Sonntag, 17. Dezember 2006

Die Rätikon-Durchquerung

Grenzgängerei im Banne der Schesaplana (07.06. - 11.06.2003)

In ihrer Eigenschaft als naturgegebene Barrieren, welche für den Menschen oft nur schwer überwindbar sind, bilden Berge immer wieder Landesgrenzen. Über die schroffen Kämme des Rätikon, welcher die zentralen Ostalpen nach Westen hin abschließt, ziehen sich gleich drei Landesgrenzen, anders betrachtet teilen sich drei souveräne Staaten dieses Alpenmassiv: während die österreichischen Talschaften sich auf der östlichen und nordöstlichen Gebirgsseite befinden, beansprucht das schweizer Prättigau die Süd - und Südwestseite. Weit oben im Nordosten ziehen sich die äußersten Kämme des Rätikon durch das Miniterritorium des unabhängigen Fürstentums Liechtenstein. Montafon ("Mont tofun" = Berg Tobel), Malbun ("Valbun" = gutes Tal), Vaduz ("Valduz" = Süßtal), dem Lateiner wird ein Glöcklein läuten: das sind rätoromanische Namen, daher auch "Rätikon". Dieses vom Aussterben bedrohte Idiom wird hier allerdings nicht mehr gesprochen, lebendig ist es trotzdem noch , vor allem im Süden des schweizer Kantons Graubünden, im Engadin. Trotz häufiger rätoromanischer Flurnamen dominieren im Rätikon deutschsprachige, genauer definiert alemannische, Namensgebungen, und alemannische Dialektvarianten werden hüben wie drüben der Landesgrenzen gesprochen. Die Hauptverursacher dieser "Alemannisierung" dürften wohl die Walser gewesen sein. Dieses sagenhafte Bergvolk hatte ursprünglich seine Heimat am Südfuß der Berner Alpen, im heutigen Kanton Wallis (Walliser = Walser), von wo aus die Walser im frühen Mittelalter zunächst in die Täler der Südalpen vordrangen, um später auch bis zum Alpennordrand zu expandieren. Auf einer Wanderung durch die tschechische Sumava (der berühmte Böhmerwald!) übernachtete ich einst im kleinen Städtchen Valori (Wallern). Nomen est Omen, denn in Valori und in den umliegenden Ortschaften kann man ebenfalls noch zahlreiche uralte, in typischer Manier mit viel Holz gebaute Walserhäuser besichtigen. Das überlegene Wissen der Walser um Besiedlung und Bewirtschaftung hochgelegener Bergregionen trug entscheidend zu deren Erschließung bei. Kein anderes Volk hatte es zuvor zustande gebracht, die Almwirtschaft durch stufenweisen Auftrieb des Viehs, wie er heutzutage noch üblich ist, in derartige Hochlagen vorzutreiben. Dies brachte den Walsern auch eine gewisse Beliebtheit bei den Landesfürsten ein, welche deren Ansiedlungen in den feudaleigenen, jedoch brach liegenden Hochtälern mit für mittelalterliche Verhältnisse weitreichenden Rechten subventionierten. Musik, Mundart, die besondere Hausarchitektur und eine einzigartige Volkstracht sind Beispiele für die bis in die heutigen Tage überlebte Walserkultur.

Um 11 Uhr morgens treffe ich mit dem Zug in Tschagguns ein. Und wenn ich schon einmal damit begonnen habe, auf rätoromanische Flurnamen und deren Herkunft zu verweisen: Tschagguns leitet sich wohl von rätoromanisch "Tschaggruns" her, was wiederum "Schabzigerklee" bedeutet. Dieses malerische Bergdorf mit dem wunderschönen, alten Barockkirchlein berührt mit seinem Ortsrand das bekanntere Schruns, mondäner Ski- und Sommerfrischlerort mit allen nur erdenklichen Freizeit - und Ferienangeboten und Hauptort des Montafoner Tals, welches im Ruf steht, eines der schönsten Alpentäler zu sein. Drei faszinierende Gebirgsgruppen umschließen die Talschaft: im Süden die Silvretta, das am westlichsten gelegene Gletschergebiet der Ostalpen, im Osten das immer noch wenig bekannte Verwall und im Westen dann der Rätikon.

Um nicht unnötig lange auf Teer dackeln zu müssen, nehme ich den Bus hinauf nach Latschau, wo ich am Kraftwerk des Stausees aussteige. Bald lasse ich die letzten Häuser im oberen Teil der weit verstreuten Gemeinde hinter mir und gelange auf das geschotterte Almsträßlein, welches sich durch das Gauertal aufwärts schlängelt. Bei einer Abzweigung gehe ich rechts, was sich bald als die falsche Entscheidung entpuppen soll, denn als ich weiter oben das Gaurtal - Haus (Naturfreundehaus) erreiche, stelle ich fest, das von dort aus kein direkter Übergang über den Bach auf die andere Talseite möglich ist. Da ich aber auch keine Lust habe, nochmals umzukehren, entfällt eben die ursprünglich geplante Route über die Alpilla - Alpe hinauf zur Tschaggunser Mittagsspitze (2168 m), dem Hausberg von Tschagguns, wo ich über den Walser Alpjochkamm in die Schwarze Scharte, und von dort schließlich zur Tilisunahütte gelangt wäre. Stattdessen folge ich dem Gaurtal weiterhin aufwärts in Richtung Lindauer Hütte. Das hochalpine Gelände muß in diesem Fall noch warten, schön ist der Aufsteig durch´s Gaurtal allemal! Hinter dem Gaurtalhaus passiere ich die wunderschönen Holzhäuschen der Almensiedlung Gauen, und direkt vor mir erhebt sich über dem Talabschluß ein atemberaubendes Ensemble großartig geformter Felsgipfel. Linkerhand reckt sich das Gipfelkreuz der Sulzfluh über die davor stehenden mächtigen Wände der kleinen Sulzfluh, rechts außen die Drusenfluh (2827 m), dazwischen das Schönste, was der Rätikon an Bergformen zu bieten hat, die drei Türme, wobei der höchste Turm mit 2830 Metern die dritthöchste Erhebung des Rätikon manifestiert. Drei wilde, zackige Felstürme recken sich wie Speerspitzen gen Himmel, die weiter unten durch eine symmetrische, scheinbar aalglatte, schräg nach unten geneigte Kalkplatte verbunden sind. Das daraufliegende Schneefeld gleicht einem weißen Tischtuch. Überhaupt sind die Altschneefelder, vor allem in den Karen, noch üppig, was den Eindruck einer hochalpinen Gebirgslandschaft noch unterstreicht. Inwiefern dies sich für mich als Begeher ungünstig auswirkt, soll sich noch herausstellen, einschlägige Erfahrungen diesbezüglich habe ich ja in der Vergangenheit bereits zu Genüge gemacht. Manche behaupten, der Talabschluß des Gaurtales sei einer der schönsten in den Alpen. Ohne Umschweife möchte ich ihm das Prädikat "außergewöhnlich schön" zugestehen.

Da zur Zeit warme Temperaturen herrschen, aber leider auch Gewitterneigung, sind denn auch schon dicke Quellwolken aufgezogen, als ich die Lindauer Hütte erreiche. Da ich Wert darauf lege, die Hauptkammdurchquerung des Rätikon vollständig zu machen, möchte ich auf jeden Fall noch einmal ausholen und den Normalübergang von der Lindauer Hütte (1744 m) aus hinüber zur 2208 Meter hoch gelegenen Tilisunahütte angehen. Der durch die Schwarze Scharte (2166 m) führende Bergweg würde etwa zweieinhalb Stunden beanspruchen. Etwas nervös machen mich die Wolkenspiele über meinem Kopf zugegebenermaßen, der ungünstigste Zeitpunkt für das Losbrechen eines Unwetters wäre sicher in der Weghälfte. Das Gewitter braut sich zunächst jedoch über den Drei Türmen und der Drusenfluh zusammen, während mein Blick in Richtung Schwarze Scharte noch blauen Himmel und Sonnenschein erhascht. Da sich das insbesondere in den Bergen ganz schnell ändern kann, beschließe ich, mein Marschtempo zu forcieren.

Die Lindauer Hütte liegt am Waldrand auf einem Hügel im Talabschluß. Diese Erhebung, die durch den schönen Porzaiengawald bedeckt ist, ist übrigens ein Resultat eines einstigen Bergsturzes. Der Weg zur Tilisunahütte führt also zunächst ein Stück abwärts in eine Bergwiesenmulde, dann zieht er unterhalb von Felswänden nach oben, wobei mich der Übergang der Vegetation von Wiesenmatten zu subalpinem Buschwerk und blühenden Alpenrosen fasziniert. Überhaupt kontrastiert hier sattes Grün mit den schroffen, grauen oder schwarzen Felsen in einzigartiger Weise, wenn man die Blicke über das Gesamtwerk dieser großartigen Landschaft schweifen läßt. Zwischenzeitlich ist es schon reichlich grau nicht auf, sondern über meinem Kopf geworden. Nach einer kurzen, leicht ausgesetzten Stelle entlang einer Felswand gelange ich in den Sattel, als schlagartig Nebel aufzieht. Hier stoße ich auf das erste Schneefeld und auf drei Wanderer. Die Begrüßung "Servus, Moischter!" mit dem unverkennbaren gutturalen Akzent verrät mir die Herkunft aus dem schwäbischen Allgäu. Die Tilisunahütte sei noch geschlossen, da ich mit Zelt unterwegs bin, stört mich das aber nicht. Von der Schwarzen Scharte aus (man erkennt sie tatsächlich an der schwärzlichen Einfärbung des Gerölls) sind es noch etwa zwanzig Minuten bis zum Standort der Tilisuna - Hütte. Die Landschaft wirkt, als wäre das Gewitter bereits niedergegangen. Feuchte Erde, düsterer Himmel und umherfliegende Nebelfetzen begleiten meinen Weg über problemlose Schneefelder hinunter zur Hütte. Sie ist tatsächlich geschlossen, es ist dennoch jemand anwesend, vermutlich zwecks der derzeit immer noch andauernden Renovierungsarbeiten. Nicht alle sehen die in den meisten Gegenden der Alpen leider Gottes untersagte Zelterei gerne, weshalb ich beschließe, mich ein Stück weit von der Hütte zu entfernen. In etwa 500 Meter Distanz mache ich auf einem Hügel ein kleines Steinhüttchen aus, zu dem ich jetzt hochgehe. Es handelt sich um ein verschlossenes Zollhäuschen, das mit einem Blitzableiter ausgestattet ist. Direkt vor der Eingangstür finde ich ein flaches Wiesenstück vor, wo ich schließlich mein Zelt aufbaue. Der Platz trifft wieder mal voll meinen Geschmack, einsam, inmitten prächtiger Berglandschaft schmeckt das selbstgekochte, einfache Abendessen gleich wieder doppelt so gut. Nach hinten blicke ich genau auf die gleichfalls auf eine kleine Geländeerhebung gebaute Tilisunahütte, das schlanke Schwarzhorn (2460m) dominiert die Szenerie. Aus dunklem Granit bestehend, wie der sich dahinter fortsetzende Alpjochkamm mit der von dieser Höhe aus etwas untersetzt wirkenden, aber dennoch markant den Kamm wie ein Wächter zum Tal hinunter abschließende Mittagsspitze, sind diese Berge mit grünen Matten überzogen. Auf der Westseite erhebt sich ein vegetationsarmes, hellgraues Karstplateau, darüber ragt der symmetrische Kalkgipfel der Sulzfluh empor, während im Süden, also gegenüber meinem Biwakplatz Weißplatte (2630 m), Scheienfluh (2627 m) und Sarotlaspitze (2563 m) die natürliche Barriere zum schweizer Territorium bilden. Zwischen Tilisunahütte und meinem Standort fügt sich rechts unten malerisch der Tilisunasee. Es finden sich in der Umgebung noch zahlreiche weitere kleine Seen, der größte davon zwischen meinem Hügel und dem Kalkrücken, die anderen sind wohl eher als größere Wasserlachen zu bezeichnen. In Richtung Drei Türme und Drusenfluh dürften bereits Niederschläge eingesetzt haben, das Unwetter läßt sich jedoch Zeit, bis zu meinem Standort vorzudringen. Erst in der Nacht setzt dann Regen ein, zuckende Blitze erhellen mein Zeltinneres, trotzdem wird es ein vergleichsweise leichtes Gewitter.

Reichlich böig, aber mit Sonnenschein präsentiert sich mir der folgende Morgen, und nach einem kräftigen Frühstück mache ich mich auf den Weg, vorbei an der Tilisunahütte und hinauf über das verkarstete Kalkplateau, meinem ersten Gipfelziel entgegenstrebend, die markante Sulzfluh. Am Wegweiser unterhalb des Gipfelaufbaus lasse ich mein Gepäck zurück, da ich später hierher zurückkehren werde und mache den Gipfelgang durch reichlich Schnee, aber problemlos, mit erleichterten Schultern. Als ich das Gipfelkreuz erreiche, bin ich dort alleine, aber von der schweizer Seite her nähern sich mehrere Gruppen, die gleichfalls zum Gipfel wollen. Die haben wohl alle auf der Carschinahütte (SAC) genächtigt, welche sich auf der Südseite des Berges befindet. Im Abstieg begegne ich einer Gruppe Erwachsener, die zwei kleinere Kinder dabei haben. Allen Respekt habe ich vor diesen beiden Minibergsteigern, denn es gibt bei der Sulzfluhbesteigung zwar keine technischen Schwierigkeiten, dennoch benötigt man eine gewisse Kondition, um diesen immerhin 2818 Meter hohen Berg zu bewältigen. Auch gestern waren mir zahlreiche Familien mit Kindern begegnet, die auf dem Weg von der Lindauer Hütte zurück ins Tal waren, aber trotz Pfingsten ist es, vor allem im hochalpinen Bereich, relativ ruhig.

Da die anschließende Umrundung des Sulzfluhgipfels im Süden, sprich auf der schweizer Seite, besonders tiefe Eindrücke bringt, folge ich nun den Spuren der Carschinahüttenaufsteiger. Der noch vollkommen mit Schnee bedeckte Abstieg über den sogenannten Gemstobel führt zunächst vom Gipfel weg, um auf dem Rätikon - Höhenweg - Süd die Umrundung einzuleiten, wobei sich mir imponierende Impressionen von der steil aufragenden Sulzfluh - Südwand bieten. Scheinbar zum Greifen nahe glänzt unter mir der Partnunsee (1869 m), so weit werde ich jedoch nicht absteigen, dieser Bergsee, sowie die herrlich grüne Almenlandschaft, als auch der Wanderparkplatz mit Gasthof und touristischen Berghäusern bleiben für mich nur ein Panorama aus der Vogelperspektive. Wild brechen gegenüber die mächtigen Kalkwände von Weißplatte und Scheienfluh zu Tale. Die Carschinahütte (2221 m) wird auch gerne von über die Almsträßchen der schweizer Täler heraufkurbelnden Mountainbikern besucht. Ich leite von hier aus die Rückkehr zur österreichischen Seite ein, und zwar nordwärts hinauf ins Drusentor, welches sich zwischen den Sulzfluhwänden und den Drei Türmen einkerbt. Ein schneereicher Abstieg bringt mich zurück nach Österreich, wo ich in einer etwas heruntergekommenen, aber als Notunterkunft durchaus noch tauglichen ehemaligen Zollhütte eine Rast einlege. Etwas weiter unten gabelt sich der Pfad, und es bestünde dort die Möglichkeit, über den steil hinaufziehenden Steig zu den Gipfeln der Drei Türme zu gelangen, was allerdings, nach der bereits recht umfangreichen Etappe, einen großen Mehraufwand an Kraft und Zeit erfordern würde. Diese Begehung soll zudem, laut Gebietsführer, bei Vorhandensein frühsommerlicher Schneefeldern, wie das jetzt ja der Fall ist, hochalpine Schwierigkeiten aufwerfen. Zudem haben sich bereits wieder Gewitterwolken gebildet, weshalb ich die Entscheidung fälle, wenn auch schweren Herzens, auf den Gipfelgang zu verzichten und mich hinab zur Lindauer Hütte zu begeben. Nur wenige Gehminuten von dieser entfernt befindet sich die sehenswerte Obere - Spora - Alm (1739 m). Die schönen, alten Holzgebäude werden vom Prachtpanorama der Sulzfluhwände und der zackigen Drei Türme überragt. An diesem schönen Ort lege ich eine erneute Rast ein, ehe ich mich gen Westen auf dem Schweizer - Tor - Weg zum Öfa - Paß (2291 m) aufmache. Der Weg hinauf zum Paß sieht harmlos aus, weshalb ich ihn trotz instabiler Wetterlage angehe, eine Entscheidung, die sich als lohnend herausstellen soll, denn während ich entlang des wild tosenden Gebirgsbaches unterhalb der prächtigen Wandfluchten der Drei Türme und der im Westen anschließenden Drusenfluh (2827 m) aufwärts steige, tun sich bereits die ersten Löcher in der Wolkendecke auf und lassen eine golden strahlende Abendsonne hindurchleuchten. Sowohl Drusenfluh, als auch die Drei Türme weisen übrigens in ihren Flanken zwei winzige Vergletscherungen auf. Zu Beginn des Paßanstieges treffe ich noch auf ein paar Wandergruppen, die sich auf dem Weg hinab zur Lindauer Hütte befinden. "Wohin des Weges, noch so spät?" werde ich gefragt. Nun, das ist wiederum der Vorteil des Zeltwanderers und so gelange ich auf einer einsamen, traumhaften Abendwanderung hinauf zur Paßhöhe, von welcher aus ich zum sogenannten Schweizer Tor hinunterschlendere, begleitet von den Warnpfiffen putziger Murmeltiere, von denen ich hier im Rätikon täglich nahezu ein Dutzend ausmache.

Die auf einer kleinen Anhöhe thronenende Zollhütte bietet aufgrund des harten Bodens keine Möglichkeit eines direkten Zeltplatzes im Schutz des Blitzableiters, weshalb ich in einer etwas weiter unten gelegenen, flachen, Wiesenmulde vorlieb nehmen muß. Unmittelbar vor meinem Zeltplatz streben die beiden mächtigen Pfeiler des Schweizer Tores in die Höhe. Wie im Bereich der Tilisunahütte, ist auch hier reichlich Bachwasser vorhanden, so daß ich mich am Ende eines harten Wandertages an einem Nächtigungsplatz entspannen kann, wie er schöner kaum sein kann. Nachts gehen dann ein paar Schauer nieder, einige entfernte Blitze zucken auf, das große Gewitter bleibt aber aus.

Ich könnte meine Wanderung auf der österreichischen Seite fortführen, die mich über´s Verajöchl relativ rasch hinab zum Lünersee und somit ins Einzugsgebiet der berühmten Schesaplana bringen würde. Da die Fortsetzung des Weges durch´s Schweizer Tor auf die schweizerische Südseite ein Mehr an Abwechslung und Eindrücken verspricht, schlage ich am folgenden Morgen diese Richtung ein. Wie am Vortag, präsentiert sich der Himmel in den frühen Morgenstunden wolkenlos, was sich jedoch bereits im Verlauf des Vormittags in Form zunehmender Quellbewölkung ändern soll. Kurz nach Passieren des Schweizer Tors kann man über einen kurzen Klettersteig abkürzen, an einem Gebirgsbach fülle ich nochmals die Wasserflaschen, um meinen Weg auf dem oberen Höhenweg fortzusetzen. Der Rätikon - Höhenweg - Süd verläuft weiter unten in etwa gleicher Richtung, jedoch weniger spannend, denn meine Route führt mich jetzt unmittelbar unterhalb der mächtigen Wandfluchten und zackigen Gipfelkronen der Kirchlispitzen entlang. Auf 2263 Metern passiere ich den ersten Sattel, das Hintere Cavelljoch. Es ist gerade mal viertel nach Neun, als ich im Bereich des letzten Kirchlispitzen - Pfeilers zwei Kletterer im Abstieg durch´s Geröllkar ausmache. Eine ungewöhnliche Uhrzeit, um eine Klettertour zu beenden. Wie es sich herausstellt, hat sich einer der Beiden bei einem Sturz offensichtlich das Sprunggelenk verletzt. Ob sie den Abstieg bis zur nahegelegenen Douglasshütte noch schaffen, ist fraglich. Sie haben allerdings ein Handy dabei, und etwa 45 Minuten später, als ich gerade dabei bin, vom Cavelljoch (2239 m) abzusteigen, vernehme ich auch schon die Rotoren des nahenden Rettungshubschraubers.

Vom Cavelljoch aus bietet sich mir übrigens die erste Aussicht auf den Lünersee mit dem sich am Nordufer befindlichen, häßlichen Betonklotz der Douglasshütte. Durch grüne Berglandschaft geht es nun bis zu einer Abzweigung, wo der blau (=alpiner Steig) markierte Pfad steil hinauf in die Gamslücke (2380 m) führt. Von dieser aus bietet sich die Aussicht auf mein heutiges Gipfelziel, welches gleichzeitig auch der Höhepunkt meiner Rätikon - Unternehmung sein soll, die 2965 Meter hohe Schesaplana. Ihre Höhe differiert um nur zwei Meter zur Zugspitze, der höchsten Erhebung Deutschlands, und sie ist der höchste Gipfel des Rätikon. Die Schesaplana erscheint dem Betrachter in protziger Form, massig, imponierend. Der Gipfel wird bereits von quellenden Wolken umwabbelt, auch heute ist mit Gewitter zu rechnen. Ich bleibe jedoch optimistisch, trotz zunehmender Bewölkung rechne ich mit Stunden, ehe die Situation kritisch werden könnte. Sollte sich diese jedoch schneller ändern, als ich dies erwarte, so bliebe immer noch der Notabstieg zur Totalphütte (2381 m), die von der Gamslugge aus in etwa 20 Gehminuten zu erreichen ist. Vor mir sichte ich eine dreiköpfige Gruppe, die wohl ebenfalls den Gipfelsturm im Sinn hat. Nach Überschreitung der Scharte gelangt man schon bald in eine karge Moränenlandschaft, die aufgrund der großen Höhe keinen Pflanzenbewuchs mehr duldet. Allerdings ist derzeit mehr Schnee als Gestein zu sehen, was die Wegfindung nicht gerade erleichtert. Die Begehung unter den jetzigen Umständen hat schon Hochtourencharakter und weckt in mir Erinnerungen an ähnliche von mir in der Vergangenheit getätigte Unternehmungen, wie beispielsweise die des höchsten Pyrenäengipfels Pico de Aneto (3400 m). Ich gebe zu, daß ich schon etwas vorausspicke, welche Route die vor mir Gehenden einschlagen, weiter oben sind nochmals zwei oder drei Gruppen unterwegs, trotzdem möchte ich im Nachhinein behaupten, ich hätte es wohl auch alleine geschafft, wenngleich dann die nervliche Anspannung im großen Maße zunehmen kann. Mit einem Bergführer unserer Sektion hatte ich mich mal unterhalten über diesen Unterschied zwischen Alleingang, jedoch in Präsenz anderer Gruppen und dem völligen Alleingang, von dem die Leser meiner Berggeschichten wissen, daß ich eben diesen sehr gut kenne. Und so ist es auch heute durchaus so, daß die Präsenz anderer am Berg mir ein gutes Stück Mut hinzugibt, während der völlige Alleingang auch immer wieder ein Kampf mit der eigenen Angst ist.

An einer Stelle, wo sich die vor mir gehende Gruppe rechts hält, steige ich weiter geradeaus über Felsen nach oben, wo ich schließlich in eine sehr steile Schneeflanke gerate. Die Situation ist nicht unbedingt gefährlich, im Falle eines Abgleitens würde ich in einer schneegefüllten Mulde landen, denn die Schneedecke ist hier noch vollends geschlossen. Gefährlich wird´s, wenn einen unten Geröll - oder Blockfelder erwarten oder gar der völlige Abgang hinunter ins Bodenlose. Trotzdem kostet dieser Schnitzer unnötig Kraft und Zeit, da ich in schwierigem Gelände selbst spuren muß. Schließlich gelange ich schwitzend, aber wohlbehalten in den Sattel unterhalb des Gipfelaufbaus, von wo aus der weitere Aufstieg problemlos, überwiegend aper über vegetationslosen Schotter und feuchtes Erdreich zum Gipfelkreuz führt. Die vielgerühmte Fernsicht bleibt uns verwehrt, zu viele Wolken trüben das Panorama, welches bei guten Konditionen bis zum Bodensee hinüber reichen und viele bekannte Gletschergebiete der Zentralalpen mit einschließen soll.

Außer den drei vor mir gegangenen Studenten trifft ein hinter mir gefolgter Solobesteiger ein, sowie wenige Minuten später ein weiterer Solist aus Richtung Schesaplanahütte, welche ebenfalls einen Anstieg von der schweizer Seite her ermöglicht. Da die Wetterlage immer noch unsicher ist, beschließe ich bereits nach wenigen Minuten den Abstieg. Da ich eine Überschreitung der Schesaplana zum Ziel habe, wende ich mich im Sattel nicht etwa wieder dem Aufstiegsweg zu, sondern begebe mich in westliche Richtung hinunter zum oberen Rand des Brandner - Gletschers. Dieser Gletscher ist von seinen Ausmaßen sicher nicht mit denen wirklicher Gletschergebiete zu vergleichen, auch handelt es sich nicht etwa um einen gefährlichen Spaltengletscher. Trotzdem weist ein Schild bei der Mannheimer Hütte auf die Verwendung von Steig - oder Grödeleisen hin. Da die Schneeauflage noch gut ist und der Schnee aufgrund der milden Lufttemperaturen nicht harschig, sondern sulzig ist, bringe ich meine mitgeführten Eisen nicht zur Anwendung und quere hinunter zum anderen Gletscherende, wo die Mannheimer Hütte auf einer schroffen Moräne thront. Auf dem Brandner - Gletscher, wie auch im gesamten Schesaplana - Aufstieg, kann übrigens Nebel zu ernsten Orientierungsproblemen führen.

Eine junge Dame, die ich unterwegs noch getroffen habe, hat es mir bereits angekündigt: die Hütte ist noch geschlossen. Sehr zu meinem Entzücken finde ich jedoch einen offenen Winterraum vor. Man betritt ihn übrigens durch einen offenen Fensterladen. Die Räumlichkeit ist gut ausgestattet mit Schlaflagern für etwa ein gutes Dutzend Schläfer, ein Holzherd ist vorhanden, und es sind sogar noch zwei Holzkisten vom zurückliegenden Winter übriggeblieben. Den Namen Winterraum hat sich die Unterkunft allerdings verdient. Da es draußen wesentlich wärmer ist als drinnen, verbringe ich den Rest des Nachmittags im Bereich vor der Berghütte. Gegen Abend wird das Wetter immer besser, so daß ich in den Genuß eines traumhaften Tagesausklangs inmitten hochalpiner Umgebung komme, und das Ganze noch dazu mutterseelenallein, denn es treffen keine weiteren Nächtiger mehr ein. Die Mannheimer Hütte steht dem wohlgeformten Gipfelaufbau der Schesaplana direkt gegenüber, der Brandner - Gletscher breitet sich sozusagen vor der Türschwelle aus, rechterseits erhebt sich der Panüelerkopf (2859 m), der Wildberg (2788 m) wäre von der Hütte aus in einer halben Stunde erreichbar. Hinter der Hütte brechen Steilwände zum inneren Brandnertal hinab, wo die Oberzalimalm (1889 m) und die etwas tiefer gelegene Oberzalimhütte wie Spielzeughäuschen auszumachen sind. Das einzige Manko hier oben: es gibt kein Wasser, so daß ich mit meinen verbliebenen Vorräten haushalten muß und somit auf zusätzliche Gipfelexkursionen verzichte.

Zur Fortsetzung des Weges stehen mir drei Alternativen zur Auswahl. Im Grunde haben sämtliche Exkursionen, die von der Mannheimer Hütte aus möglich sind, hochalpinen Charakter, was jetzt im Frühsommer um so mehr zutrifft und der Grund sein dürfte, warum diese Hütte nur in den Monaten Juli bis September bewirtschaftet ist. Die Möglichkeit, über den Gletscher hinweg durch einen Sattel hindurch den Liechtensteiner Höhenweg zu erreichen, wird als die schwierigste gehandelt. Anbetrachts der momentan herrschenden Verhältnisse möchte ich dieses Risiko nicht eingehen, auch die Überschreitung des Panüeler Kopfes erscheint mir nicht geheuer. Die scheinbar einfachste Führe wäre wohl der Leiberweg, der durch die unter mir steil abfallenden Wände in die Spussagang - Scharte hineinführt. Leider gelingt es mir nicht, von meiner Position aus den genauen Wegverlauf zu verfolgen, in dem steilen, mit Altschneefeldern durchsetzten Gelände kann man sich kaum vorstellen, daß hier überhaupt ein Steig hindurchführt. Derlei Eindrücke hat man in den Alpen allerdings öfter, wenn man vor einer scheinbar unnahbaren Felswand steht und den in der Karte eingezeichneten Weg mit dem bloßen Auge sucht.

So steige ich am nächsten Morgen hinab bis zum Wegweiser, wo der Leibersteig dann nach rechts in die Wand hineinführt und gleich zu Beginn mit einem steilen Schneefeld aufwartet. Das kann ja heiter werden , denke ich, als ich das gefährliche Hindernis mittels Sicherung durch den Eispickel überwunden habe. Es sollen noch mindestens ein halbes Dutzend ähnliche Passagen folgen, und ich muß sagen, hier ist wirklich Schluß mit Lustig! Jedes Altschneefeld erfordert äußerste Konzentration, es ist nichts gespurt, man kann bisweilen nur durch von Regen ausgewasche Reste von Fußspuren eines Vorgängers erkennen, die Tritte habe ich selbst zu schlagen und jeder muß sitzen, ich darf mir hier keinen Ausrutscher erlauben! Die Schneefelder sind, wie bereits erwähnt, aufgrund der Steilheit des Geländes, durch das ein schmales Steiglein führt, selbst entsprechend steil und würden einen Stürzenden direkt ins abfallende Schrofengelände gleiten lassen, das heißt, man würde hier gnadenlos zig bis hunderte von Metern in den schwindelerregenden Abgrund hinunterstürzen. Nur der Eispickel dient mir zur Sicherung, die Steigeisen lasse ich auch jetzt wieder unbenutzt. Im Fall eines Ausrutschers kann ich ohne Steigeisen die Fußspitzen zum Bremsen in den Schnee hineinrammen, würde ich das Gleiche mit angeschnallten Steigeisen versuchen, so würden mich die Zacken wie ein Stehaufmännchen aufrichten, ich würde mich überschlagen und alles wäre aus. Als ich dann unfallfrei die Spussagangscharte erreiche, wo es gottseidank schneefrei über einen kleinen Klettersteig in angenehmer Weise weitergeht, bin ich gottfroh, endlich wieder streßfrei wandern zu dürfen. Ein letzter Blick schweift zum Abschied über den Seitenarm des oberen Brandnertales hinweg, in dem sich Oberzalimalm und die gleichnamige Berghütte als die letzten Behausungen im Talabschluß behaupten.

Der Abstieg auf der anderen Seite der Spussagang - Scharte führt den Begeher direkt durch die Schatten der gewaltigen Wände des Panüeler - Schrofen abwärts, ein imponierendes Spektakel! Das Gamperdona - Tal hat hier seinen Abschluß, der sogenannte Nenzinger Himmel ist eine beliebte Feriensiedlung, dahinter beginnt der Bergwald, an dessen oberem Rand pittoresk das kleine Hirsch - Seeli wie ein smaragdgrüner Spiegel glänzt. Am Ufer dieses ruhigen Gewässers lege ich eine längere Rast ein, froh darüber, daß ich meine Knochen heil durch den Leibersteig gebracht habe. Dann geht es weiter ein Stück hinauf zur Panüel - Alm (1780 m). Um den Bergrücken des Lohnfreschen herum steigt der Weg weiter an, das Almsträßlein wird bald zum schmalen Wanderpfad, der durch Hochweiden führt, bis ein kleiner Grassattel erreicht ist. Von hier aus zieht der Pfad abermals durch Steilhang und die hier noch lauernden Altschneefelder sind ähnlich gefährlich zu überqueren, wie zuvor im Leibersteig. Als ich die Große Furka (2359 m), und damit die Fortsetzung des oberhalb des Brandner Gletschers beginnenden Liechtensteiner Wegs erreiche, atme ich erst mal wieder auf, mir den Angst- und Arbeitsschweiß von der Stirn wischend, und hoffe innigst, daß derlei brenzlige Passagen nun endgültig überwunden sind. Die Große Furka belohnt mich dann mit einen Ausguck auf die schweizer Seite mit dem weiten, grünen Tal, wo winzig am Hang klebend die Schesaplana - Hütte auszumachen ist. Die gesamte hinter mir liegende Bergkette von der Sulzfluh bis Schesaplana und Panüeler - Kopf reiht sich noch einmal vor mir auf, wie eine Kompanie scheinen sie alle noch mal vor mir angetreten zu sein.

Ab der großen Furka finde ich endlich wieder deutliche Fußabdrücke eines Vorgängers im Schnee und der Weiterweg bis zur Pfälzer - Hütte (2108 m) soll nun ohne Schwierigkeiten verlaufen. Schneefelder sind hier zwar auch zu Genüge vorhanden, diese liegen jedoch nicht in Steilhängen und sind somit harmlos. Unterhalb des Augsten - Berges, auch Tschingel genannt (2541 m) quert der Weg hinein ins Barthümel - Joch (2305 m). Der Drei - Länder - Berg Naafkopf (2571 m) macht von meiner Perspektive aus keine besonders attraktive Figur, gleicht einer wenig prägnanten, zu symmetrisch geratenen Pyramide. Der hoch aufgeschossene, mit reichlich Grün durchsetzte Hornspitz (2537 m) gibt da schon mehr her. Der Liechtensteiner - Weg umrundet sozusagen das innere Gamperdonatal (sprich: den Nenzinger Himmel), bis die schön auf den Kamm gebaute Pfälzer Hütte erreicht ist, die sich dem nahenden Wanderer schon von weit her ins Blickfeld stellt. Die Pfälzer Hütte ist für viele Rätikon - Durchquerer die letzte Station vor der Rückkehr ins Tal, da man hier die Begehung des Hauptkammes als abgeschlossen betrachten kann. Es gibt für mich jedoch noch ein Schmankerl im äußersten Nordosten des Rätikon, welches ich mir, wenn ich schon mal hier bin, auf keinen Fall durch die Lappen gehen lassen will. Hierzu werde ich meine Wanderschuhe auf das Hoheitsgebiet des dritten souveränen Staates setzen, durch den meine Wanderung führt: dem Fürstentum Liechtenstein. Die Pfälzer Hütte befindet sich übrigens genau auf dem Grenzkamm, im Osten liegt Österreich, westwärts geht´s hinein nach Liechtenstein.

So begebe ich mich auf den unterhalb der Pfälzer Hütte verlaufenden Fahrweg, bis ich die Gritsch - Alpe erreiche. Die gepflegten Gebäude und der blitzsaubere Hof verraten vorab schon, was sich für mich im weiteren Verlauf meiner Liechtenstein - Wanderung bestätigen soll: hier scheint man in puncto Ordnung und Sauberkeit der benachbarten Schweiz in nichts nachzustehen. Der sich jetzt hinter meinem Rücken aufbäumende Naafkopf erscheint von hier aus wesentlich attraktiver. Insbesondere die Steilwände des ihm direkt vorgelagerten Weißen Sand (2525 m) vermögen Eindruck zu schinden. Auf dem Naafkopf - Gipfel laufen übrigens die Grenzen von Schweiz, Österreich und Liechtenstein zusammen. Ich befinde mich im äußersten Südosten des Inneren Valüna - Tales, wie die Südverlängerung des Saminatals auch genannt wird. Ein Pfad führt über Weiden und schließlich durch schönen Wald abwärts, bis bei der schönen Valüna - Alm (1409 m) erneut ein Almsträßlein erreicht wird. Auf diesem Fahrweg gehe ich talauswärts weiter, eine wunderschöne Abendwanderung in einem wirklich traumhaften Alpental. Zahlreiche Mountainbiker und Spaziergänger kommen mir unterwegs entgegen, das märchenhafte Tal ist offensichtlich sehr beliebt. Ich unterhalte mich kurz mit einem älteren Herrn aus Vaduz. Ich war ohnehin gespannt, was für eine Dialektart hier in Liechtenstein gepflegt wird. Nun, sie tendiert stark zum Schwyzerdütsch, was auch noch in späteren Beispielen seine Bestätigung finden soll. Eigentlich lag es ja in meiner Absicht, heute noch bis in die Gegend von Silum vorzudringen, aber der Tag war kräftezehrend. Somit beschließe ich, mich in die Büsche zu schlagen, zumal es ohnehin recht spät geworden ist. In den Talschaften ist es nicht immer einfach, einen versteckten Zeltplatz zu finden. Schon einmal habe ich eine unliebsame Überraschung erlebt, im Bregenzer Wald, als ich unterhalb eines Fahrweges gezeltet hatte und durch die Gendarmerie geweckt wurde. Ich kam damals glücklicherweise mit ermahnenden Worten davon.

Als die Luft rein ist, stürme ich linkerhand über eine Weide aufwärts, überspringe ein Steinmäuerchen und gelange an einen lichten Waldrand mit einer flachen Wiese. Nur ein halb zugewachsener Holzabfuhrweg führt hierher, es ist 8 Uhr abends und ich kann somit davon ausgehen, an diesem Ort keinen unliebsamen Besuch mehr zu erhalten. Einer der großen Vorzüge des Monats Juni sind seine langen Abende, so daß ich, nachdem das Zelt aufgebaut ist, noch jede Menge Zeit habe, zu kochen und das tolle Panorama des Talabschlusses zu genießen, wo sich Naafkopf, Weißer Sand und Roter Sand (2349 m) ein Stelldichein geben.

Noch vor 6 Uhr morgens bin ich bereits wieder unterwegs. Das Frühstück möchte ich bis zur Ankunft im Gasthaus Silum, welches sich nahe dem Fürstensteig befindet, verschieben. Zunächst zieht mein Weg überhalb der Siedlung Steg mäßig bergauf, bis am Gasthof Stücka ein Teersträßlein erreicht wird. Kurz darauf passiere ich linkerhand einen Tunnel, hinter dem ein schöner Wanderweg beginnt. Ich befinde mich nun auf der Westseite des Bergkammes, und bin ich vorhin noch oberhalb des Saminatals marschiert, fällt der Blick nun links hinab ins tief gelegene Rheintal. Hier dringt auch der Motorenlärm der Rheintalautobahn bis zu mir empor, die Aussicht ist trotzdem fantastisch. Man sieht die in der Rheinebene gelegenen Ortschaften von Liechtenstein und der Schweiz, die sieben Churfürsten stehen mir direkt gegenüber, weiter im Südwesten erheben sich die Flumser Berge und die Glarner Alpen, im Nordwesten die Felsenburg des Alpstein mit dem leider verbauten Säntis - Gipfel. Die Fortsetzung des Rätikon - Hauptkammes, der sich noch ein Stück weit vom Naafkopf aus durch Schweizer Gebiet hinwegzieht, findet sein jähes Ende in einem abrupten Abbruch hinunter zum Rheintal. Als ich die oberen Behausungen des Ortes Silum erreiche, ist es gerade mal zwanzig nach Sieben und der gleichnamige Gasthof hat noch geschlossen. Zwei Jäger fahren ein erlegtes Reh ein, sie wissen leider auch nicht, wann hier geöffnet wird. Also eine gute Gelegenheit für mich, meine verbliebenen Trockengerichte noch gar aufzubrauchen. Auf einer Holzbank über der Ortschaft mit dem malerischen Rheintalpanorama, bereite ich mir dann ein umfangreiches Frühstück und genieße die Herrlichkeit des ungetrübten Morgens.

Frisch gestärkt mache ich mich auf zum vielgerühmten Fürstensteig, dessen Ausgangspunkt bald erreicht ist. Dieser Bergweg ist zwar ausgesetzt, und abverlangt dem Begeher eine gewisse Schwindelfreiheit, weist jedoch keinerlei technische Schwierigkeiten auf, zumal der gesamte Kamm vom Fürstensteig über den Kuhgrat bis vor zu den Drei Schwestern völlig schneefrei ist, die Durchschnittshöhe dieses Kammes bleibt gute fünf- bis sechshundert Höhenmeter unter der des Rätikon - Hauptkammes. Direkt zu meinen Füßen, gute 1300 Meter tiefer liegt die liechtensteinische Hauptstadt Vaduz auf der östlichen Seite des Rheintales, der Hohe Kasten, ein Seilbahnberg im nördlichen Abschluß des Alpsteingebirges, rückt immer näher. Der Fürstensteig ist übrigens der erste alpine Steig, auf dem ich an den besonders schönen Aussichtspunkten Rastbänke vorfinde. Zu den herrlichen Weitblicken gesellen sich auf dem Fürstensteig als Naheindrücke die unmittelbaren Felsabstürze direkt am Weg. Der Steig endet in einem Sattel, wo der Weg sich mehrfach gabelt. Meine Route führt mich weiterhin gen Norden, auf einem schmalen Pfad durch Latschenbewuchs, jetzt auf der östlichen Seite des Kammes verlaufend, wo der Blick hinab fällt in das hier verlassen wirkende Saminatal, wo sich jediglich einige wenige Almhütten zwischen Nadelwäldern und weitläufigen Weidegründen verlieren. Unterwegs begegne ich einer Gruppe älterer Herrschaften aus Lindau. Wir kommen auch auf den Leiberweg, der von der Mannheimer Hütte in die Spussagangscharte hineinführt, zu sprechen. Sie bestätigen mir, was ich am eigenen Leib bereits erfahren mußte: dieser Weg ist, so lange sich noch Altschneefelder in seinem Bereich befinden, einfach zu gefährlich, viel sei dort schon passiert.

Den ersten kreuzgeschmückten Gipfel überschreite ich, ohne mich länger aufzuhalten, denn ich muß doch langsam an die Heimfahrt denken, die ja schließlich auch noch Zeit in Anspruch nehmen wird. Über den Kuhgrat gelange ich zum Garsellikopf (2105 m), wo ich eine Gipfelrast einlege, mich erfrische und die schöne Aussicht genieße. Der Höhepunkt der Gratwanderung soll aber noch kommen, das aus zahlreichen Felszacken sich zusammensetzende Gipfelensemble der Drei Schwestern. Der Hauptgipfel (2053 m) wird über einen nicht all zu schweren, aber kurzweiligen und zwischen einem Gewirr von Felstürmen und interessantem Schrofengelände auf - und abwärtsführenden Klettersteig überschritten. Im Gegensatz zu den beiden anderen Hauptgipfeln trägt der überschrittene Gipfel kein Gipfelkreuz. Hinterm Saroja - Sattel (1628 m) läßt man das hochalpine Gelände hinter sich und erreicht ein Almsträßlein bei der Hinterälpele - Alm (1474 m). Es ist heute der bisher heißeste Tag in diesem Jahr, was sich jetzt, in den moderateren Höhen, unangenehm bemerkbar macht. Am erstbesten Viehtrog schaue ich mich um, die Luft ist rein. Rasch entkleide ich mich und gönne mir ein kurzes, erfrischendes Vollbad im Trog. Ein weiterer Grund für dieses Bad ist natürlich der Gedanke, daß ich nachher noch in den Zug steigen muß, und somit wieder unter zivilisierten Mitmenschen bin. Waschmöglichkeiten hatte ich die letzten fünf Tage so gut wie keine, und so gilt es nun, wenigsten die schlimmsten Gerüche zu beseitigen. Da der Weg nach Frastanz über die Feldkircher Hütte zwar schöner, aber länger ist, schlage ich den Abstiegsweg über den sogenannten Herrenweg ein, der sich durch schattigen Tannenwald hinunterschlängelt. Die Wegführung ist langweilig, nur ein paar flüchtige Ausblicke zwischen Baumwipfeln auf die hinter mir liegenden Drei Schwestern, die dem Betrachter auch vom Tal aus unverwechselbar erscheinen, ist mir vergönnt. Über breiten Forstweg gelange ich schließlich nach Amerlügen (763 m). Die letzten paar Kilometer über Asphalt hinunter nach Frastanz geraten zum Martytium, denn erstens bin ich von der Länge der heutigen Etappe bereits mitgenommen, und zweitens macht mir die im Abstieg immer mehr zunehmende Hitze von nun über 30 Grad zu schaffen. Schwer gezeichnet erreiche ich schließlich den Bahnhof Frastanz. Mein letzter Blick zurück zu den Bergen gilt den Drei Schwestern. Ja, sie erscheinen auch vom Tal aus erotisch, die schlanken Proportionen dieser steinernen Schönheiten!

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