieren, denn er macht heute durch uns ohnehin ein Riesengeschäft. Es ist schon bemerkenswert, wie bereits eine kleine Trekkinggruppe, wie die unsere, eine beachtliche Menge an Geld in die Region einbringt und dazu noch zwar vorübergehende, dafür aber überdurchschnittlich gut bezahlte Arbeitsplätze für die Einheimischen bieten kann, ohne dass sich die Teilnehmer, auf Euro und westliches Niveau umgemünzt, in den finanziellen Ruin stürzen müssten. Es ist eigentlich fast unglaublich, mit wie wenig Einsatz eine beachtliche Hilfe für die regionale Wirtschaft möglich ist. Die Einkäufe im Basar gehen noch weiter: drei Kerosinkocher werden benötigt, dazu die passenden Düsen, eine Kerosinlampe, alles für ein paar Euro. Dann noch frisches Gemüse beim Gemüsehändler, und auch ein wenig frisches Obst soll nicht fehlen. Inzwischen ist es Nacht geworden in Skardu, wir führen noch schnell ein paar kurze Telefonate nach Deutschland von einem kleinen Krämerladen aus, dann brausen wir wieder durch´s nächtliche Skardu, ich hinten auf der Ladefläche, ein warmer Nieselregen stäubt mir ins Gesicht – ich fühle mich, wie Gott in Pakistan!
Die Vorbereitung unseres Treks ist nun endlich abgeschlossen, und nach dem Frühstück brechen wir mit zwei Jeeps von Skardu aus auf. Ziel ist das Minidorf Askoli, die hinterletzte Siedlung vor Beginn einer völlig unbewohnten Bergwildnis, durch welche uns unsere Trekkingtour führen wird. Auf dem zweiten Jeep befinden sich, nebst Ausrüstung und den Lebensmitteln, Sadigh, unser Koch, Salman, der Hilfskoch und vier oder fünf bereits angeheuerte Träger. Der Rest der Mannschaft wird erst in Askoli eingestellt. Die Fahrzeit dorthin beträgt unter guten Bedingungen etwa 7 Stunden, anfänglich noch auf einer asphaltierten Straße, die aber bald schon einer Schotterpiste weicht, dem Lauf des Shigar-Rivers aufwärts folgend. Die Landschaft zeigt sich von Beginn an atemberaubend, eine großartige, karge Gebirgswüste, felsig, mit ockerfarbenen Bergen, blendend weiß glänzenden Gletschern am Horizont, ausgedehnten Sanddünen und paradiesisch anmutenden Oasendörfern, die ihren grün spriessenden Reichtum an nahrhaften Feldfrüchten allein dem ausgeklügelten Bewässerungssystem mit dem Schmelzwasser der eisigen, schneebedeckten Bergriesen zu verdanken haben. Das Wasser der in der Umgebung entspringenden Quellen dürfte dabei eine untergeordnete Rolle spielen. Die riesigen Wassermengen der Hauptflüsse Shigar- und Braldu-River dagegen führen viel zu viel Sand, um zur Bewässerung oder als Trinkwasser zu taugen. Unterwegs machen wir einen kleinen Abstecher in Mr. Manzoor´s Heimatdorf, ganz in der Nähe der Ortschaft Shigar. Der Hausherr lädt zum Tee und was sich so bescheiden anhört, artet in ein mittelprächtiges Bankett mit allen erdenklichen Leckereien aus. Manzoor lässt es an nichts fehlen: verschiedene Gebäcke, Obst, Gemüse, Süßigkeiten, Eier und natürlich Tee. Auch der Dorflehrer ist anwesend und eine interessante Konversation entspinnt sich. Wir lernen Manzoor´s Kinder kennen, nicht aber seine Frau. Die Frauen in den Dörfern ziehen sich meist zurück, wenn Fremde dort auftauchen, oder ziehen keusch ihre Schleier vor´s Gesicht. Um Ärger zu vermeiden, und die großzügige Gastfreundschaft der Einheimischen nicht zu gefährden, sollte man keinesfalls ungefragt Fotos von Frauen machen. Inwiefern die Frauen hier unterdrückt oder diskriminiert sind, will ich hier wertefrei halten, da man bei genauer Betrachtung der Dinge und Verhältnisse keine generell gültige Aussage möglich ist. Es ist jedenfalls interessant, zu hören, wie manche Pakistani über die Sitten und Gebräuche bei uns im Westen denken, besser gesagt, über deren aus ihrer Sicht einhergehenden Verfall.
Nach unserem opulenten Mahl setzen wir die beschwerliche Reise fort. Der Straßenzustand wird seit geraumer Zeit zunehmends miserabler, bei diesem ständigen Geschaukel und Geschüttel sollte man möglichst nicht zur Anfälligkeit für Seekrankheit neigen. Bald verlassen wir das Shigar-Valley und folgen nun dem Braldu-River talaufwärts. Zu den obligatorischen Unbequemlichkeiten gesellen sich nun noch allerhand Gefahren. So müssen wir eine durch Stein- und Felsschlag bedrohte Passage durchfahren, in der erst kürzlich eine Gruppe Chinesen den Tod fand. Von Mal zu Mal müssen wenig vertrauensvoll erscheinende Hängebrücken gequert werden, deren knarzende Bretter über wild tosende, hellbraune Fluten gespannt sind, Bachbetten werden durchfahren, in denen manch einer gar zu Fuß Schwierigkeiten hätte, hinüberzukommen. Unser Respekt gilt den stabilen und robusten Fahrzeugen, aber vor allen Dingen unseren beiden Fahrern, wenngleich der Lenker des zweiten Jeeps ein recht ungemütlicher, rauhbeiniger Choleriker zu sein scheint. Ich habe bislang schon zahlreiche vergleichbare Fahrten durch wilde Gebirgsgegenden erlebt, doch die Fahrt von Skardu nach Askoli toppt alles: sie ist die waghalsigste und halsbrecherischste, die ich bislang mitgemacht habe. Kurz vor Askoli glaube ich uns beim Durchqueren eines erdrutschträchtigen Bachbetts am Rande einer steil abstürzenden Flanke endgültig verloren, doch auch hier bringen uns unsere Fahrer sicher hinüber.
Askoli – die hinterste Siedlung im Braldo-Tal auf der orographisch rechten Flussseite. Nur noch das Dorf Korphe am jenseitigen Ufer ist noch ein kleines Stück weiter stromaufwärts situiert. In Korphe fand Greg Mortinson einst das Ende seines Irrweges. Bei der Rückkehr von einem gescheiterten K2-Besteigungsversuch hatte er sich hoffnungslos auf dem Baltoro-Gletscher verlaufen. Gefunden und gerettet wurde er von einem seiner Träger, Mouzafer Ali, ein Bewohner des Dorfes Korphe, in welches er Mortinson hinverbrachte, wo diesem eine ihm bislang ungekannte Gastfreundschaft zuteil wurde von Leuten, die, fast völlig isoliert von der Außenwelt, in bitterer Armut zu subsistieren hatten. Damals versprach Mortinson den Bewohnern, zurückzukehren, um im Dorf eine Schule zu bauen. Aus dieser einen Schule wurden inzwischen um die Hundert, großen Wert legte Mortinson dabei stets auf die Ausbildung der Mädchen. Das Shigar-Tal hat dadurch den Beinamen "Tal der Schulen" erhalten und der einstige Krankenpfleger ("Dr. Greg") und Bergsteiger kehrt bis zum heutigen Tag regelmäßig hierher zurück, inzwischen vollkommen seinem karikativen Lebenswerk verschrieben, das er nun auch auf weitere Bergregionen Pakistans ausgedehnt hat. Es gelang ihm sogar, eingefleischte Talibankämpfer zu bekehren und für seine Sache zu gewinnen. Pflichtlektüre eines jeden Baltistan-Besuchers ist die als Reportage verfasste Geschichte dieser "Ein-Mann-Mission": "Three cups of tea" von Greg Mortinson und Oliver Relin, Verlag: http://www.penguin.com/
Das Dorf Askoli mit seinem korrupten und raffgierigen Bürgermeister kam einst in dieser Reportage nicht sonderlich gut weg. Inwiefern sich die Zeiten und die Besetzung des Bürgermeisteramtes hier inzwischen geändert haben, weiß ich nicht. Ein sehr authentisches und interessantes Dorf ist Askoli jedenfalls. Die Häuser gleichen denen in Tibet, und die Bewohner scheinen mir noch stark in ihren Traditionen verhaftet. Das wundert mich ein wenig, da Askoli der Ausgangspunkt für sämtliche Trekkinggruppen und Expeditionen in Richtung K2, Gasherbrums, Broad Peak, sowie Biafo- und Hispar-Gletscher ist. Somit dürften pro Saison wohl mehrere Hundert Fremde durch dieses Dorf kommen. Doch Askoli ist jediglich Durchgangsstation, kaum jemand bleibt hier länger als eine Nacht. Es ist ein Rummelplatz für anwerbende Träger, Expeditionsköche, Pferdemänner, Kerosin- und Lebensmittelhändler (im begrenzten Umfang!) und Jeepfahrer. Nach Einstellung des Personals und einer anschließenden Übernachtung auf den vorgegebenen Zeltplätzen zieht man anderntags für gewöhnlich weiter.
Die Anstellung der Träger ist dann noch mal ein Akt für sich. Wir hatten ja bereits in Skardu die Mitnahme eines Porter-Chiefs, auf Urdu Sirdar, abgelehnt, ohne dabei genau zu realisieren, was für einen Betätigungsbereich dieser hat. Der Sirdar trägt kein Gepäck, aber er hat die absolute Befehlsgewalt über die Träger. Stellt man keinen Sirdar ein, überlässt man diesen Job dem Führer, also unserem Manzoor. Es muss noch hinzugefügt werden, dass es unüblich ist, bei kleineren Trekkinggruppen, wie wir eine sind, einen Träger-Chef einzustellen. Dies machen für gewöhnlich nur Expeditionen und die großen Trekking-Gruppen. Doch eines gilt: ein Balti wird dem anderen Balti niemals die Arbeit oder das Geschäft wegnehmen, indem er den Fremden auf die Unnutz von dessen Tätigkeit oder Ware aufmerksam macht. So bekamen wir auch von Manzoor häufig zu hören: "Wie Sie wollen. Es ist Ihre Entscheidung!". Andererseits hat Manzoor aber niemals versucht, uns zu Dingen zu überreden, die wirklich unnötig oder gar zu teuer gewesen wären, wenngleich seine Vorstellung über mitzuführende Lebensmitteln und anderer Luxusgüter für unseren Geschmack in einen Überschwang von Komfort ausgeartet wäre.
Manzoor ist im Shigar-Valley ein allseits bekannter und respektierter Mann, und ein schlauer und erfahrener Fuchs dazu. So schlägt er uns einen frühzeitigen Aufbruch vor, in der weisen Voraussicht, dass mit dem fortgeschrittenen Morgen immer mehr potenzielle Träger eintrudeln werden, was schnell zu Streitereien und Hektik führen kann. Die Prozedur der Trägereinstellung und das präzise Abwiegen und Verteilen der einzelnen Gepäckstücke nehmen dann noch eine gewisse Zeit in Anspruch und wird von uns mit Neugierde verfolgt. Manzoor erweist sich hier als souveräner Herr der Lage. Ein Träger hatte sich übrigens bereits gestern Abend mit einem Gepäckstück aus dem Staube gemacht, um sich auf diese Weise die Beteiligung an unserem Unternehmen zu sichern. Ich sage es hiermit: es ist für einen Fremden unmöglich, eine größere Gruppe von baltischen Trägern selbst zu organisieren und unter Kontrolle zu halten. Wir lernen diese Männer als zuverlässige und humorvolle Begleiter kennen und schätzen, aber sie sind nicht auf den Kopf gefallen und gelegentlich auch gehörige Schlitzohren. Allerdings soll uns einer dieser berüchtigten Trägerstreiks, von denen ich schon so oft gehört habe, erspart bleiben, was aber sicher auch Mr. Manzoor´s unangefochtener Autorität zu verdanken ist.
Die Träger machen sich schließlich auf den Weg, sie werden uns auf dieser Trekkingtour immer voraus sein. Insbesondere Sadigh, unser Koch, muss stets flink auf den Füßen sein. Er trägt zwar nur leichtes Gepäck, dennoch ist es im Berufsstand eines Kochs sicher ungewöhnlich, dass man dabei noch ein guter Marschierer zu sein hat. Der zwar schmächtig, aber energisch und ehrgeizig wirkende junge Mann war übrigens schon in einem der besten Hotels in Skardu tätig, und dass er sein Handwerk versteht, davon wird er uns im Laufe der Tour immer wieder auf´s Neue zu überzeugen wissen. Wir schultern unsere Rucksäcke und folgen Manzoor durch´s Dorf. Auch von Askoli aus sind übrigens schon einige außergewöhnlich schön modellierte Berggestalten zu bewundern, für Karakorum-Verhältnisse allerdings von unbedeutender Höhe. Tobias wird durch den Zuruf eines männlichen Bewohners "Sir, no foto!" vom fotografieren einer Frau abgehalten. Insbesondere hier auf dem Land sollte man nie vergessen, bezüglich der Sitten und Verhaltenscodes Vorsicht und Fingerspitzengefühl walten zu lassen, um eventuellen Ärger zu vermeiden.
Wir verlassen Askoli durch eine alleeartige Gasse, welche links und rechts durch Bäume und Natursteinmauern begrenzt ist, hinter denen sich blühende Gärten und tibetisch anmutende Häuschen verstecken. Zunächst gehen wir auf einem breiten Fahrweg, dann zieht ein dramatisch in die Felsen gesprengter Weg zunächst bergauf, hoch über den wild tosenden Braldo-River. Während auf unserer Flussseite ab sofort nur noch komplett unbesiedelte Einöde folgen wird, blühen am gegenüberliegenden Ufer weiterhin die üppig bestellten Felder von Korphe. Ein paar kleine, flache Steinhäuschen ducken sich zwischen das Grün, darüber wachen aber auch schon die kargen, ockerbraunen Bergspitzen und wüstenhaften Geröllhalden, die bereits voll und ganz die Szenerie auf unserer Uferseite für sich eingenommen haben. Ein auffällig spitz modellierter Berg fährt drüben zum Firmament empor. Vermutlich handelt es sich hierbei um den in Mortinson´s Geschichte als "Korphe-K2" benannten Gipfel. Da dieser Berg zwar schnittig aussieht, aber noch von der 6000-Meter-Marke weit entfernt ist, dürfte er vermutlich keinen offiziellen Namen tragen. Laut Manzoor bleiben im Karakorum die meisten Berge unter 6000 Metern unbenannt, es gibt deren so viele!
Das Dorf Askoli befindet sich auf etwa 3000 Metern und unser Weg wird in den nächsten Tagen nur sehr langsam an Höhe gewinnen, was einer relativ sicheren Akklimatisation zugute kommt. Auch wenn uns die Berggipfel, die hier beidseitig des Braldo-Tales emporsteigen, bereits entzücken, sie haben, wie gesagt, insbesondere hier, so nah am Herzen des Karakorum, keine Bedeutung. Mir fällt auf, dass die Vergletscherungen bis auf etwa 4000 Meter herunterreichen. Hier unterscheidet sich das Karakorum gewaltig von Ladakh oder Spiti. Ich erfahre von Manzoor, dass man in Baltistan den Monsun kennt, wenngleich er hier normalerweise in einer sehr abgeschwächten Form eintrifft. Ich vermute, dass ein Großteil der Niederschläge von den hohen Bergketten abgefangen wird. Dies würde auch die außergewöhnlich starken Vergletscherungen und den Schneereichtum der Berge erklären, die so im Gegensatz zu den trockenen, wüstenhaften Tälern stehen.
Heute morgen ist Manzoor übrigens in der traditionellen Kluft der hiesigen Bergbewohner erschienen. Dazu gehört der pyamaartige Shalwar Kamiz, sowie als Kopfbedeckung der sogenannte Pakol, hier in Baltistan auch Baygpi Nating genannt, welcher bei praktisch allen Bergstämmen Pakistans und Afghanistans verbreitet ist, und somit nicht als Erkennungsmerkmal für Taliban-Kämpfer angesehen werden kann, wie man das vielleicht fälschlicherweise aufgrund der gesendeten Nachrichtenbilder unserer Fernsehschirme schließen könnte. Manzoor wird diese Tracht für die gesamte Zeit unseres Trekkings nicht mehr ablegen. Darauf angesprochen, erklärt er, dass inzwischen die meisten Führer in Baltistan westliche Bergklamotten tragen, er selbst aber lehnt dies aus Prinzip ab, was wiederum die Würde dieses Mannes unterstreicht.
Kurz nach einer Konfluenz – der Biaho- trifft auf den Braldo-River – überschreiten wir das schäumende Kaffeebraun des Biaho-Rivers mittels einer eindrucksvollen Hängebrücke. Die fruchterregende, ehemalige Hanfseilbrücke, welche auf alten Bildern noch dokumentiert ist, hat ausgedient und wurde zwischenzeitlich durch eine vertrauenserweckendere Drahtseilkonstruktion ersetzt. Im Teehäuschen am anderen Ufer ist auch ein "Brückenwärter" anwesend, der Mautgebühren kassiert, und zwar pro Person, also für die gesamte Mannschaft. Der zu zahlende Obolus ist aber dennoch nicht der Rede wert. Danach wird eine wüstenhafte Einöde durchquert und anschließend die sich bis ans Flussufer drängende, riesige Endmoräne des Biafo-Gletschers überschritten. Hier zweigt der sogenannte Biafo-Hispar-Trek von unserer Route ab. Der Biafo-Hispar-Trek führt über die beiden namensgebenden Gletscher hinweg ins obere Hunza-Tal, aber auch in den Einzugsbereich des mächtigen 7000ers Spantik, einem der meistbestiegenen Gipfel seiner Klasse in Pakistan. Vor zwei Jahren war eine Expedition der Sektion Konstanz des Deutschen Alpenvereins an diesem Berg zugegen. Mein Bergkamerad Peter Metzger, sowie Bernd Kern konnten damals den Gipfelsieg für sich verbuchen. Der damalige Anmarsch zum Spantik war übrigens bis hier, an den Fuß des Biafo-Gletschers identisch mit unserem Weg.
Nach einem kleinen Abstieg erreichen wir nach 4 Stunden Marschzeit das Lager Korophon, welches sich auf 3000 Metern Seehöhe befindet. Somit hatten wir den ganzen Morgen über wohl ein wechselndes Auf und Ab, aber bislang praktisch keinen Höhengewinn. wir halten hier unsere Mittagsrast. Zu diesem Anlass finden wir ein liebevoll gedecktes Tischtuch vor. Tee, Nudelsuppe, Kekse, frische Mangos, heiße Chapattis, einfach köstlich! Korophon ist ein von schattigen Bäumen bestandener Platz zu Füssen der Gletschermoräne. Es bleibt noch anzufügen, dass schattige Rastplätze auf dem Baltoro-Trek eher die Ausnahme sind, da Bäume selten oder gar nicht wachsen. Dzongs ( = Kreuzung aus Yak und Rind) und Pferde weiden hier. Auch ein Militärcamp gibt es in Korophon, wie praktisch überall in der Nähe der Touristencamps. Die Militärcamps sind ein wahrer Schandfleck auf Gottes Erden. Ist die Umweltsituation auf dem Baltoro-Trek allgemein schon mangelhaft – auch die Zustände in den Touristencamps lassen sehr zu Wünschen übrig – so häuft sich rings um die Militärbasen der Dreck zu meterhohen Bergen. Konservendosen und vor allen Dingen leere Kerosinkanister rosten und gammeln dort vor sich hin. In Korophon befindet sich die letzte klare Quelle, danach gibt es nur noch Gletscherwasser. Dieses Quellwasser verschone ich noch von der Desinfizierung, und ich kann ruhigen Gewissens behaupten, dass dieses Wasser einwandfrei ist.
Wir folgen weiterhin dem Braldo-River stromaufwärts. Zum Biafo-Hispar-Trek, ein Wildnistrek mit prächtiger Bergkulisse, bleibt noch anzufügen, dass es sich um einen sogenannten "no restricted" Trek handelt, d.h., man kann ihn ohne Formalitäten, und wenn man will, auch ohne Führer unternehmen. Es sind dort allerdings schon viele Touristen, die ohne Führer unterwegs waren, auf Nimmerwiedersehen in den zahlreichen riesigen Gletscherspalten verschwunden.
Nach dem Essen folgt ein Nickerchen, dann schultern wir erneut die Rucksäcke. Der Pfad bleibt nun dicht am Braldo-Ufer, bald direkt auf Wasserhöhe, bald weit darüber. Die Aussichten sind dabei stets spektakulär. Das riesige Kiesbett mit den vielen, sich aufgabelnden Flussarmen, sowie die von diesen umspülten Sand- und Kiesbänke erwecken den Eindruck einer archaischen Urlandschaft, als sei man etwa am Tag zwei der Schöpfung, noch weit entfernt vom Auftritt der Spezies Mensch auf unserem Planeten. Viele Gletscher sind bereits zu sehen, die Berggipfel hüllen sich allerdings teilweise in Wolken. Eine klassische Steppenvegetation säumt das Flussufer, bestehend aus dornigen Büschen, krüppelhaften Bäumchen, aber auch vielen bunten Blumen, gewachsen zwischen Schutt und Staub. Dieses Grün soll bald ganz verschwinden, spätestens auf dem Gletscher wird man für lange Zeit so gut wie keine Pflanze mehr sehen. Wir biegen nun ins Pangma-Tal ein, welches vom Dumordo-River durchflossen wird, folgen diesem ein gutes Stück flussaufwärts, bis der Strom mittels einer Hängebrücke gequert wird. Nun folgt nur noch ein kleiner Aufstieg und ein kurzes Wegstück auf der erreichten Uferseite stromabwärts, dann durchschreiten wir nach 2.45 h Gehzeit die Pforten des Lagers Jula. Am Eingang begrüßt uns Manzoor mit einem herzlichen Handschlag und den Worten: "Welcome to Jula-Camp!". Auch die Träger empfangen uns mit freudigem Hallo und Applaus, die Zelte sind schon aufgebaut, der Tee kocht und das Abendessen dünstet bereits in den Töpfen.
Das Wahrzeichen von Jula ist der markante Bahur Das, eine über 6000 Meter hohe, elegante Berggestalt, dessen Gipfelgrat durch einen schnittigen Firnkamm verziert ist. Man erblickt diesen Gipfel unmittelbar über dem Mündungsdelta des Dumordo- in den Braldo-River, welches er wie ein riesenhafter Wächter überragt. Jula gehört zu den Hauptcamps auf dem Baltoro-Trek. Etwa ein Dutzend Toilettenhäuschen und fließend Wasser gibt es dort. Auch wenn die hygienischen Zustände in diesen Einrichtungen noch einiges zu wünschen übrig lassen, so sind sie doch ein Anfang auf dem Weg zur Verbesserung der Umweltsituation im Baltoro-Gebiet. Man zahlt auch einen geringen Obolus an einen dort anwesenden Aufseher. Ich steige vor dem Abendessen noch ein kleines Stück weit auf, und genieße die Ruhe und die Aussicht auf einem abgelegenen Felsen. In der Umgebung dominiert das Ockergelb von Schuttbergen und -hängen, aber auch aschgraue, kompakt erscheinende Felsmassive finden sich hier. Packpferde und Esel grasen friedlich in den kargen Hängen. Schließlich locken mich die köstlichen Gerüche aus Sadigh´s Küche wieder hinunter in unser Lager. Heute haben wir übrigens von einem Lawinenunglück am Gasherbrum II erfahren, bei dem zwei Deutsche ums Leben kamen und ein Japaner schwerstverletzt geborgen wurde.
Ich möchte nochmals auf die baltischen Träger eingehen: keiner von ihnen trägt Bergschuhe- oder –stiefel. Fast immer sind sie mit Sportschuhen aus Gummi ausgerüstet, die dazu noch oft bereits durchlöchert sind. Diese Leute sind dennoch unheimlich schnell unterwegs, und das noch mit durchschnittlich 25 Kilo Gepäck obenauf. Ein weiterer typischer Ausrüstungsgegenstand der Träger ist ein langer Holzstock zum Stützen oder Ausbalancieren. Angeblich wird die Gondogoro-La-Überquerung im gleichen Schuhwerk getätigt, wobei selbstgebastelte Kordeln, die um die Schuhe gebunden werden, die bei uns üblichen Steigeisen oder Grödeln ersetzen...
Nachts rauscht gleichmäßig der Bach, ab und zu ruft ein Esel. Der Himmel ist frühmorgens noch klar, doch nach und nach bilden sich erneut Wolken. Wir wandern zunächst aus dem Pangma-Tal raus und befinden uns bald wieder an den Gestaden des Braldo-Flusses. Dort gibt es zwei Pfade, einen oberen, der bei Hochwasser benutzt wird, und einen unteren, auf dem wir unseren Weg fortsetzen. Den Fluss zu beobachten, wird nie langweilig. Das milchkaffeebraune Wasser tost und bildet wilde Stromschnellen aus. Manchmal scheint es mir, als wollen gefangene Teufel aus den gischtenden Fluten herausspringen. Deutlich hört man das Mahlen der im Wasser rotierenden Steine. Das Resultat sind außergewöhnlich rund und glatt geschliffene Exemplare aller Größen. Die Berge der Umgebung fahren als wilde Felszacken in den Himmel, an denen sich Wolkenfetzen wie Zuckerwatte verfangen. Die Bewölkung trübt zwar etwas die Aussicht, sie macht dafür das Wandern erträglich, denn wenn die Sonne scheint, dann brennt sie gnadenlos vom Himmel herab. Verschwindet die Sonne abends dann vollends, dann wird es hingegen schnell kalt.
Mittagsrast in Skam Tsok auf 3300 Metern. Es ist 11.20 h. Am Nachmittag gehen wir noch weiter bis ins Lager Paiju, wo wir übernachten wollen. Die ausgedehnten Block- und Steinfelder, die wir unterwegs durchschreiten, vermitteln eine eindrückliche Stimmung von der Verlorenheit des Menschen in der Wildnis. Und weiterhin fasziniert der Fluss. Er sendet krakenartige Nebenarme durch sein enormes Kiesbett, um bald darauf wieder durch Engpässe durchzuschießen, die dem Wasser nur einen einzigen Kanal lassen. In diesen Passagen fließt das Wasser besonders schnell, beängstigende Stromschnellen bilden sich dort, die jeden Extremkanuten den Atem verschlagen würden. In den braunen Fluten schwimmen bereits die ersten glasigen Eisbrocken als Vorboten des nahen Gletschers.
Das Lager Paiju (3450 m) ist eines der wenigen schattenspendenden Orte auf dem Baltoro-Trek. Man zeltet hier unter den grünen Bäumen eines Hains. Aussichtreich sind die Waschgelegenheiten installiert: Beim Rasieren oder Zähneputzen steht man hoch über dem urzeitlich erscheinenden Flussbett und genießt das Panorama. Die mächtigen Felsbastionen der Trango-Gruppe sind von hier aus in der Ferne bereits auszumachen. Ein junger Mann aus Lettland besucht uns. Er sucht verzweifelt nach einem Träger, der bereit ist, mit ihm in zwei Tagen zum Broad-Peak-Basecamp hinaufzustürmen. Seine Expedition hatte das Unterfangen einer Besteigung wegen des in den letzten Tagen anhaltend ungeeigneten Wetters abbrechen müssen. Die Zeit war abgelaufen, und er und die Gruppe waren bereits auf dem Rückmarsch, als ihm die Nachricht von guten Wetterprognosen zuteil wurde. Er will jetzt alles versuchen, dieses Schönwetterfenster auszunutzen. Er ist zwischenzeitlich durch den langen Aufenthalt in großen Höhen bestens akklimatisiert und traut sich nun einen Gipfelgang in zwei Tagen ab Basislager zu. Er findet seinen Träger und wir sollen ihn später wiedertreffen, summitted, also mit Gipfelerfolg. Anlässlich des 50-jährigen Besteigungsjubiläums soll der Broad-Peak in dieser Saison mehr Gipfelbesucher, als jemals zuvor in einer Saison empfangen. Im Küchenzelt scheinen sich heute sämtliche Fliegen Baltistans versammelt zu haben. Das Gemeinschaftswerk von Sadigh und Salman entlockt uns dennoch höchste Lobeshymnen.
Ab heute endet die Selbstversorgung unserer Träger und sie erhalten das von uns gekaufte Porterfood. Es werden auf unserem Trek noch zwei bis drei weitere Verteilvorgänge folgen, bei denen genauestens verwogen wird, damit ja niemand zu kurz kommt. Mützen und die praktischen langen Hemden der Shalwar Kamiz dienen zum Empfang der jeweiligen Rationen. Es war vorgesehen, dass zwei Träger morgen zurückkehren. Es verlassen uns aber vier Träger, was wiederum mit irgendeiner Familienclangeschichte zu tun hat. Dass wir ab heute deswegen zwei neue Träger einstellen müssen, macht die eh schon leidige Rechnerei noch komplizierter. Nachts trommeln leichte Regengüsse auf die Zeltwand.
Um 5.15 hören wir Mr. Manzoors vertraute Stimme, die einem kurzen Rütteln an der Zeltwand folgt: "Good morning, Sir, morning call!". Der Anblick der Trango-Türme im fahlen Morgenlicht entschädigt die frühe Weckzeit. Bald schon allerdings sind sämtliche Bergspitzen wieder von wabbelnden Wolkenbäuschen umwoben. Weiterhin folgen wir dem Braldo-River. Doch heute werden wir seinen Ursprung erreichen, das riesige Tor des Baltoro-Gletschers und wir werden dann, abgesehen von den Gletscherbächen, die schlängelnd ihren Weg durch Eis und Schutt suchen, für längere Zeit keinen Flusslauf mehr sehen. Als grau-braun bis schwarz gefärbter Koloss zeigt sich die Gletschzunge des Baltoro-Glacier, und aus deren riesigen Schlund schießen die braunen Fluten des Braldo-Rivers, welcher bereits unmittelbar nach Austritt aus dem Gletscher ein überraschend breites Flussbett für sich einnimmt. Der Aufstieg auf den Gletscher erfolgt über einen gut ausgetretenen Pfad. Der Einsatz von Steigeisen erübrigt sich, denn hier geht man überwiegend auf Schutt, das Eis schimmert nur gelegentlich zwischen Geröll und riesigen Gesteinsbrocken hindurch. Die Schuttdecke des Baltoro-Gletschers hat eine konservierende Wirkung für das Überleben einer der größten zusammenhängenden Eismassen außerhalb der Polarzonen. Er schützt das Eis praktisch wie eine Decke vor dem zu schnellen Abschmelzen durch Sonneneinwirkung. Wenn man sich auf dem Gletscher befindet, kommt man sich vor, wie in einer Steinwüste.
Nicht immer ist es leicht, den richtigen Weg zu finden, da sich Pfadspuren oft in unübersichtlichen Blockfeldern verlieren, oder ein Pfad über längere Distanzen hinweg überhaupt nicht mehr vorhanden ist. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich Greg Mortinson einst im Nebel in diesem Wirrwarr aus Eis, Gestein und riesigen Spaltenlabyrinthen verlaufen hatte. Von nun an dominieren als Blickfänge Great Trango-Tower (6286 m), Uli-Biaho-Tower (6109 m), Nameless-Tower, Paiju-Peak (6610 m) und Lobsang-Spire (6707m). In vielen dieser hier senkrecht gen Himmel fahrenden Felswände befinden sich mit die größten Bigwallklettereien der Welt. Der Doppelgipfel der Cathedral misst zwar "nur" 5828 bzw. 5866 m, wirkt aber durch die Nähe seiner gewaltigen Felswand besonders pompös. Bei all diesen Felsrouten dürfte sich kombiniert, also mit Eis, wohl kaum vermeiden lassen. Wir stapfen durch ein großes Sandbecken und erreichen das Lager Koburtse (3930 m), just als ein mittelschwerer Regenschauer losbricht. Wir finden Unterschlupf im Teastall des Besitzers, wo uns auch gleich das Mittagessen gereicht wird. Anschließend halten wir ein kleines Schläfchen, und als wir wieder weiterziehen, haben sich die Niederschläge schon wieder eingestellt. Wir satteln die Hühner und reiten nach Urdukas, dem bislang schönsten Campsite. Obwohl wir heute den größten Teil der Strecke schon auf Gletscher zurückgelegt haben, befindet sich Urdukas wiederum an dessen begrünten Rand, so dass uns eine Nacht auf kaltem Eis vorerst noch erspart bleibt. Hinter dem Camp streben Berge empor, in deren Hängen sich gelegentlich Ibex-Bergziegen blicken lassen sollen. Die Spitze des eisigen Urdukas-Peak steht direkt über dem Lager.
Anderntags ist Abmarsch um 7.30 h. Am Lagerausgang befinden sich ein paar Trägergräber. Auch die Gedenktafel eines tödlich verunglückten Österreichers befindet sich dort. Es handelt sich hierbei um den Kufsteiner Markus Kronthaler. Er leitete 2006 eine Expedition, die auf den Spuren Hermann Buhls die Chogolisa und den Broadpeak bestiegen. Am 07.07. gelang dem Expeditionsteilnehmer Peter "Resl" Ressmann die bislang höchste Skiabfahrt vom Broadpeak aus 7500 Metern Höhe. Markus Kronthaler hingegen überlebte den Abstieg nicht.
Nach etwa einer Stunde Marschzeit auf dem Gletscher eröffnet sich der Blick auf eine der schönsten und beeindruckendesten Berggestalten des gesamten Baltoro-Gebiets. Der Masherbrum wartet mit grandiosen Eisflanken und einer ehrfurchtgebietenden Höhe von 7821 m auf. Doch der Berg läßt sich heute Zeit, uns sein wahres Gesicht zu zeigen, denn zunächst bleiben seine markante Spitze und seine schneeweißen Flanken von dampfenden Wolkengebilden eingewoben. Das Wetter bessert sich aber zusehends, die Aussage unseres lettischen Freundes trifft zu. Und so können wir uns schließlich doch noch bei strahlend blauem Himmel am Anblick auf die gewaltige Nordflanke eines der schönsten Berge des Karakorums und der Welt sattsehen. Die eigentümliche Spitze des Masherbrum mag uns wie ein gebogener Geierschnabel erscheinen. So ergötzen wir uns auch während unserer Mittagsrast an diesem exklusiven Panorama. Unterwegs sind uns noch zum Schluss zu eindruckvolle, gelegentlich sogar haushohe, schneeweiße Seraks erschienen.
Schließlich drängt sich in gerader Linie gletscheraufwärts ein weiterer spektakulärer Berg ins Bild, der durch seine regelmäßige Pyramidenform und kühne Steilheit beeindruckt: es ist der Gasherbrum V (7133 m), übrigens ein sehr gefährlicher Berg, wie uns Manzoor erklärt. Das Lager Goro II (4380 m) ist unsere erste Übernachtungsstätte direkt auf dem Gletscher. Sie befindet sich nur wenig unterhalb der Konfluenz des Biange-Gletschers mit dem Baltoro. Über den Biange-Gletscher gelangt man zum Fuß des Mustagh-Tower (7264 m), gleichfalls ein begehrtes Ziel unter Extrembergsteigern. Goro II ist stark den Winden ausgesetzt, doch das Panorama verdient eine genauere Beschreibung: die den Baltoro-Gletscher nach Süden hin begrenzenden Berge gehören allesamt der Masherbrum-Gruppe an. Die vier eleganten Spitzen auf Südwest sind die Urdukas-Peaks, zwischen diesen und dem Masherbrum ragt der Mandu-Peak (7127 m) mit seinen Vasallen empor. Der südöstliche Nachbar des Masherbrum, und mit diesem über einen Grat verbunden, ist derYermandu Kangri (7163 m). Direkt überm Lager ist es der Biarchedi (6781), welcher ostseitig vom Yermanendu-Gletscher und westseitig durch den Biarchedi-Gletscher begrenzt wird. Die gewaltige Eis-und Felswand des Biarchedi ist wirklich zum Greifen nah, daher erscheint der Berg vom Lager aus gesehen trotz "geringer" Höhe besonders imposant. Überhaupt sind hier die Berge wieder ein Stück höher geworden, denn der Baltoro-Trek steigert sich diesbezüglich wie Mussorgskis Moldau-Sinfonie. Je weiter man nach oben kommt, desto höher, eisiger, gigantischer, aber auch menschenfeindlicher zeigt sich die uns umgebende Bergwelt.
Ein paar Träger vergnügen sich mit dem Herumklettern in Turnschuhen an den ums Lager herumstehenden, blanken Serakobelisken. Das funktioniert dadurch, dass deren Oberfläche durch die Einstrahlung der Nachmittagssonne angetaut ist, es bleibt aber dennoch ein recht heikler Zeitvertreib. Peter fühlt sich schon seit geraumer Zeit miserabel. Das Fatale an dieser Situation ist, dass wir aufgrund des nun sehr engen Zeitrahmens praktisch keinen Ruhetag einlegen können und auch stets zwei bis drei "offizielle" Etappen auf einen Tag zusammenlegen müssen.
Das Lager Concordia (4650 m) ist gemeinhin das Ziel sämtlicher auf dem Baltoro wandernden Trekkinggruppen. Hier sieht man zum ersten Mal den K2, oder Chogoli, wie die Einheimischen den zweithöchsten Berg der Welt nennen. Und hier kann man über vielerlei Optionen entscheiden, ob man etwa in einem anstrengenden Tagesausflug zum K2-Basecamp und zurück geht, ob man vielleicht zusätzlich noch den zweitägigen Abstecher ins Gasherbrum-Basislager angeht, ob man über die Passhöhe Gondogoro La ins Hushe-Tal hinübergeht, oder aber eine beliebige Kombination aus diesen Möglichkeiten in Betracht zieht. Unser Ziel für die Mittagspause ist jedenfalls Concordia, und dort wollen es wir von Peter´s Befinden abhängig machen, ob wir dann am Nachmittag noch zum Broad-Peak-Basecamp weitergehen und dort übernachten werden, oder ob wir die Nacht auf Concordia zubringen werden. Dominierend auf dem Weg zur Concordia ist jedenfalls die massige Erscheinung des Broad-Peak. Er mag nicht zu den schönsten Achttausendern gehören, aber es ist der erste seiner Klasse, den wir auf unserem Trek zu Gesicht bekommen. Die klaren Verhältnisse bescheren uns jedenfalls beste Aussichten, nicht nur auf den Broad-Peak! Erwähnung verdient noch der "Hausberg" von Concordia. Wie der sagenhafte Argus wacht auf Süd der Mitre-Peak (6025 m) über dem Lager. Auch dieser Berg ist, verglichen mit seiner Umgebung, von der Höhe her ein Kleiner, der aber durch die dramatische Nähe zum Camp und durch seine elegante, schlanke Figur Bedeutung erhält. Den K2 bekommt man übrigens erst kurz vor Ankunft auf Concordia zu sehen. Wenn man kurz vor Ankunft auf Concordia seinen Blick beharrlich in Marschrichtung nach links wendet, kann man zusehen, wie der zweithöchste Berg der Welt langsam, aber sicher hinter seinem Versteck hervortritt, bis er schließlich in seiner vollkommenen Schönheit als perfekte Pyramide dasteht. Bei Ankunft in Concordia klagt Peter über Kopfschmerzen, die sich aber kurz nach Einnahme von zwei Aspirin-Tabletten wieder verflüchtigen. Wir machen die Fortsetzung des Weges von seiner Entscheidung abhängig, und die lautet weitergehen.
Was nun folgt, ist von fast unbeschreiblicher Herrlichkeit! Ich lege hiermit jedem Baltoro-Trekker nahe, es keinesfalls beim Besuch von Concordia zu belassen. Zwar sieht man von dort aus auch den K2, aber nichts geht über diese Annäherung über den Godwin-Austin-Gletscher direkt auf die mächtige Pyramide des K2 zu. Ein wolkenfreier Himmel, die goldene Abendsonne bestrahlt den König des Karakorum und die ihn umgebenden Vasallen, und wir rücken diesem Giganten näher und näher, wieviel mehr Glück braucht man noch auf diesem Trek?
Der Marsch hinauf ins Broad-Peak-Basecamp ist recht anstrengend, doch in dieser einzigartigen Kulisse könnte man dabei himmelhoch jauchzen! Neben dem Protagonisten faszinieren auch noch weitere Berge, so etwa auf der Westseite der felsige Marble Peak, östlich macht der Camel-Peak mit seinen beiden Höckern seinem Namen Ehre und die weiße Spitze direkt neben dem K2 trägt den Namen Little Angel Peak. Als wir in den langen Schatten des Marble-Peak treten, bekommen wir zum ersten Mal einen Vorgeschmack darauf, dass uns oben im Camp eine kalte Nacht erwartet. Wir sind mit einer reduzierten Mannschaft aufgestiegen, im Transportgepäck befindet sich das provisorische Küchenzelt, bestehend aus einer Plane, die über eine aus Steinen aufgetürmte Mauer gespannt wird. Heute sitzen wir alle zusammen, einschließlich unserer Träger, die sonst immer separat essen. Sadigh lässt den Kocher fauchen, das Eis darunter schmilzt zu einer Wasserlache, Wärme breitet sich unter der Plane aus, nur der Sauerstoffgehalt lässt zu wünschen übrig, und die Aufnahmefähigkeit des menschlichen Körpers an Sauerstoff ist auf 5150 m Höhe ohnehin schon spürbar reduziert!
Um 8.30 brechen wir auf, ohne Gepäck. Bis das andere Ende des Broadpeak-Basecamps erreicht ist, sind gut drei Kilometer zurückzulegen. Im letzten Camp lernen wir Aziz aus Shimshal kennen, einen jungen Hunza-Bergsteiger, der frisch vom Gipfel des Broadpeak zurückgekehrt ist. Die Achttausender-Besteiger sind allesamt am erbärmlichen Zustand ihrer Gesichter zu erkennen: völlig verbrannt, herunterhängende Hautfetzen, rissige Lippen. Wir erfahren auch, dass sich am Broadpeak vier Hochcamps befinden. Im weiteren Aufstieg fließt linkerhand, also im Westen, ein weiterer Gletscher in den Godwin-Austin ein. Dort hinten befinden sich unter anderem die Berge Skilbrum (7360 m) und Pisherong Kang. In diesem Gebiet soll sich laut Manzoor vor ein paar Jahren ein dramatisches Unglück ereignet haben, als eine riesige Lawine eine ganze Expedition mitsamt ihrem Basislager hinwegfegte. Am Skilbrum wurde bereits Alpingeschichte geschrieben. Die 1957er Karakorum-Expedition mit Markus Schmuck, Kurt Diemberger, Fritz Wintersteller und Hermann Buhl hängte die Erstbegehung dieses Gipfels direkt hinter die Broadpeak-Erstbegehung an, in einer für die damalige Zeit sensationell schnellen Abfolge.
Mit dem Wetter sind wir heute nicht ganz so glücklich, wie am Vortag, der K2 wird ständig von Wolken umtanzt. Schließlich treffen wir direkt am Bergfuß des K2 auf die ersten Zelte des mehrere Kilometer langen K2-Basecamps. Blickt man von dort hinaus zum Ende des Godwin-Austin-Gletschers, so erkennt man das Windy Gap (chin.: Skyang La, 6150 m), ein eisiger Durchschlupf hinüber nach China.
Hier im Bascamp habe ich den Eindruck, dass wir die großartigste Aussicht auf diesen Berg eigentlich schon hinter uns gelassen haben, nämlich der vom Broadpeak-Basecamp aus. Hier, im K2-Basecamp scheinen wir dem Berg schon zu nahe gerückt, um seine tatsächlichen Ausmaße zu erkennen. Dafür kann man nun den Bergfuß von Nahem bewundern, die Einstiegsrouten suchen, und sich bei den zahlreichen dort anwesenden Expeditionen umtun. Die Amical-Expedition um Gerlinde Kaltenbrunner und Ralf Dujmovitz hat ihre Zelte am hintersten Ende des Camps aufgeschlagen. Wir besuchen zuerst den Memorial-Tower, ein turmartiger Felsen am westlichen Bergfuß des K2, wo sich die Gedenktafeln der an diesem Berg verstorbenen befinden. Der Tower ist indes gar nicht so einfach zu erreichen. Zunächst muss ein durchs blanke Gletschereis fließender Bach gequert werden, ein Hunza aus einer russischen Expedition schlägt uns freundlicherweise mit seinem Pickel Trittstufen. Der Gang am anderen Ufer durch pfadloses Geröll- und Blockgelände ist ebenfalls Hochtourengelände, am Tower selbst führt ein kleiner Pfad empor. Auffallend ist, dass in jüngster Zeit verstärkt russische Bergsteiger hier verunglückt sind. Das lieg sicher an deren hoher Risikobereitschaft, da die Russen meines Eindrucks nach das Bergsteigen oft noch mit einer gewissen Machoeinstellung angehen. In manchen Fällen mag auch der Vergleich mit dem berühmt-berüchtigten Russisch-Roulette trefflich sein. Die russische Expedition, deren Camp wir anfangs besucht haben, ist derzeit an der Westwand des Berges zugegen, eine äußerst schwierige und gefährliche Route. Im Nachhinein erfahre ich, dass diese Expedition erfolgreich verlaufen sein soll, im Gegensatz zum Gipfelversuch von Gerlinde Kaltenbrunner, die am sogenannten Flaschenhals kurz unterhalb des Gipfels wegen Schneebrettgefahr abbrechen musste.
Wenn wir schon mal da sind, dann wollen wir auch das komplette Camp besuchen, und so marschieren wir noch die gut zwei bis drei Kilometer bis hinter zu Amical. Bei Jasmin-Expeditions werden wir zum Tee und zum Essen eingeladen, unser Manzoor hat ohnehin überall Freunde. Wir kehren anschließend zurück zum Broadpeak-Basecamp und steigen gleich darauf ab bis nach Concordia, wo uns die zurückgebliebenen Träger schon einige Kilometer vor dem Camp entgegenkommen. Wir werden herzlich umarmt, die Jungs nehmen uns die Rucksäcke ab, und um 19.30 h, mit Einbruch der Dunkelheit, kommen wir im Lager an. Peter hatte heute krankheitsbedingt einen langen und qualvollen Tag zu bestehen, doch anbetrachts der langen Unternehmung in großer Höhe hielt er sich sehr tapfer! Wir essen noch im Schein der Kerosinlampe und diesmal bin ich es, der sich beschissen fühlt. Kopfweh, Erschöpfungsgefühl, ich will nur noch schlafen. Meine Eigendiagnose lautet leichter Sonnenstich. Ich war den ganzen lieben, langen Tag ohne Kopfbedeckung in der Sonne und auf dem gleißenden, reflektierenden Gletscher unterwegs, und in diesen Höhen wirken die Sonnenstrahlen ohnehin viel intensiver. Morgen früh soll die Entscheidung fallen, wie´s weitergeht. Ich will auf alle Fälle das Gasherbrum-Basecamp noch mitnehmen, der Gondogoro-La ist praktisch schon abgeschrieben, doch damit können alle Beteiligten leben. Auch Tobias möchte noch die Gasherbrums sehen, und Peter will seine Entscheidung davon abhängig machen, wie er sich morgen fühlt.
Frühmorgens fällt dann der Beschluß: Tobias, ich, Manzoor und drei Träger, sowie Salman, unser Hilfskoch werden zum Gasherbrum-Basecamp aufsteigen, Peter wird einen Ruhetag auf Concordia einlegen und morgen im Laufe des Tages mit dem Rest unserer Mannschaft nach Goro II absteigen, wo wir schließlich wieder hinzustoßen werden. Der Besuch der Gasherbrums an einem Tag ist praktisch unmöglich, wir müssen oben übernachten, wobei wir dem Gedanken eigentlich nicht abgeneigt sind, abermals in großer Höhe und im Angesicht so berühmter Berge eine Nacht zuzubringen, auch wenn diese sicher unangenehm kalter werden wird, und nächtliche Hypoxieanfälle aufgrund der großen Höhe obligatorisch sind. Kochen wird für uns dort oben übrigens nicht etwa Salman, sondern unser treuer Mr. Manzoor. Es ist dann schon urkomisch, wie dieser sich beim gemeinsamen Abendessen unter der Plane tausendmal für den Umstand entschuldigen wird, uns auf fast 5300 Metern Höhe ausnahmsweise keinen Nachtisch anbieten zu können!
Der Marsch hinauf zu den Gasherbrums geizt wahrlich nicht an gewaltigen Eindrücken. Er führt abermals in ein arktisähnliches Ambiente mit gigantischen Eisriesen als Kulisse, bis zu wohnblockhohe Seraks türmen sich am Weg, der glasklare Gletscherbach stürzt in verwirrenden Serpentinen durch einen weißblau schimmernden Eiskanal. Rechterhand grüßt das mächtige Schild der Chogolisa deren Nordostgipfel mit 7654 m, und der Südwestgipfel mit 7668 m Höhe auftrumpfen. An der Chogolisa hatte sich einst ein dramatisches Stück Alpingeschichte zugetragen: Hermann Buhl und Kurt Diemberger wollten den Erstbegehungen von Broadpeak und Skilbrum noch eins draufsetzen und stiegen zur Chogolisa auf. Dabei wurden sie vom heranziehenden Monsum überrascht, Hermann Buhl stürzte auf 7300 Metern Höhe mit einer abbrechenden Wächte mehrere tausend Meter die Nordwand hinunter. Seine Leiche blieb nach meinem Wissensstand bis zum heutigen Tag verschollen.
Links ragt ein besonders eleganter Berg in die Lüfte: der Gasherbrum IV (6706 m) ist noch steiler als der K2, allerdings weniger massig. Er gilt als ein besonders schwieriger und gefährlicher Berg. Im weiten Gletscherfeld erkennt man als winzigen, schwarzen Punkt das Ali-Camp, das für gewöhnlich als Ausgangslager für die Überschreitung des Gletscherpasses Gondogoro-La dient. Um 1 Uhr nachts wird von dort aufgebrochen. Es soll noch ein weiteres Lager weiter oben existieren, welches eine kürzere Überquerung, bzw. eine etwas gnädigere Aufbruchzeit ermöglicht, dafür ist aber die Übernachtungshöhe noch ein gutes Stück nach oben geschoben, was beste Akklimatisierung voraussetzt, oder aber zumindest eine schlaflose Nacht mit dröhnendem Brummschädel bereiten kann. Der Anstieg über den Schuttgletscher erfolgt sanft, wir gewinnen nur langsam an Höhe. Es ist verdammt heiß heute, und wir sind froh über jedes Wölkchen, das die Sonne vorübergehend bedeckt. Das Heiß der Tage steht, wie zuvor erwähnt, ganz im Gegensatz zur nächtlichen Kälte.
Der auffälligste und beeindruckendste Berg auf unserem Weg ist aber zweifelsohne der Golden Thrown. Er erscheint uns tatsächlich wie ein riesiger Thron, mit zwei gigantischen Armlehnen, dazwischen – schneeweiß - Sitz und Rückenlehne aus purem Eis und Schnee. Wir gehen geradewegs darauf zu, und erwarten jeden Augenblick, dass plötzlich hinter uns ein donnerndes Erdbeben den Boden erzittern lässt, während ein Riese, vielleicht der Herr dieser Berge, gegen dessen Füsse wir wie Ameisen erscheinen würden, zu seinem Thron zurückkehrt.
Wir folgen dem Baltoro Gletscher praktisch bis zu dessen oberen Ende, und bislang ist von den beiden Achttausendern Gasherbrum I und II nichts zu sehen. Erst zum Schluss der Etappe biegen wir in einen neuen Gletscherzufluß, dem Abruzzi-Gletscher, ein, und hier zeigt sich uns endlich der Gasherbrum I, der aufgrund seines langen Nicht-Sichtbar-Seins von seinen Entdeckern auch den Beinamen Hidden Peak (versteckter Berg) erhielt. Nun, wenn der Gasherbrum I der Hidden Peak sein soll, dann ist der Gasherbrum II wohl der "Most Hidden Peak", denn diesen bekommt man erst dann zu Gesicht, wenn man das äußerste obere Ende des Gasherbrum-Basecamps (5150 m) erreicht hat. Dort macht man es sich am besten auf einem der in der Gletschermoräne herausragenden Aussichtshügel bequem. Bis wir oben sind, hat sich der Gasherbrum II leider schon teilweise in Wolken gehüllt. Wir können zwar das gesamte Ausmaß des Berges in Augenschein nehmen, aber vernünftiges Foto soll einfach nicht möglich sein. Im Labyrinth des den Bergen vorgelagerten South Gasherbrum Glaciers können wir zwei zum Basislager zurückkehrende Bergsteiger ausmachen, die auf dem riesigen, zerrissenen Gletscher wie zwei Ameisen erscheinen. Der Gang hinauf auf unsere Aussichtskuppe, die mit ca. 5300 Metern Höhe den höchsten Punkt unserer Trekkingtour darstellt, lohnt sich heute abend mit oder ohne Prachtpanorma zum G II, denn großartig sind von hier aus die Ausblicke in eine eiszeitlich anmutende Landschaft. Das unglaubliche Panorama auf die von der Abendsonne bestrichenen Gipfel jenseits, westlich des Basecamps zieht uns in seinen magischen Bann. Am oberen Ende des Abruzzi-Gletschers ist der Conway-Saddle (5973 m) auszumachen, dieser führt hinüber nach China. Darüber erhebt sich der Sia Kagri (7422 m). In Blickrichtung rechter Hand befinden sich weitere Gipfel des Massivs Baltoro-Kangri, zu dem auch der Golden Thrown gehört. Allein der Gasherbrum II will sich uns weiterhin nicht richtig entblößen. Wir beschließen, es morgen in Allerherrgottsfrühe noch einmal zu versuchen. Ganz im Gegensatz zur eisrotzenden Pracht fristet das vorgeschobene Militärcamp unter uns ein elendes Dasein und schaut aus, wie eine dem Verfall preisgegebene Arktisstation. Die abgewohnten, ehemals weißen Biwakschachteln sind dreckig schwarz verfärbt, drumherum türmt sich der Müll. Das ganze Gebiet jenseits der Bergketten gehört bereits zu China, und der Siachen-Gletscher war in Zeiten offener Grenzstreitigkeiten das höchstgelegene Kampfgebiet der Welt. Vor dem bereits erwähnten tödlichen Lawinenunglück am Gasherbrum II ist einer internationalen Expedition übrigens noch zum ersten Mal in der Geschichte des G II eine sensationelle Überschreitung des Berges von China hinüber nach Pakistan gelungen. Nach dem Unglück sind alle weiteren noch verbliebenen Expeditionen von diesem Berg abgezogen, da die Lawinensituation anhaltend extrem gefährlich blieb.
Frühmorgens machen wir uns nochmals auf den Weg zum Aussichtshügel. Wir sind dicke eingepackt, denn es ist saukalt. Ein Trupp Soldaten kommt uns entgegen. In Bergstiefeln und Zivilkleidung, die Gewehre lässig über der Schultern hängend, sehen sie aus, wie Hasardeure oder eine Schmugglerbande. Wie wir das zuvor bereits bei den anderen Militärcamps erlebt haben, sind diese Männer freundlich zu uns Touristen, und bleiben gerne auf ein Schwätzchen stehen. Nur wenn man versucht, ihre Camps zu fotografieren, können sie recht nervös reagieren. Hoffnungsfroh verharren wir in der Kälte, ständig das Wolkenspiel um den Gipfel des G II im Auge. Wiederum ist G I gut zu sehen, doch sein kleinerer Bruder will auch heute nicht so recht. Schließlich kehren wir zum Frühstück ins Lager zurück, ein langer Abstieg wartet!
Mit wildem Tempo gehen wir den Rückweg an, der auch mit ein paar Gegenanstiegen gespickt ist. Unterwegs bewundere ich die durchlöcherten Gummiturnschlappen unseres Salman. Ich selbst trage hochwertige Hochtourenstiefel, mit denen ich volle Pulle in den Schotter rein kann. Trotz dieses Vorteils bin ich nicht schneller, als unsere vollbepackte Trägerschaft mit ihrem scheinbar so unzulänglichen Schuhwerk. Hungrig und erschöpft treffen wir um die Mittagszeit wieder in Concordia ein. Der anfangs so schöne Tag hat sich zu einem regnerischen gewandelt. Unsere Zelte stehen nicht mehr dort, Peter und der Rest der Mannschaft sind in diesem Falle schon nach Goro II aufgebrochen. Manzoor lässt es sich nicht nehmen, uns eine Gelegenheit zu einem Mittagessen zu besorgen, welches wir im trockenen Zelt zwischen wild und fast etwas inzuchtsgeschädigt aussehenden Burschen einnehmen, während draußen der Regen auf die Zeltwand plätschert. Wir befinden uns hier in einer Art Kaufladen und Porterkantine, wo verschiedene Lebensmittel oder Kerosin verkauft werden, und auch Ausrüstungsgegenstände deponiert werden können. Vor ein paar Tagen mussten wir übrigens prompt hier auf Concordia ein neues Fass (25 Liter) Kerosin nachkaufen, ganz so, wie Mr. Manzoor es mir prophezeit hatte. Ich hatte allerdings auch nicht mit einer derartigen Verschwendung des Brennstoffs gerechnet. Die beiden Kocher fauchen praktisch ständig vor sich hin, egal, ob gerade was auf dem Feuer steht, oder nicht.
Nach zweieinhalb strammen Marschstunden erreichen wir schließlich Goro II. Der Himmel bleibt regentrüb, doch außer ein paar eher erfrischend wirkender Tropfen, bleiben wir von der Nässe verschont. Die Sicht auf die umliegenden Gipfel ist allerdings schlecht, wenngleich das wilde Wolkenspiel um die schroffen Bergspitzen eine gespenstisch-schaurige Szenerie suggeriert. Uns wird zudem um so mehr bewusst, was für ein Glück uns die vergangenen Tage beschert war, denn wer heute zum K2 will, wird nicht viel davon haben. Wie lange es dauert, bis es wieder so wird, wie bei unserem Aufenthalt dort, ist gleichfalls ungewiss. Es soll schon Gruppen gegeben haben, die den gesamten Baltoro-Trek auf und ab nur im Nebel erlebt haben!
Wie immer, werden wir per Handschlag und herzlichen Umarmungen von unserer Mannschaft empfangen. Die Zelte stehen, und das Abendessen ebenfalls. Peter war übrigens bereits heute morgen um Acht hierher aufgebrochen. Ein zweiter Ruhetag in Concordia wäre ihm dann doch zu viel geworden, wenngleich er über diesen Tag dort einiges zu erzählen weiß. So etwa von einer gewissen Schottin, die wir ebenfalls bei den Gasherbrums im Zelt einer tschechischen Expedition kennengelernt hatten, und der Verkupplungsversuch unserer haschischberauschten Träger zwischen ihr und Peter. Oder der Tobsuchtsanfall einer Amerikanerin anlässlich der Weigerung ihrer Träger, mit ihr zusammen bei zweifelhaftem Wetter den Gondogoro-La zu überschreiten, wobei sämtliche gerade auf Concordia anwesenden Träger und Führer in die Streiterei involviert gewesen sein sollen.
Besagte Schottin ist heute ebenfalls in Goro II. Wir laden sie zum Abendessen ein. Tia, so heißt sie, ist eine Marke für sich, und um Unterhaltungsmangel braucht man sich in ihrer Anwesenheit nicht zu sorgen. Sie war am Broad Peak auf etwa 7000 Metern gescheitert, aber immerhin, Respekt! Beruflich ist sie wohl so eine Art Finanzjongleurin mit momentaner Auszeit. Sie spricht alle möglichen Sprachen, unter anderem Urdu, wobei sie an die anwesenden Pakistani mächtig austeilt, was zwar zu ausgelassener Fröhlichkeit führt, aber auch sicher Ehrfurcht und Schrecken vor westlichen Frauen einflößt.
Nachts regnet es, und anderntags erwacht unser armer Peter mit Fieber und Durchfall. Wir haben aber keine Chance, die Zeit rinnt uns davon, wir müssen weiter absteigen. Der gute Manzoor schlüpft heute in die Rolle des Hakim (so wird im Morgenland der Onkel Doktor genannt). Ein Bild zum Schmunzeln, wie er stets dicht hinter Peter herläuft, dessen Rucksack tragend, eine Tasse baumelt am Schulterriemen, die volle Teekanne hält er in der Hand, und bei jeder Gelegenheit reicht er Peter eine heilsame Tasse dampfenden Chai. Peter soll hinterher über diesen Tag aussagen, es sei ein besonders denkwürdiger gewesen, und er will das Datum 3. August für immer als seinen persönlichen Passionstag in Erinnerung behalten. Respekt, er hält sich tapfer und so erreichen wir auch zum guten Schluss das Lager Urdukas. Dort ist ein echter Arzt anwesend, ein Pakistani, der selbst auf Trekkingtour ist. Abermals neue Tabletten, aber Pillen hat unser Peter ja schon genug geschluckt, nicht immer ganz freiwillig. Diese hier scheinen zu helfen, oder wie auch immer, tags darauf geht es Peter jedenfalls wieder um Welten besser. Das Wetter ist seit unserer Rückkehr von den Gasherbrums allgemein schlechter geworden, immer wieder übersprühen uns leichtere Regenfälle, der Wind bläst, viel Gewölk und Nebel zieht um die Gipfel und verleiht diesen eine finstere Aura. So erscheinen mir die Trango-Gruppe und deren Nachbarn heute wie verwunschene Felskastelle. Irgendein böser Geist mag dort droben sein Domizil haben. Manzoor meint, dass es jetzt oben in Concordia bereits schneien würde. Wir jedenfalls hatten tagsüber eine herrlich frische und für´s Marschieren optimal temperierte Luft, die mit den wohligen Düften eines Sommerregens geschwängert war. Unterwegs wurden wir zum ersten mal wieder grüner Flora ansichtig, im unteren Teil der Flanke der NW-Biale-Kette. Das ist wahrlich ein Entzücken nach dem langen Aufenthalt in einer Wildnis, die praktisch kein Leben duldet, auch wenn es noch so faszinierend war! Dieses schüttere, zarte Grün erscheint uns einfach wieder als ein Symbol des Lebens nach all dem starr gefrorenen Eis und den kahlen, leblosen Steinen und Felsen der letzten Tage.
Auch auf Urdukas ist das Grün unterhalb der aalglatten Platten der über dem Lager aufragenden Felswände wieder präsent, auch ein paar Wasserfälle stürzen hier herunter. Wasserfälle gibt es übrigens auf dem Baltoro-Trek überraschenderweise nur wenige zu sehen. Ein bisschen erinnern mich die Felsen von Urdukas an die bei Kletterern so populären Platten im schweizerischen Haslital am Grimselpass. Ich habe heute Manzoor gebeten, mir etwas von dem bei den Einheimischen so heißgeliebten und von den Touristen (zu unrecht!) verschmähten Balti-Tee zu kredenzen. Dieses Getränk ist völlig identisch mit dem tibetischen Buttertee, Herstellungsverfahren und Zutaten sind dieselben. Er hat die braune Farbe von Kaba, und mit frischer Butter wurde nicht gegeizt. Resultat: exzellent! Ich habe schon mehrmals Buttertee getrunken, sowohl in Nepal, als auch in Spiti und Ladakh. Niemals habe ich einen mit ranziger Butter vorgesetzt bekommen, wie man das allenthalben in alten Bergsteigergeschichten so liest. Der Buttertee in Baltistan verdient aber ein extra Lob, es ist mit Abstand der beste und köstlichste, den ich bislang probiert habe. Ab sofort bestehe ich darauf, bei den Pausen, wie die Träger auch, mit Buttertee versorgt zu werden. Warum komme ich Ochse nur so spät auf diese Idee? Auch die in Tibet so populäre Tsampa gibt es in Baltistan. Diese wird hier Chapa genannt. Heute haben wir durch unsere recht frühe Ankunft zum ersten Mal "free time to relax" . Tobias nutzt die Zeit, sich von Sadigh Kochrezepte erklären zu lassen und diesem bei der Zubereitung gleich zur Hand zu gehen. Wer in Urdukas Wasser abfüllen will, sollte dies möglichst schon bei der Ankunft tun, denn frühmorgens kann es sein, dass aufgrund der Kälte kein Wasser läuft. Ein letztes Mal erklimme ich vor unserem Abmarsch die aussichtsreiche Felsplatte des Lagers, genieße den Blick hinüber zu den Trangos, wo morgendliche Nebelschleier unbeweglich vor den senkrechten Felswänden verharren.
Um 7.40 h brechen wir auf und gehen einen langen Abstieg. Nach Verlassen des Baltoro-Gletschers begleiten uns wiederum die mokkabraunen Fluten des Braldo-Flusses, Stein- und Geröllwüste und ockerfarbene Steppenlandschaft werden durchschritten. War es morgens noch heiter bis wolkig, so hat es ab Tagesmitte immer mehr zugezogen, starker Wind treibt uns Sandkörner in die Augen und zwischen die Zähne. Am schönsten wird´s am Abend, als die Sonne mit angenehmer Milde nochmal zurückkehrt und eine fantastische Stimmung zaubert. Bei einem Wasserlauf hole ich einige unserer Träger ein, die gerade das Abendgebet zum Sonnenuntergang verrichten. Ein auf seiner Isomatte kniender Träger im letzten Licht der untergehenden Sonne, das sind Bilder, die reizen, gemacht zu werden, die man aus Rücksicht auf die Sitten aber keinesfalls machen sollte, es muss eben ein unvergesslicher Anblick bleiben. Die lange Tagesetappe führt uns über Paiju weiter bis ins kleine Lager Mundong Dera, welches wir um 19.00 in der kurz zuvor hereingebrochenen Dunkelheit erreichen. Unter den Trägern herrscht Rückkehrstimmung. Der Rückmarsch kann ihnen nicht schnell genug gehen. Sie bekommen schließlich das Geld für die zurückgelegten Etappen, egal ob wir nur die Hälfte der Zeit dafür brauchen. So sind sie schneller wieder bei ihren Familien, oder können in Askoli gleich wieder bei der nächsten Trekkinggruppe anheuern.
Mit der heutigen Etappe wollen wir unser Endziel Askoli erreichen. Um 4.30 h ist Wecken, um 5.45 h machen wir uns auf den Weg. Manzoor insistiert darauf, dass wir heute allesamt unser Gepäck den Trägern übergeben. Für mich ist das ein sehr ungewohntes Gefühl. Meinen Rucksack betrachte ich immer als mein persönliches Schneckenhaus und außer dem sperrigen Winterschlafsack habe ich während des ganzen Treks nichts weiter abgegeben. Mir erscheint das, als wären wir versprengte Bomberpiloten, die irgendwo in der Wüste über Feindesland abgeschossen wurden, und nun zu Fuß zurückkehren müssen. Kurz vor Jula treffe ich zwei ehemalige Träger von uns, zu Pferd. Sie sagen, Barbara Hirschbichler und Ghulam Razool seien in Jula an der Brücke und würden auf uns warten. Um 8.30 h treffen wir in Jula ein und unsere Träger haben ein zweites Frühstück vorbereitet. Dort erfahren wir, dass Barbara und Razool tatsächlich an der Brücke auf uns warten. Es wird eine herzliche und freudige Zusammenkunft. Die Beiden sind auf dem Weg hinauf ins Pangma-Tal, das Camp Jula und die Brücke befinden sich ja bereits am unteren Taleingang. Barbara beabsichtigt dort unter anderem eine Erstbegehung, die ihr bei ihrem letzten Aufenthalt dort wegen eines zu kurzen Seils entgangen ist. Im Übrigen ist das Pangma-Tal, auch wenn es nicht so spektakulär ist, wie der Baltoro, ein Hort der absoluten Einsamkeit. Ein Tip für diejenigen, die zum zweiten Mal ins Baltoro-Gebiet gehen. Witzig sind die Träger der Beiden, ein wahres Altersheim! Allesamt sind es bereits in die Jahre gekommene Herren mit krummen Buckeln und faltigen Gesichtern, die sonst aufgrund ihres Alters sonst kaum mehr auf Treks und Expeditionen mitgenommen werden. Hier bei Barbara erhalten sie wenigstens vorübergehend wieder mal Lohn und Arbeit.
Nach diesem erfreulichen Zufallstreffen setzten wir unseren Rückmarsch fort, und um 12 Uhr erreichen wir Korophon, das Lager unterhalb der Moräne des Biafo-Gletschers, wo sich die Trinkwasserquelle befindet, aus der ich bereits beim Hinmarsch undesinfiziert getrunken hatte. Wiederum sind die weidenden Dzos anwesend. In der Fortsetzung des Weges queren wir abermals die mautpflichtige Brücke, aber der Kassierer ist dort schon abgezogen. Um 15.30 h erreichen wir Askoli. Dort tönen aus den Lautsprechern der kleinen Moschee tibetisch klingende Gesänge, die an der riesigen Felswand gegenüber vom Dorf als faszinierender Effekt wiederhallen. Eine seltsame Stimmung scheint mir hier zu herrschen! Manzoor erklärt uns, es sei heute Totengedenktag. Ein verdächtig krank dreinschauendes Huhn wird bei unserer Ankunft kurzerhand geschächtet. Ebendieses wird uns später mit Pommes Frites serviert. Mit dem Fleisch habe ich irgendwie Probleme, der Zustand des Tieres kurz vor dessen Ableben hat mir gar nicht gefallen.
Alsdann erfolgt die Auszahlung unserer Träger. Wir sitzen zu viert (mit Manzoor) in einem Hauszelt, den Taschenrechner auf dem Tisch und die Namenlisten vor uns. Es ist eine leidige Rechnerei, aus besagten Gründen, weil ja fast jeder Träger anders bezahlt werden muss, sei es, ob er erst später eingestellt wurde, sei es, ob er mit oben in den Basecamps war oder sonstige Varianten. Wir kommen uns vor wie die Herren einer südafrikanischen Mine am Monatsende. Erst Rechnen, dann wird der Name der entsprechenden Person aufgerufen, und der tritt dann ein, um Geld und Trinkgeld zu empfangen. Anhand der Reaktionen unserer Mannschaft ist ersichtlich, dass die Jungs vollauf zufrieden sind mit dem Trinkgeld, das wir ihnen zum normalen Lohn drauflegen. Zum Schluss verteilen wir noch alles an Lebensmitteln und Gebrauchgegenständen, was vom Trek noch übriggeblieben ist. Fida Hussain, dieser schlitzohrige Gauner, reißt sich gleich das begehrteste Stück, den Kocher, unter den Nagel. Tobias und Peter wollen eingreifen und für Gerechtigkeit sorgen. Ich winke ab. Spätestens, wenn wir Askoli verlassen haben, wird sich Fida Hussain den Kocher wieder zurückholen. Er war uns während des Treks dadurch aufgefallen, dass er seine Nase immer zuvorderst hatte, egal, um was es sich drehte. Er war der unangefochtene Wortführer in unserer Trägercrew und gehört zu der Sorte Mensch, die sich selbst die Nächsten sind und dies mit absoluter Zielstrebigkeit durchzusetzen wissen. Unsere Jeeps stehen jedenfalls bereit und wir beschließen, heute noch nach Skardu zurückzukehren, was dann allerdings eine Nachtfahrt unumgänglich macht. Mit herzlichen Umarmungen verabschieden wir uns zuvor noch von unserer treuen Mannschaft.
Um 18 Uhr verlassen wir Askoli. Noch ist es Abend, doch bald schon fahren wir im Stockfinstern. Diese Nachtfahrt hat für uns durchaus etwas Reizvolles und meiner Meinung nach ist sie nicht gefährlicher, als tagsüber zu fahren. Schnell geht´s bei den gegebenen Bedingungen ohnehin nicht und die Fahrzeugscheinwerfer reichen vollkommen aus, um die riskante Wegstrecke genügend gut auszuleuchten. Etwas nervig sind die á-capella-Gesänge eines Männerchors, die aus dem Lautsprecher des Autoradios tönen, eine Kassette unseres Fahrers. Am kribbligsten sind die zahlreichen Hängebrückenüberquerungen. Irgendwie vermittelt uns das Innere des Fahrzeugs ein Gefühl von Geborgenheit im Gegensatz zum Dunkel und der Frische der Nacht und der Einsamkeit der von uns durchfahrenen Wildnis, wo man sich um diese Uhrzeit als Ausgesetzter fast verloren vorkommen würde. Später, als wir uns schon fast wieder im Bereich der Dörfer befinden, halten wir noch zu einem Dinner, in einer schlecht beleuchteten Spelunke, wo hauptsächlich Kraftfahrer Einkehr halten, also nicht anderes, als eine Straßendhaba. Ich persönlich mag solche Kaschemmen.
Um 1.30 stehen wir schließlich vor dem verschlossenen Tor des Masherbrum-Hotels in Skardu. Und auch ansonsten ist der ganze Ort um diese Zeit mausetot. Wir müssen mehrfach rufen und klingeln, ehe der Nachtwächter aus seinem Tiefschlaf erwacht und uns endlich Einlass gewährt. Noch vor dem Zubettgehen wird die erste Dusche seit 11 Tagen genommen. Herrlich. Morgens geht´s dann zum Frühstücksbuffet, aber kulinarisch ist es uns ja auf unserer Tour niemals schlecht ergangen. Dafür gibt es aber durchaus noch weitere zivilisatorische Annehmlichkeiten, die so ein Mittelklassehotel zu bieten hat, und die wir nach 11 Tagen Wildnisaufenthalt durchaus zu schätzen wissen, so etwa einen echten Tisch, gepolsterte Stühle, geheizte Räume ....
In Skardu ist Feiertag, der Bazar hat nur teilweise geöffnet. Wir bummeln zunächst ein wenig durch den Ort, anschließend fahren wir mit Matin zum Büro von Shipton-Trekking. Spätnachmittags unternehmen wir schließlich noch eine kleine Wanderung, die uns unter dem Kharpocho-Fort hindurch hoch über den Indus führt. Der exponiert in den Fels gesprengte Weg ist eindrucksvoll und senkt sich zum Schluss abwärts zu einem einsamen, mit Bäumen bestandenen Sandstrand. Der hellgraue, feinsandige und völlig unverspurte Strand kann durchaus mit den schönsten und einsamsten Karibik- oder Südseestränden gleichziehen. Das Flussbett des Indus ist hier von gewaltiger Größe und das Bewusstsein darüber, am Ufer dieses illustren, zu den drei großen, heiligen Flüssen Indiens gehörenden Stromes zu stehen, ebenfalls, wo ich doch schon in frühester Jugend davon gelesen und geträumt habe. Mir fallen meine Barthaare wieder ein, die ich vor zwei Jahren feierlich dem Zanskar-River übergeben habe. Sind sie hier vorbeigekommen? Oder sind sie in eine der zahlreichen Seichtstellen gespült worden, die dieser riesige Strom häufig in Ufernähe aufweist und die mitunter sogar Gegenströmungen bilden können? Wir schlendern gemütlich zurück, die milde Abendsonne wärmt uns angenehm, und taucht Stadt und Landschaft in zartes Gold. Vom Felsbandweg aus geniessen wir ein letztes Mal das großartige Panorama über die mit viel Grün gesegnete Ortschaft Skardu hinweg rüber zu staubtrockenen, ockerfarbenen Bergen und zum alles beherrschenden, milchkaffebraunen Strom des heiligen Indus. Was für ein malerisches und erfüllendes Finale einer großartigen Trekkingtour!
In Skardu treffen wir viele Bekannte, die wir entweder bereits bei unserer ersten Ankunft dort, oder aber im Verlauf unserer Trekkingtour kennengelernt haben. Mir scheint es jedenfalls so, als würden wir inzwischen halb Skardu kennen. Zudem passiert es immer wieder, dass wildfremde Männer uns auf der Straße die Hand reichen und nach unserer Herkunft fragen, ob es uns gefällt hier in Pakistan und ähnliche Höflichkeiten. In vielen anderen Ländern ist es so, dass, wenn mir ein Fremder die Hand reicht, bei mir sämtliche Alarmglocken läuten, denn in den meisten Fällen will er mir dann etwas verkaufen, mich in irgendein Hotel schleppen oder sonstwie versuchen, aus mir Profit zu schlagen. Hier in Pakistan ist das meistens anders. Sogar in der Grossstadt Rawalpindi suchen immer wieder Leute Kontakt zu Fremden aus reiner Neugier und Gastfreundschaft. Zum Abschied folgen stets Glückwünsche. Ich muss daran denken, was über Afghanistan von den Besuchern, die in den 60er und 70er-Jahren, als das Land noch halbwegs befriedet war, berichtet wurde. Afghanistan sei das gastfreundlichste Land der Welt, hieß es immer wieder. Auf der anderen Seite wurde auch oft von beinahe-Steinigungen und ernsthaften Bedrohungen berichtet, wenn der Reisende zur falschen Zeit am falschen Ort war. Nun, Afghanistan und Pakistan sind Nachbarländer, und haben sicher bis in die heutige Zeit hinein vieles gemeinsam. Das letzte Abendessen in Skardu nehmen wir im Dewan-e-Kes Family Restaurant ein, nachdem wir es im K2-Hotel bei einem Getränk im Garten belassen haben.
Unser Rückflug mit der PIA klappt – wie befürchtet – abermals nicht, dafür kann uns Manzoor einen Privatbus besorgen zum Preis knapp über dem für den Public-Bus. Mit von der Partie wird Dave Stamboulis sein, den wir in Concordia kennengelernt haben. Dave ist Reisefotograf und Autor von Reisebüchern, US-Staatsbürger, mit derzeitigem Hauptwohnsitz in Bangkok und hat sich in erster Linie auf Asien spezialisiert. http://www.davestamboulis.com/
Frühmorgens starten wir. Es heißt nun für Peter, Manzoor und mich, von unserem lieben Gefährten Tobias Abschied zu nehmen. Er wird sich noch ein Weilchen länger in Pakistan aufhalten. Über Gilgit will er noch ins Hunza-Land hinaufreisen, um dort eine weitere Trekkingtour zu unternehmen. Ich beneide ihn, auch für seinen vorangegangenen Besuch des Nanga Parbat. Unser Bus konnte noch mit anderen Fahrgästen, auch Einheimischen, besetzt werden, aber fast jeder Passagier okkupiert einen Doppelplatz. Gestern wurde mit dem Fahrzeug eine größere Gruppe Spanier nach Skardu verbracht. Die Rückfahrt dauert erwartungsgemäss lange, ist aber ein landschaftlicher Genuss. So bekommen wir sozusagen zum Abschied auch noch den Nanga Parbat zu sehen, etwas diesig, aber dennoch gut sichtbar von der Skardu-Road aus, nahe der Bifurkation mit dem Karakorum Highway. Ein Schild an der Straße deklariert den Berg in reißerischer Manier mit "Nanga Parbat – the killer mountain". Nachts fährt unser Bus durchs buchstäblich wilde Kohistan. Die Kohistani geniessen den gleichen Status, wie die Volksgruppen der North-Western-Territories an der Grenze zu Afghanistan. Wie die dortigen Paschtunen leben auch die Kohistani allein nach ihren Stammesgesetzen und damit nach ihrem eigenen Ehrenkodex. Der pakistanische Staat sucht dabei den Konsens, dass wenigstens öffentliche Straßen und die großen Städte unter staatlicher Kontrolle bleiben. So sind diese Gebiete wohl Pakistan, genauer betrachtet aber eigentlich doch nicht.
Die Talibanbewegung wird übrigens zu 99 Prozent von der Volksgruppe der Paschtunen getragen. Wenn man die Handlungsweisen der Taliban betrachtet, und sich einmal den paschtunischen Ehrenkodex, den Pashtunwali, anschaut, so liegt wohl nahe, dass diese übertrieben harten Sitten und Gesetze vermutlich nicht rein religiös, also auf dem Koran begründet sind, sondern dass diese für uns oft so unverständlichen Handlungsweisen auch von der rigorosen Anwendung des Pashtunwali herrühren. Fakt ist für mich persönlich jedenfalls: der Koran wird für die radikal-islamischen Auswüchse im gleichen Maße missbraucht, wie die Bibel einst in Zeiten der mittelalterlichen Inquisition. Der Pashtunwali hat allerdings ebenfalls äußerst tugendhafte Vorschriften: so wird etwa das Gastrecht über alles andere erhoben, und wenn dieses einmal gewährt ist, wird es, wenn es sein muss, mit dem Einsatz des eigenen Lebens, dem Verzicht sämtlicher Besitztümer, oder Verluste in der eigenen Familie aufrechterhalten. Die Pashtunen hatten damals die Auslieferung ihres Gastes Osama Bin Laden verweigert, obwohl sie genau wussten, dass dadurch die Intervention durch die Amerikaner und das vorläufige Ende der Talibanherrschaft in Afghanistan unabwendbar wird.
Insbesondere wegen des blutigen Durchgreifens in der Roten Moschee von Islamabad vor wenigen Wochen soll die Stimmung in Kohistan – und nicht nur dort – derzeit äußerst gereizt sein. Jedenfalls fahren wir im Konvoi von etwa zehn LKWs, und alle 10 Minuten passieren wir einen Militärposten, was einerseits gewisse Bedenken aufkommen lässt, andererseits aber auch wieder beruhigt. Noch in der Nacht müssen wir die Fahrgäste eines liegengebliebenen Busses aufnehmen, vorbei ist es nun mit den bequemen Zweier-Sitzplätzen. Jetzt ist sogar noch der Gang voll besetzt. Von den Einheimischen würde übrigens niemals jemand auf die Idee kommen, einen solchen Zustand zu kritisieren. Es ist selbstverständlich, dass man in einer solchen Situation andere Leute bis zum Zerbersten und auf Kosten der eigenen Bequemlichkeit aufnimmt. Ich habe Ähnliches auch schon etwa auf Busfahrten im tibeto-indischen Spiti erlebt.
Frühmorgens kurven wir wieder durch´s grüne Hügelland, das Karakorum-Gebirge liegt nun hinter uns, den gleichnamigen Highway haben wir hingegen noch nicht verlassen. Die Siedlungsdichte hat hier wieder zugenommen, überhaupt scheint hier fast alles anders, als dort, wo wir herkommen – aus Baltistan. Wir erreichen Rawalpindi schließlich um 12.15 h und beziehen Quartier im Hotel "Regent", welches sich in etwa zwischen Sadhar-Bazar und Raja-Bazar befindet. Es ist wesentlich billiger, als das "Paradise" und in Ausstattung und Service gleich gut.
Zurück in Rawalpindi haben wir unseren letzten Pflichtgang in Pakistan zu tätigen, nämlich den Rapport bei Mr. Tharek vom Alpine Club. So, wie schon bei unserer Ankunft, ist es auch diesmal wieder ein Vergnügen, sich mit diesem so enthusiastisch an der pakistanischen Bergwelt hängenden Herrn zu unterhalten. Auch Umweltfragen werden dabei wiederum aufgegriffen. Ansonsten heißt Rawalpindi für uns nur noch entspannen, bummeln, besichtigen, wenngleich für Letzteres nicht viel Angebot vorhanden ist. Sehenswert ist auf jeden Fall die vom saudischen König gestiftete Faisal-Moschee in Islamabad, ein Wunderwerk moderner Bautechnik. Es ist dies die größte Moschee Pakistans und sie soll zudem die größte geschlossenen Moschee der Welt sein. Hinter der Moschee erheben sich die Margallah-Hills, ein wunderbares Naherholungsziel für die Städter, wo auch ausgedehnte Wanderungen möglich sind. Der von einer gepflegten Parkanlage gesäumte Aussichtspunkt bietet fantastische Aussichten über Islamabad und Rawalpindi, sowie darüber hinweg, wo das weite Flachland mit der Diesigkeit des Horizonts verschmilzt. In Islamabad finden wir einen ausgezeichneten Bücherladen, der sein Riesenangebot über drei Stockwerke verteilt. Bücher sind in Pakistan übrigens spottbillig. Auch in den Raja-Bazar zieht´s uns, des bunten Treibens wegen, Einkaufen selbst empfiehlt sich eher im Saddar-Bazar, da die Qualität dort laut Manzoor besser sein soll. Zum Essen geht´s am ersten Abend zusammen mit Dave ins Jahangir, wo man unter freiem Himmel eine gute einheimische Küche genießen kann. Anschließend begleiten wir Dave zum "Flashman". Es soll der einzige Ort in Rawalpindi sein, wo es Alkohol zu kaufen gibt. Und zwar im Hinterhof eines feudalen Hotels, versteckt in einem schlecht beleuchteten Lagerschuppen. Wir kommen uns dabei beinahe vor, wie Schwarzmarktkäufer zu Zeiten der amerikanischen Prohibition in den 20er-Jahren. Für den letzten Abend hat uns Mr. Manzoor eingeladen, auch Dave wird gebeten, uns zu begleiten. Manzoor führt uns ins nobelste Restaurant der Stadt, ein untrügliches Zeichen dafür, dass auch er mit uns zufrieden war. Zum Diner im Continental Pearl erscheine ich – sehr zur Freude von Manzoor – im traditionellen, auf dem Saddar-Bazar erstandenen Shalwar Kamiz. Im Continental Pearl dinieren die Reichen und Einflussreichen des Landes. Und ich will nicht unerwähnt lassen, wie gut uns die Frauen dort gefallen haben. Viele sind in westlicher Mode gekleidet, einige auch traditionell, aber fast alle ohne Schleier, bildhübsche Gesichter, mit wunderschön langen Haaren, wahre Prinzessinnen des Orients, doch in diesen Kreisen gelten wir als arme Schlucker, noch dazu ohne Ständezugehörigkeit, chancenlos!
In Allerherrgottsfrühe brausen wir durch den noch dunklen Morgen per Taxi gen Flughafen. Manzoor begleitet uns bis zur Abflughalle. Dieser Mann hat uns von der ersten bis zur letzten Minute auf unserer großartigen Reise begleitet, und war stets darauf bedacht, uns dabei das Bestmögliche zu bieten. Wir verabschieden uns von einem prächtigen Menschen und souveränen Führer, und von einem Land, das bei uns zuhause fast nur noch im Zusammenhang mit Ausbildungslagern für Terroristen, grausigen Bombenattentaten und Sammelbecken von feindseeligen Extremisten Eingang in die Medien findet. Wir jedenfalls durften eine ganz andere Seite von Pakistan kennenlernen. Wir verlassen ein Land, wo Gastfreundschaft einen Stellenwert hat, wie kaum noch anderswo, ein Land, in dem uns die Menschen fast immer freundlich und aufgeschlossen empfangen haben, ein Land mit einer Bergwelt, wie es sie auf diesem Planeten kein zweites Mal mehr gibt.
Nachtrag: aus gut informierter Quelle erreicht mich im nachhinein folgende Information: "Greg Mortenson ist in Baltistan so verhasst, dass erfolgreich gegen sein Vorhaben prozessiert wurde, dort eine Schule zu bauen" . Der Wahrheitsgehalt des Buches "Three cups of tea" wird in dieser Information weitgehend angezweifelt.
Ich selbst habe beschlossen, diesbezüglich meinen ursprünglich geschriebenen Bericht nicht mehr abzuändern, wohl aber die mir zugegangenen Fakten in der vorliegenden Form anzufügen.
1 Kommentar:
Hallo aus der Steiermark! War im Vorjahr ebenfalls im Karakorum unterwegs - am Broad Peak, mit der Jubiläumsexpedition des OEAV. Bin zufälligerweise auf deinen Blog gestoßen - großes Kompliment! Sehr ausdrucksstarke Schilderung deines Erlebnisses. Beim Lesen nachfolgender Zeilen bin ich aber stutzig geworden, denn im letzten Broad Peak-Camp war unser Expeditionsteam stationiert - und ein gewisser Aziz aus dem Shimshal Valley hat uns in unserem Camp servicetechnisch usw. betreut - ein junger, schlanker, schlaksiger Bursche, ein ganz netter Kerl, auch ein bißchen ein Schelm. Aber dass er auf dem BP-Gipfel gewesen sein soll, das wäre für mich ganz neu. Ich glaube, da hat er wohl ein wenig aufgeschnitten. Hast du zufälligerweise ein Foto von diesem Burschen?
"Um 8.30 brechen wir auf, ohne Gepäck. Bis das andere Ende des Broadpeak-Basecamps erreicht ist, sind gut drei Kilometer zurückzulegen. Im letzten Camp lernen wir Aziz aus Shimshal kennen, einen jungen Hunza-Bergsteiger, der frisch vom Gipfel des Broadpeak zurückgekehrt ist".
LG Gerald Almer/Leoben
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