Sonntag, 17. Dezember 2006

Durch den Fagarasch zum Königstein

Über die höchsten Gipfel Rumäniens (21.06. – 01.07.00)



Als wir morgens gegen 8.30 Uhr die ungarisch – rumänische Grenze überschreiten und sich unser Bus auf die erste größere Stadt in Rumänien zubewegt, setzt bei mir die Müdigkeit ein , die ich mir auf unserer nächtlichen Fahrt durch Österreich und Ungarn sehnlichst erwünscht hätte. Jetzt, wo ich als Rumänien – Neuling „Terra incognita“ betrete, nicke ich immer wieder ein.
Arad wirkt irgendwie chaotisch, die sozialistischen Wohnsilos erscheinen mir desolater, als ich es von meinen bisherigen Reisen in den ehemaligen Ostblock kenne, die Atmosphäre hat jedoch meridionale Züge, oder liegt das vielleicht mehr am schönen Wetter? Andere größere Städte auf unserem Weg, wie Deva und Sebes, hinterlassen einen ähnlichen Eindruck. Auf den Busbahnhöfen immer das selbe Schauspiel: Hütchenspieler und Geldwechsler suchen einen Dummen, auch eine Dame aus unserem Bus beißt in den Köder, gewinnt zunächst beim Hütchenspiel, verliert anschließend, ein verbaler Streit beginnt, die Frau fühlt sich betrogen, der Bus muß weiter...

Gegen 11 Uhr dann Ankunft in Sibiu, mehr als 3 Stunden vor Fahrplan. Ich werde mit einer kleinen Seniorengruppe Siebenbürger Sachsen an einer lärmenden Hauptstraße herausgelassen. Von ihnen weiß leider niemand, wo der Bahnhof ist, sie sind seit ihrem Exodus nach Deutschland vor zig Jahren zum erstenmal wieder in ihrer ehemaligen Heimat. Sie empfehlen mir, ein Taxi zu nehmen, der Fahrer fragt mich nach meinem eigentlichen Ziel. „Sebesu de Sus“, antworte ich ihm, möglichst bemüht, meine Ortsunkenntnis und die Tatsache zum erstenmal in Rumänien zu sein, zu kaschieren. Wir beginnen mit den Fahrpreisverhandlungen, eine direkte Fahrt mit dem Taxi ohne eventuelle Wartezeiten am Bahnhof in Kauf nehmen zu müssen, wäre mir eigentlich recht Nachdem wir einen gemeinsamen Nenner gefunden haben, geht´s dann raus aus der Stadt, auf die Karpaten zu.

Ja, die Karpaten! Als ich als Jugendlicher den „Nosferatu“ mit Klaus Kinski in der Rolle des blutdürstenden Grafen gesehen habe, war ich fasziniert von der dort gezeigten Landschaft. Obwohl dieser Film zwar nicht in den rumänischen Karpaten (wohl aber in den slowakischen!) gedreht wurde, blieb bei mir diese Assoziation mit fantastischer Natur und dem Geheimnisvollen. Als ich dann Trekking und Bergsteigen immer mehr zu einer meiner Lebensmaximen erhob, war für mich klar, eines Tages auch die rumänischen Karpaten...

In dem schönen Dörfchen Sebesu de Sus, das wir mittlerweile über eine Schotterpiste erreicht haben, lässt mich dann der Taxifahrer ´raus, und los geht´s, am Dorfkircherl vobei, die Straße hinauf, schon eröffnet sich der Blick auf´s Gebirge, das hier seine alpinen Ausmaße jedoch noch nicht erreicht. Immer schön dem roten Dreieck nach, durchs Moasei – Tal, am Bach entlang, wunderschöne Zeltmöglichkeiten am Wegrand, wäre ich später angekommen. Da ich jedoch sehr gut in der Zeit liege, will ich noch die Cabana Suru auf 1450 m erreichen und meine erste Nacht in Rumänien in einer der von Landeskennern gerühmten, rustikal – einfachen, aber urgemütlichen Berghütten verbringen. Der Steig wird gelegentlich etwas undeutlich, hinter einem rauschenden Wasserfall sind dann Pfad und Wegzeichen verschwunden. Hervorragend, ich habe zwar ein Buch mit einer Wegskizze im Gepäck, jedoch keine Wanderkarte, die in Deutschland auch nicht aufzutreiben war, und von einer solchen ich mir erhoffte, in einer der Berghütten am Weg ein Exemplar käuflich erwerben zu können. Aufgrund meiner begrenzten Zeit und meinem ehrgeizigen Vorhaben, innerhalb der mir zur Verfügung stehenden 8 ½ Tagesetappen den gesamten Fagarasch – Hauptkamm längs zu traversieren, über die gewaltige Kalkwand des Piatra Craiului zu steigen und , nach Passieren der romantisch – schönen Bergdörfer auf dem Bran – Paß, abermals auf die Höhen des von rumänischen Bergfreunden viel gepriesenen Bucegi – Gebirges hinaufzuschwitzen, um dann vielleicht, nach all den Strapazen, bequem mit der Seilbahn, von denen es in den Karpaten, Gott sei´s gelobt, nicht allzu viele gibt, ins grandiose Prahova – Tal hinabzuschweben.
Mittels Kompaß und Orientierungssinn beschließe ich, solange pfadlos weiterzumarschieren, bis entweder Selbiger wieder auftaucht, oder aber die Cabana Suru erreicht , bzw. bei deren Verfehlen die Baumgrenze überschritten und der Hauptkamm erreicht ist. Als ich schließlich auf den Hauptkamm gelange, nachdem weder Weg noch Hütte gefunden wurden, habe ich Schwerstarbeit hinter mir, die in diesem Maße für den ersten Tag nicht geplant war.

Ich baue mein Zelt hinter dem Felsen auf einem nicht allzu hoch aus der Landschaft ragenden Gipfel auf. Hier bin ich einigermaßen windgeschützt, da dieser einem hier oben kräftig um die Ohren weht .
Ein junger Schäfer mitsamt Herde und den Hunden, deren Agressivität mir im Laufe der kommenden Tage noch des öfteren zu schaffen machen werden, nähert sich. Der junge Bursche wirkt auf mich, wie so vieles in Rumänien, wie aus einer Zeit, die unsereins nur noch aus den Schilderungen der Vorkriegsgeneration kennt . Er riecht nach Erde und nach Tier, derselbe Duft, den ich von den Ureinwohnern Raramuri aus der Sierra de Tarahumara in Mexiko kenne. Das ist für mich kein Stinken, wie ich das bei abgestandenem Schweiß oder ungewaschenen Füßen empfinde, das ist der Geruch des Menschen, der in der Natur lebt.

Die Konversation geht etwas schleppend vor sich, man darf von diesen einfachen Leuten keine Fremdsprachenkenntnisse erwarten. Meine Vorkenntnisse in zwei anderen romanischen Sprachen, zu deren Verwandtschaftskreis auch das Rumänische zählt, bringen im praktischen Gespräch nur wenige Vorteile, was sich in den kommenden Tagen noch des Öfteren bestätigen wird. So sitzen wir also zusammen, teilen uns ein paar Wurstbüchsen und Müsliriegel aus der „Bordküche“ meines Rucksacks, später gesellen sich noch zwei ältere Arbeitskollegen des jungen Mannes zu uns. Freundlich sind sie, urig irgendwie und obwohl der Großteil Rumäniens geografisch nicht dem Balkan zuzuordnen ist, dieser beginnt eigentlich, nach offizieller Lesart, erst südlich der Donau , so treffen diese wild aussehenden Kerle doch meine Vorstellung von Balkanbewohnern. Die Sonne geht langsam unter und taucht das tief unter uns liegende Olt – Tal in herrliche Pastelltöne. Die Schäfer drängt es zum Aufbruch, sie geben mir zu verstehen , daß ich die Nacht mit ihnen in der Stana (rumänische Schäferkate) verbringen könne. Ein reizvoller Gedanke, trotzdem werde ich freundlich ablehnen, da ich nach diesem harten Kampf bis hierher die gewonnenen Höhenmeter nun nicht mehr hergeben will.

Nach einer gut durchschlafenen Nacht erwache ich dann frühmorgens in einer typischen Fagarasch – Atmosphäre: Das Pfeifen es Schäfers, das Blöken der Schafe, das Bellen der Hunde. Ich krieche aus dem Zelt und erblicke meinen jungen Freund von gestern, wie er in einige Entfernung am gegenüberligenden Hang seine Herde hochtreibt. Wir begrüßen uns mit durch Winken mit der weit hochgehaltenen Hand, wie ich es in den folgenden Tagen noch öfters tun werde, wenn ich einem Schäfer begegne, auch in der Hoffnung, daß dieser dann seine treuen Hilfssheriffs im Zaum hält.

Auf geht´s dann zu ersten Etappe auf dem Fagarasch – Hauptkamm! Wie ich dann bei späterem Kartenstudium herausfinde, befand sich mein Nachtlager vermutlich auf dem Varful Tatarul, in der Nähe des Sattels La Apa Cumpanita, meine angestrebte Cabana Suru ist nach Aussage der Schäfer abgebrannt und durch eine einfache Biwakschachtel ersetzt worden. Diese Angaben werden mir später auch von anderen Wanderern bestätigt.

Am Beginn meines heutigen Weges ist die Markierung noch etwas undeutlich und, wenn man eine findet, stellt sich diese nur durch zwei halb verwitterte weiße Balken dar, dem gut sichtbaren rot dazwischen, wie ich es dann im weiteren Verlauf auf der gesamten Fagarasch – Durchquerung bis hinters Refugiu Berevoescu vorfinde, haben Wind und Wetter den Garaus gemacht. Nach Überschreiten und Tangieren mehrerer harmlosen Grasgipfel zeigt der Fagarasch dann mit dem Erreichen des Varful Budislavu (2343m) sein hochalpines Gesicht. Schließlich folgt der Abstieg zum ersten Bergsee, dem Lacul Avrig. Prächtig leuchtet mir sein Himmelblau in der Morgensonne entgegen, während ich gemächlich hinabsteige, um an seinem Ufer für ein zweites Frühstück zu verweilen. Hier am Avrig – See entdecke ich etwas, was ich auf meiner Wanderung auch noch an anderen Stellen vorfinden soll und mit dem Ausdruck „disziplinierte Umweltverschmutzung“ belegen will: große, aus Steinen gebildete Kreise, in denen sich hunderte von vor sich hinrostenden Konservendosen befinden. Na ja, wenigstens alles auf einem Haufen und nicht wild in der Gegend verstreut! Auf dem weiteren Weg bewegt man sich in einer herrlichen Hochgebirgslandschaft. Ich passiere die kleine Notunterkunft „Refugiu Scara“, der Weg bis zum Negoiu – Gipfel übers Custura Sacatii (Kirchendach) ist spannend und abwechslungsreich, immer wieder mit klettersteiähnlichen Passagen gewürzt. An einer Stelle, nicht allzu weit vom Gipfelaufstieg , bin ich sogar gezwungen, meinen sperrigen Rucksack abzuschnallen und vorsichtig am Fels herunterzulassen, da sonst ein Weiterkommen nicht möglich ist.

Auf dem Gipfel treffe ich schließlich auf eine Gruppe Jugendlicher aus Bukarest, die von der Negoiu – Baude heraufgekommen sind und deren Etappenziel , ebenso wie meines, das Refugiu Caltun sein soll. Als Abstiegsmöglichkeit dorthin haben wir die Wahl zwischen der einfacheren Strunga Doamnei (Frauenkamin) und dem schwierigeren Klettersteig , der Strunga Dracului (Teufelskamin). Da ich zum Hochgebirgswandern gekommen bin und gern ein bißchen kraxle, wähle ich gleich letztere, die Gruppe aus Bukarest will den anderen Weg vorziehen, entscheidet sich jedoch angesichts eines Schneefeldes am Eingang des Steiges ebenfalls für das Teufelskamin. Die jungen Leute erscheinen mir nicht allzu bergerfahren, besonders fällt mir ein junger Mann in der Gruppe auf, dem anscheinend auch die nötige Trittsicherheit fehlt. Beim Abstieg durch die Rinne löst er dann in seiner Nervosität immer wieder kleinere Steinschläge aus.

Am Ausgang des Kamins angekommen , nimmt dann das Unglück seinen Lauf in Form eines extrem steilen Schneefeldes, das den weiteren Weg versperrt. Weiter unten ist bereits die gelb leuchtende Biwakschachtel „Refugiu Caltun“ zu sehen; die einzige Möglichkeit, dorthin zu gelangen, ist jedoch, das Schneefeld zu überwinden, eine Umkehr schließt die fortgeschrittene Stunde aus. Auch ich selbst habe mir vorzuwerfen, den alpinen Charakter dieses Gebirges etwas unterschätzt zu haben. Ich werde auf meiner Route noch manch andere, ähnlich kribblige Passagen vorfinden, ein Eispickel im Gepäck wäre das Mindeste gewesen, besser sogar noch Steigeisen. Die im Vergleich zu den Alpen weit nach Süden vorgeschobene Lage dieses Teils der Karpaten ändert nichts an der Tatsache, daß hier selbst im Juni noch mit erheblichen Schneeresten zu rechnen ist!

Da mir der Abstieg über das Schneefeld zu gefährlich erscheint, ziehe ich ein Umklettern durch die Felsen vor, wo mir meine Vorkenntnisse im Felsklettern behilflich sind. Trotzdem wird es mir zwischendurch mit meinem 20 – Kilo – Rucksack zu riskant, das Ding muß über Bord! Angesichts der Gewalt, mit dem der Rucksack das Schneefeld runterrast und anschließend mit unzähligen Überschlägen durchs Geröllfeld scheppert, grenzt es an ein Wunder, bzw. zeugt von hoher Verarbeitungsqualität, daß weder Sack noch Inhalt Schaden davontragen . Einer aus der Bukarester Gruppe folgt mir, er versucht es barfuß und kommt schließlich ebenfalls heil durch. Die anderen Gruppenmitglieder gehen alle über´s Firnfeld und einer nach dem anderen rutscht aus und landet unten im Geröllfeld. Zum Glück, wie es scheint, kommen alle nur mit Schrammen und leichten Prellungen davon, der Junge, der beim vorigen Abstieg so unsicher wirkte, sieht totenbleich aus. Meine Frage, ob er in Ordnung sei, bejaht er, sagt aber, er brauche erst mal eine Pause. Da ich nun endgültig im Refugiu ankommen will, verabschiede ich mich mit einem „see you later“ und setze meinen Weg fort.

In der Unterkunft angekommen, treffe ich einen Ungar – Rumänen, der nach eigenem Bekunden bereits die Woche zuvor von der Ostseite des Gebirges aus aufgebrochen ist und die Durchquerung somit in umgekehrter Richtung macht. Er erzählt mir, wie er letzte Woche in einen Schneesturm mit einem Temparatursturz auf minus 10 Grad geraten ist, in dem ihm seine drei mitgeführten Pullover plus Jacke noch zu wenig waren. Wir setzen uns beide zum Abendbrot und ich schildere ihm natürlich auch die Vorfälle oben am Schneefeld. Zwischenzeitlich ist schon beinahe eine weitere Stunde vergangen, es wird nicht mehr lange dauern , bis die Nacht hereinbricht und von der Gruppe ist immer noch nichts zu sehen. Wir beschließen, hinaufzugehen. Als wir Sichtweite erreichen, stellen wir fest, daß die jungen Leute immer noch am Schneefeld festsitzen, einer ist jedoch schon vorausgelaufen und teilt uns mit, daß sein Kamerad doch etwas mehr abgekriegt hat, als es zunächst schien, er sei jedenfalls nicht mehr in der Lage, seinen Rucksack zu tragen. Wir bedeuten ihnen, sich jetzt in Marsch zu setzen, mein ungarischer Freund zieht mit den Worten „Ich bin besser ausgeruht als du“ los, um den liegengebliebenen Rucksack zu holen. Schließlich gelangen wir doch noch allesamt einigermaßen wohlbehalten zur Biwakunterkunft Die Bukarester Gruppe beschließt, am nächsten Tag zur Balea – Lac – Baude abzusteigen und die Wanderung abzubrechen. Dieser Abstieg ist von hier aus der nächstmögliche und wird nochmals eine halbe Tagesetappe erfordern, d. h. für den Verletzten kann es nochmals ein unangenehmer Tag werden. Der Tatsache, daß es in den rumänischen Karpaten kaum Seilbahnen, einen aktionswilligen, jedoch schlecht ausgerüsteten und aufgrund der hiesigen Gebietsgrößen personell überforderten Salvamont (Bergrettungsdienst) und keine Rettungshubschrauber für „Handy – Bergsteiger“ gibt, sollte man sich bei der Begehung dieser Gebirgswelt unbedingt bewußt sein und entsprechende Umsicht walten lassen. Am anderen Morgen bin ich der Erste, der aufbruchbereit ist. Bei meinem erneuten Aufstieg fällt mein Blick immer wieder zurück zum Negoi – Gipfel und dem malerisch im Felskessel gelegenen Caltun – See mit seinem gleichnamigen Refugium, welches ich getrost wegen seiner einmalig schönen Lage auf 2135 m als einer der schönsten Nächtigungsplätze im Fagarasch anpreisen kann. Bis zum Balea – See, wo die Transfagarasch – Straße , diese umstrittene Schöpfung aus der Ceausescu – Ära, das Gebirge von Nord nach Süd überschreitet und somit Transsilvanien mit der Walachei verbindet, ist es alsdann nicht mehr allzu weit.

Da es in meiner Absicht liegt , heute die Podragu – Hütte zu erreichen, traversiere ich See und Hütte und belasse es bei einem Ausblick auf dieses wohl bekannteste Fagarasch – Panorama. Da die alte Cabana Balea Lac ein Raub der Flammen wurde, ist man zur Zeit eifrig mit dem Bau einer neuen beschäftigt. Sie wird ebenfalls auf diesem schönen Halbinselchen im See liegen und hoffentlich eines Tages genauso viel Schönheit und Gemütlichkeit ausstrahlen, wie ihre Vorgängerin.

Über den Sattel Saua Caprei wird dann der Lacul Caprei (Gemsen – See) erreicht, der herrlich blau schimmernd auf 2230 m Seehöhe liegt. In der Ferne sehe ich bereits die Biwakunterkunft Refugiu Fereastra Zmeilor mit seinem roten Anstrich leuchten, da bestätigt sich auch schon meine Befürchtung angesichts der immer dichter aufziehenden Wolken. Bereits nach dem ersten Donnergrollen beschließe ich, sofort zum Gemsen – See zurückzukehren und zur Cabana Paraul Caprei an der Transfagarasch – Paßstraße abzusteigen. Der Weitermarsch zur Schutzhütte Fereastra Zmeilor wäre zwar die nähere Möglichkeit , sicheren Unterschlupf zu finden, die Begehung eines ausgesetzten Kammes während eines Gewitters soll man jedoch tunlichst unterlassen. Während ich zur Cabana hinuntereile, kracht und blitzt es auch schon über meinem Kopf, doch schon bald ist die sichere Hütte erreicht und ich schlüpfe zunächst mit zwei Rumänen unter´s Vordach, die sich mit einer Pulle Schnaps „geistig“ auf das WM – Halbfinalspiel Rumänien – Italien einstimmen. In diesem gastfreundlichen Land ist es manchmal gar nicht so einfach, als strikter Nichttrinker um eine Kostprobe „Feuerwasser“ herumzukommen, ohne die Leute zu beleidigen. Als ich drinnen um Quartier bitte, muß mich der Hüttenwirt enttäuschen, da alle Zimmer bereits belegt sind. Hier zu übernachten, ist für rumänische Verhältnisse relativ teuer (umgerechnet ca. 35 DM), es handelt sich hier mehr um ein Berghotel als um eine Hütte. Neben dem Hotel befindet sich ein kleiner Zeltplatz, auf dem auch meine beiden Fußballfans und ein buntgemischtes Ensemble aus jungen und alten Wochenendausflüglern die Nacht im Zelt verbringen werden.

Schnell ist auch mein Zelt aufgebaut und ich begebe mich ins Restaurant, um meine erste warme Mahlzeit seit meiner Ankunft in Rumänien zu genießen. Als ich zurückkehre, sind meine beiden neuen Bekannten am Speckscheiben rösten, dieses mal lehne ich nicht ab, eine Scheibe Speck mit Brot hat immer noch obendrauf Platz. Es entwickelt sich ein amüsantes Hand – und Fußgespräch, ein Schäfer zieht vorbei mit seiner Herde und den Hunden, welche ich bei meinem Marsch durchs Gebirge nie so lammfromm erlebt habe. Auch dem Schäfer wird sogleich die Flasche gereicht, ein bißchen Konversation, der obligatorische Schluck und nach einem anerkennenden Lob für den edlen Tropfen, das mir aus der Gestik des Schäfers verständlich wird, schließlich das „La revedere!“,.der Schäfer zieht von dannen.

Auf dem Campingplatz herrscht Partystimmung, das Spiel beginnt gleich, und ich werde aufgefordert, mit ins Restaurant zu kommen, wo bereits der Fernseher flimmert. Ich ziehe mich jedoch mit dem Hinweis, morgen wieder früh aufzustehen und gut ausschlafen zu wollen, in mein Zelt zurück, denn es würde bei diesem Anlaß vermutlich schwer werden, trotzdem „trocken“ zu bleiben. Aus der Ruhe nach dem Spiel schließe ich, daß die rumänische Mannschaft verloren hat.

Die Cabana Paraul Caprei befindet sich , obwohl direkt an der Straße gelegen, in wunderschöner Umgebung. Es tosen mehrere romantische Wasserfälle in ihrer Nähe. Hier auf 1520 m ist auch schon die Baumgrenze wieder unterschritten, würzig duftender Bergwald breitet sich in der Umgebung aus.
Bei meinem morgendlichen Aufstieg geht es zunächst ein gutes Stück die Straße hinauf. Verrostete Dacia – Wracks unten im Bachbett und durchbrochene Leitplanken sind stumme Zeugen schrecklicher Unfälle.Bald leitet mich ein Pfad von der Straße weg , es geht wieder Richtung Hauptkamm. Die Schäferhunde sind auch frühmorgens schon aktiv, zu deren Verteidigung ich jedoch anführen muß, daß ich, trotz äußerst aggressiver Gebärden, im Verlauf meiner Wanderung nicht ein einziges Mal gebissen werde. Da ich jetzt beim Aufstieg einen anderen Weg wähle als den gestrigen, schneide ich sozusagen ein kleines Stückchen aus der Fagarasch – Hochroute heraus, ziehe am Refugiu Fereastra Zmeilor vorbei und befinde mich kurz darauf wieder auf dem Hauptkamm. Dieser ungeplante Zwischenabstieg hatte zwar den Nachteil, daß ich schon wieder um eine Übernachtung in einer rumänischen Berghütte gekommen bin, er gab mir andererseits aber auch die Möglichkeit, das Gebirge wieder mal von „unten“ zu sehen. Da Wasser die physikalische Eigenschaft hat, nach unten zu fließen, gibt es auf dem Hauptkamm weder Wasserfälle noch Wildbäche, und zudem ist die Sicht von unten auf die Felswände und Bergspitzen wahrlich beeindruckend.

Oben geht´s dann weiter auf der „Haute route“: La trei pasi de moarte („drei Schritte vom Tod“) läßt zwar dem Namen nach erschaudern, ist aber im Vergleich zu Kirchdach und Teufelskamin eher harmlos.
Immer wieder schöne Ausblicke, so auch auf den Lacul Buda, in dessen Mitte noch eine riesige Eisscholle schwimmt, später dann ein enormes Firnfeld in Form eines Trichters, in dessen Mitte sich ein blau schimmerndes Seelein gebildet hat. Ich vermute, daß hier im Winter mehrere Lawinenabgänge zusammengelaufen sind. Der Weg fällt alsbald ab zu diesem Schneefeld, quert es, und beim Erreichen der nächsten Anhöhe fällt auch schon der Blick auf die Podragu – Baude , die dort unten in traumhafter Lage, umgeben von mehreren Bergseen auf 2136 Metern , liegt und somit die höchstgelegene bewirtschaftete Hütte des Fagarasch ist. Die Stunde erscheint mir jedoch noch zu früh, um jetzt schon Quartier zu beziehen. Mein heutiges Etappenziel soll das kleine Refugium Portita Vistei sein , von dem ich jetzt noch durch einen weiteren Höhepunkt auf meiner Wanderung getrennt bin , dem Varful Vistea Mare mit stolzen 2527 m Seehöhe. An dessen Seite schmiegt sich ein anderer hoher Berg, den sich wohl kaum ein Fagarasch – Wanderer entgehen läßt, der Varful Moldoveanu, der mit 2544 Metern den höchsten Punkt Rumäniens darstellt.
Während ich mich den beiden Bergen nähere, entzünden ein paar Gipfelstürmer auf dem Moldoveanu – Gipfel ein Feuerwerk.
Beim Aufstieg zur Vistea Mare ziehen Wolken auf, mir wird schon etwas mulmig zumute, und ich forciere mein Tempo, stets bereit, beim ersten Anzeichen für ein drohendes Gewitter sofort wieder abzusteigen und in einer Schäferkate, die ich weiter unten entdeckt habe, Schutz zu suche. Ich habe Glück, die Wolken verziehen sich , und sogleich stehe ich auf dem Gipfel. Jetzt gilt es nur noch , dem Gratweg zu folgen, um zum Moldoveanu zu gelangen. Die Feuerwerker, die vor mir auf dem Gipfel waren, haben die ganze Sauerei einfach dort oben liegen lassen und sind bereits Richtung Victoria – Stadt abgestiegen.

Nachdem ich das wundervolle Panorama dort oben genügend ausgekostet habe, folge ich dem Grat zurück und steige dann auf der anderen Seite der Vistea Mare hinunter zu der im Sattel gelegenen Unterkunft. Schon während des Abstiegs zieht der eigentlich immer gegenwärtige Wind kräftig an. Als ich bereits in der Hütte sitze, hat er schon Sturmstärke erreicht. Durch das Hüttenkamin scheppert es beängstigend , ich habe jedoch Vertrauen in den soliden Backsteinbau des Refugiums, das wohl schon manchem Fagarasch – Unwetter standgehalten hat. Jetzt bin ich ganz froh, nicht mehr auf dem Gipfel zu stehen, ich muß an meine Tour im vergangenen Jahr denken, als auf der polnischen Seite der Hohen Tatra bei strahlendem Sonnenschein der Fön in Orkanböen über den Grat blies und mich dazu zwang, mich mit meinem Rucksack auf alle Viere zu begeben und von Deckung zu Deckung zu robben, um nicht mitsamt Gepäckstück vom Wind weggerissen zu werden.
Als die Nacht schon hereingebrochen ist und ich bereits, in meinen Schlafsack gehüllt, mit der Stirnlampe einige Buchseiten lese, öffnet sich nochmals die Hüttentür. Zwei Bergfreunde aus Timisoara sind´s, die sich noch trotz des Sturmes hierhergekämpft haben. Wir unterhalten uns noch ein bißchen. Sie gehören zu jener Bergsteigerzunft, die sich nicht scheut, auch im Hochwinter in diese Gebirgswelt einzudringen und die selbst zur weißen Jahreszeit gern mal eine Nacht im Freien in Kauf nimmt. Auch sie treibt es über den Fagarasch zum Königstein, sie planen jedoch, von der Cabana Plaiul Foii aus ins Dorf Zarnesti zu gelangen, sich dort mit frischen Lebensmitteln zu versorgen, um dann die gesamte Gratlänge des Königstein zu „nehmen“. Als Frühaufsteher mache ich mich schon auf dem Weg, noch bevor meine neuen Bekannten aufgewacht sind . Der Sturm hat anderes Wetter herangetragen, es bietet sich eine bezaubernde Aussicht auf eine geschlossene Wolkendecke, die nun das ganze Tal bedeckt und nur noch die exponierten Berggipfel über sich herausragen läßt. Binnen weniger Minuten jedoch zieht der Nebelvorhang bis zu mir herauf und alsbald bin ich in eine dicke Suppe gehüllt. An dieser Situation wird sich den ganzen lieben langen Tag nichts mehr ändern, nur noch sporadisch hebt sich der Vorhang für wenige Minuten oder gar nur Sekunden und ich kann einen kurzen Blick auf eine Felswand oder eine Bergwiese erhaschen. Ich höre das Mähen der Schafe und das Bellen der Hunde, das feine Gebimmel der Glöcklein klingt zu mir herüber, aber zu sehen ist nichts. Unweigerlich denke ich an eine Zeile des Dichters Hermann Hesse: „ Seltsam, im Nebel zu wandern...“. Ich muß jetzt aufpassen, die Wegzeichen nicht zu verlieren und , wenn es dann doch geschieht, zum letzten zurückkehren und erneut mit der Suche beginnen.

Leider bleiben mir bei dieser Etappe auch die Ausblicke aus dem Fereastra Mare (großes Fenster) und dem Fereastra Mica (kleines Fenster) verwehrt. Im weiteren Verlauf des Weges verliert die Landschaft ihren Hochgebirgscharakter, es geht immer mehr über ausgedehnte Bergwiesen Das Refugiu Curmatura Zarnei, ein Plastikgebilde in Form eines großen Fußballs, befindet sich in einem völlig desolaten Zustand, ich beschließe somit, bis zum Refugiu Berevoescu Mare weiterzuziehen. Die laut Karte nicht allzu weit erscheinende Wegstrecke täuscht über die wahre Distanz hinweg, und ich wähne mich schon über dem Zielpunkt hinaus, als sich für einen kurzen Moment der dichte Nebel lichtet. Mein Blick erhascht auf einer ausgedehnten Bergwiese einen Schäfer mitsamt Herde und da, weiter hinten, hab´ ich richtig gesehen? Ich folge der Richtung und stehe alsbald vor der Unterkunft, die eigentlich nur eine Blechbaracke vorstellt. Im Innern befinden sich mehrere Schlaflager. Die „Matratze“ , eine Strohmatte, ist nur noch bei einem Lager unversehrt, bei allen anderen ist sie durchgebrochen, so daß nur noch der Metallrahmen übrig ist. Für den Bergwanderer, der mit Schlafsack und Isomatte ausgestattet ist, ist es dennoch möglich, wind – und witterungsgeschützt auf dem Boden zu nächtigen. Es ist vielleicht für einen „Nicht – Bergler“ wenig verständlich, daß solch eine Stätte für den Wanderer eine Zuflucht in die Gemütlichkeit sein kann, wenn der Wind an den Barackenwänden rüttelt, und ein wahres Getöse veranstaltet, wie es jetzt wieder der Fall ist, und doch fühle ich mich hier drinnen fast schon etwas „heimelig“. Das Fenster an der Rückwand ist beschädigt, und ich behelfe mir mit meinem original Schweizer – Armee - Regenponcho, der normalerweise mich mitsamt meinem großen Tornister vor der Nässe schützt.

Nach einer Weile öffnet sich dann quietschend die Metalltüre der Hütte und meine Schlafgenossen aus dem Portita – Vistei – Refugium treten, triefend naß im Ölzeug, ein. Für die Beiden, die gänzlich ohne Zelt unterwegs sind, ist das Erreichen einer festen Unterkunft fast zwingend, um nicht eine Nacht in völliger Ungemütlichkeit verbringen zu müssen, wie es wohl heute, bei dieser naßkalt – windigen Witterung der Fall gewesen wäre. Ich habe mich bereits wieder in den wärmenden Schlafsack vergraben, die geschätzte Temperatur liegt jetzt nur noch wenige Grad über dem Gefrierpunkt.

Wie meine beiden Freunde mir erzählen, hat sich das Wunder der Nebellichtung bei ihnen wiederholt, sie sind übrigens überrascht, mich hier vorzufinden. Sie waren mit dem Schäfer zusammengetroffen und dieser hatte ihnen berichtet, daß er vorhin einen Wanderer gesehen habe, der dann wohl aber weitergezogen sei. Mit der Rückkehr der Nebelwand war ihm entgangen, daß ich die Unterkunft sehr wohl erspäht und mich dann auch in deren Richtung begeben habe. Wir unterhalten uns noch eine gute Weile über Gott, Politik, Rumänien und die Berge, dann ist Schlafenszeit
Am nächsten Morgen erwache ich wieder durch meine innere Uhr im Biorhythmus des Frühaufstehers. Während die andern beiden noch in ihren Träumen schwelgen, mache ich mich bereits wieder auf den Weg. Immer noch ist es neblig und es wird Frühmittag , bis sich die letzten Schwaden endlich verzogen haben. Ich habe bereits wieder die Waldzone erreicht und es folgt ein ewig scheinender Abschnitt durch zum Teil sehr dichten Wald. Die Markierung verliert hier ihre Deutlichkeit und auf jeder erreichten Lichtung beginnt ein erneutes Suchen nach den Wegzeichen. Auch ist der Pfad hier als solcher manchmal kaum noch zu erkennen, irgendwann komme ich dann völlig vom Weg ab. Gott sei dank, ich stoße auf eine Schäferkate und frage nach dem Weg. Zwei junge Schäfer begleiten mich. Da ich leider keine Zigaretten aus westlicher Produktion mit mir führe, vergelte ich es mit einem kleinen Trinkgeld und sie verabschieden sich lachend, das Wort „Urs“ für Bär habe ich verstanden, und ich kann mir gut vorstellen, daß die Gefahr, auf ein Prachtexemplar dieser Tiergattung zu treffen, hier, in den dichten Wäldern, weitaus größer ist, als weiter oben in der Hochgebirgszone. Eine derartige Zusammenkunft bleibt mir jedoch zum Glück erspart.

Diese Waldetappe wird nur selten mit Panoramaausblicken belohnt, von denen dennoch zwei zu erwähnen sind: zum Einen der Blick auf den großen Stausee Lacul Pecineagu und zum Anderen die Aussicht auf die riesige, quer zum Fagarasch – Gebirge liegende Kalkwand des Piatra – Craiului- (Königstein)- Massivs.

Ich habe zwischenzeitlich zum x –ten Mal das zermürbende Spiel „such´ das Wegzeichen “ hinter mir, als ich dann endlich auf die gelbe Markierung stoße, die zur Forststraße hinunterführt, an der die Wanderherberge Plaiu Foii liegt. Leider habe ich auch mit der gelben Markierung kein Glück, und als diese dann auch verloren geht, beschließe ich, es nun querfeldein mit einem Abstieg durch den Bergwald zu versuchen.

Man muß bei solcherlei Abstiegen, wenn sie denn mal nötig sind, immer vorsichtig sein, denn gerade in unbekanntem Gelände weiß man nie , ob der Abstieg nicht, abrupt unterbrochen durch eine schroff abstürzende Felswand, in den gähnenden Abgrund führt.

Endlich erreiche ich wohlbehalten, aber mit schmerzenden Füßen, ein Tribut vor allen Dingen an die heutige Wegetappe, die mir doch etwas zugesetzt hat, die Forststraße. Ich treffe am Wegesrand auf einige Waldarbeiter, bei denen ich mich nochmals um die korrekte Richtung zur Cabana versichere, und schon bald ist Plaiul Foii erreicht, das zwischenzeitlich schon zu einer kleinen Siedlung mit einigen schmucken Feriendatschen herangewachsen ist. Leider bleibt mir auch hier der Genuß verwehrt, endlich mal eine Nacht in einer bewirtschafteten Hütte zuzubringen, das Wanderheim wird gerade renoviert. Ein kurzes Gespräch mit den Bauarbeitern ergibt, daß hier auch leider keine andere Nächtigungsmöglichkeit besteht, also ziehe ich weiter, in Richtung morgige Etappe, dem Weg zum Königstein, wo ich es mehreren rumänischen Familien gleichtue, die hier wild campen und schlage mein Zelt an einer Bachaue auf, einem wunderschönen Plätzchen zum Verweilen, mit Ausblick zu den wilden Kalksäulen des Königsteinmassives, das majestätisch über den Wipfeln des Tannenwaldes thront. Was von der Ferne wie eine einzige, überdimensionale Felswand erschien, zeigt sich jetzt aus der Nähe als aus zig oder gar hunderten einzelner Felssäulen , - nadeln, - und - wänden zusammengefügt, gewiß der Traum eines jeden Freikletterers. Völlig erschöpft falle ich in den Schlaf, in der Gewißheit, mich morgen in aller Frühe zum Einstieg des Drumul lui Deubel (Deubelweg) zu begeben, der mich hoch auf den schmalen Grat des Piatra Craiului führen wird.

Als ich mich dann mit der aufgehenden Sonne auf den Weg mache, schmerzen meine Füße immer noch höllisch, aber meine Ambitionen und meine Neugier halten mich davon ab, die Wanderung vorzeitig abzubrechen. Ich passiere das kleine Refugium Spirla, wo gerade zwei frisch erwachte Jugendliche ihre Nasen in die Morgenluft strecken, der Rest der Mannschaft liegt noch in den Kojen. Buna dimineata, dann kurze Konversation in englisch, auch sie wollen in den Königstein.

Kurz darauf stehe ich am Wandfuß, es geht aufwärts über diesen wunderschönen und abwechlungsreichen Klettersteig Drumul lui Deubel, der für trittsichere und schwindelfreie Wanderer ungefährlich ist. Man ist noch nicht allzuweit gekraxelt, da gibt es auch schon den ersten Höhepunkt zu bewundern: riesige, von der Erosion geschaffene Felsarkaden, durch die man wie durch enorme Fenster zurück in die Tiefe blicken kann. Ich bin eigentlich ganz froh darüber, heute zumindest einen Teil meiner Etappe in leichter Kletterei zu absolvieren, da dies meinen geschundenen Füßen wesentlich besser bekommt, als das normale Gehen. Schließlich , nach einem genußvollen Aufstieg durchs Kalkgestein, erreiche ich die Kammhöhe, auf der dann in wechselndem Auf und Ab über verschiedene Felstürme gestiegen wird, gleich zu Anfang auf den Varful la Om, der mit 2238 Metern die höchste Erhebung im Königstein darstellt. Immer wieder beeindrucken Ausblicke nach Osten über das Törzburger Land oder auch Bran – Paß genannt, zum Bucegi – Massiv, sowie gen Westen über die Fagarasch – Ausläufer und zum Iezer – Gebirge. Auch lohnt immer wieder ein Blick in die Tiefe, über die schroffen Felsabstürze unter mir, die einem Nicht – Höhengewohnten möglicherweise kalte Schauer den Rücken hinabjagen. Nach einer unterhaltsamen Turnerei über einen guten Teil der weiß leuchtenden Felsen des insgesamt 25 Kilometer langen Bergkammes erreiche ich nun das Refugiu Ascutit, eine Konstruktion ähnlich dem Biwak Curmatura Zarnei im Fagarasch, aus Kunststoffverkleidung mit einem seltsam futuristischen Aussehen, das dort oben auf dem Kamm thront.

Sehr zu meiner Freude erkenne ich in den beiden Wanderern, die sich vor der Notunterkunft in der Sonne ausruhen, meine beiden Freunde aus den vergangenen Nächten wieder. Sie hatten, wie angekündigt, einen Abstecher hinunter nach Zarnesti gemacht, hatten dann nach einem erneuten Aufstieg in der Cabana Curmatura genächtigt und wollen nun die gesamte Kammlänge des Piatra Craiului in Gegenrichtung begehen. Einer von ihnen geht heute in Sandalen, auch er klagt über Blasen und Schmerzen an den Füßen .Sie haben noch einige Tage Zeit und wollen ihre Tour auf jeden Fall noch ausweiten, auf die genaue Richtung wollen sie sich jedoch noch nicht festlegen. Der jetzige Abschied soll endgültig sein, es ist unsere letzte Begegnung.

Ich wende mich nun wieder abwärts, ziehe beim Abstieg jedoch an der Curmatura – Baude vorbei, da es mich noch weiter treibt, zur Cheile Pisicii (Katzenklamm), die Nacht will ich dann in der in meiner Wegskizze eingezeichneten Casa Folea, die ein Stück weit hinter der Klamm zu erreichen ist, verbringen.

Der Grund für mein Weitergehen liegt darin, daß ich meinen Plan, die Überquerung des Bran – Passes und einen erneuten Aufstieg in die Höhen der Muntii Bucegi, immer noch nicht aufgegeben habe und einen Teil der morgigen langen Etappe schon vorausmarschieren will. Leider habe ich für das Gebiet Törzburger Land /Königstein keine richtige Landkarte, sondern jediglich die Skizze aus meinem Handbuch zur Verfügung. Der freundliche Ungar – Rumäne vom Caltun - Biwak hatte mir übrigens eine für den Fagarasch überlassen, jetzt aber kommt, was kommen mußte, ich habe mich erneut verlaufen, der Eingang zur Katzenklamm ist unauffindbar, ich irre querfeldein über eine Schafswiese und finde schließlich einen Fahrweg, der mich zu den ersten Gehöften der kleinen Gemeinde Pestera bringt .

Als ich im Hof eines Hauses eine Frau antreffe, frage ich sie nun gezielt nach der Casa Folea. Sie bedeutet mir, ja , Casa Folea, das sei hier und bittet mich sogleich herein. Es ist mir bis heute noch nicht gelungen, festzustellen ob es sich nun um die Casa Folea in der Kartenskizze gehandelt hat, oder ob dies einfach nur ein rumänischer Ausduck für Pension oder Herberge ist. Jedenfalls bin ich erstmal gottfroh, nach den Entbehrungen der letzten Tage endlich wieder mal in einem gemütlichen Bett schlafen zu können und noch dazu ländliche Wohnatmosphäre auf rumänische Art kennenzulernen. Die Verständigung ist schwierig, aber meine Zimmerwirtin zeigt sich äußerst freundlich und zuvorkommend. Nach einem heißen Bad, das ich nun in vollen Zügen genieße, und das mir endlich wieder eine zivilisierte Duftnote zurückverleiht, sitze ich in meinem Zimmer und bin gerade im Begriff, mich mit ein paar Wurstbüchsen und etwas abgepacktem Pumpernickel – Brot aus meinem Wanderproviant zu verköstigen, als es klopft. Ich öffne, und die Zimmerwirtin reicht mir mit freundlicher Gestik ein Tablett mit frischem Brot, Käse, Wurst, Butter und einem großen Glas warmer Milch Ich nehme den Imbiß dankend mit Freude an und genieße dieses einfach – rustikale Abendbrot, als sei es ein Menü aus der Haute – Cuisine des berühmten Meisterkochs Bocuse. Einzig der Haushund scheint mit mir als neuem Mitbewohner nicht ganz einverstanden zu sein. Sein empörtes Gebell hindert mich noch einige Zeit am Einschlafen.

Als ich anderntags weiterziehe, steht es mit dem Zustand meiner Füße leider immer noch nicht zum Besten. Nach dem Örtchen Pestera gelange ich schließlich nach Magura, wo ich dann einsehen muß , daß ein Weitermarsch bis ins Bucegi nur noch einer Quälerei gleichkäme und ich beschließe, nach Zarnesti hinunterzugehen und einen Tag früher nach Brasov (Kronstadt), der Stadt, wo ich wieder in den Bus zurück nach Deutschland steigen werde, zu fahren.

Nicht unerwähnt lassen will ich jedoch die zauberhaft – liebliche Hügellandschaft des Törzburger Landes, mit seinen romantischen Dörfchen in ursprünglicher Landatmosphäre. Sehr gut könnte ich mir hier auch einen winterlichen Familienurlaub vorstellen.

Da der Bahnhof von Zarnesti am anderen Ende des Großdorfes liegt, als dort, von wo ich die Ortschaft betrete, komme ich noch in den Genuß einer Besichtigung dieses sehenswerten Ortes. Als ich im Zug Richtung Brasov sitze, werde ich Augenzeuge einer tristen Wirklichkeit, Relikte aus der Ceausescu – Zeit in Form trostloser, heruntergekommener Wohnsilos, die wohl schon seit der Zeit ihrer Erbauung von jediglichen Neuerungsarbeiten verschont geblieben zu sein scheinen. Dieser Urbanismus steht im krassen Gegensatz zu jener Idylle, die ich eben verlassen habe.

In Brasov angekommen, will ich mich zu Fuß Richtung Altstadt aufmachen und mir dort eine einfache Pension suchen. Durch meine Ortsunkenntnis unterschätze ich jedoch das Ausmaß des „sozialistischen Rings“, der das historische Zentrum umgibt. Nach einer guten Weile Fußmarsches durch die Neustadt werde ich schließlich von einem Herrn mittleren Alters auf deutsch angesprochen: Ob ich Deutscher sei, er könne mir eine Unterkunft nur wenige Gehminuten vom Zentrum anbieten. Er müsse jedoch zuerst seine Schwester und deren Ehemann aus den USA hinaus zu einem nahegelegenen Dorf fahren. Ein Blick hinüber zu seinem Auto, in dem ein nett lächelndes Ehepaar , ebenfalls mittleren Alters, sitzt, läßt mein gesundes Mißtrauen weichen, zudem zeigt er mir ein schönes Gästebuch mit Fotos seiner Pension und unzähligen Eintragungen und Dankesschreiben ehemaliger Klienten verschiedenster Nationen.

Wir fahren also zunächst nochmals aus der Stadt raus in eine nahe Ortschaft, wo das Ehepaar aussteigt, um dort eine ehemalige Jugendfreundin der Frau zu besuchen. Während ihr Mann ein waschechter Yankee ist, verrät bei ihr das Zungen – „R“ im ansonsten perfekten Englisch ihre rumänischen Wurzeln, sie ist übrigens schon vor Jahrzehnten emigriert und jetzt wieder zum ersten Mal seit damals im Land.

Als ich mich schließlich in der Pension unter der Dusche erfrischt habe und in die noch echten Waschmittelgeruch ausströmenden „Rückfahrtklamotten“ gestiegen bin, freue ich mich jetzt auf einen kleinen Stadtbummel. Während ich mich in einem Restaurant in der Altstadt bekellnern lasse, regnet es draußen ergiebig. Ich wäre somit bei einer Fortsetzung der Wanderung zum Bucegi auch noch kräftig von oben gesegnet worden, wobei sich so ein Wetter in der Höhe weitaus unangenehmer bemerkbar macht, oft von Windböen und Temperaturgefällen begleitet ist , ja die Niederschläge sogar in Schneefall übergehen können

Sehr gut gefällt mir diese alte Stadt, besonders hervorzuheben ist natürlich die Schwarze Kirche mit ihrer gigantischen Orgel und der kostbaren Sammlung antiker Orientteppiche. Die wunderschönen, alten Wohnhäuser sind zum Teil noch in renovierungsbedürftigem Zustand, aber gerade diese Tatsache vermittelt mir eine besondere Atmosphäre.

Tags darauf werde ich dann noch Opfer dreister Trickdiebe, als ich auf der Suche nach etwas rumänischer Folklore einen kleinen CD – und Kassettenladen betrete. Ein halbes Dutzend junge Männer folgt mir, es wird plötzlich eng, ich werde „versehentlich“ angerempelt, und als ich den Laden wieder verlassse, scheint mir das alles zwar ein bißchen verdächtig , doch ich bin mir sicher, es ist nichts passiert. Als ich dann wenig später in einer der vielen, leckeren Konditorei – Cafes meine verzehrten Creme – und Sahneschnitten bezahlen will, stelle ich fest, daß die Geldscheine, die ich in der zugeknöpften Seitentasche meiner Allzweckhose deponiert hatte, verschwunden sind. Das ärgert mich jedoch nicht weiter, da der Betrag geringfügig war. Ich komme mir nur ein bißchen blöd vor und bewundere fast ein wenig die Geschicklichkeit , mit der ich hier „seziert“ worden bin, ohne das Geringste zu bemerken.
Eine Fahrt mit der Seilbahn hoch zum Hausberg Timpa (Hohe Zinne) enttäuscht mich eher. Eigentlich bin ich mit der Absicht heraufgefahren, dort oben im Restaurant mit Blick über die Stadt zu speisen, doch leider hat dieses geschlossen und ansonsten finde ich hier oben nichts Sehenswertes, wie es mir mein Zimmerwirt eigentlich schon prophezeit hat.

Da der Bus zurück nach Deutschland morgen bereits um 3.45 Uhr vom Bahnhof losfährt, bitte ich meinen Vermieter, er möge mir doch ein Taxi vorbestellen, da ich die Befürchtung habe, zur nachtschlafenen Zeit nicht sofort ein solches auf der Straße zu finden und somit fatalerweise mit einem anderen Verkehrsmittel als dem bereits reservierten Bus zurückreisen zu müssen. Er lehnt sofort ab, mit dem Hinweis, mich persönlich zum Bahnhof zu bringen.

Leider dunkelt es auf der Rückfahrt noch eine gute Zeit lang, trotzdem sehe ich noch einige schöne Siebenbürger Dörfer im Morgenlicht erstrahlen und genieße abermals die Fahrt durch´s Banat, das auf der Hinfahrt mehr im Halbschlaf an mir vorübergezogen war. Obwohl ich mich jetzt auf die Heimkehr und das Wiedersehen mit meiner Familie freue, kreisen bereits die Gedanken um eine Rückkehr in dieses schöne und interessante Land. So vieles gibt es hier noch für den Bergfreund zu entdecken. Eine Bergfahrt in den Retezat, die geheimnisvolle Karstlandschaft der Muntii Bihor, oder vielleicht eine Durchquerung des Rodna – Gebirges in den Ostkarpaten...
Aber auch der Nicht – Alpinist wird in Rumänien auf seine Kosten kommen: Das einmalige Naturwunder des Donau – Deltas, die Ursprünglichkeit der Maramures und deren Bewohner, oder auch Strandurlaub am Schwarzen Meer wären ein paar der vielen Möglichkeiten, einfach mal etwas neues zu entdecken.
Nachdem uns der ungarische Zoll noch einen etwas längeren Aufenthalt beschert hat, geht’s dann zügig des Nachts durch Österreich und am frühen Morgen befinden wir uns bereits wieder auf Bayerns Straßen. Als wir in Singen ankommen, liegen wir wieder unter Fahrplanzeit, als kleines „Andenken“ mache ich meiner derzeit schwangeren Schwägerin Konkurrenz, durch die Überstrapazierung und die anschließende lange Fahrt habe ich jetzt Wasser in den Füßen. Die obligatorischen Blasen sind bald verschwunden, aber das Fußbett braucht noch eine Weile bis zur vollständigen Genesung.

Im Hohen Atlas

Von Imlil nach Setti Fatma über den höchsten Berg Nordafrikas

Marakesch im August – das bedeutet Affenhitze, Hektik, verpestete Luft, aber auch immer noch Spannung und maghrebinischer Flair, Zusammenströmen allerlei wohliger und auch wenig erquickender Düfte in den Souks der Altstadt, jener Ansammlung eng verschachtelter, traditioneller Handels- und Handwerksgassen, herübergerettet aus längst vergangenen Epochen, wie sie uns noch in den Erzählungen aus 1001 Nacht vergegenwärtigt werden, deren Warenangebot und Gebären der Händler jedoch schon arg vom modernen Massentourismus und natürlich auch von den Bedürfnissen der modernen Welt beeinflußt sind. Armut und Schmutz koexistieren neben protzigem Reichtum in einem der teuersten Hotels der Welt, geschichtsträchtige Monumente , hektischer Verkehr und die Ruhe in paradiesischen Gärten existieren in einem surrealistisch anmutenden Gegensatz nebeneinander.

Heute jedoch hält es mich nicht lange in der Metropole Südmarokkos. Mein Ziel soll der Hohe Atlas sein, die bis über 4000 m aufstrebenden Klimascheide zwischen den nördlich davon gelegenen , mediterranen Gebieten und der sich im Süden ausbreitenden größten Wüste unseres Planeten, der Sahara .Ein Taxi bringt mich ins Dorf Asni, am Fuße des Gebirges, wo ich mich für meine Weiterreise um einen Platz auf der Ladepritsche eines Lastwagens kümmern muß. Wie das in Marokko eben so geht, bin ich ruckzuck durch einen Schlepper an einen LKW – Fahrer vermittelt, der sich mit dem Hinweis, ich solle hier auf dem Marktplatz auf die Abfahrt warten, sogleich ins nächstgelegene Kaffeehaus zurückzieht, da er die Ladefläche seines Lastwagens selbstverständlich mit weiteren Passagieren vollbekommen möchte. Bis der Schlepper dann schließlich genügend Mitreisende ermittelt hat, vergehen nochmals gute 2 Stunden, die ich jedoch geduldig ertrage, wie es sich bei Reisen in Ländern, die nicht unserer westlichen Kultur zuzuordnen sind, geziemt, das Geschehen auf dem Marktplatz beobachtend, ein paar kleinere Einkäufe tätigend und mit all meinen Sinnen die fremde Atmosphäre in mich aufsaugend.

Als der Fahrer dann endlich den Motor startet, ist die Ladefläche gerammelt voll mit Marktweibern, heimkehrenden Dorfbewohnern, einheimischen Ausflüglern und einer Handvoll westlicher Bergtouristen, und ich finde mich hier ziemlich eingekeilt in einer gewissen Ungemütlichkeit, die dann nochmals zulegt, als wir die Teerstraße verlassen und auf einer Rüttelpiste kräftig durchgeschaukelt werden. Dafür beginnt jetzt die Landschaft wahrlich zu beeindrucken. Auf der Fahrt durch das Bergtal entlang des Flusses Mizane hinauf zum Berberdorf Imlil werden in mir sogleich Assoziationen zu Bildern von den großen Gebirgen Mittelasiens, wie dem Karakorum oder dem Hindukusch, oder den im Monsunschatten gelegenen Bergregionen des Himalaya geweckt, ein Vergleich, der Vegetation und Relief dieser Landschaft wohl am ehesten wiedergibt. Die alles überragenden Eisriesen der asiatischen Pendanten muß man sich allerdings wegdenken, da es im Hohen Atlas weder ewigen Schnee noch Vergletscherungen gibt, und die vergleichsweise bescheidene Höhe von "nur" knapp 4000 Metern läßt sich ebenfalls nicht mit den Ausmaßen der "Asiaten" messen. In kultureller Hinsicht jedoch kommt der Reisende hier voll auf seine Kosten, die Schönheit und Einzigartigkeit der hiesigen Bergdörfer und die Originalität und kulturelle Eigenart seiner Bewohner, den Atlas – Berbern, läßt sich gleichwertig in die Reihe der bekannten großen Trekkingziele im Himalaya und den Anden stellen, und das gerade mal 31/2 Flugstunden von Deutschland entfernt.

Als wir schließlich im schönen Bergdorf Imlil (1740 m), dem Ausgangspunkt meiner Tour, ankommen, ist es schon recht spät, trotzdem beschließe ich, heute noch eine kleine Marschetappe zurückzulegen, um vielleicht noch den nicht allzu weit entfernten Marabout Sidi Chamarouch zu erreichen. Hier in Imlil starten die meisten Trekkinggruppen, und es ist nicht leicht, das Dorf wieder zu verlassen, ohne von einem Schlepper in eine Unterkunft verbracht, und mit einem Führer für den kommenden Tag verkuppelt worden zu sein. Ohne eine gewisse Sturköpfigkeit, gepaart mit einer guten Ausrede, geht´s eigentlich fast gar nicht! In diesem Falle beantworte ich die ständigen Fragen nach meinem Wohin mit „vers Toubkal“, was, Allah sei dank, immer falsch interpretiert wird, nämlich insofern, daß am Ortsende sich das Wanderhotel „Toubkal“ befindet, ich aber den gleichnamigen Berg meine, so daß ich nicht einmal lügen muß, da der Djebel Toubkal ja durchaus mein Ziel sein soll, welches ich allerdings voraussichtlich erst im Verlauf des morgigen Tages erreichen werde. Die Strecke zwischen Imlil, Djebel Toubkal und Lak de Ifni bis hinunter zum Berberdorf Amsouzart möchte ich, in Anlehnung an den "berühmt - berüchtigten" Aufstieg zum Kilimandjaro, als die „Coca – Cola – Route“ des Hohen Atlas bezeichnen. Hier ziehen die meisten Trekking – Karawanen entlang, hier sitzt an jedem Bach, der über den Weg sprudelt, ein Limonadenverkäufer, der seine wassergekühlten Erfrischungen dem durstigen Wanderer feilbietet und nahezu alle der hier ansäßigen Berber sprechen zumindest ein rudimentäres Französisch. Dies sollte jedoch Wanderer, die abgelegenere und ursprünglichere Gebiete bevorzugen, nicht dazu verleiten, diesen Gebirgsteil einfach aus ihren Plänen zu streichen - ein unverzeihlicher Fehler, - denn außer den höchsten Erhebungen des Hohen Atlas bietet die Toubkal - Region weitere, außergewöhnlich interessante Attraktionen, zudem eignet sich das Gebiet hervorragend zur Eingewöhnung in Landschaft und Atmosphäre, bevor man sich dann endgültig in den „ungesicherten Bereich“ begibt, wobei ich diesen Ausdruck nicht insofern verstanden wissen will, daß hier eine etwaige Gefahr in Form von Wegelagerern oder ähnlichem Ungemach auf den unbedarften Wanderer lauert, was ganz und gar nicht der Fall ist, sondern daß man schlicht und einfach das Terrain der guten Infrastruktur und der sprachlichen Verständigungsmöglichkeit verläßt.

In Imlil endet die Fahrstraße und bis Setti Fatma werde ich nichts Motorisiertem mehr begegnen, das einzige Transport- und Fortbewegungsmittel in den Höhen und Tälern des Atlasgebirges ist der Maulesel, oder aber man geht zu Fuß. Die Wege stellen sich auch dementsprechend als reine Saumpfade dar, d.h. naturbelassene, meist schmale Erdtrassen, die sich unmarkiert, jedoch gut erkennbar, durch die Landschaft schlängeln. Auf die Benutzung durch Maultiere zugeschnitten, haben die Serpentinen nicht die Steilheit, wie man sie von manchen Alpenwegen oder anderen Hochgebirgsregionen her oft gewohnt ist, Kletterpassagen fehlen gänzlich, so daß ein weitgehend gefahrloses Wandern ohne alpine Schwierigkeiten möglich ist. Selbstverständlich stellen sich die Dinge in den Wintermonaten und während der Übergangszeiten anders dar, da sich der Hohe Atlas dann in eine schneereiche und eiseskalte Hochgebirgswildnis verwandelt, gleichwohl dann ein hochinteressantes Terrain für erfahrene Skibersteiger. Grundsätzlich sollte man über eine gute Kondition verfügen, da man sich in beträchtlichen Höhen bewegt, auch können durchaus Symptome der Höhenkrankheit auftreten, weshalb ausreichend Flüssigkeitszufuhr, um das Blut dünn zu halten, dringend angezeigt ist. Da es im Monat August auch in den Höhenlagen tagsüber sehr warm werden kann, veranschlage man einen Durchschnittsverbrauch (nur Trinkwasser!) von guten 5 Litern Wasser pro Tag.

Hinter Imlil folge ich, die kurz nach dem Ortsausgang nach rechts wegführende Abzweigung Richtung Refuge de Lépiney (3050 m) ignorierend, dem Weg aufwärts. Linkerhand liegt, schön an die Berghänge geschmiegt, die Ortschaft Aroumd, an einem kleinen Bachlauf gönne ich mir ein Päuschen, wo ein Getränkehändler vom Bachwasser gekühlte Limonadenflaschen verkauft, eine willkommene Erfrischung. Die Sonne steht schon tief, als ich am zu einem kleinen Weiler angewachsenen Marabout Sidi Chamarouch ankomme. Marabout ist die gängige Bezeichnung in weiten Teilen des islamisch geprägten Afrika für ein Heiligtum, meistens handelt es sich um die Grabstätte eines zu Lebzeiten besonders verehrten Weisen oder Heiligen. Der Marabout Sidi Chamarouch wird von einem riesigen, weißen Stein überdeckt, ich vermute, daß sich innen das Grab befindet. Am Ortseingang begegne ich einem jungen Mann, der sich mir mit dem Namen Mokhtar vorstellt. Er ist mit zwei weiteren Kollegen ebenfalls als Wanderer unterwegs, sie haben ihr Zelt oberhalb des Marabou aufgeschlagen. Das Angebot eines anderen Herren, der mir als Schlafunterkunft einen winzigen Abstellraum zu einem überzogenen Preis andrehen will, wo er die selbstgefertigte Stohmatten und allerlei Krimskrams, die er tagsüber an Wandertouristen verkauft, gelagert hat, lehne ich ab, mein Zelt erscheint mir gemütlicher, zumal ich mich hier oben in Nachbarschaft mit den drei symphatischen Wanderern aus Marrakesch gut aufgehoben fühle. Wir unterhalten uns noch eine gute Zeit lang vor den Zelten, inzwischen ist es bereits dunkel geworden. Ich beschließe, mich schlafen zu legen, während die anderen noch die halbe Nacht mit Tratschen und Lachen zubringen. Sie wollen ebenfalls nach Setti Fatma, aber nicht wie ich, auf Teufel komm raus, und wenn sie tatsächlich dort ankommen sollten, dann vielleicht in der doppelten Zeit, wie ich sie für mich selbst veranschlagt habe. Eigentlich geht es ihnen mehr um die Gaudi des miteinander Unterwegsseins. Mit Mokhtar soll mich später noch eine längere Brieffreundschaft verbinden.

Kurz vor Sonnenaufgang erwache ich und mache mich sogleich abmarschbereit. Ich führe übrigens Lebensmittel für gut eine Woche mit mir, allerdings nur kalte Küche. Meine Wanderung soll 4 bis 5 Tage dauern, was anbetrachts der langen Wegstrecke und der Tatsache, daß es vier Pässe mit über 3000 m zu überwinden gilt, und ich zudem noch den höchsten Berg Nordafrikas, den Djebel Toubkal (4167 m), besteigen will, ein recht ehrgeiziges Vorhaben ist. Da Frau und Tochter in Agadir auf mich warten, will ich die Wanderung nicht allzu lange dauern lassen, andererseits haben mein Entdeckungstrieb und mein sportlicher Ehrgeiz diesen umfangreichen Plan reifen lassen, wie so viele meiner autarken Wanderungen.

Auf den Dächern der umliegenden Häuser haben die Führer der Trekkinggruppen, in dicke Wolldecken gehüllt, die Nacht zugebracht. Eigentlich ist es hier im Hohen Atlas völlig unüblich, daß man ohne Führer und Tragetier unterwegs ist. Hier ist echtes Trekking im Sinne dieses Wortes üblich. Ich habe mich jedoch für eine Solotour mit Rucksack und Zelt entschieden, weil ich mir somit die Unabhängigkeit in meinen Entscheidungen wahren kann, kein Führer würde sich auf eine so lange Distanz in so kurzer Zeit einlassen, und dies würde dann nur zu endlosen Diskussionen führen. Da man zwischenzeitlich auch in Deutschland recht gute Wanderkarten von der Djebel – Toubkal – Region erhält, ist eine Selbstorientierung kein Problem. Trotzdem empfehle ich, eine Wanderung im Hohen Atlas auf die dort übliche Art zu gestalten, man fördert somit auch „Arbeitsplätze“ in der Region und die bei Trekkinggruppen oft üblichen Übernachtungen in den traumhaft schönen Berberdörfern haben einen besonderen Reiz . Da die Etappen doch kürzer gehalten werden, trifft man rechtzeitig dort ein, um noch genügend Zeit zu finden, um in und rings um die Dörfer herumzustöbern und den Kontakt zur einheimischen Bevölkerung zu pflegen. Zudem werde ich im Laufe meiner Tour keine allzu guten Erfahrungen mit geeigneten Zeltplätzen machen, das Gelände ist meistens zu steil und sehr steinig, ein Abspannen mit Heringen kann man glatt vergessen. Sollte es für mich ein nächstes Mal geben, was durchaus denkbar ist, werde auch ich hoffentlich mehr Zeit mitbringen und das Gebirge auf diese Art entdecken.

Hinter Sidi Chamarouch steigt alsdann der Weg beständig aufwärts, mein Blick fällt immer wieder zurück zu dem malerisch dort unten gelegenen Marabou, wo in den umliegenden Häusern langsam das Leben erwacht. Unterwegs treffe ich auf eine kleine Gruppe singender schwatzender und lachender Berberfrauen, die auf den umliegenden Hängen Pflanzen sammeln. Unter mir hat sich der Mizane ein Tal gegraben, wo sich etwas oberhalb des Flußbetts eine Trekkinggruppe die einigermaßen ebenen Verhältnisse zunutze gemacht, und dort ihre Zelte aufgeschlagen hat. Dort bereitet man sich ebenfalls auf den Aufbruch vor, es steigt der Rauch vom Kochfeuer empor, wo das Frühstück für die abenteuerlustigen Europäer durch deren Führer zubereitet wird. Von oben kommt mir ein Maultiertreiber entgegen, man hört ihn schon von weither lauthals singen. Zwei weitere Kollegen folgen ihm, alle haben ihre Tiere mit dicken Wanderrucksäcken bepackt, sie bringen das Gepäck für eine Gruppe aus Stuttgart zu Tal, diese seien mit einem Führer auf Gebirgstour und würden dann abends wieder zu den Trägern und den Rucksäcken stoßen. Mein vorläufiges Ziel ist die ehemalige Neltner – Hütte (3207 m), die nach der Renovierung jetzt Refuge Toubkal heißt und durch den französischen Alpenverein, Sektion Casablanca, betreut wird

Das Refuge ist der geeignetste Ausgangspunkt für eine Djebel – Toubkal – Besteigung und wirkt auf Entfernung wie eine kleine Trutzburg. Als ich dort ankomme, ist es 10 Uhr morgens, die Hütte wird gerade gereinigt. Trotzdem serviert mir der marokkanische Hausherr sogleich ein Frühstück, für mich heute morgen schon das Zweite und nach dem tüchtigen Aufstieg genau das Richtige. Ich beschließe, diese Nacht in der Hütte zu verbringen, wo ich auch mein Gepäck während der Besteigung bedenkenlos zurücklassen kann. Die Hütte und ihre Umgebung dienen als Basislager für Djebel – Toubkal – Eroberer, und man kann hier tatsächlich etwas Basecamp – Atmosphäre einfangen. Durch das zweite Frühstück gestärkt und von meinem Gepäck befreit fällt mir die Besteigung relativ leicht und wird somit zu einer Genußtour. Unterwegs begegne ich einigen Gruppen, die den Aufstieg bereits in den frühen Morgenstunden getätigt haben und sich jetzt wieder auf dem Rückweg befinden. Zwischendurch komme ich vom Normalweg ab, was mir jedoch wenig Kopfzerbrechen bereitet, da das Gelände trotz Steilheit immer noch gut begehbar und auch recht übersichtlich ist. Einer 3 – köpfigen Gruppe von Holländern geht es anders, ihnen wird schon etwas mulmig im steilen Gelände, auch macht ihnen die Höhenluft einiges zu schaffen. Das Mädchen beschließt, umzukehren, die beiden Jungs wollen jedoch nicht aufgeben und noch den Gipfel erreichen Obwohl ich mich gestern morgen in Agadir noch auf Meereshöhe befunden, und ich noch vor wenigen Tagen an einer Durchfallerkrankung laboriert habe, stecke ich die dünne Luft hier oben überraschend gut weg, nehme aber sicherheitshalber große Mengen Wasser zu mir, und bin dann doch ganz froh über die Tatsache, daß ich bei diesem Aufstieg „gepäckbefreit“ bin.

Schließlich gelange ich zum Gipfel, der mit eine nüchternen Stahlkonstruktion in Form einer Pyramide markiert ist, welche den höchsten Punkt Nordafrikas kennzeichnet. 4167 Meter sind erreicht. Die Freude des Gipfelsieges und die herrliche Aussicht über die schroff - karge, eine sehr eigenwillige Faszination ausströmende Gebirgswelt teile ich mit einem jungen Marokkaner, der schon vor mir oben angekommen ist. Wir steigen schließlich gemeinsam ab, unterwegs treffen wir noch auf die beiden von der Anstrengung bereits gezeichneten Holländer, denen ich noch die letzte Richtungsweisung gebe, auch sie werden wohl den Gipfel erreichen. In der Nähe des Refuge fließt ein Gebirgsbach hinunter, der dort allerlei kurioses Grünzeug gedeihen läßt, an dem sich eine Herde Ziegen labt. Zum Abschluß passieren wir noch einen kleinen Wasserfall, dann stehen wir auch schon wieder vor der Hüttentür. Mein Begleiter will noch runter ins Dorf Aroumd, wo seine Mutter wohnt, er selbst studiert in Marrakesch. Es ist zwar schon spät, aber da der Weg nach Aroumd purer Abstieg ist, müßte er es eigentlich vor Einbruch der Dunkelheit noch schaffen.

Ich genieße jetzt rundum zufrieden die Abendsonne vor der Hütte, den prächtigen Blick hinunterwärts in das Hochtal, durch welches ich heute morgen noch aufgestiegen war. In der Umgebung der Hütte hat sich ein großes Zeltlager gebildet, Maultiere grasen in der Umgebung, aus der Ferne höre ich einen Berber ein Liedlein singen, der Rauch der Lagerfeuer steigt empor, echte Basecamp – Atmosphäre! Die Nacht im Matratzenlager verbringe ich zwischen einer Gruppe von Engländern, wo ich dann meine Entscheidung, in der Hütte zu nächtigen, fast wieder bereue. Das Gefurze , Geschnarche und Getuschle und der Aufbruch der Gruppe noch vor Sonnenaufgang mit entsprechendem Geraschel und Gekrustel beim Rucksackpacken läßt mich eine schlechte Nacht verbringen.

Trotzdem hält es mich nicht lange im Schlafsack, und nach einem bekömmlichen Frühstück begebe ich mich zunächst Richtung Talabschluß, wo die umliegenden Berge einen eindrucksvollen „Cirque“ bilden. Die erste Paßüberschreitung erwartet mich dann schon bald linkerhand, in südöstlicher Richtung, wo der Weg in gemächlichen, aber durchaus schweißtreibenden Serpentinen den „Cirque“ überwindet. Stolze 3684 m sind dann im Sattel des Tizi – n – Ouanoums (Tizi = Paß) erreicht, die so manch Einen schon kurzatmig werden lassen. Bereits beim Aufstieg kommen mir die ersten Gepäcktransporte der Trekkinggruppen entgegen, die auf der anderen Seite, am Ufer des bei den Berbern als geweihter Ort geltenden Lac d ´Ifni biwakiert haben. Viele Berber meiden übrigens den See, weil sie dort böse Geister wähnen.

Immer wieder begegnet man mir mit der Frage „vous étes fatigé?“ (sind Sie erschöpft?), in der Hoffnung, daß ich bejahe, und noch ein kleines Geschäftchen auf die Schnelle gemacht werden kann. Ich bleibe jedoch stur wie ein Maulesel und beantworte die Frage jedesmal mit einem überzeugend klingenden „non, ca donne d´exercise!“ und ich sehe das Ganze sehr wohl auch als eine gute sportliche Übung. Ein letztes Mal schweift dann auf der Paßhöhe mein Blick zurück zu den mächtigen Gipfeln des Toubkal – Massivs. Nirgendwo sonst reckt sich der Hohe Atlas mehr in die Höhe, wo sich der ambitionierte Bergsteiger außer einem zusätzlichen halben Dutzend weiterer 4000er auch noch einige Riesen, die diese Marke nur knapp unterschreiten, einverleiben kann

Schließlich geht es auf der anderen Seite auf reichlich Schutt hinunter, was ein paar Franzosen dazu veranlaßt, hier slalommäßig „abzufahren“. Ich selbst kann mich beherrschen, ich will meine Knochen schließlich heil unten anbringen. Im gesamten Gebirge findet man übrigens massenweise Schutt und Geröll, auch hat man eigentlich immer ziemlich Staub in der Nase und zwischen den Zähnen. Die Erklärung für dieses Phänomen findet sich in den meist extremen Temperaturunterschieden zwischen Tages – und Nachtzeit, die das Gestein zum Bersten bringen und den Hohen Atlas vermutlich im Laufe von Jahrmillionen zu einer einzigen Schuttwüste abtragen werden.

Etwas weiter unten, immer noch im Abstieg, wird der Weg dann von einem Kaskaden bildenden Gebirgssbach begleitet, der den See jedoch nicht erreichen soll, da er sich irgendwann nach und nach der Trockenheit ergibt, und schließlich nur noch das Bachbett zurückläßt, das in einem riesigen, wüstenhaft wirkenden Geröllfeld mündet, eigentlich schon Teil des Sees, der in wasserreichen Zeiten mehr als das Doppelte seiner momentanen Größe hat. Nach einer kleinen Rast am Seeufer, die ich unter dem sonnengeschützten Strohdach eines Limonadenhändlers zubringe, wo sich auch ein wenig Konversation mit einem einheimischen Tourenführer bietet, zieht sich jetzt der Weg, den See auf der Nordseite traversierend, langsam, aber sicher wieder, schöne Ausblicke auf dessen tiefblau schimmernde Oberfläche gewährend, in die Höhe. Der Lac d´Ifni liegt nur noch auf knapp 2300 m, es geht jetzt auch nicht mehr allzu weit hoch, um dann gleich wieder abwärts zu führen, Richtung dem geographischen „Zwischentiefpunkt“ meiner Wanderung, dem Berberdorf Amsouzart.

Die Sonne brennt jetzt mächtig aufgrund der geringeren Seehöhe. Hier befinden wir uns auch schon auf der südlichen, der Sahara zugewandten Seite dieser mächtigen Bergkette, und die Berge ringsum wirken nun völlig arid, in ocker – und gelbfarbenen Tönen vermitteln sie einem jetzt den Eindruck einer Gebirgswüste. Um so mehr überraschen mich jetzt die Berberdörfer, die sich hier auf einer staubigen Erdtrasse wie auf einer Perlenschnur aneinanderreihen. Sollte es jemals den Garten Eden gegeben haben, genau so muß er wohl ausgesehen haben. Mein Blick gleitet über das üppige Grün dort unten in der Talsenke, die durchsetzt ist mit diesen typischen, erdfarbenen Flachdachhäusern, wie man sie in vielen Wüsten- und Halbwüstengebieten Nordafrikas, der arabischen Halbinsel und Zentralasiens antrifft.
Gleich den eindrucksvollen Speicherburgen entlang der „Straße der Kasbahs“ sind auch diese Behausungen meist aus gebranntem Lehm, oder aber auch aus soliderem Stein, geschaffen. Terassenanbau wird hier betrieben, Mais, Feigen und alle möglichen anderen Arten von Früchten und Getreiden gedeihen hier. Das Wasser wird zentriert und wie in den Oasen auf die Felder gelenkt und entstammt, schier unglaublich , aus den hier so ausgedörrt scheinenden, umliegenden Bergen. Die Schönheit und die Anmut der hiesigen Bergdörfer darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bevölkerung hier überwiegend in der Armut lebt, und man trifft immer wieder auf Kinder, die entweder nach „Dirham“ oder „Stylo“ (Kugelschreiber) betteln. Man sollte diesem Flehen eigentlich nur dann nachgeben, wenn durch die Kinder eine Dienstleistung erbracht wurde, wie z. B. das Zeigen des Weges, um diese nicht zu Bettlern zu erziehen, die sich dann, statt in die Schule zu gehen, lieber an die Touristen hängen.

Auch ist der Kugelschreiber dem Dirham vorzuziehen, da dieser nicht nur als Prestigeobjekt dient. In Marokko schätzt man das Analphabetentum auf ca. 50 %, die allgemeine Schulpflicht existiert zwar auf dem Papier, in der Praxis sieht es jedoch oft so aus, daß sich viele Familien die elementare Grundausrüstung für den Schulbesuch, nämlich Heft und Kugelschreiber, nicht leisten können, und oftmals die Kinder schon allein deswegen nicht zur Schule geschickt werden; man könnte daher die Bezahlung einer Dienstleistung mittels eines Kugelschreibers durchaus als kleine „Entwicklungshilfe“ ansehen. Leider war ich mir bei der Vorbereitung meiner Reise dieser Tatsachen selbst noch nicht bewußt, weshalb ich jetzt keine Kugelschreibersammlung bei mir führe, dies jedoch schon bald bedauere.

Als ich dann in Amsouzart meinen Wasservorrat wiederaufgefüllt habe, stellt sich mir hier ein etwas kurioses Problem, nämlich wie komme ich wieder aus dem Dorf heraus? Die Leute wollen natürlich, daß der Tourist in ihrem Dorf nächtigt, aber ich, der eilige Wanderer, will heute noch ein gutes Stück vorankommen. Jedenfalls werde ich vom einen Ende zum anderen geschickt, ich soll zermürbt werden, man will mich sozusagen auf diese Weise zum Bleiben „überreden“, was ich zwar durchaus verstehen kann, ich bin aber trotzdem gewillt, meine Wanderung fortzusetzen, und finde auch schließlich, nach langem Hin und Her den richtigen Weg auf eigene Faust.

Nordwärts geht es jetzt wieder auf einem breiten Weg hoch über einer vom Fluß Assil – n – Tisgui gegrabenen Schlucht . Unterwegs treffe ich eine junge Französin , die sich mit ihrer Trekkinggruppe in Amsouzart einquartiert , und die frühe Ankunft dort zu einer kleinen Wanderung ins nächste Dorf genutzt hat. Sie sagt, daß dort niemand mehr französisch spricht. Ich mache die selbe Erfahrung, als ich die Siedlung mit dem Namen Aguerzrane erreiche. Mein Gruß wird dennoch immer als solcher verstanden und es wird stets freundlich zurückgegrüßt. Dieser Abbruch der Verständigungsmöglichkeit auf französisch findet abrupt statt, nur wenige Kilometer von Amsouzart entfernt. Ab hier trifft man auch kaum noch auf Trekkinggruppen.

Weiterhin hoch über der Schlucht des Assil -n- Tisgui verlaufend, führt mich der eindrucksvolle Weg ins Dorf Timzakine. Ein berittener Alter überholt mich unterwegs auf einem Esel, begrüßt mich mit einem breiten Grinsen auf dem wettergegerbten Gesicht, zwei etwa 6 bis 7 Jahre alte Jungs gesellen sich zu mir und begleiten mich auf meinem Weiterweg. In einer Dorfgasse dringt der Duft von abbrennendem Haschisch in meine Nase. Hier in den Bergen mag es wohl jedem Bewohner selbst überlassen sein, ob er konsumiert oder nicht, die nächstgelegene Polizeistation dürfte wohl ein paar Tagesmärsche entfernt sein.

Wir haben zwischenzeitlich die Talseite gewechselt und gelangen ins Dorf Tagadirt, wo uns auch der Alte wieder begegnet. Offensichtlich wohnen auch die beiden Jungs hier. Ich beschließe, oberhalb des Dorfes zu zelten. Die Zwei haben begriffen, und führen mich hinauf hinter die letzten Häuser, wo sich auch prompt ein flaches, wenn auch kleines Plätzlein findet, direkt neben einem Anwesen. Da ich nicht überheblich auftreten will, hole ich mir die Erlaubnis zum Zelten von einer Frau, die im Hof des Hauses mit der Wäsche beschäftigt ist. Für die Wegweisung erhalten meine beiden Fremdenführer jeweils einen Dirham als Entlohnung. Sie begeben sich aber nicht etwa nach Hause, sondern verweilen interessiert, miteinander tuschelnd. Ich bin für die beiden eine kleine Sensation, eine willkommene Abwechlung, und ihre Neugier scheint keine Grenzen zu haben. All meine Tätigkeiten finden nun unter ihren gebannten Blicken statt: das Aufbauen des Zelts, das Auspacken von Isomatte und Schlafsack, auch den Reisewecker stelle ich zum Kopfende meines Schlaflagers. Ich erlaube ihnen, ins Zelt hinein zu kommen. Auch meine Militärstiefel, sowie Kompaß, Stirnlampe und Landkarte finden ihre Bewunderung. In Marrakesch habe ich eine Art Lyoner gekauft, die mir zu trocken und auch etwas zu scharf gewürzt ist. Ich überlasse sie den Beiden, im Glauben, damit etwas Gutes getan zu haben. Die Beiden ziehen sich zurück, tauchen aber nach einer Weile wieder auf, und geben mir die Wurst zurück. Trotz der offensichtlichen Armut essen auch sie nicht einfach alles und somit scheint doch nicht mein europäischer Gaumen, sondern der marokkanische Metzger daran schuld zu sein, daß die Wurst nicht schmeckt.


Nach dem Essen ziehe ich mich zum Lesen in mein Zelt zurück, die beiden Jungs bleiben draußen immer noch tuschelnd zurück, ich bin sicher, sie werden morgen früh wieder hier sein, vermutlich noch bevor ich aufwache.

Meine Vermutung bestätigt sich, denn als ich des Morgens aus dem Zelt krieche, sind die Beiden schon wieder da und sie begleiten mich auch ein gutes Stück auf meiner morgendlichen Wanderung, bis es ihnen dann doch zu anstrengend wird, und sie schließlich kehrt machen. In stetigem bergauf gelange ich in die Ortschaft Annsfiune. Noch ehe die wunderschönen Steinhäuschen erreicht sind, kündigt sich die Siedlung durch sattgrüne Terrassen an, auf denen zahlreiche Bewohner bereits die Feldarbeit verrichten. Auch hier verfolgen mich neugierige Blicke, besonders der Kinder. Ein kleiner Junge fällt mir auf, der von einer wüsten Hautkrankheit befallen ist. Die oftmals nicht ausreichende Hygiene und der Mangel an medizinischer Versorgung überlassen solche Fälle der Hilflosigkeit.

Als ich eine im Türrahmen stehende junge Berberfrau nach dem Weiterweg ("Tizi -n- Ourraine") frage, trete ich beinahe ins Fettnäpfchen. Sie weist mir laut lachend den Weg, schreit etwas auf berberisch ins Haus hinein, wo ebenfalls weibisches Gelächter ausbricht und sogleich lachende und schnatternde Frauengestalten im Hintergrund erscheinen. Den nebenan um einen Tisch im Schatten eines riesigen Baumes zum Tee sitzenden Herren hat das offensichtlich nicht gefallen, denn sofort mischt sich einer von ihnen mit etwas barschem Ton ein: wohin ich den wolle, fragt er mich auf französisch. Mir scheint, ich hätte mich wohl gleich an die Männer wenden sollen. Fremde Frauen anzusprechen, noch dazu als Europäer, geziemt sich dann wohl doch nicht.

Ein langgezogener Anstieg setzt sich hinter dem Dorf fort, bald lasse ich auch die Anbauterrassen hinter mir und befinde mich wieder in schroffer, von Büschen und einzelnen Bäumen karg bewachsener Felsenlandschaft. Auf der Anhöhe von 3109 Metern habe ich den Paß Tizi -n- Ououraine erreicht, unter dem sich zwei Täler gabeln. Das rechts Richtung Osten verlaufende Tal würde zum abgelegenen Weiler Azib -n- Ououraine führen. Durch das geradeaus vor mir sich öffnende Tal führt indes mein Weiterweg. Auch dieses Flußtal präsentiert sich mir wiederum karg, aber trotzdem landschaftlich faszinierend. Dort, wo der Bach Wasser führt, sprießt es herrlich grün. Plötzlich kullern Steine von einer Felswand herunter. Als ich den Blick nach oben richte, sehe ich, wie sich eine junge Ziege in die Felsen hineinverirrt hat und jetzt mit kläglichem Pläken wohl das Muttertier auf sich aufmerksam machen will. Die Versuche des Tiers, über schmale Felsabsätze wieder nach oben und somit aus der prekären Situation wieder hinaus zu gelangen, lösen immer wieder kleine Steinschläge aus. Ich halte inne, kann dem Tier allerdings nicht helfen. Zu meiner Verwunderung gelingt es der kleinen Ziege nach einer Weile doch noch, sich selbst aus der Not zu befreien und wieder sicheres Gelände zu erreichen. Ein schwacher, nicht lange anhaltender Schauer mit eiskalten Tropfen geht nieder und zwingt mich für kurze Zeit in meine Jacke.

Ich ziehe weiter, werde eine Weile lang von einem Händler begleitet, der Holzbretter auf sein Maultier geladen hat Er selbst trägt natürlich kein Gepäck und der Muli legt einen Zahn zu, weshalb ich die Beiden ziehen lasse. Ein gutes Stündchen später werde ich erneut überholt, von einer Frau und einem Mann, beide beritten. Sie sind in den prächtigsten traditionellen Gewändern gekleidet, und bestimmt auf dem Weg zu einer Hochzeit oder einem ähnlich bedeutenden Fest. Auch denke ich, daß die beiden einer höheren Gesellschaftsschicht angehören, auf alle Fälle hätten sie bestens auf das Umschlagsbild eines Polyglott - Reiseführers gepaßt!

Der Weg führt mich immer weiter abwärts, hinein ins quer zu meiner Route verlaufende Tal des Assif Tifni. Prächtig breitet sich unter mir der Talboden aus, hier wieder mehr begrünt, als auf der nun hinter mir liegenden Südseite. Silbern spiegeln die Wasser des mäandrierenden Flüßchens zwischen fruchtbaren Ackergründen. Ich befinde mich hier mitten im Hohen Atlas, und dieses Tal ist, wie wohl kein weiteres mehr, welches ich passiere, völlig weltabgelegen. Trotz seiner augenscheinlichen Fruchtbarkeit ist diese Talschaft mit nur wenigen, winzigen und weit verstreuten Weilern besiedelt. Ich quere dieses faszinierende Tal, indem ich den Bachlauf überschreite und am anderen Ufer den Weiler Likemt erreiche. Inzwischen ist mein Wasservorrat zu Neige gegangen und ich erfrage bei einer Gruppe auf dem Feld arbeitender Frauen, ob es möglich sei, hier Mineralwasser zu erstehen. Ich werde zu den weiter oben liegenden Behausungen verwiesen. Dort angekommen, treffe ich auf einen Australier und seinem einheimischen Führer. Der Australier sagt mir, daß er schon seit Beginn seines Trips im Hohen Atlas das hiesige Wasser konsumiere, ohne Entkeimungstabletten zu verwenden. Bislang seien keinerlei Schwierigkeiten aufgetreten.

Ein Bewohner tritt hinzu und der Führer des Australiers trägt diesem mein Anliegen vor. Mineralwasser könne er mir nicht besorgen, wohl aber Coca - Cola! Sapperlott, die weltberühmte Ami - Marke hat es tatsächich auch in diesen weltvergessenen Gebirgswinkel geschafft! Ich müsse allerdings wieder hinuntersteigen, in den unteren Teil des weitgestreuten Dorfes. Mir fällt die Kinnlade runter und offensichtlich sind mir die hinter mir liegenden Strapazen ins Gesicht geschrieben. Der junge Berber erbarmt sich meiner, und nimmt allein den Weg nach unten, um mir zwei Flaschen Coca - Cola zu bringen, noch dazu eisgekühlt! Daß ich da ein gutes Bakschisch springen lasse, versteht sich von selbst. Seit der jungen Französin hinter Aroumd sind mir keine weiteren Touristen mehr begegnet, und auch der Australier ist seinerseits überrascht ob meines Erscheinens, noch dazu ohne Führer. Wir plaudern noch ein wenig, liegen bequem auf einer freien Rasenfläche, umgeben von üppig bestandenen Maisfeldern, und der Blick schweift hinab ins traumhafte Tal, erfaßt die schroffen, geröllreichen Berggipfel, die uns wie Mauern auf nahezu allen Seiten umschließen, typische Steinhäuser liegen wie große Felsbrocken im Talgrund verstreut.

Obwohl meine Etappe ziemlich lang war, will ich noch einen draufsetzen und die Paßhöhe Tizi -n- Likemt heute noch überschreiten. Vorher tanke ich aber meine Wasserflaschen voll, indem ich es dem Australier gleichtue, und das zur Bewässerung der Terrassenfelder dienliche Wasser benutze. Eine andere Chance habe ich ohnehin nicht, und da ich davon ausgehe, das die Bewohner von Likemt nicht von Coca - Cola alleine leben und Mineralwasser in Flaschen nicht vorhanden ist, werden auch sie wohl dieses Wasser trinken. Um es vorwegzunehmen: das Wasser ist einwandfrei, und ich werde ab sofort nur noch auf diese Weise meinen Wasserverbrauch bis zu meiner Ankunft in Setti Fatma decken.

Ein bekanntes koffeinhaltiges Getränk wirbt mit einem Spruch, den ich von nun an auch auf den braunen Sirup aus den USA münze: Coca - Cola verleiht Flügel! Die Mischung aus Koffein und Zucker putscht Körper und Geist dermaßen auf, daß ich mit einer Leichtigkeit und Fröhlichkeit zur Paßhöhe hinaufsprinte, an die ich bei meiner Ankunft in Likemt nicht im Traum zu denken gewagt hatte! Mein Vorhaben, auf der anderen Seite des Passes einen geeigneten Lagerplatz ausfindig zu machen, um dort zu nächtigen, stellt sich als nicht zu einfach heraus, denn das Gelände zeigt sich ziemlich wiederspenstig, was die Eignung als Zeltplatz anbelangt. Mehr schlecht als recht steht schließlich mein Zelt schräg im Hang, wie immer natürlich auf steinigem Untergrund, ohne Abspannmöglichkeit mittels Heringen, fast schon an ein Notbiwak erinnernd. Dafür habe ich einen wunderbaren abendlichen Ausblick auf die unter mir vom Talgrund den Gegenhang hinaufsteigenden Behausungen des traumhaft schönen Bergdorfes Tacheddirt. Dieses liegt in einem, gleichfalls wie das Tal von Likemt, grob West - Ost verlaufenden, tief eingeschnittenen Flußtal. Linkerhand, sprich im Westen würde sich eine Variante der Umrundung des Toubkal - Massives bieten, nämlich die Überschreitung des Passes Tizi -n- Tamatert (2279 m), wo auf der anderen Seite der Weg zurück zu meinem Ausgangspunkt Imlil führen würde. Im Norden führt der Tizi -n- Eddi (2928 m) hinüber in den bekanntesten Skiort Marokkos, nämlich nach Okkaimeden. Dort befinden sich die meines Wissens einzigen Skilifte des Landes. Während ich meine malträtierten Knochen vor dem Zelt ausstrecke und den traumhaften Sonnenuntergang genieße, dringt Hundegebell vom Ort hinauf in die Bergstille, diese Laute sind im Hohen Atlas, wie bereits erwähnt, eher selten zu hören.

Mein Weiterweg führt mich anderntags nur perifer durch die Ortschaft und setzt sich in einem prächtigen Schluchtenweg fort. Kinder lachen mich an, ein paar Frauen rufen mir vom Feld aus zu, wollen mir Haschisch verkaufen. Also aufgepaßt, Kiffer: ihr braucht nicht unbedingt ins Rif - Gebirge zu fahren, dafür müßt ihr aber kräftig marschieren, um hierher zu kommen, hähä! Von 2300 Metern geht´s jetzt abermals aufwärts, zum letzten Paß meiner Wanderung: der Tizi -n- Tacheddirt wartet nochmals mit 3172 Metern auf. Etwas unterhalb der Paßhöhe treffe ich auf drei Männer, die um ein kleines Feuerchen im Gras liegen, auf der Feuerstelle brutzelt ein Teekännchen, ich werde eingeladen. Drei Generationen scheinen hier miteinader unterwegs zu sein, den Jüngsten nennen sie Bob Marley. Ich ahne schon, und hoffe, daß der Tee auch wirklich nur aus Schwarzteeblättern gebrüht ist. Nach dem eingänglichen Woher, Wohin und hast du Familie wird das Gespräch gleich auf den Vorschlag der Drei gelenkt, im auf der anderen Paßseite gelegenen Dorf, wo sie herkommen, zu übernachten. Alle möglichen Vorzüge werden herbeigezogen, auch der, daß dort unten alles wachse, Mais und andere Sachen . . . Die zweite Teetasse lehne ich dankend ab, da sie wohl einer Geschäftseinigung gleichgekommen wäre. Ich verabschiede mich und erreiche bald die Paßhöhe, wo ein schöner Bergweg abwärts führt.

Iabbassene heißt die erste Ortschaft, durch die ich komme. Ich befinde mich hier in einem Nebental des Ourika - Tales. Am Ortseingang befindet sich ein kleines Refuge, ich komme mit dem Wirt ins Gespräch, und ich lasse mich im Hof des kleinen Anwesens zu einer Cola nieder. Der Herbergsvater zeigt mir das Gästebuch mit Eintragungen von breit gestreuter Internationalität, worauf er offensichlich stolz ist. Die Unterkünfte sind einfach, aber gemütlich, Bauart und Ambiente des Refuge sind regionstypisch. Der Wirt ist nicht aufdringlich und zeigt Verständnis dafür, daß ich meine Wanderung noch fortsetzen will, schließlich sind wir immer noch in den Morgenstunden. Ich verspreche ihm, sollte ich eines Tages nochmal in diese Gegend kommen, würde ich meine Etappen so planen, daß ich bei ihm übernachten könnte. Am anderen Ende der Ortschaft werde ich durch einen weiteren Mann angesprochen, der mich gleichfalls zu einem Verbleib in seinem Haus überreden will. Er macht dies jedoch auf eine ziemlich lästige Art und wir geraten in eine Diskussionsschleife, aus der es nicht leicht ist, zu entkommen, ohne unfreundlich zu werden. Hätte ich aus irgendeinem Grund den Beschluß gefaßt, doch noch im Ort über Nacht zu verweilen, so wäre ich ganz bestimmt nicht bei ihm geblieben.

Unter schattigen Feigenbäumen setze ich meinen Weg fort, die zwischenzeitlich aufgezogenen Wolken verdichten sich, der Himmel wird schwarz und schon bald kracht es. Unter einem dichtbelaubten, aber niedrig gewachsenen Baum harre ich dem Ende des Unwetters, als ein uraltes Männlein mit seinem Esel des Weges kommt, und sich zu mir unter den Baum gesellt. Der gute Mann kann leider kein französisch. Aber die Situation ist ungemein witzig. Er betrachtet mich in einem fort, und jedesmal, wenn ich mein Gesicht in seine Richtung drehe, strahlt er über beide Backen. Das Gewitter ist harmlos und nur von kurzer Dauer, nicht einmal der Boden ist richtig feucht geworden, die Tropfen und der aufbrausende Wind waren aber wiederum richtig kalt.

Ich setze meinen Weg fort, das alte Männlein zieht mit seinem Esel Richtung Dorf. Mein schmaler Bergpfad führt mich nun hinunter ins Tal von Ourika. Hier ändert sich einiges: die aus Stein gemauerten Häuser haben eine rötliche Farbe, was wohl an der hier vorherrschenden Gesteinsart liegen mag, jedenfalls sieht´s fantastisch aus. Weniger fantastisch empfinde ich die Tatsache, daß die Kinder vom Ourika - Tal ungemein lästig sind, was mir gleich in Timchichi, dem ersten Dorf, welches ich passiere, unangenehm auffällt. Das Klischee, welches viele selbsternannte "Marokkoexperten" hochhalten, wird in diesen Dörfern leider zur Realität: Die Kinder betteln und können obendrein ganz schön unverschämt werden. Zwei oder drei Dörfer weiter gelangt das Ganze zu Kulminationspunkt: Eine ganze Horde folgt mir laut lachend und schreiend durch´s Dorf und ich komme mir vor wie der Rattenfänger von Hameln. Zusätzliche Belustigung ruft sicher noch die Tatsache hervor, daß ich meinen Abfall in einem am Rucksack festgebundenen Plastiksack mit mir führe. In einer Welt, wo man noch nie etwas von Umweltschutz, wohl aber von reichen Europäern gehört hat, kann man sich leicht vorstellen, was das für ein Gejohle gibt! Ein etwa 7 - 8-jähriges Mädchen kristallisiert sich als Worführerin heraus, und als ich auf die lästige Bettlerei nicht reagiere, fängt die Kleine doch glatt an, mich anzuschreien. Jetzt platzt mir aber der Kragen und mit einem animalischen Brüller fahre ich sie an, sie solle jetzt gefälligst die Klappe halten! Es wird zwar weiterhin gelacht, aber das übermütige Geschrei hat schlagartig aufgehört, und die Kinder hören jetzt auch auf, mir zu folgen, so daß ich in Ruhe meinen Weg fortsetzen kann. Was für ein Unterschied zu den nur wenige Kilometer Luftlinie entfernten bisher passierten Talschaften, zu meinen kleinen Freunden in Tagadirt! Es gibt eine bestimmte Gruppe von Marokkoreisenden, die sich nur im Rif - Gebirge und in gewissen verrufenen Städten im Norden des Landes aufhalten und somit oft keine anderen Erfahrungen machen. Ich bin jedenfalls der Meinung, daß derlei Belästigungen von Region zu Region unterschiedliche Intensität haben können oder auch gar nicht vorkommen. Zudem sollte man sich vor Augen führen, daß man in Marokko zwar gelegentlich belästigt wird, brutale Überfälle, die Verletzung oder Tod der Betroffenen zur Folge haben, wie dies zum Beispiel andernorts insbesondere in gewissen Ländern Lateinamerikas, oder etwa in manchen Großstädten der "hochentwickelten" USA der Fall ist, kommen jedoch so gut wie gar nicht vor.

Unter mir tost das gelblich - schmutzige Wasser des Flusses Ourika. Dieser hatte vor Jahren eine Spur des Elends und der Verwüstung im Tal hinterlassen, als er nach heftigen und anhaltenden Regenfällen über sein Bett hinaustrat und zahlreiche Opfer mit sich riß. Die letzten paar Kilometer bis Setti Fatma verwandelt sich mein Bergpfad in eine breite Fahrpiste, auf der mir allerdings keine motorisierten Fahrzeuge begegnen. Ich verstehe zwar weder arabisch geschweige denn Berberdialekt, aber der Unterschied im Klang dieser Idiome wird mir sofort bewußt, als ich Setti Fatma erreiche. In diesem Straßendorf wird wieder hauptsächlich arabisch gesprochen, man findet zahlreiche kleinere Hotels, Restaurants und Andenkenläden. Natürlich kehren hier auch wieder die Autos zurück und viele marokkanische Ausflügler und Urlauber geben sich hier ein Stelldichein. Rucksackbepackte Touristen sind in der Minderheit, Pauschalis trifft man hier überhaupt nicht.

Ich quartiere mich in einem der Hotels ein, wo ich endlich wieder in den Genuß einer Dusche komme, auch wenn das Wasser kalt ist. Umgezogen erscheine ich dann im Restaurant, wo ich mir eine Tajin (marokkanische Nationalspeise) bestelle, die ich genüßlich verschlinge. Es ist das erste warme Essen seit meinem Aufbruch in Marrakesch und ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, daß mir der Verzehr einer Tajin noch vor etwa 8 oder 9 Tagen wohl nur Brechreiz und einen erneuten Gang zur Toilette beschert hätte. Inzwischen ist es dunkel geworden, doch auf der Straße herrscht immer noch Leben, eine Tatsache, die mir in den zurückliegenden Tagen zwar ungewohnt geworden ist, mir allerdings auch nicht unbedingt gefehlt hat. Trotzdem gefällt mir der Ort. Setti Fatma besitzt noch jede Menge marokkanisches Flair und liegt in einer wundervollen Gegend. Auch stellt die Ortschaft einen hervorragenden Ausgangspunkt für Bergexkursionen dar, die sich nicht nur auf den von mir begangenen Weg beziehen und auch nicht unbedingt mehrtägig sein müssen (wohl aber sehr empfehlenswert sind!). In Ortsnähe soll sich zudem auch eine Gruppe sehenswerter Wasserfälle befinden.

Frühmorgens bitte ich den Hotelinhaber, mir ein Taxi zu bestellen, das mich gleich nach dem Frühstück zurück nach Marrakesch bringen soll, nach all den Strapazen freue ich mich nun auf ein gemütliches Urlaubsende mit Strand und softly sightseeing zusammen mit meinen beiden Mädels. Noch während des Frühstücks trifft ein Taxi ein, das mit einem Franzosen als Fahrgast besetzt ist, welcher sich offensichtlich nur hierherkutschieren ließ, um sich ein wenig umzuschauen, um sogleich wieder nach Marrakesch zurückzukehren. Ich werde auf dieses Taxi verwiesen. Der Fahrer zeigt sich ziemlich miesepetrig, und ich bin schon drauf und dran, ihm zu sagen, er solle mich am Arsch lecken. Ich beherrsche mich jedoch, da ich andererseits auch keine Lust verspüre, Ewigkeiten lang auf ein neues Taxi zu warten. Mit dem Franzosen werde ich auch nicht so richtig warm , das könnte aber auch an den immer noch schwachen Kenntnissen dieser Sprache meinerseits, und der völligen Unkenntnis des Anderen von Fremdsprachen liegen.

Die Straße durch´s Ourika - Tal ist fabelhaft, eine echte Bergstrecke, die in wilden Kurven am schwindelerregenden Schluchtrand entlang durch ein paar nette Straßendörfer führt. Ich kann jedem empfehlen, auch wenn er nicht vor hat, zu wandern, zumindest diese Fahrt von Marakkesch hinauf nach Setti Fatma zu unternehmen. Unterwegs machen wir allesamt durch die Unaufmerksamkeit des Fahrers schier den Abgang in die Dschehenna, nur eine heftige Bremsung rettet uns vor dem Sturz hinunter in die Schlucht. Daraufhin bessert sich die Laune des Konduktors mir gegenüber, er wird nun richtig freundlich und gesprächig, sein Fehler ist ihm offensichtlich peinlich. Nur gut, das könnte sich auch auf den Fahrpreis auswirken.

In Marrakesch muß ich ein Stadttaxi nehmen, um zum richtigen Busbahnhof zu gelangen, von wo aus ich nun schon zum drittenmal in diesem Urlaub auf der Strecke Marrakesch - Agadir reise. Außer der eher belustigenden Tatsache (vorausgesetzt, man merkt es rechtzeitig!), daß mir zwei kleine Jungs eine Flasche mit ungereinigtem Wasser verkaufen, verläuft die Rückkehr ohne Zwischenfälle.

1700 Meter über der Adria

Unterwegs in den Bergen und Nationalparks Kroatiens (29.04. - 11.05.2003)

8 Uhr morgens am Eingang II des Nationalparks Plitwitzer Seen: die ersten paar Schritte führen vor´s Denkmal des Polizisten Josip Jovic. Am Ostermontag, dem 31.03.1991 wurde er das erste Opfer des jugoslawischen Sezessionskrieges, dessen Spuren auf der Fahrt von Karlovac bis hierher immer noch zu sehen sind. Zersiebte Häuserfassaden, eingestürzte Dächer in den Dörfern entlang der Straße, die Karlovac über Knin mit der Küstenstadt Zadar verbindet. Hier war eine der am stärksten umkämpften Zonen im Bürgerkrieg. Das unter UNESCO - Schutz stehende Naturwunder der Plitwitzer Seen liegt mitten in der sogenannten Kraijna (dt.: Grenzland), jenem Gebiet, welches die dort lebende Mehrheit der Serben kurzerhand zur "Serbischen Republik Kraijna" deklarierten, und welches durch die im August 1995 gestartete kroatische Offensive endgültig wieder an Kroatien angeschlossen wurde. Es waren dies die letzten Kampfhandlungen auf dem Boden des jungen Staates, der seitdem als befriedet gilt und für den Touristen nun wieder fast uneingeschränkt bereisbar geworden ist.

An der Bootsanlegestelle werde ich in wenigen Minuten mittels Elektroboot zum gegenüberliegenden Ufer gebracht, von wo aus ich meine erste Wanderung starte. Ich beginne mit den sogenannten oberen Seen, die in etwa zweieinhalb Stunden in aller Ruhe erwanderbar sind. Ivo, ein kroatischer Arbeitskollege, hatte mir gesagt, hier an den Seen sei zu allen Jahreszeiten immer etwas los, aber ich habe Glück heute morgen, denn der Besucherstrom hat noch nicht eingesetzt, ich begegne unterwegs nur wenigen anderen Touristen. Der Himmel zeigt sich heute bedeckt, schafft somit ein angenehmes Wanderklima, und obwohl es den ganzen Tag über dicht bewölkt bleibt, soll es dennoch trocken bleiben.

Nun, was macht dieses Seengebiet so attraktiv? Wir finden in ganz Kroatien nur eine geologische Gebirgsart vor,
nämlich den sogenannten Karst, den man kaum anderswo so intensiv studieren kann, wie hier. Ich werde auch später immer wieder auf die verschiedenen Eigenarten des Karstgebirges zu sprechen kommen, denn auch der Velebit, die Krka - Wasserfälle und das Ucka - Gebirge, meine weiteren Ziele in Kroatien, weisen die typischen Phänomene dieser Landschaft auf. Im Falle der Plitwitzer Seen und auch der Krka - Wasserfälle nehmen Pflanzenteile das im durchfließenden Wasser enthaltene Kalziumkarbonat auf, die Blätter, Äste und Zweige verkrusten, legen sich übereinander und bilden sogenannte Travertin- oder Tuffbarrieren, über die sich dann das Wasser in beeindruckenden Kaskaden ergießt, weiterhin Kalziumkarbonat ablagert und die Staubarrieren somit im Laufe der Zeit immer weiter anwachsen läßt. Durch das Nationalparksterritotium zieht sich eine Kette von 16 großen und kleineren Seen, welche allesamt durch Kaskaden untereinander verbunden sind. Die Wege sind als Holzstege angelegt, die neben, unter und über dem Seen - und Kadkadenlabyrint vorbei - bzw. durchführen und es dem Besucher somit ermöglichen, das Naturspektakel aus allen möglichen Perspektiven zu bewundern. Hier jeden Wasserfall zu beschreiben, würde zu weit führen, es rauscht, sprudelt und plätschert jedenfalls von allen Seiten und man kommt nicht mehr aus dem Staunen heraus. Hohe, senkrecht herunterstürzende Fälle wechseln sich ab mit über mäßiges Gefälle rinnende Wasserstreifen, die zwischen mit üppiger Vegetation überwucherten Inselchen durchrauschen. Das klare Wasser der Seen schimmert dazu in schillerndem Grün bis smaragdenem Türkis. Unter Wasser kann man gut die langsam verkrustenden Pflanzenteile betrachten, die irgendwann im Laufe von Jahrtausenden neue Barrieren bilden und somit weitere Kaskaden schaffen werden. Auch eine Schlange entdecke ich in einer Erdnische, gut einen bis anderthalb Meter lang, schwarz, mit einem schmutzig - weißen bis beigen Streifen auf dem Rücken, ein prachtvolles Exemplar!

In Schlaufenform vollführe ich meinen Spaziergang, die mich, neben anderen, kleineren, Seen an den folgenden Gewässern vorbeiführt: Gradinsko Jezero (554 m, 10 m Tiefe), Galovac Jezero (583 m, 24 m tief), Malo Jezero (604 m, 15 m Tiefe) und schließlich zum am höchsten gelegenen, zweitgrößten des gesamten Seengebietes, dem Prosansko Jezero (637 m, 37 m tief). Dessen Ufer sind zwar nicht mehr, wie die der anderen Seen, von Wasserfällen und Kaskaden gesäumt, dafür vermittelt er mir den skurrilen Eindruck eines skandinavischen Fjällsees. Von hier aus muß ich ein Stück des gegangenen Weges zurückkehren, um meine Schlaufe, die mich direkt unter - und oberhalb der die Seen verbindenden Kaskaden vorbeiführt, zu vervollständigen. Das Seengebiet ist übrigens von ausgedehnten, dichten Wäldern umgeben, in denen neben den herkömmlichen mitteleuropäischen Waldtieren auch Wölfe und Braunbären ihr Zuhause haben. Beträchtliche Waldflächen befinden sich innerhalb des Nationalparks, dessen Flächenbegrenzung weit über das Gebiet der Seen hinausreicht, und es bestehen dort auch noch weitere Wandermöglichkeiten.

Ich selbst möchte mich aber, da ich auch noch weitere Ziele in Kroatien anstrebe, nur auf die Seen selbst beschränken, welche von einem Durchschnittswanderer, vorausgesetzt, man legt nicht an jedem Wasserfall eine Vesper- oder Meditationspause ein, an einem Tag gut zu bewältigen sind. Es besteht auch die Möglichkeit, das Elektroboot in Anspruch zu nehmen, um den in der Parkmitte gelegenen Jezero Kozjak, dem größten der Plitwitzer Seen, zu traversieren und somit rasch über den Wasserweg zum Ausgangspunkt zur Erkundung der unteren Seen zu gelangen. Ich aber bin zum Wandern gekommen und als ich die Bootsanlegestelle wieder erreiche, von welcher aus ich die obere Seenrunde angegangen war, bleibe ich am westlichen Ufer, um dem Trampelpfad zu folgen, der um die verschiedenen Nebenarme des Kozjak - Sees herumführt. Diese Wanderung wird nur von wenigen Parkbesuchern unternommen. Man findet zwar unterwegs keine Kaskaden, dafür genießt man eine wilde Wald - und Seenlandschaft in würziger Luft und mit jeder Menge Ruhe. Bei einer Picknickwiese, wo sich auch die Anlegestelle für die Elektroboote befindet, ist es jedoch mit der Einsamkeit vorbei. Zwischenzeitlich ist es nämlich Mittag geworden, die ersten Busse sind im Park eingetroffen und die hin und her pendelnden Boote entladen jetzt Massen von Besuchern. Zudem ist die untere Seenrunde die bekanntere und der Großteil der Touristen beschränkt seine Visite nur auf diesen Teil des Nationalparks.

Hat mich die obere Seenrunde bereits sehr in ihren Bann gezogen, so soll mir der Weg durch den "unteren" Parkteil noch eine Steigerung bieten. Die sich dort befindlichen Seen zwängen sich nämlich in eine steilwandige Klamm und sie sind untereinander gleichfalls durch ein eindrucksvolles Kaskaden - und Wasserfallensemble verbunden. Gegen Ende hin werden die Schluchtwände immer höher, rechts oben öffnet sich eine Grotte, zu der man aufsteigen kann, um von oben herab einen fantastischen Überblick zu ergattern, wobei die Hauptattraktion sich bis zum Schluß verdeckt hält. Gelangt man nämlich ans Ende der Schlucht, sollte man nicht gleich die Serpentinen hochsteigen, die zum Eingang I, bzw. zum Aussichtsweg überhalb des Canyons führen würde. Man quert über den Holzsteg oberhalb einer äußerst beeindruckenden Wasserfallgruppe, zu der bedauerlicherweise kein weiterer Weg mehr hinabführt, weshalb sie nur von oben herab zu bewundern ist. Gelangt man schließlich ans westliche Ufer und folgt dem Weg hinter eine Biegung, stockt einem endgültig der Atem: stattliche 76 Meter hoch ist er, der Slap Plitvice, jener Wasserfall, der einst als Kulisse für eine Szene in der deutsch/jugoslawischen Koproduktion "Der Schatz im Silbersee" diente. Ich werde übrigens im Verlauf meine Reise noch etliche Male auf "Winnetou - Landschaften" stoßen, denn die berühmten Karl - May - Verfilmungen der späten 60er Jahre wurden schließlich alle hier in Kroatien gedreht.

Trotz des jetzt stark zugenommenen Besucherstroms habe ich rasch den Dreh raus, wie ich die schönsten Flecken, einschließlich dem großen Wasserfall, doch noch in der ihnen gebührenden Ruhe genießen kann: Der Großteil der Touristen kommt in Reisebussen, und die Gruppen werden mehr oder weniger schnell durch die Schlucht geschleust, um anschließend in die oben am Eingang wartenden Busse wieder einzusteigen. Von der Landung des einen Elektroboots bis zum nächsten vergehen dann immer ein paar Minuten, so daß ich zwischen dem Durchgang von zwei Gruppen bis zu 10 oder mehr Minuten lang oft völlig alleine bin. Besonders unten am Slap Plitvice genieße ich eingehend das prächtige Schauspiel, bevor auch ich mich wieder zur anderen Uferseite zurückbegebe und die Serpentinen hinaufsteige, um schließlich noch auf dem Weg, der oberhalb der Schlucht verläuft, von einem Aussichtspunkt zum anderen zu wandeln. Beim Slap Plitvice handelt es sich allerdings nicht um einen Tavertinwasserfall, die Wasserschleier stürzen hier nämlich über eine imposante, senkrechte Kalkwand ins gischtende Becken, wo das durch die Fallwucht zerstäubende Wasser einem das Hemd selbst noch auf zig Metern Abstand feucht werden läßt. Am Aussichtspunkt gegenüber dem Wasserfall, hoch über der grandiosen Schlucht der unteren Plitwitzer Seenkette fällt es mir schwer, den Blick abzuwenden, um mich endgültig zum Ausgang zu begeben, wo ich mich an die Haltestelle bei der Durchgangsstraße stelle, um einen Bus in Richtung Sibenik zu erwischen.

Es dauert nicht allzu lange, bis einer anhält. Er hat Leerfahrt, und eigentlich ist es dann verboten, Passagiere aufzunehmen. Fast jeder Busfahrer in Kroatien verdient sich aber auf diese Weise ab und an ein kleines Zugeld, und mir soll´s nur recht sein. Nein, Sibenik sei nicht sein Ziel, er fahre nach Makaskar, über Split, so der Fahrer. Eigentlich wollte ich ja gar nicht so weit in den Süden runter, aber Split, das hört sich für mich gar nicht so schlecht an. Mein Arbeitskollege Ivo hat ein Haus in Trogir, in einem der malerischsten Städtchen Kroatiens. Ich hatte heute morgen bereits telefonisch mit ihm kommuniziert, und er hatte mir angeboten, daß ich, falls ich in die Gegend kommen sollte, bei ihm nächtigen könne. Nun, Split ist nicht weit von Trogir entfernt, und Ivo hatte gesagt, daß er mich von Split aus auch mit seinem Auto abholen könnte.

Die Fahrt geht jetzt von Nordost nach Südwest, längs durch die gesamte Krajina. Die Landschaft wechselt von üppigen, grünen Wäldern über Schafsweiden bis hin zu karger, steiniger Maccia, die Shilouetten zackiger Bergketten säumen die Landschaft. Einst wurde hier erbittert gekämpft, furchtbare Szenen müssen sich damals abgespielt haben, wie uns durchsiebte Hauswände, eingestürzte Hausdächer, oder ausgebrannte Bus- und Autowracks ständig vor Augen halten. In vielen Dörfern hat der Wiederaufbau diese Spuren zu einem guten Teil schon eliminiert, neue Häuser sind entstanden, oder zerschossene Gebäude wieder renoviert worden. Man sieht allerdings auch das eine oder andere völlig zerstörte Dorf, wo man, wenn überhaupt, vielleicht nur zwei oder drei alte Leute auf der Straße sieht. Es sind jene, die ihr Heimatdorf trotz der schlimmen Situation nicht mehr verlassen wollen, alle anderen sind längst gegangen, oder Schlimmeres. In solchen Dörfern sollte man sich nicht unbedacht als Fußgänger herumtreiben. Grundsätzlich empfiehlt es sich dringend, sich bei den Bewohnern der umliegenden Orte vorher zu informieren, sollte man tatsächlich das Bedürfnis verspüren, in diesen durchaus attraktiven Gegenden einen Spaziergang, eine Radtour oder eine Wanderung unternehmen zu wollen. Denn hier, im ehemaligen Kriegsgebiet, schlummert immer noch eine unsichtbare, heimtückische Gefahr: Landminen. Die Bewohner selbst können bestimmt Auskunft darüber erteilen, auf welchen Wegen man sich bedenkenlos bewegen kann und wo man besser nicht hingeht. Die Räumung der ehemaligen Kampfgebiete wird und wurde zwar mit der größtmöglichen Eile und Sorgfalt vorangetrieben, es gelten jedoch noch lange nicht alle Bereiche als sicher.

Wir erreichen Knin, die ehemalige Hauptstadt der "Serbischen Republik Krajina". Die Stadt liegt genial in einem Talkessel, von einer Burg überragt. Am Ortsrand, beim Verlassen der Stadt, erspähe ich einen schönen Wasserfall. Auffällig ist, wie auch in anderen Gebieten des kroatischen Binnenlandes, ja sogar in weiten Bereichen der dalmatischen Küste, die vergleichsweise dünne Besiedlung, wenn man da an Mitteleuropa denkt. Bevor die Straße dann nach Split hinunterführt, offeriert sie uns einen tollen Ausblick auf die zweitgrößte Stadt Kroatiens. Ein guter Teil der Metropole erstreckt sich auf einer großen Halbinsel, landseitig von Bergen umrahmt, zur Seeseite hin durch die vorgelagerten Inseln geschützt. Ein Meer von Hochhäusern und unzählige Verladekräne rings um den riesigen Handels- und Kriegshafen erwecken zunächst nicht gerade die Erwartungen auf ein romantisches Stadtbild.

Bei meiner Ankunft, es ist bereits 9 Uhr abends, versuche ich, Ivo telefonisch zu erreichen, was leider nicht klappt. Eine Frau spricht mich an, sie hat ein Privatzimmer zu vermieten. Da sie keinerlei Fremdsprachen spricht, hilft ein junger Mann von der Straße als Übersetzer. 150 Kuna mit Frühstück ist für kroatische Verhältnisse vielleicht nicht unbedingt billig, ich willige aber ein, bin froh, erst mal ein Bett zur Verfügung zu haben und ein Quartier, wo ich mein lästiges Gepäck loswerden kann. Viel Zeit bleibt nicht für Split, ein kleiner Imbiß in der Altstadt und ein Spaziergang durch die nächtlichen Gassen hinterlassen nur einen flüchtigen Eindruck. Eines kann ich jedoch gleich verraten: die Stadt lohnt einen längeren Besuch! Die ausgedehnte Altstadt im venezianischen Baustil ist ein Traum für Freunde verwinkelter, enger Gässchen, steiler Steintreppen und lebendiger Straßencafes. Gleichwohl ist sie ein El Dorado für die Anhänger alter Baukünste, deren steinerne Zeugen bis in die Römerzeit zurückreichen. Mediterranes Flair versprüht die palmengesäumte Uferpromenade, wo in der Hauptsaison die Nachtschwärmer bestimmt bis in die frühen Morgenstunden flanieren. Selbst ausgedehnte Wälder finden sich auf der die Altstadt tragenden Halbinsel, wo schöne Spaziergänge möglich sein sollen. Als ich Split am folgenden Morgen verlasse, tue ich das im Bewußtsein, daß, sollte ich wieder einmal in diese Gegend zurückkehren, eine genauere Inspektion dieser bezaubernden Stadt dann unumgänglich wird.

Die Fahrt geht weiter, entlang der Küstenstraße, bis Sibenik. Auch heute steht ein wasserreiches Ziel auf dem Programm: die Krka - Fälle, die von Sibenik aus in etwa 15 Fahrminuten erreichbar sind. Auf den Plattformen des Busbahnhofs ist der Teufel los. Schulkinder aller Altersklassen drängen sich, und als ich mein Busticket kaufen will, erfahre ich von der Dame am Schalter, daß heute Sonderbusse zu den Wasserfällen fahren, denn heute ist der 1. Mai, Feiertag auch hier in Kroatien. Das kann ja heiter werden! Und so zwänge ich mich mitsamt dem schweren Trekkingrucksack in einen der wartenden Busse, Stehplatz zwischen johlenden und lachenden Kindern und einer verzweifelten Minderheit von Lehrern. Den günstigsten Tag habe ich mir also nicht ausgesucht, um mir das nach den Plitvitzer Seen sicherlich bekannteste und beeindruckendste Wasserschauspiel Kroatiens, vielleicht sogar des gesamten Balkan, anzusehen.

Am Haupteingang bei Losovac warten erneut Busse, mit denen man sich bis hinunter vor den Hauptwasserfall Skradinski Buk kutschieren lassen kann. Ich verzichte auf den am 1. Mai kostenlosen Service und ziehe den Wanderweg vor, von dem aus man bereits beim Hinuntersteigen den einen oder anderen Blick auf den träge dahindümpelnden Krka - Fluß, der hier schon fast einem See gleicht, erhaschen kann. Üppig - grüne Inseln und Inselchen garnieren dieses bizarre Riesenbiotop. Das Phänomen am Unterlauf der Krka ist das Selbe wie in Plitvice: mit Kalziumkarbonat überkrustete Pflanzen bilden Travertinbarrieren. Die Hauptattraktion sind dann 17 Kaskadenstufen, wobei die unterste Kaskade, der Wasserfall Skradinski Buk, mit 46 Metern gleichzeitig auch am höchsten ist. Auch in seiner Seitenausdehnung manifestiert der Skradinski Buk seine Stellung als Hauptwasserfall im Krka - Park.

Es besteht ferner die Möglichkeit, an einer Bootsfahrt flußaufwärts teilzunehmen, wo man in einem 4-stündigen Ausflug durch eine enge Schlucht bis hinauf zum Wasserfall Roski slap gefahren wird. Diese Exkursion ist nicht ganz billig, außerdem wäre mir mein großer Rucksack dabei lästig, so daß sich meine Besichtigung auf das Kaskadenschauspiel des unteren Flußlaufes beschränkt. Es gibt hier zwar nicht so zahlreiche einzelne Wasserfälle, wie in Plitvice, und das abzuwandernde Gebiet ist auch nicht so weitläufig, wie dort, dafür ist die zu Tal fließende Wassermenge viel größer. Auch hier spaziert man auf schmalen Holzstegen über einzigartige Travertinschwellen hinweg, gleichfalls begleitet von einem Sprudeln und Tosen an allen Ecken und Enden, dazu noch der einem tropischen Dschungel ähnelnde, herrliche Wald, Heimat zahlreicher Wasservögel, der unter anderem auch einen großen Bestand an duftenden Feigenbäumen aufweist. Allgemein unterscheidet sich die hier eindeutig mediterrane Vegetation schon wesentlich von den durch gemäßigtes Kontinentalklima geprägten Wäldereien an den Plitwitzer Seen, wo zur Winterzeit die Seen und Wasserfälle oft zu Eis erstarren, während das Grün des Waldes vom Schnee überschüttet wird.

Wie bereits erwähnt, bin ich heute wirklich nicht der Einzige, der im Park unterwegs ist. Die Holzstege sind aber so angelegt, daß man stets prächtige Blicke auf die vielen Naturwunder hat, und auch Fotos schießen kann, ohne gleich ein Dutzend Statisten mit auf dem Bild zu haben. Der Krka - Fluß ähnelt hier eher einem See und die Stege bringen die Besucher auch von einer Insel zur anderen, wobei man ständig von Travertinphänomenen und üppiger Sumpf- und Waldvegetation umgeben ist. Zahlreiche Wasservögel sind hier heimisch und trotz der heute so großen Besucherzahl dringt immer wieder das Quaken von Enten oder das Krächzen anderer Wasservögel aus dem umliegenden Busch -und Schilfwerk. Zum Schluß führt der Weg über Serpentinen neben 17 hinabstürzenden Kaskaden hinunter auf die in eine Festwiese verwandelte große Picknickwiese, hinter der der Hauptwasserfall Skradinski Buk über eine Länge von 800 Metern, in verschiedene Fallsegmente unterteilt, ins seeähnliche Wasserbecken stürzt. An dieser Stelle soll das Baden angeblich gestattet sein, die derzeitigen Wassertemparaturen verlocken heute jedoch niemanden dazu. Dafür muß ich mich jetzt vorsehen, nicht von einer umherfliegenden Frisbeescheibe geköpft zu werden, oder einen Fußball auf die Nase geknallt zu kriegen. Wenn man ein paar Bacharme überspringt, gelangt man auf kleine Inselchen, von denen aus man das Schauspiel des Skradinski Buk in aller Ruhe genießen kann. Ich wundere mich ein wenig, daß es bei dem Betrieb tatsächlich noch möglich ist, eine Insel ganz für sich zu finden. Es steht für die Meisten hier doch mehr der Tag der Familie mit Picknick, Spielen, Sonnenbad usw. im Vordergrund, anstatt dem Naturspektakel zu huldigen.

Beim Verlassen des Skradinski Buk führt der Weg zunächst über eine Brücke über den Krka - Fluß, wo es dann auf breitem Weg in Serpentinen wieder aufwärts geht bis zum Ausgangspunkt der Wanderung. Oberhalb der Kaskaden besteht die Möglichkeit, ein altes Mühlenmuseum zu besichtigen. Auch den Rückweg zum Parkeingang lege ich abermals zu Fuß zurück und freue mich, oben gleich einen Bus zu erwischen, der mich zurück nach Sibenik bringt, so denke ich. Der Bus fährt aber wieder hinunter zu den Wasserfällen, ich bleibe also, unten angekommen, gleich sitzen, um wieder mit hinaufzufahren. So habe ich den kostenlosen Busservice, obwohl unfreiwillig, doch noch genutzt. Das Warten auf den richtigen Bus nach Sibenik (jede Stunde) verkürze ich mir dann mit einem kleinen Cevapcici - Imbiß an einem der sich am Eingang befindlichen Fast - Food - Ständen.

Der Busbahnhof (kroat. Autokolodvor) von Sibenik befindet sich direkt hinter der Hafenpromenade, wo ich´s mir auf einer Bank gemütlich mache, bis mein Bus nach Zadar abfährt. Auf dem dortigen Autokolodvor dann eine kleine Kaffeepause, bis die Linie Richtung Rijeka bedient wird, die auf der Küstenstraße weiter gen Norden hinaufführt, wo sich, etwa anderthalb Fahrstunden entfernt von Zadar, mein nächstes Ziel befindet, der Fischerort Starigrad Paklenica. Busfahren in Kroatien, das ist kein Problem! Zu günstigen Tarifen kommt man in bequemen Langstreckenbussen ohne lange Wartezeiten immer zum Ziel, und auch kleine Ortschaften werden fast immer durch Nebenlinien bedient. Will man auf einer der Hauptstrecken in einer kleineren Ortschaft aussteigen, sagt man einfach dem Busfahrer Bescheid.

In Starigrad Paklenica versammelt sich eine eher ungewöhnliche Spezies von Kroatien - Urlaubern: die der Kletterer und Bergwanderer, denn von Starigrad aus läßt sich der Eingang des Nationalparks Paklenica erreichen, der die beiden prächtigsten Schluchten und mit die eindrucksvollsten Karstlandschaften Kroatiens in sich birgt. Dieses Gebiet zählt geographisch zum südlichen Teil des 145 Kilometer langen Velebit - Gebirgszuges. Direkt hinter der Küstenlinie emporstrebend, wird er im Westen durch den Meeresarm Velebitski - Kanal begrenzt, während er ostwärts zur Hochebene von Licka und zum Gacka - Fluß abfällt. Die einmalige Berglandschaft des Velebit hat einige Besonderheiten aufzuweisen, auf die ich im Laufe meiner Ausführungen noch eingehen werde.

Zu meiner Überraschung werde ich am ersten Campingplatz, auf den ich treffe, wegen Überfüllung abgewiesen. Auf der riesigen Campingwiese des Hotel Alan, einem sterilen Hochhaus im sozialistischen Stil, finde ich schließlich mehr als genug Platz. Als ich mich zum Dinieren auf der Terrasse des Hotels einfinde, soll sich herausstellen, warum der andere Campingplatz, obwohl die Saison eigentlich noch nicht begonnen hat, überfüllt ist: Sitze ich anfangs noch allein und verloren auf der Hotelterrasse, schneit nach einer halben Stunde eine ganze Horde junger Leute herein, eindeutig vom Typ Kletterer. Die Gruppe ist international, und ich erfahre, daß morgen ein großer Wettbewerb in der Velika Paklenica (Große Paklenica - Schlucht) stattfinden soll, Sponsor ist der Aufputschdealer Red Bull.

Des Nachts soll sich noch herausstellen, daß ich zu nahe am Wasser gebaut habe, denn der DJ der Red - Bull - Beachparty trifft zwar meinen Musikgeschmack, aber wenn man frühmorgens zu einer Tour aufbrechen möchte, wäre es einem recht, des Nachts schlafen zu dürfen. Schließlich reicht es mir und ich ziehe mein Zelt mitsamt Inhalt quer über den gesamten Campingplatz in eine ruhigere Ecke. Etwa 20 Minuten nach dem Umzug verstummt die Musik. Auch die Freeclimber müssen schließlich morgen fit sein!

Bevor ich aufbreche, nehme ich noch das reichhaltige Frühstücksbuffet des Hotel Alan in Anspruch, wer weiß, wann es wieder mal was Gescheites gibt! Zunächst muß ich ein gutes Stück der Straße folgen, ins benachbarte Dorf Seline, wo ein Schotterweg zu einem Parkplatz führt. Hier befindet sich der Eingang der Mala Paklenica (kleine Paklenica - Schlucht). Ich trage die gesamte Ausrüstung bei mir plus Lebensmittel für mehrere Tage, da meine Exkursion im Nationalpark vorraussichtlich minimum 3 Tage in Anspruch nehmen wird. Die weiter südlich gelegene Velika Paklenica mag zwar die bekanntere der beiden Schluchten sein, auch sind dort die Felswände höher und die Wasser fließen reichlicher, dafür ist die Mala Paklenica eindeutig die wildere und nur eingefleischten Bergwanderern zu empfehlen, die auch bereit sind, die eine oder andere Geländeschwelle in leichter Kletterei zu überwinden.

Bequem ist der Weg durch die Mala Paklenica jedenfalls nicht, besonders dann nicht, wenn einen zusätzlich noch über 20 Kilo Rucksackgewicht plagen. Sowohl Weg als auch Landschaft treffen allerdings voll meinen Geschmack. Zwischen 20 bis 30 Meter hohen, schroff aufragenden Felswänden geht es über Stock und Stein aufwärts, bald im steinigen Flußbett, bald über dessen schrofige Flanken. Immer wieder sind riesenhafte Felsblöcke zu überklettern, umgestürzte Bäume verwehren den Weg, dorniges Gestrüpp zerrt an der Kleidung und die Äste des durchstreiften Dickichts peitschen mir ins Gesicht. All das nehme ich mit Wohlwollen in Kauf, was mich eher grämt, ist die Tatsache, daß das Bachbett furztrocken ist, obwohl die Mala Paklenica Anfang Mai eigentlich noch Wasser führen sollte. Das Frühjahr war in Kroatien heuer, gleichfalls wie in Deutschland, ungewöhnlich trocken, so daß die Wasserversorgung bei Wanderungen in den karstigen, zu Wasserversickerungen neigenden Bergregionen des Landes jetzt schnell zum Hauptproblem werden kann.

3 Liter führe ich bei mir, aus Gewichtsgründen habe ich die dritte Flasche unbefüllt gelassen, in der Annahme, in der Schlucht Wasser zu finden. Ein Franzose aus Lothringen und seine asiatische Freundin, die sich die beliebte Tagestour Mala Paklenica - Alm Jurline - Velika Paklenica zur Aufgabe gemacht haben, drehen aufgrund ihrer nur noch dürftigen Wasservorräte im oberen Teil der Mala Paklenica um, um über den Aufstiegsweg wieder zurückzukehren. Die Temperatur beträgt gegen Mittag um die 25 Grad, eigentlich zu warm zum Wandern, und auch mir rinnt das Wasser schneller durch die Kehle, und wiederum aus den Poren, als mir lieb ist. Trotzdem bleibe ich auf meiner Route und folge der Schlucht, die sich im oberen Teil gabelt, in den linksseitigen Arm weiterhin aufwärts, wo schließlich ein Serpentinenpfad aus ihr herausführt. Zuvor überhole ich noch eine Gruppe kroatischer Wanderer, fünf Erwachsene und drei Kinder, von denen das kleinste schätzungsweise 4 Jahre alt ist. Ich frage mich, ob die Kinder, obwohl sie immer wieder von den Erwachsenen ein Stück weit getragen werden, auf einer solchen Tour nicht doch überfordert sind. Als ich schon ziemlich weit oben bin, höre ich unten jemanden rufen: "Voda!". Die Gruppe ist dem Serpentinenweg nicht gefolgt, sondern im Flußbett weiterhin aufgestiegen und dort offensichtlich auf Wasser gestoßen. Ich will jetzt aber nicht mehr hinuntersteigen, glaube fest daran, weiter oben ebenfalls Wasser zu finden, ein halber Liter ungefähr ist mir ja noch geblieben. Sollte ich in nächster Zeit jedoch nicht fündig werden, dann wäre auch ich gezwungen, umzukehren.

Auch in der Mala Paklenica waren die Auswirkungen des 1. Mai zu spüren. Der Busfahrer, der mich nach Split brachte, hatte mich bereits über den Sachverhalt aufgeklärt: da der Feiertag auf einen Donnerstag fiel, haben viele Kroaten den vergangenen Samstag gearbeitet, um somit ein verlängertes Wochenende von Donnerstag bis einschließlich Sonntag genießen zu können. So war die Mala Paklenica zwar nicht überlaufen, dennoch habe ich immer wieder andere Wandergruppen getroffen, von denen die meisten wohl über Jurline durch die Velika Paklenica, oder aber schluchtaufwärts und anschließend den selben Weg zurück zum Parkplatz eingeschlagen haben. Mein Weg soll mich aber noch weiter nach oben führen, mein Ziel ist der Velebit - Hauptkamm mit seinem höchsten Gipfel, dem Vaganski Vrh. Als ich schließlich die letzten Serpentinen erreiche, die mich aus der Schlucht empor führen, bietet sich mir ein umwerfendes Panorama: die kahlen, subalpinen Gipfel des Velebit Hauptkammes überragen eine deftig - grüne, von strahlend - weißen Felsen durchsetzte, wilde Schluchtenlandschaft von einer einzigartigen Schönheit. Wieder einmal kommen mir die Karl - May - Filme in den Sinn, die ich als Bub immer gern gesehen habe, und für die solche und ähnliche Landschaften als Kulisse gedient hatten. Ich ignoriere die Abzweigung nach Jurline und gehe ich weiterhin aufwärts, in östliche Richtung. Hier wird es sehr ruhig. Mein Etappenziel soll die kleine Selbstversorgerhütte Skloniste Ivine Vodice sein. Unterwegs treffe ich auf eine Gruppe älterer Herren, die ebenfalls die Hütte erreichen wollen. Von ihnen erfahre ich, daß es an der Hütte Wasser gibt. Ich werde wieder zuversichtlich und jage mir meine verbliebenen Reserven die Kehle hinunter.

Bis zum Erreichen der Hütte sind noch etliche Höhenmeter durch den Wald zurückzulegen, und als ich dort eintreffe, denke ich zunächst nur noch ans Wasser. Hier lerne ich dann auch gleich die typische Art und Weise kennen, wie man im dinarischen Karstgebirge selbiges zutage fördert, nämlich aus Brunnenschächten. Ein guter Brunnen ist immer zugedeckt, damit nicht so viel Unrat hineinfallen kann. Entkeimungstabletten habe ich keine bei mir, die anwesenden Herrschaften winken jedoch ab. Kein Problem sagen sie, und so tue ich es ihnen gleich und nehme sofort ein paar tüchtige Schlücke von dem mit Hilfe eines an einem Seil befestigten Eimers emporgezogenen Brunnenwassers. Es ist herrlich kühl und erfrischend, und hat auch keinerlei unangenehmen Beigeschmack, die eine oder andere tote Mücke oder sonstige Partikel muß man allerdings in Kauf nehmen.

Man sieht es ja an der reichlich vorhandenen Vegetation: das Karstgebirge hat genug Wasser, nur hat dieses hier leider Gottes die ungünstige Eigenschaft, unter der Erde zu fließen, weshalb es für den Wanderer fast ausschließlich nur durch Brunnenschächte zugänglich ist. Diese können allerdings in stundenlangen Fußmärschen voneinander entfernt liegen, oder man trifft auf verschmutzte, offene Wasserlöcher. Wenn Not am Mann sein sollte, würde man auch aus diesen trinken, und wenn man keine Entkeimungstabletten dabei hat, kann man es immer noch abkochen. Im äußersten Notfall würde man es sicher auch mit dem Risiko trinken, davon krank zu werden. Tatsache ist jedenfalls, daß ich mich darauf einzurichten habe, auf mehrtägigen Exkursionen große Wasservorräte mit mir herumschleppen zu müssen, was das Rucksackgewicht gleich auf ein paar zusätzliche Kilo anhebt.

Auch an der Ivine - Vodice - Hütte haben sich die Maiwanderer in größerer Zahl eingefunden. Das kleine Hüttlein bietet Schlafplätze für maximal 10 Personen, es sind aber doch ein paar mehr geworden, von denen sich ein halbes Dutzend noch unter´s Vordach gepfercht hat. Der Aufenthalt bei der Vodice - Hütte ist zwar kostenlos, man erhält ihn dennoch nicht zum Nulltarif: sofern man nicht eine Zwischenübernachtung im oberhalb der Velika Paklenica gelegenen Planinarski - Dom (dt.:Berghaus) eingelegt hat, hat man von Seehöhe bis hierher 1250 Höhenmeter mit kompletter Biwakausrüstung auf dem Buckel hinter sich zu bringen, wobei die Variante durch die Mala Paklenica wohl die anstrengendste sein dürfte.

Ich schlage vor, daß in meinem Zelt außer mir selbst noch zwei weitere Personen nächtigen können, und so lerne ich eine 7-köpfige Gruppe des kroatischen Bergvereins, Sektion Samobor, kennen. Luka, einer der älteren Herren der Gruppe, gesellt sich noch zu mir ins Zelt, und dafür werde ich zum gemeinsamen Abendessen eingeladen. Die Leute zeigen ein großes Interesse an mir und sind, wie eigentlich überall in Kroatien, sehr gastfreundlich. Die Unterkunft steht auf einer Waldlichtung, von der aus man eine wunderschöne Aussicht über die zurückliegenden Berge und Schluchten hinweg bis zum Fjorden - und Inselgeflecht der vorgelagerten adriatischen Küste hat. Auch Holztische und - bänke sind vorhanden, und eine weitere Gruppe von Herren gesetzteren Alters hat bereits ein Feuer auf der Lichtung entfacht. Ich kenne in Deutschland nicht viele 60 - jährige, die ihre Bergnächte im Schlafsack und am Lagerfeuer verbringen. Warme Wandertage bescheren in der Regel lauschige Nächte, weshalb der Faktor Kälte heute Nacht entfällt, und während die Sonne bei knisterndem Feuer in der Adria versinkt, genießt ein Jeder der hier oben eng miteinander verbundenen Gemeinschaft von Bergfreunden das Ende eines harten, aber erlebnisreichen Wandertages.

Außer meinem Hauptziel, dem Vaganski Vrh, beabsichtige ich, wenn möglich, den einen oder anderen weiteren Gipfel im Velebit - Hauptkamm "mitzunehmen". Daß die Wahl dabei auf den Sveto Brdo (1751 m) fällt, habe ich meinen Freunden aus Samobor zu verdanken. Sie wollen morgen gleichfalls den Sveto Brdo besteigen, und Franjo, eingefleischter Bergfreund Präsident der Sektion Samobor, erteilt mir den Ratschlag, mit meinem Gepäck von Vodice aus zunächst dem nordwärts aufsteigenden Pfad zu folgen, wo ich an einer Wegekreuzung am Besten meinen schweren Rucksack zurücklasse, da ich bei der Rückkehr vom Gipfel sowieso wieder hier vorbei komme, wenn ich vorhabe, noch weiter auf dem Kammweg zum Vaganski Vrh vorzumarschieren.

Ist die Waldgrenze überschritten, gelangt man über subalpine Bergwiesen, vorbei an trichterförmigen Dolinen, und zum Schluß steil über zwei Altschneefelder hinauf zum aussichtsreichen Gipfel. Ein exzellentes Lehrbeispiel für eine Klimagrenze wird uns hier oben vor Augen geführt. Während die Landschaft im Osten, also im Binnenland, von tiefgrünen Wiesen und Wäldern bestimmt wird, bieten die zur Küste hin gerichteten Bergkämme einen sehr trockenen, steinigen Anblick, die der Küste vorgelagerte Insel Pag gleicht gar einer Mondlandschaft, oder als hätte man ein Puzzlestück aus der Sahara herausgeschnitten, und hierher, in die Adria, verfrachtet. Es ist dann auch so, daß das Velebit - Gebirge eine scharfe Klimascheide bildet. Es hält die Wolken der im Binnenland niedergehenden Regen und die berüchtigten, vom Landesinneren her wehenden Bora - Winde, zurück und läßt so die Küste quasi auf dem Trockenen sitzen, ein Effekt, von dem unzählige sonnenhungrige Badegäste an der kroatischen Adria Jahr für Jahr profitieren.

Der Sveto Brdo ist übrigens der markanteste Berg im südlichen Velebit - Hauptkamm. Letzteren nach Süden hin abschließend, erhebt er sich als hohe, auffällige Kuppe am äußersten Ende der Bergkette. Auf dem Gipfel steht ein großes Metallkreuz, das dort von deutschen Pionieren im Oktober 1996 errichtet wurde. Mir fällt eine Autobatterie auf , die ebenfalls im Gipfelbereich herumfährt. Entlang des Wanderpfades waren mir bereits etliche Meter von durch die Landschaft gezogenen Fernmeldekabeln aufgefallen, auf die man hier auf dem Hauptkamm immer wieder stößt: hier holt einen die Erinnerung an den Krieg wieder ein, der südliche Velebit - Hauptkamm war Kampflinie. Eine weitere, weit unangenehmere Folge der einstigen Kampfhandlungen ist die Tatsache, daß das Gebiet östlich des Hauptkammes bisher noch nicht vollständig von Landminen geräumt ist, so daß das Betreten dieser Zone ein unverantwortbares Risiko wäre. Bei in jene unheilvolle Richtung abzweigenden Pfaden weisen Warnschilder gut sichtbar darauf hin, und wer sich an den vorgegebenen, gut markierten und deutlich ausgetretenen Kammweg hält, dem droht auch keine Gefahr.

Meine Freunde aus Samobor hatten es mir bereits angekündigt: der Weiterweg in Richtung Vaganski Vrh birgt noch etliche ausgedehnte Firnfelder, bei deren Querungen man aufpassen muß, sich nicht beim Einbrechen durch eine Schneebrücke zu verletzen, da man dabei ziemlich tief zwischen scharfkantige Felsen rutschen kann. Zwei junge Männer und eine Frau waren mir kurz nach der Drei - Wege - Kreuzung Vaganski Vrh - Vine Vodice Hütte - Sveto Brdo begegnet, sie kamen geradewegs vom Vaganski Vrh. Somit bin ich über die Wegverhältnisse informiert und kann sogar ihren Spuren durch die Firnfelder folgen.

Auf einer Wanderung durch den Velebit kann man hervorragend die Beschaffenheit der Karsttäler studieren. Anders, als wir das sonst gewohnt sind, sind diese Täler nach allen Seiten hin geschlossen. Es handelt sich dabei um nichts anderes als eingestürzte Höhlendecken, wobei die Größe dieser sogenannten Dolinentäler stark variiert. Sie bilden enge Trichter oder auch mehrere Quadratkilometer große, in sich geschlossene, rundliche Becken. Sie werden auch nicht etwa von Bergbächen durchflossen, sondern sind alle wasserlos. Jetzt im Frühjahr bieten die höher gelegenen Täler ein eindrucksvolles Schauspiel, da sich in ihren schattigen Löchern teilweise enorme Schneemengen sehr lange halten. Nicht nur in der Größe, auch in ihrer Flora und in der geologischen Beschaffenheit weisen die Dolinentrichter Unterschiede auf. Bei manchen ist die Trichterwand mit steilen Bergwiesen, mit Latschenbewuchs oder mit bewaldeten Abhängen ausgekleidet, andere sind völlig unnahbar von nackten, schroffen Felsen umschlossen, und es existieren selbstverständlich häufige Mischformen. Skurrile Kalkfelsen, die als seltsame Skulpturen aus der Landschaft herausragen, sowie unzählige Grotten, Spalten und Felstore gehören ebenfalls zu den typischen Erscheinungen im Karst.

Auf dem Weg zum Gipfel bleibe ich für mich. Aussichtsreich geht es über Bergwiesen und dichten Latschenbewuchs, sowie teils ausgedehnte Altschneepassagen. Erst als ich oben ankomme, treffe ich auf eine Gruppe von Slowenen, die von Norden her hierher aufgestiegen sind. Obwohl es sich beim Vaganski Vrh um den höchsten Velebit - Gipfel handelt, wirkt er auf den von Süden ansteigenden Wanderer wenig markant, eigentlich eine harmlose Graskuppe, deren beste Aussichtmöglichkeit zurück nach Süden etwas unterhalb des höchsten Punktes liegt. Gen Norden bricht der Berg schließlich doch noch über Felswände von für einen Alpinisten allerdings eher moderaten Ausmaßen ab. Die Fortsetzung der teils subalpinen, teils bewaldeten Bergkämme ist von hier oben sehr gut zu überblicken. Unterhalb des Gipfels mache ich sogar einen von Schnee umrahmten, kleinen Bergsee aus, den einzigen, den ich jemals im Velebit zu Gesicht bekommen soll .Ich ziehe auf meinem Weiterweg oberhalb dieses Sees vorbei, die Abzweigung, die hinunter zum Planinarski Dom führt, ignorierend. Ich fühle mich pudelwohl und mir stehen noch einige Sonnenstunden zur Verfügung, weshalb ich weiterhin der Hauptkammagistrale folgen will. Der Babin Vrh (1723 m) entgeht mir leider. Entweder habe ich eine abzweigende Markierung übersehen, oder der Gipfel ist nur weglos zu erreichen. Schließlich gelange ich zu den Almwiesen der Marasova Gora. An einem Brunnen lege ich zunächst eine Wasserpause ein, neben dem nach Osten abzweigenden Weg steht wieder ein deutlich sichtbares Minenwarnschild. Die Landschaft um mich herum ist faszinierend. Jeden Moment erwarte ich, daß Häuptling Winnetou und sein weißer Bruder Old Shatterhand von einer der umliegenden Bergkuppen herabgeritten kommen. Jetzt gesellt sich auch wieder ausgedehnter Mischwald zu den Bergwiesen.

An der malerisch gelegenen kleinen Struga - Hütte, wie die Ivine - Vodice - Hütte eine spartanisch eingerichtete Selbstversorgerunterkunft, haben sich bereits ein gutes Dutzend Wanderer breitgemacht. Ich aber habe mein Tagesziel noch nicht erreicht. In wenigen Gehminuten stehe ich auf der Höhe des Buljma - Passes (1394 m), von welcher aus man ein einmaliges Panorama genießen kann. Ein prachtvolles, sattgrün bewaldetes Tal wird von mehreren Nebentälern zerschnitten, im Hintergrund türmt sich die enorme Felswand der Anica Kuk, hinter welcher noch ein Stück des Meeresarms Velebitski Kanal erkennbar ist. Mit über 400 Metern ist der Abbruch der Anica Kuk die höchste Steilwand Kroatiens. Sie zählt zu den sogenannten "Big Walls", den ultimativen Herausforderungen für alpine Spitzenkletterer.

Wenn man aus Richtung der Struga - Hütte kommt, stellt sich einem der Buljma - Paß jediglich als harmlose Geländekuppe in den Weg, der Serpentinenweg auf der anderen Seite schlängelt sich allerdings über satte 800 Höhenmeter bis zum Planinarski Dom Paklenica hinab. Zunächst bleibt der Weg noch aussichtreich, bis er schließlich in den üppigen Bergwald hineinmäandriert, der mir hier allerdings besonders gut gefällt. Überhaupt verströmen die Wälder hier eine sehr intensive und wohlige Duftnote. Unterwegs fällt mir die Sohle meines linken Wanderstiefels ab und ich stelle fest, daß die des rechten Stiefels ebenfalls vollends aus dem Leim zu gehen droht. Ich war jahrelang mit Militärstiefeln in den Bergen unterwegs, und im Allgemeinen anerkenne ich sie auch als geeignetes Schuhwerk, aber geklebte Sohlen sind ein Ärgernis! Meinem weiteren Aufenthalt im Paklenica - Nationalpark sind nun Grenzen gesetzt. Ich werde die Nacht im Berghaus verbringen und am nächsten Morgen auf dem direkten Weg durch die Velika Paklenica nach Starigrad absteigen. Eventuell vorgesehene Abstecher, wie die Besteigung des Bojin Kuk, dessen Gipfel sich, statt in waghalsiger Kletterei durch die Steilwand auch über einen Normalweg erreichen läßt, fallen somit ins Wasser.

Am Planinarski Dom treffe ich, wie abgemacht, meine Freunde aus Samobor wieder. Während mein fehlender Absatz zur allgemeinen Belustigung beiträgt, ernte ich für meine heute begangene Route anerkennende Worte, worauf ich mir allerdings nichts einbilde, denn erstens bin ich 20 Jahre jünger als die Mehrzahl der Gruppe und zweitens hat nicht jeder so viel Zeit und Möglichkeiten, sich unterm Jahr sportlich zu aktivieren, wie das bei mir der Fall ist. Die Hütte ist größer und wesentlich komfortabler eingerichtet als die beiden vorhergehenden. In der für die Gäste zur Benutzung vorgesehenen Küche stehen auch Kochtöpfe, Porzellangeschirr und Besteck zur Verfügung, und übernachtet wird in Mehrbettzimmern. Die etwa 6 Jahre alte Tochter einer deutsch - kroatischen Familie führt mich gleich nach meiner Ankunft die Treppe hoch: "Du schläfst bei uns im Zimmer!" bestimmt sie und ich füge mich dieser Zuteilung. Der Hüttenwart ist ein etwas brummiger Kerl, mit dem man aber durchaus was anfangen kann, wenn man ihn richtig nimmt. Hier, wie auch in den meisten kroatischen Berghütten ist der Gast allerdings auf Selbstversorgung angewiesen.

Meine Freunde aus Samobor laden mich abermals zum Abendessen ein, und in der Zwischenzeit habe ich gelernt, daß es das Beste ist, ohne Umschweife zuzusagen und dann auch ungehemmt zuzulangen, denn die Leute freuen sich, wenn der Gast sich in ihrem Land wohl fühlt und wenn ihm das Essen schmeckt. Vor allem Franjo zeigt sich sehr interessiert an meinen vergangenen Reisen. Er selbst kommt auch ziemlich weit in der Weltgeschichte herum, unter anderem viel in Afrika, allerdings geschäftlich, und der begeisterte Alpinist und Naturliebhaber bedauert, daß er dann oft nicht die Zeit fände, sich den dortigen Landschaften und Bergen zu widmen.

Der Abstieg am folgenden Morgen findet in aller Gemütlichkeit statt, ich habe alle Zeit der Welt. Immer wieder drehe ich mich um , um meinen Blick zurück auf die hinter mir liegenden Bergkämme zu richten. Mit der Ruhe ist es in der Velika Paklenica vorerst vorbei, denn es ist Sonntag und unten am Schluchteingang befinden sich ein auf einer guten Straße erreichbarer Parkplatz und der öffentliche (und gebührenpflichtige) Eingang in den Nationalpark. Ein gut ausgebauter, auch für Familien mit Kindern problemlos begehbarer Wanderweg führt von dort bis hinauf zum Berghaus. Das Bachbett der Velika Paklenica führt Wasser, und überhaupt ist dieses Element in dieser prächtigen Schlucht wieder reichlich vorhanden. Hinter fast jeder Wegbiegung stößt man auf eine gefaßte Quelle, aus der erfrischendes Trinkwasser hervorsprudelt. Während der Hauptsaison bietet zudem das am Weg liegende Forsthaus Imbisse und Getränke.

Bald stehe ich gegenüber der mächtigen Felswand der Anica Kuk, welche die Paklenica - Schlucht nach oben hin abschließt und ich beziehe Stellung auf einem exponierten Felsen, wo ich in einer ausgedehnten Rast den Eindruck dieser gewaltigen Wand auf mich wirken lasse. Am rechten Pfeiler steigt gerade eine 4 - köpfige Seilschaft ein. Und mitten in der Wand mache ich zwei weitere Kletterer aus. Sie sind die einzigen, die in der riesigen Steilwand unterwegs sind und erscheinen mir wie zwei Stubenfliegen an der Wand des Kölner Doms. Ich werde neidisch vom Zuschauen. Die Durchsteigung dieser Wand (etwa 15 Seillängen) stellt allerdings Anforderungen, die ich bei weitem nicht erfülle, und auch für den Großteil der Anhänger des Klettersports dürfte diese "Big Wall" tabu bleiben. Auf dem Weiterweg durch den jetzt eng werdenden, beeindruckenden Canyon läuft man Spalier zwischen den unzähligen Sportkletterern, die an beiden Seiten der aufstrebenden Schluchtwände etliche Routen aller Schwierigkeitsgrade finden, die ultimative Wand bleibt jedoch die Anica Kuk, und die geringe Anzahl derer, die sich an ihr versuchen, deutet schon auf die besonderen Schwierigkeiten, die eine Durchsteigung dieses extremen Steilabbruchs mit sich bringt.

Ich installiere mich schließlich wieder auf dem Campingplatz des Hotel Alan, und genieße einen lauen Nachmittag, den ich lesend, essend und dösend im Schatten am Meeresufer zubringe. Gegen Abend mache ich mich noch einmal auf den Weg, um das Outdoor - Geschäft ausfindig zu machen, das mir bei meinem Anmarsch zur Mala - Paklenica an der Hauptstraße aufgefallen war. Unterwegs treffe ich ein letztes Mal meine Samoborer Freunde, die gerade vom Essen kommen und im Begriff sind, nach Hause zurückzukehren. Wir unterhalten uns noch ein wenig, und sie sind mir noch behilflich, den Laden zu finden, der zu meiner Überraschung geöffnet hat, obwohl Sonntagabend um 7 Uhr ist. Die Auswahl an Wanderschuhen ist zwar weder berauschend noch billig, man ist hier eigentlich mehr auf Klettervolk eingestellt, trotzdem bin ich froh, ein Paar taugliche Schuhe erwerben zu können, ohne dafür extra in die nächst größere Stadt fahren zu müssen, wo mir viel kostbare Zeit verlorengegangen wäre. Somit steht dem nächsten Abenteuer, der Besteigung des Bojin Kuk (1110 m), nichts mehr im Wege. Dieser wunderschöne Berg erhebt sich, bereits außerhalb der Nationalparksgrenzen gelegen, nordöstlich von Stari Grad, direkt hinter der Küstenlinie, von wo aus er für Wanderer wegen seiner auffallenden Form eine schwer wiederstehbare Verlockung darstellt.

Frühmorgens um 7 Uhr befinde ich mich, mit Tagesgepäck und genügend Wasser ausgerüstet, bereits auf dem Weg nach Milovci, einem kleinen Weiler an der Küstenstraße, kurz hinter Stari Grad. Dort führt eine Abzweigung hinauf nach Milovac, das gleichfalls aus nur wenigen, alten Häuslein besteht und wo der eigentliche Wanderpfad beginnt. Der wolkenlose Himmel kündet wieder einmal einen warmen Tag an, weshalb mir der frühmorgendliche, teilweise schattig verlaufende Anstieg, nur recht ist. Der schmale, steinige Bergpfad führt durch typisch mediterranes Gelände, wie man es auch in Ländern wie Griechenland, Italien oder Spanien antrifft. Man passiert Steinmäuerchen, die Hänge sind von schroffen Steinen und Felsen übersät, durchsetzt von niedrig gewachsenem Macchiabuschwerk. Diese Gewächse sind es, die der Luft eine besondere Duftnote verleihen. Kaiser Napoleon behauptete einst, er würde seine Heimatinsel Korsika mit verbundenen Augen an ihrem Geruch erkennen. Damit hat er eben diesen eigenwilligen Odeur gemeint, den man beileibe nicht nur auf Korsika erschnüffeln kann.

Zwei Raben flattern plötzlich erschreckt hoch, und ich vernehme ein Rascheln im Gebüsch neben einem Steinmäuerchen. Die Erfahrung hat mich bereits gelehrt, anhand des Raschelns in etwa zu erkennen, ob es sich nur um einen flüchtigen Gecko handelt, die hier selbstverständlich in Unzahlen vorkommen, oder ob da nicht etwa eine Schlange durch´s Buschwerk schleicht. Neugierig begebe ich mich vorsichtig in Richtung des Buschwerks und ich habe recht: ein ausgewachsenes, mindestens einen Meter langes Exemplar einer hier häufig vorkommenden, braunfarbenen Vipernart. Ich bin vor diesen gewarnt worden, denn ihr Biß hat bei nicht sofort erfolgender Behandlung tödliche Folgen. Normalerweise flüchten Schlangen, sie beißen einen Menschen grundsätzlich nur dann, wenn sie sich durch diesen bedroht fühlen, oder aber derart von ihm überrascht werden, daß ihnen keine Zeit mehr für die Flucht bleibt, z.B. wenn man versehentlich auf sie drauftritt. Durch meine bewußte Annäherung fühlt sich die Schlange nun bedroht und sie bewegt sich gereizt auf mich zu, was mich sofort innehalten läßt. Sie beruhigt sich wieder und verzieht sich durch ein Loch in der Mauer. Meine in der Paklenica - Schlucht aus dem Leim gegangenen Militärstiefel hatten den Vorteil eines hohen Schafts, so daß überraschende Schlangenbisse bisher praktisch ausgeschlossen waren. Die neuen Schuhe haben diesen Schaft nicht, weshalb ich mich in der Beziehung auch nicht mehr ganz so sicher fühle und jetzt doch mehr aufpassen muß, wo ich meine Füße hinsetze, um der - allerdings immer noch sehr geringen - Gefahr eines Schlangenbisses zu entgehen. Ich muß im Nachhinein sagen, ich habe noch nirgends so viele Schlangen gesehen, wie auf meinen Wandertouren in Kroatien. Jeden Tag mindestens ein Exemplar, und hier, am Bojin Kuk, waren es gleich vier. Die am häufigsten vorkommende Art ist die Kreuzotter, aber auch die braunen Vipern sind in großer Zahl vertreten. Vor den gleichfalls häufig vertretenen Blindschleichen braucht man sich nicht zu fürchten, sie zählen ohnehin nicht zu den Schlangen, sondern zu den Eidechsen. Eine weitere Gefahrenquelle tut sich auf bei der einen oder anderen Gipfelbesteigung, bei der man gezwungen ist, die Hände zu Hilfe zu nehmen, oder auf reinen Klettertouren. Man sollte immer zuerst schauen, wo man hinfaßt. Ich möchte aber trotzdem noch einmal betonen, daß die Gefahr eines Schlangebisses sehr gering ist und bei Beachtung der Sicherheitsmaßnahmen (Schaftstiefel, Umsicht bei Kletterpartien, bei Pausen zuerst schauen und dann hinsetzen, Zelt beim Verlassen und Wiederbetreten immer sofort schließen, ausgezogene Schuhe immer im Zeltinneren abstellen) kann man die Gefahr eigentlich auf gleich Null reduzieren.

Der Weg zum Bojin Kuk zeigt sich sehr abwechslungreich. Die Aussicht zurück über den Velebitski Kanal bleibt fast durchgehend erhalten, man passiert einen kleinen Marienschrein, und geht durch lichten Wald, um schließlich eine grüne Hochfläche zu erreichen, die ein fantastisches Ensemble riesiger Felsskulpturen trägt. Ich befinde mich hier sozusagen in einer "Felsenstadt", wie in Tschechien derartige Sammelsurien von Felstürmen- und kegeln genannt werden. Ein idealer Klettergarten wäre das hier, für die meisten Kletterer dürfte der "Hatsch" bis hierher jedoch zu lang und zu mühevoll sein, und das ist sicher, um der Ruhe dieses Ortes willen, gut so. Kurz darauf gelange ich in einen Sattel, der den Blick auf einen schönen, grünen Talkessel freigibt, in dessen Mitte sich eine weitere markante Kalkskulptur emporreckt, dahinter erhebt sich schon der imposante Gipfelaufbau des Bojin Kuk.

Das Tal ist schnell durchschritten und nun geht es neben und über enorme Kalkplatten aufwärts bis in einen weiteren Sattel, der durch glattgeschliffenen Kalk gebildet wird. Dort treffe ich auf eine ältere Dame aus Österreich. Ich habe mich also doch nicht getäuscht, als ich vorhin, beim Durchschreiten des Talkessels, Stimmen vernommen habe. Ich hatte beim Abstieg in den Kessel etwas Schwierigkeiten, den Weiterweg zu finden, ihr und ihrem Ehemann sei es ebenso ergangen, teilt mir die Frau mit. Dieser sei übrigens schon eine Weile lang unterwegs zum Gipfel, sie selbst traut sich die Einser - Kletterei durch das Kalkgemäuer des Gipfelaufbaus nicht zu. Der Weg hierher ist allerdings auch bei Verzicht auf den Gipfelsieg lohnenswert, und als kleine Entschädigung kann man dem Felsrücken nach links weiterfolgen und gelangt dann zum Nebengipfel Vidikovac, der entzückende Fernblicke über die zurückliegende Felsenstadt, den Velebitski Kanal und die umliegenden Gipfel gestattet. Hierbei umrundet der Felsrücken ein kleines Dolinenloch, welches kreisförmig von den Felsen eingeschlossen ist und mit seinem Baum- und Sträucherbestand wie ein verwilderter Garten wirkt.

Der Aufstieg zum Bojin Kuk führt nach rechts steil über weitere Kalkplatten in leichter Kletterei aufwärts, wobei in den Felsen eingelassene Eisenstifte als Tritthilfen an den schwierigeren Stellen behilflich sind. Wunderschön geht es über steile, aber griffige Kalkplatten hinauf zum weitläufigen Gipfelbereich, wo die höchste Erhebung durch einen hölzernen Stock markiert ist. Man kann hier oben über verschiedene Felsen hinwegturnen, bzw. über Felsspalten springen, wobei sich einem unterschiedliche Panoramen präsentieren. Das Panorama des Hauptgipfels umfaßt mehr das östlich gelegene Landesinnere, d.h. hinüber zum Hauptkamm, im Süden der scharfe Einschnitt der Velika Paklenica, sowie ein verlockendes, mit Almhütten bestreutes Tal. Begebe ich mich hinüber zum Westgipfel, so fokussiert sich die Aussicht auf die Küste mit ihrem vorgelagerten Fjordengewirr. In etwa den selben Ausschnitt bietet die Aussicht vom unter mir liegenden alternativen Gipfelziel Vidikovac. In weiter Ferne erkenne ich den auffallenden Betonturm des Hotel Alan. Von hier aus bin ich also in der Frühe gestartet, habe den ganzen Weg durch die Kraft meiner Füße zurückgelegt und werde auf diese Weise auch nach dort unten wieder zurückkehren. Dem Mann der Österreicherin bin ich nicht begegnet, er ist offenbar über einen der Nebengipfel bereits wieder abgestiegen.

Die Beschreibung meines Wanderführers empfiehlt die Rückkehr über den gekommenen Weg. Unterwegs habe ich mehrmals die Markierungshinweise "Veliko Ruino" gesehen, die mir auch schon bei meiner Wanderung im Nationalpark begegnet sind. Ich habe bislang keinen blassen Schimmer, ob es sich dabei um einen Berg oder vielleicht, um vom Namen her abzuleiten, etwa um alte Ruinen handelt. Da ich, wie gesagt, diesem Hinweis, einschließlich einem Wegweiser in Starigrad (Veliko ruijno 10 km) schon öfters begegnet bin, muß es sich offensichtlich um etwas Interessanteres handeln, was sich in etwa zwischen der Velika Paklenica, dem Bojin Kuk und der Ortschaft Starigrad befinden dürfte. Wasser steht mir noch in einigermaßen genügender Menge zur Verfügung, das Risiko ist kalkulierbar, und da die Orientierung zur Küste hin eindeutig ist, würde ich zur Not den Weg nach Starigrad ohne die Hilfe von Karte und Wandermarkierung zurückfinden, also wage ich als Rückweg diese Option.

Kurz unterhalb des Sattels zweigt die Markierung dann auch ab. Ich begegne einem jungen Mann, der mir bestätigt, was ich schon in etwa vermutet habe: bei dem vom Bojin Kuk aus einsehbaren, verlockenden Almboden handelt es sich um Veliko Ruino, und die Rückkehr von dort hinunter nach Starigrad sei wohl problemlos möglich. Das ebene Wiesental von Veliko Ruijno ist mit mehr als einem Dutzend Häuslein besprenkelt, teils neuerem Baudatums und manche gar im Stil von Wochenenddatschen, während andere, im traditionellen Baustil, wohl schon zig oder gar hundert und mehr Jahre ihr Dasein dort fristen, aber immer noch gut erhalten sind. Vor den meisten Häusern befinden sich Brunnenschächte, wobei man, wenn man die Deckel öffnet, dem einen oder anderen Schacht aufgrund der Spinnennetze, die sich dort schon zu Wollknäuel verdichtet haben, ansieht, daß er praktisch schon des längeren nicht mehr im Gebrauch ist. Zwischen den intakten Häusern findet man viele zu Ruinen verfallene Gebäude, der junge Kroate hatte vorhin gar von einer halbverfallenen Kirche gesprochen, die sich weiter oben, im nördlichen Ende des Tals, befinden soll. Ich vermute, daß ich mich hier auf einer Schäferalm befinde, die in den Sommermonaten sicher noch bestellt wird, aber jetzt ist keine Menschenseele hier, was dem Ort ein geheimnisvolles Ambiente angedeihen läßt. Da ich ein Liebhaber von solchen "Geisterorten" bin, und mir auch die Wegstrecke vom Bojin Kuk bis hierher gut gefallen hat, hat sich diese Alternative für den Rückweg voll gelohnt. Auch der Weiterweg ist gut markiert. Er zieht, unterwegs an einem einsamen Gehöft vorbeiführend, hinauf in einen Sattel, wo ich auf eine Schotterstraße stoße. Ich befinde mich nun am Ende eben jener Straße, die von Stari Grad aus hierherführt, und die unten im Ort mit dem Hinweis "Veliko Ruijno 10 km" beschildert ist.

Der Fahrpiste folgend, erreiche ich ein winziges Bergdorf, die Straße ist von nun an asphaltiert. Ich setze mich hinter den Häusern der Ortschaft auf eine schattige Holzbank, als sich die schlacksige Figur eines in weit offenem Hemd und alten Militärhosen gekleideten Greises mir nähert.. Der Alte setzt sich neben mich, mir entgeht nicht der Duft des Weines in seinem Atem. Wir führen eine witzige Unterhaltung, er auf kroatisch, ich auf deutsch, was in diesem Moment besser klappt, als man denken sollte. Bald verabschiede ich mich und nehme die letzten paar Kilometer hinunter nach Starigrad unter die Sohlen.

Tags darauf verlasse ich Starigrad. Gegen 10 Uhr morgens treffe ich im Küstenörtchen Karlobag ein, um zu erfahren, daß der nächste Bus nach Baske Ostarije, dem Ausgangsort meiner nächsten Wanderung, erst um 1 Uhr mittags fährt. Ich schlage also die Zeit tot, indem ich im Ort umherschlendere, an der Hafenmole herumhänge und zum Cappuccino in den Staßencafes raste. Etwas unangenehm ist die Tatsache, daß die am Meer entlangführende Hauptstraße zwecks Installierung einer Kanalisation derzeit mit viel Lärm umgegraben wird, was sich in Zukunft aber sicher positiv auf die Qualität des Meerwassers auswirken wird. Im Ort befinden sich zahlreiche heruntergekommene und zu einem großen Teil noch geschlossene Hotels, in vielen haben bereits die Renovierungsarbeiten begonnen. Ich vermute, daß die Hotelgebäude während des Krieges, der glücklicherweise nicht bis hierher getragen wurde, wohl als Flüchtlingsunterkünfte gedient haben, und ich habe den Eindruck, daß man hier derzeit kräftig die Ärmel hochkrempelt, um diesen an sich schönen Ort wieder fit für den Badetourismus zu machen.

Der Bus, der Karlobag mit dem im Landesinneren gelegenen Gospic verbindet, windet sich über die kurvenreiche Bergstraße höher und höher, aus dem Busfenster heraus genieße ich den schönen Meeresblick. Im kleinen Bergdorf Baske Ostarie (995 m) steige ich beim Hotel Velebo aus dem Bus. Dieses Haus ist eines der wenigen Berghotels, die es in Kroatien gibt. Im Winter findet hier sogar ein bescheidener Skibetrieb statt, in der Nähe des Hotels befindet sich ein Lift. Ich bin froh über die kühlere Luft und die angenehm frische Brise, die mich hier oben empfängt, denn unten in Karlobag hatte eine für den Wanderer doch schon wieder zu drückende Hitze geherrscht. Hier, in Baske Ostarije, werde ich zu der längsten zusammenhängenden Wanderung auf meiner Kroatien - Tour aufbrechen. Premuziceva Staza nennt sich der spannende Weitwanderweg, der in den Jahren 1930 - 33 aufgrund der Initiative des Ingenieurs Ante Premuzic gebaut wurde und mich vom mittleren bis weit in den nördlichen Velebit führen soll, wo das Gebirge auch seine größte Ausdehnung in der Breite erhält, nämlich etwa 30 Kilometer. Im Vergleich dazu kommt der Velebit im Süden oft nur auf etwa 10 Kilometer. Somit bleibt das Velebit - Gebirge, dessen südliche Bereiche ich ja bereits in den Bergen und Schluchten des Paklenica - Nationalparks kennenlernen konnte, weiterhin mein Thema, weshalb ich im Laufe meiner Reise einen umfassenden Eindruck vom bekanntesten Gebirge Kroatiens gewinnen soll.

Da im Hotel, entgegen meiner Erwartungen, keine Wanderkarte aufzutreiben ist, die das Gebiet des Premuziceva Staza abdeckt, starte ich mit Hilfe der dürftigen Wegbeschreibung in meinem Wanderbuch, das obendrein die Wegbegehung von Nord nach Süd erläutert, ich jedoch beginne mit meiner Wanderung sozusagen am anderen Ende. Ich erreiche zunächst problemlos den Weiler, der auf der im Foyer des Hotels Velebo hängenden Wanderkarte eingezeichnet war, und auf die ich vor meinem Aufbruch wenigstens noch einen Blick werfen konnte, um mich grob zu orientieren. Hinter dem Gehöft verbringe ich gute drei Stunden auf der Suche nach dem Weiterweg, was mir immerhin die unvorhergesehen Besteigung zweier Gipfel (Vrseljci, 1212m, und Kiza - Sattel) einbringt. Die Gegend um Baske Ostarije ist wirklich atemberaubend, und glaubt man den Darstellungen in den alten Karl - May - Filmen, könnte man sich hier mitten im Apachen - Gebiet wähnen. Zwischen bewaldeten Bergketten erheben sich die schönsten Kalkgipfel in kühnen, vielfältigen Formen, das satte Grün der Hochweiden und dichten Bergwälder kontrastiert hierzu, und im Westen reicht der Blick immer noch bis zum Meer, das hier allerdings schon in einige Entfernung gerückt ist. Ein mehrtägiger Aufenthalt im Hotel Velebo wäre somit durchaus empfehlenswert. Frische, deutliche Farbmarkierungen führen zu zahlreichen Gipfelzielen in der Umgebung, man sieht, daß diesbezüglich in jüngster Zeit wohl einiges unternommen wurde, um Wandertouristen einen Aufenthalt im Hotel schmackhaft zu machen.

Was bisher allerdings offensichtlich vernachlässigt wurde, ist die optimale Ausmarkierung des Zugangs zum Premuziceva Staza, dessen offizielle Wegführung erst einige Kilometer hinter dem oben erwähnten Weiler beginnt. Im Sattel unterhalb des Kiza - Gipfels kommt mir schließlich die Erleuchtung. Ich kombiniere die spärlichen Angaben in meinem Buch mit der Aussicht und komme zum logischen Schluß, daß der Premuziceva Staza eigentlich nur westlich von meiner jetzigen Position verlaufen kann. Ich folge nun der durch pfadloses Gelände führenden Markierung abwärts, hocherfreut darüber, daß diese tatsächlich zumindest Tendenzen in westliche Richtung aufweist. Als ich den vom Sattel aus bereits ausgemachten, breiten Feldweg erreiche, der vom Weiler wegführt, habe ich den Premuziceva Staza endlich erreicht, wie mir wenige Augenblicke später ein angerostetes Schild bestätigt. Im Gegensatz zu seinem Nordteil wird dieser Weg im Süden wenig begangen, weshalb die Markierung hier oft etwas verwittert, der Weg gelegentlich überwuchert und dem Verfall preisgegeben sein soll.

Es bleibt nicht mehr all zu viel Zeit bis Sonnenuntergang, so daß ich mit dem Vorsatz weitermarschiere, die sich mir nächst bietende, akzeptable Möglichkeit zum Biwakieren zu nutzen. Zunächst geht es angenehm flach durch Wald, bis ich schließlich eine Schotterstraße kreuze, wo sich mir offenes, wiesen- und macchiaüberzogenes Bergland präsentiert. Etwas unterhalb des Wanderweges mache ich eine halbwegs akzeptable Fläche für mein Zelt aus. Der Biwakplatz ist traumhaft, ich habe freien Blick über den schlanken Meeresarm hinüber zur Insel Pag, allerdings gibt es hier kein Wasser. Als ich essend vor meinem Zelt sitze, den Sonnenuntergang und den anschließenden Einbruch der Dämmerung genießend, höre ich hinter mir ein Klappern. Ein Fahrzeug mit Anhänger scheppert, langsam durch Schlaglöcher schwankend, über die holprige Piste hinunter zur Küste, vermutlich Bauarbeiter, die Feierabend haben. Es sollen noch zwei oder drei weitere Autos folgen, und es ist irgendwie ein spannendes Gefühl, die Fahrzeuge zu beobachten, während weder die Insassen noch irgendein anderer Mensch mich hier oben in dieser Einsamkeit vermuten. Im Ort drüben auf der Insel gehen die Lichter an und nach einer Weile verkrieche ich mich ins Zeltinnere, um mir den wohlverdienten Schlaf zu gönnen.

Die heutige Etappe führt immer wieder durch große Waldabschnitte, der Weg verläuft fast ausschließlich eben und ohne wesentliche Richtungsänderungen. Diese Art der Wegführung soll sich noch als typisch für die Südetappe des Premuziceva Staza erweisen. Gelegentlich ergeben sich Ausblicke zum Meer hin sowie zu den direkt hinter der Küstenlinie aufstrebenden, schroff - kargen Bergketten. Wer auf der Südetappe die fantastische Gebirgswelt des inneren Velebit kennenlernen möchte, dem sei empfohlen, einen oder mehrere der am Weg gelegenen Berge zu besteigen. Immer wieder führen gut markierte Abzweigungen zu in Wegnähe gelegenen Gipfelzielen. Einer der interessantesten soll der Budakovo Brdo (1318 m) sein, das Problem der Wasserversorgung hält mich aber von solchen Exkursionen ab, was sicherlich bedauerlich ist, da gerade der Südweg, da er ständig auf halber Höhe in den Berghängen verläuft, und, wie gesagt, auch viel durch Wald führt, ohne derlei Garnierungen doch oft etwas langweilig wird. Der Premuziceva Staza ist aufgrund seiner Bauweise - befestigter Schotter, ähnlich einem Bahndamm, auf dem die Gleise abmontiert wurden, selbst an den verfallenen Stellen gut zu erkennen, so daß, wenn man ihn einmal gefunden hat, die Wegfindung trotz ausgebleicher Markierungen auch im Süden immer recht einfach ist. Daß der Weg trotzdem ansteigt, auch wenn man das kaum merkt, läßt sich an den nach Norden hin zunehmenden Höhenmetern feststellen.

Auf der gesamten Wanderung kommt man zwischen den beiden Ortschaften Baske Ostarije und Oltari durch keine Ortschaften mehr, in Wegnähe passiert man jediglich drei Schäferalmen und drei Berghütten, deren Standorte so ungünstig verteilt sind, daß es am Besten ist, mit dem Zelt unterwegs zu sein. In einem weiten, sattgrünen Dolinental verteilen sich unter mir die wenigen Steinhäuschen der Schäferalm Radlovac. Will man sich diesen Weiler genauer anschauen, was sich auf jeden Fall lohnt, muß man vom Hauptweg aus in etwa einer halben Stunde hinuntersteigen. Mein Hauptanliegen für diesen Abstecher hat jedoch in erster Linie einen praktischen Grund: der dringende Bedarf an Wasser.

Doch bereits beim Annähern an die Häusergruppe, vorbei an durch Steinmäuerchen begrenzte Weideparzellen, werde ich von einer Mischung aus Neugier und mystischer Spannung ergriffen. Dieser Ort wirkt auf mich noch geheimnisvoller und weltvergessener, als Veliko Ruijno. Während einige der aus grauem Naturstein errichteten Häuschen offensichtlich noch im Gebrauch sind, findet man hier ebenfalls zwischen Buschwerk und teilweise bereits von der Vegetation überwuchert, verfallene Ruinen. Vor einem der Häuser hängen Kleidungstücke und Bettzeug zum Trocknen. Hosen, Hemden und Jacken, etwas zerschlissen, ärmlich, wie sie häufig von Schäfern auf dem Balkan getragen werden. Es ist jedoch niemand da. Franjo hatte mir gesagt, daß, wenn man in Radlovac den Schäfer antreffen würde, es möglich sei, bei ihm zu übernachten, und er würde auch für seine Gäste kochen. An der Abzweigung, wo die verblichene Markierung nach Radlovac hinunterführt, ist auch mit roter Farbe ein Haus aufgepinselt, was wohl auf diese Unterkunftsmöglichkeit hinweisen soll. Die kleine Kapelle trägt die Jahreszahl 1996 über der Tür, ist also alles andere als antik, dafür aber im traditionellen Stil gemauert, graufarbener Naturstein mit offenem Glockenturm. Das Glockenseil soll wohl weniger dazu dienen, zur heiligen Messe zu rufen, als vielmehr zu einer Art Hausglocke. Ich unterlasse es, daran zu läuten, schließlich will ich nicht riskieren, eine eventuell doch anwesende Person, die möglicherweise auf einer einen oder anderthalb Kilometer entfernten Parzelle mit Arbeit beschäftigt ist, von der Arbeit wegzuholen, nur um zu sagen: "Hallo, ich bin da, ich hol´ nur schnell etwas Wasser!" Daß hier noch keine Schafe aufgetrieben sind, liegt vielleicht daran, daß es dafür noch zu früh ist. Würde man sie jetzt schon, also Anfang Mai, auf die Weiden treiben, so könnte man mit ihnen möglicherweise Mitte Juli wieder ins Dorf zurückkehren, weil dann schon bereits alles abgegrast wäre, so denke ich. Vermutlich läßt man dem Gras erst mal etwas Zeit, richtig zu gedeihen.

Ich finde mehrere vernachlässigte Brunnen im Weiler vor, und schließlich schöpfe ich frisches Wasser aus dem intakten Brunnen des Haupthauses. Nach einer ausgedehnten Vesper- und Trinkpause mache ich mich wieder auf den Weiterweg. Weiter in Abwechslung durch Wald und offenes Wiesen - oder Macchiagelände führt der Weiterweg an einer Abzweigung vorbei, die ich mir diese Mal nicht entgehen lassen will. Der 1624 Meter hohe Gipfel Satorina wird auch in meinem Wanderführer zur Besteigung empfohlen, genügend Wasservorräte habe ich ja wieder, und so entschließe ich mich kurzerhand, den Rucksack zurückzulassen und den Anstieg zum Gipfel anzugehen. Ich binde mir meine Jacke um die Hüfte, für den Fall, daß es oben zugig wird, der Höhenunterschied dürfte gute 500 Meter betragen, nehme jedoch, in der Annahme, den Gipfel rasch zu erreichen, kein Wasser mit.

Zunächst geht es längere Zeit steil aufwärts durch den Laubwald, bis ich zu einer Wiesenkuppe gelange, von wo ich bereits einen Gipfel ausmache. Dieser ist jedoch noch lange nicht die Satorina. Schließlich gelange ich über die Baumgrenze hinaus und finde mich auf einer Bergwiese in prächtiger, typischer Berglandschaft, von bleichen Kalkfelsen, kargen Berggipfeln und unzähligen Dolinentälern umgeben. Wieder glaube ich, den Satorina - Gipfel in wenigen Augenblicken erreicht zu haben, die Markierung führt allerdings abermals an dem von mir vermuteten Gipfel vorbei, hinauf in einen Sattel, um wiederum hinab in ein Waldstück zu führen. Jetzt habe ich zwar den richtigen Gipfel im Blick, aber um ihn zu erreichen, muß ich noch drei weitere Sättel überschreiten, wobei ich jedesmal denke: "Das war nun wohl der Letzte!". Es war ein Fehler, kein Wasser mitzunehmen, denn bis zum Gipfel brauche ich satte zweieinhalb Stunden, zuviel bei der Wärme. Die Jacke mitzunehmen war unnötig. Ich beginne, den Schnee der Firnfelder in meinem Mund zergehen zu lassen, um den Gaumen wenigstens ein bißchen Feuchtigkeit zu gönnen, hüte mich aber davor, dieses Dreckwasser herunterzuschlucken.

Was die Südetappe des Premuziceva Staza oft zu wünschen übrig läßt, bieten einem der Anstieg und der Ausblick vom Satorina - Gipfel: den Ausblick auf eine herrliche Bergwelt, wo weiße Felstürme aus deftiggrüner, geschlossener Vegetation herausragen. Betrachtet man jedoch die dem Meer zugewandten Bergketten, so präsentieren sich einem karge, schroffe Kämme, auf denen, besonders in den Gipfelbereichen, die Steine die Vegetation zurückzudrängen scheinen. Weit im Süden erkenne ich die markante Bergkette aus besonders schönen Kalkformationen, die sich im Einzugsgebiet von Baske Ostarije befindet, und auf deren südlichen Ende ich selbst schon gestanden war, als ich mich im Kiza - Sattel befunden hatte. Auch die Küstenlinie ist zu sehen, allerdings in gewisser Entfernung, denn die Satorina befindet sich im dem Landesinneren zugeneigten Teil des Velebit - Gebirges. Besonders imponierend erscheint mir ein herrlich grünes Tal, das sich quer durch mehrere Bergketten hindurchschneidet und kein Dolinental ist, sondern zu seinem Ausgang hin geöffnet zu sein scheint. Beim Anblick der Wälder muß ich an die Artenvielfalt der hier lebenden Tiere denken: Selbst Braunbären, Wölfe und Luchse sollen in den riesigen Waldgebieten dieser praktisch unbesiedelten Bergwelt noch ein artengerechtes Dasein führen. Den Rückzug vom Gipfel ziehe ich in Windeseile durch, wobei mir ein paar Gegenanstiege hinauf auf die zuvor überschrittenen Sättel nicht erspart bleiben. Als ich meinen Rucksack wieder erreiche, sind innerhalb weniger Minuten anderthalb Liter Wasser fällig.

In der Folge tangiert der Wanderweg eine weitere Alm, die sich ebenfalls in einem weit ausladenden Becken befindet. Mliniste heißt dieser Weiler. Diesmal bin ich zu faul, nochmals hinunterzusteigen, ich möchte heute noch ein gutes Stück auf die Berghütte Veliki Alan zusteuern. Der Grund ist nicht etwa, den Prmuziceva Staza so schnell wie möglich zu durchlaufen, sondern mein Ehrgeiz und meine Neugier, zum Schluß noch ein weiteres Gebirge in Kroatien anzuschneiden, das sich sowohl in seiner geographischen Lage, als auch von seiner kulturellen Umgebung in Vielem von Dalmatien oder dem kroatischen Binnenland unterscheidet: das Ucka - Gebirge, das die Halbinsel Istrien vom Rest Kroatiens trennt. Im Nachhinein muß ich zugeben, daß es klüger gewesen wäre, nach Mliniste hinabzugehen und dort die Nacht zu verbringen. Diese Einsicht kommt auch im Weitergehen, als ich immer mehr das Nachlassen meiner Kräfte zu spüren bekomme, der Tag war lang und sehr mühevoll, zurückgehen möchte ich allerdings nicht. An einem Wiesenhang steige ich, zunächst ohne Gepäck, im steilen Hang, durch Buschwerk und dichte Heidematten, ziemlich weit nach oben, um dort endlich ein halbwegs flaches Plätzchen zu finden. Den Untergrund bildet ziemlich hoch gewachsenes Heidegestrüpp, weshalb ich beim Hinliegen, wie in einem alten, durchgelegenen Bett, in eine natürliche Matratze hineinsinke. Ich setze mich zum Essen auf einen Felsen, die Küche bleibt auch heute wieder wegen Wassermangels kalt. Der Ausblick ist berauschend, die ockerfarbene Insel Pag liegt praktisch zu meinen Füßen, und ich genieße den Sonnenuntergang mit dem eigenartigen Bewußtsein, an einer Stelle zu campieren, auf die vielleicht noch nie zuvor ein anderer Mensch seinen Fuß gesetzt hat.

Wer für Aussichten über´s Meer schwärmt, ist auf dem Teilstück Mliniste - Veliki Alan gerade richtig, denn nirgendwo sonst auf dem Premuziceva Staza bieten sich derer so zahlreiche. Da der Weg sich hier sehr nahe der Adriaküste zuneigt, ist dieser Abschnitt aufgrund der Vegetationsarmut der Küstenstriche kaum bewaldet, d.h. aussichtsreich und das Meer scheint zum Greifen nahe. Die ewig langgestreckte Insel Pag läßt man hier langsam hinter sich, es ragt nur noch die äußerste Nordspitze ins türkisblaue Adriawasser. Eine weitere Insel tritt nun auf den Plan, die vergleichsweise kleinere, leicht konisch geformte Insel Rab, die im Gegensatz zu dem ariden Erscheinungsbild des südlichen Nachbarn, in einigen Bereichen mit Wäldern und Büschen überzogen ist. Dahinter, verschwommen am diesigen Horizont lassen sich die Gestade der langgestreckten Insel Cres ausmachen. Bevor der Pfad die Veliki - Alan - Hütte erreicht, führt er an einem weiteren Weiler vorbei, der, zwar schön gelegen, doch etwas moderner und nicht so romantisch erscheint, wie Radlovac und Mliniste.

Die Veliki - Alan - Hütte (1340 m) liegt direkt an einer Schotterpiste, und ist, wie offenbar alle kroatischen Berghütten, eine Selbstversorgerhütte. Die Ausstattung entspricht in etwa der von Paklenica Skloniste, d.h. es steht eine komplette Küche mit Geschirr und Kochutensilien zur Verfügung. Der Hüttenwart ist allerdings nur in der Saison am Wochenende hier oben, weshalb der Schlafraum verschlossen bleibt, eine kleinere Gruppe könnte es sich allerdings auch, mit Isomatte und Schlafsack ausgerüstet, sehr gut auf dem Küchenboden bequem machen, ein großer Holzisch, Stühle und ein Paar Kerzen sind vorhanden. Da sich hinter der Hütte ein Brunnen befindet, nütze ich die Gelegenheit, endlich mal wieder zu kochen. Wie ich´s mir so am Tisch draußen vor der Hütte bequem mache, nähert sich über die staubige Piste ein Geländewagen. Das wird wohl der Hüttenwart sein, denke ich. Der Wagen trägt die Aufschrift "Adria - Tours", und es steigen vier Männer aus, die mich begrüßen und sich mir gleich vorstellen. Sie seien Mitglieder des auf der Insel Pag neu gegründeten Bergvereins, so der gut deutsch sprechende Wortführer der Gruppe, und sie wollen sich einige Objekte hier im Gebirge anschauen. So werden ein paar Fotos von der Hütte und ihrer Umgebung gemacht, und es findet eine längere Unterhaltung auf kroatisch statt. Ich vermute, daß die vier Herren eher kommerzielle Ziele vor Augen haben, sprich Tagesausflüge oder geführte Wanderungen für Touristen der Insel Pag. Dagegen ist auch sicher nichts einzuwenden, wenn das Ganze ökologisch verträglich abläuft. Bevor die Vier ihre Fahrt fortsetzen, teilt mir der Fahrer noch seine sicher gut gemeinten Bedenken darüber mit, daß ich meine Wanderung mutterseelenallein durchführe. Ich bekomme das oft zu hören, und sicher hat er Recht, wenn er anführt, daß ich wohl im Falle eines Vipernbisses ziemlich hoffnungslos verloren wäre. Die Gefahren des Alleingehens sind mir durchaus bewußt, seit gut 10 Jahren unternehme ich derlei Exkursionen zum größten Teil alleine und in Eigeninitiative, und ich vertrete die These, daß allein Wandern unter gewissen Umständen sogar sicherer sein kann, als mit Partner. Erfahrung, gute Planung und verantwortungsvolles Handeln sind jedoch die Grundvoraussetzungen.

Nun folgt die Königsetappe des Premuziceva Staza. Bereits kurz hinter Veliki Alan erheben sich vor meinen Augen atemberaubend schöne Bergketten. Und ist der Weg bisher fast ausschließlich gleichförmig geradeaus mit kaum merklichen Anstiegen verlaufen, soll sich dies nun ändern. In Serpentinen schlängelt sich der Pfad nun neben glatten Felswänden empor, gewährt Tiefblicke in die faszinierendsten Dolinentäler, die ich je gesehen habe. Ich stapfe jetzt auch vermehrt wieder durch ausgedehnte Altschneereste, was wohl nicht zuletzt mit dem erneuten Höhengewinn zu tun hat, passiere ein Felstor und steinerne Portale, und sehe mich eingekesselt von prächtig geformten Kalkgipfeln, die sich aus dichten, dunklen Bergwäldern erheben, eine Landschaft, die die Horizontale offensichtlich nicht dulden will. Hatte der Weg im Süden noch durch von Buchen beherrschten Laubwald geführt, so übernehmen hier immer eindeutiger hochstämmige Tannen die botanische Dominanz. In kuirzer, einfacher Kletterei erreiche ich gepäcklos den Gipfel der Crikvena, einem typischen, markanten Kalkkoloß, von denen es hier nur so wimmelt. Nachdem sich der Weg dann zu einer gewissen Höhe hinaufgeschraubt hat, führt er mich in wilden Schlangenlinien durch eine surrealistische Karstlandschaft zwischen wuchtigen Kalkgipfeln und gähnenden Dolinenlöchern, die perfekte Kulisse für einen Fantasy - Film. Rozanski Kukovi nennt sich dieser eindrucksvolle Felsirrgarten, ein echter Geheimtip für alle Berg - und Naturliebhaber. Wenn jemand also unter Zeitdruck steht, oder auch sonst keine Lust hat, den Premuziceva Staza in seiner gesamten Länge zu begehen, dann empfehle ich unbedingt das Teilstück Veliki Alan - Zavizan - Hütte.

Die winzige, aus Kalkstein gemauerte Rossievo Skloniste (1580 m) ist von allen Berghütten, die ich in Kroatien gesehen habe, die am genialsten gelegene. Der nahezu alpine Standort überhalb eines steilen Felsabsturzes inmitten des Felsenlabyrints der Rozanski Kukovi läßt wohl das Herz eines jeden Bergfreundes höher schlagen. Die Einrichtung ist etwas spartanisch, aber gut. Trotzdem will ich meinen Weg fortsetzen, um heute noch die Zavizan - Hütte zu erreichen, das mit 1594 m höchstgelegene Berghaus Kroatiens. Der Weg setzt sich weiterhin durch berauschende Berglandschaft fort, schließlich passiere ich das Schild, welches den Anfang, oder in meinem Fall das Ende des Premuziceva Staza anzeigt. Inzwischen sind düster Wolken aufgezogen, und als ich den geteerten Zufahrtsweg hinauf zum Zavizan - Berghaus unter die Sohlen nehme, beginnt es schon zu tröpfeln. Als ich im Refugium ankomme, treffe ich auf den Hüttenwart und ein paar Helfer, die das Haus für die Ankunft von Wochenendgästen vorbereiten, denn morgen ist schließlich Freitag. Obwohl keiner der anwesenden Herren englisch oder deutsch spricht, werde ich freundlich und wortreich empfangen. Der Aufenthaltsraum hat die wohlige Gemütlichkeit einer rustikalen Bergunterkunft, schöne Bilder vom Velebit zieren die Wände. Nachdem ich erst einmal tüchtig gegessen habe, und das drohende Gewitter ausgeblieben ist, mache ich mich auf zum Gipfel des Berges Vucjak, an dessen Rücken sich die Zavizan - Hütte schmiegt und von welcher aus er in wenigen Minuten zu erreichen ist. Auf 1644 Metern mache ich es mir gemütlich und werde erneut Augenzeuge eines dramatischen Sonnenuntergangs über der Adria. Die rot leuchtenden Strahlen der versinkenden Sonne glänzen auf der Wasserfläche wie auf einem mit Goldplatt übersiegelten Spiegel, ein Traummoment, kalenderblattreif! Ich wende meinen Blick zurück ins Landesinnere, dort recken sich die wilden Kalkgipfel der Rozanski Kukovi dunkelgrauen Regenwolken entgegen, ein ernstes, düsteres und zugleich faszinierendes Schauspiel! Als ich zur Hütte zurückkehre, ist es fast Nacht. Die Schlafkammer des Hauses bietet Betten für ein Paar Dutzend Gäste. An diesem Donnerstagabend bleibe ich jedoch der Einzige.

Heute ist mein letzter Tag im Velebit, doch noch ehe ich mich mit Sack und Pack nach Oltari, dem Endpunkt meiner Wanderung, aufmache, möchte ich noch ein paar Stunden in der lohnenswerten Umgebung der Zarzivan - Hütte verbringen. Als Erstes statte ich dem botanischen Garten (Velebitski Botanici Vrt), der sich keine 500 Meter unterhalb der Hütte befindet, einen kleinen Besuch ab. Dieser Garten ist in einer typischen Velebit - Landschaft angelegt. In und rings um ein felsenbestandenes Dolinental am Fuße des Berges Veliki Zavizan eignen sich die durch den Garten führenden Wanderwege auch für weniger an Botanik Interessierte als wundervolle Spaziermöglichkeit durch eine entzückenden Landschaft. Etwa 2600 verschiedene Pflanzenarten existieren im Velebit, darunter auch zig endemische Spezies, d.h. Gewächse, die nur hier im Velebit vorkommen. Um diese Jahreszeit stehen noch lange nicht alle Pflanzen in der Blüte, und an manchen Namensschildern suche ich das zugehörige Gewächs vergebens. Ein Pflanzenfreund könnte sicher den ganzen Tag in diesem Garten zubringen, ich begnüge mich jedoch mit einem gemütlichen Rundgang.

Der Veliki Zavizan, nachdem schließlich auch die nahegelegene Hütte benannt ist, ist von hier aus in etwa einer Stunde besteigbar. Es handelt sich um einen der höchsten Berge in diesem Teil des Velebit, und es ist für mich zudem die letzte Chance, noch ein letztes Mal zu einem Gipfel in diesem einzigartigen Gebirge zu gelangen, bevor mich meine Reise in andere Gefielde führt. Aus 1676 Metern Höhe bietet sich mir erneut ein fantastisches Panorama, das Rozanski Kukovi, die adriatische Inselwelt und den Vucjak mit der Zavizan - Hütte umfaßt. Im Abstieg gerate ich nochmals in den Bereich des botanischen Gartens. Einer der Spazierwege führt übrigens in die Sohle des Dolinentales hinunter, aber zugegebenermaßen bin ich jetzt zu faul, hinab - und danach wieder hinaufzusteigen. Eine Bequemlichkeit, die ich später sicher noch bereuen werde, da ich bis jetzt nicht ein einziges Mal einer Doline richtig auf den Grund gegangen bin. Andererseits ist es doch noch ein gutes Stück bis nach Oltari, und so kehre ich zur Hütte zurück, um den schweren Rucksack zu schultern, mich vom Hüttenwart zu verabschieden und den hinter der Hütte beginnenden Pfad durch schattigen Wald einzuschlagen, bis dieser auf den Fahrweg stößt, wo bald schon das Minidorf Oltari sichtbar wird. Abermals sieht es nach Regen aus, der allerdings auch dieses Mal wieder ausbleiben wird.

Oltari besteht aus nicht einmal zehn Häusern, die sich links und rechts der Bergstraße aufreihen, welche sich über zig Serpentinen zur Küste nach Sveti Juraj hinunterschlängelt. Vor dem etwas heruntergekommen Haus des kroatischen Bergvereins lehnen zwei Männer um einen draußen stehenden Tisch. Die Tür des Restaurants steht zwar offen, trotzdem ist angeblich geschlossen. Dafür erhalte ich die Auskunft, daß in einer knappen Stunde mit dem in Leerfahrt nach Sveti Juraj zurückkehrenden Schulbus eine Beförderungsmöglichkeit bestehe.

Ich habe Glück, und der Fahrer bringt mich sogar bis nach Senj, der nächsten größeren Stadt an dem hier besonders dünn besiedelten Teilstück der dalmatischen Küste. In einem Straßencafe gegenüber dem Hafen mache ich es mir bequem. Der Bus nach Rijeka läßt nicht allzu lange auf sich warten. Im Bus komme ich mit zwei über´s Wochenende heimkehrenden Soldaten ins Gespräch, beide sind Istrier, und einer davon ein passionierter Kletterer, weshalb der Gesprächstoff bis Rijeka nicht ausgeht. Dort müssen die beiden umsteigen, da sie in Richtung Porec an der Westseite Istriens weitermüssen. Ich kann sitzenbleiben, da der Bus bis nach Pula, nahe der Südspitze der Halbinsel weiterfährt und mein Ziel, das Städtchen Lovran, auf dem Weg liegt. Lovran und das etwas größere Opatija liegen nahe beieinander an der istrischen Ostküste und gehören zur Region Kvarner Bucht. Man könnte fast sagen, bei Rijeka um´s Eck, die Insel Cres ist diesen Küstenorten unmittelbar vorgelagert.

Von Lovran aus mache ich mich zu Fuß hinaus zum nahen Camping Medveja, wobei ich gezwungen bin, ein gutes Stück der nicht besonders fußgängerfreundlichen Küstenstraße zu folgen. Zwei Dinge werden dem aus Dalmatien kommenden Reisenden in Istrien sofort auffallen: Eine im Vergleich zur trockenen dalmatischen Küste reiche, beinahe subtropische Vegetation, und der Einfluß Italiens, und zwar nicht nur bezüglich der Architektur, sondern auch in Mentalität, Sprache und in der Küche. Das Istrische ist ein kroatischer Dialekt mit reichlich italienischen Einflüssen, Italienisch beherrscht ohnehin fast jeder Istrier als Zweitsprache. Die Tatsache, daß die grenznahen Nachbarn hier gerne ihren Urlaub verbringen, führt zu einer zusätzlichen "Italienisierung".

Der Campingplatz Medveja liegt inmitten sattem Bewuchs, und die Bäume scheinen von Singvögeln überbevölkert. Abgesehen von ein paar besoffenen Österreichern, die zur späten Stunde auf den Campingplatz zurückkehren, ist es das auch nachts nicht verstummende, dschungelähnliche Vogelgezwitscher- und gepfeife, das hier so manchen Gast nicht zur Ruhe kommen läßt. In unmittelbarer Umgebung des Platzes schießen schrofige Berghänge aus dem Boden, das Ucka - Gebirge beginnt somit unmittelbar hinter der Küstenlinie. Es trennt Istrien vom kroatischen Binnenland ab und schiebt sich mit dem Sisol - Kamm noch weit in die Halbinsel hinein.

Der höchste Gipfel des Ucka - Gebirges und somit auch Istriens ist der knapp 1400 Meter hohe Vojak, der sich von Lovran aus in einer Tagestour besteigen läßt. Nicht unbedingt für Konditionsschwache geeignet, bedeutet dies die Vernichtung von reichlich Höhenmetern, um vom Meeresspiegel bis hinauf zum obengenannten Gipfelziel zu gelangen. Als Auftakt schlendere ich am nächsten Morgen erst einmal ein wenig durch die idyllischen Altstadtgassen von Lovran, ehe ich mich auf dem nahen Markt mit Trinkwasser und Tagesproviant versorge und den Weg nach oben antrete. Man muß unzählige Steinstufen zurücklegen, bis man die letzten Häuser hinter sich läßt, eine deutsche Diplomatennummer vor einer sich im Bau befindlichen Villa deutet darauf hin, wer hier oben in prächtiger Hanglage mit weitem Meeresblick siedelt. Exakt an der Stelle, wo mein Wanderführer in der Wegbeschreibung vor Hundegebell warnt, steckt ein wildgewordener Vierbeiner seinen mächtigen Kopf durch den Eisenzaun, um mich mit energischem Gebell zu empfangen. In Fortsetzung führt ein Bergpfad durch waldige Hänge. Überhalb eines zum Meer hin geöffneten Tales zieht der Wanderweg gleichfalls durch den Hang, jetzt aber mit schöner Aussicht auf´s Meer und hinunter zu einer sich pittoresk an den Hang schmiegenden Ortschaft. Es ist einiges an Anstieg zu vollbringen, bis man die erste Lichtung erreicht, wo man einen kurzen Blick auf das angestrebte Bergziel, jedoch noch nicht zu dessen Gipfel, erhascht. In übertrieben steil angelegten Serpentinen geht es nochmals durch Mischwald hinauf, bis ich schließlich auf einer offenen Wiese stehe. Das dort stehende Wegeschild erweist sich für den Aufsteiger als überflüssig, denn nun führt der Pfad klar sichtbar den vor mir sich erhebenden Grasberg aufwärts, bis die Kammhöhe erreicht ist, wo sich vor mir der Natursteinturm erhebt, welcher den höchsten Punkt des Gipfelbereiches markiert. Über die Höhe des Vojak differieren die Angaben: In meinem Büchlein ist von 1394 Metern die Rede, anderswo habe ich aber auch schon 1400 Meter gelesen. Vermutlich muß man da die geographische von der tatsächlichen Höhe durch die Präsenz des Turms auseinanderhalten, d.h., die Turmplattform macht diesen Berg wohl zum vollständigen 1400 -er.

Die Sicht läßt heute etwas zu wünschen übrig, es ist zu diesig für das große Panorama. Von hier aus sollen an klaren Tagen nämlich die wichtigsten Gebirge Kroatiens deutlich zu sehen sein, vor allem das im Osten sich erhebende Risnjak - Gebirge, welches bekannt ist für seinen Schneereichtum im Winter und für seine Braunbären - und Wolfspopulation. Auch der Velebit ist normalerweise gut zu sehen, doch von beiden Gebirgen lassen sich heute nur die Schemen ausmachen. Das bergige, wenig besiedelte Landesinnere Istriens ist hingegen gut zu überblicken. Den Abstieg bringe ich im Schweinstempo hinter mich, ich möchte mich in Lovran mit einer Riesenportion Eis in einem der schönen Cafes unten am Meer belohnen. Dem Eisbecher füge ich noch zwei aufputschende Cappuccinos hinzu und nehme anschließend den local bus nach Opatija, der ehemaligen Sommerfrische der alten K.u.K. - Monarchie.

Eine Altstadt im Stile von Lovran, mit engen, verwinkelten Gassen, sucht man hier vergebens, dafür setzt sich das Ortsbild aus prachtvollen Luxusvillen im Stile des 19. Jahrhunderts zusammen. Die Fassaden der Hotels, in denen ehemals die blassen Blaublütler des österreichisch - ungarischen Adels zur Erholung weilten, sind frisch herausgeputzt und verleihen der Stadt ein mondänes Flair, welches sich besonders auf der Flaniermeile entlang des Hafens bemerkbar macht. Es ist immer noch Nachmittag und mir bleibt Zeit für eine weitere, kleinere Wanderung, die mich zum nahen Bergdorf Veprinac hinaufführen soll. Über Treppenstufen, Teersträßchen, aber auch über einen schönen Waldpfad gelange ich in das alte Dorf mit seiner sehenswerten Wehrkirche, wo es sich gut unter hohen Bäumen mit Blick über die Kvarner Bucht entspannen läßt. Bereits im Aufstieg ist ein harmloser Nieselregen niedergegangen, der mir jedoch zur Erfrischung dienlich war. Die grauen Regenwolken am Himmel verleihen den alten Gemäuern eine düstere Atmosphäre, das feuchte Kopfsteinpflaster und die verlassenen Gassen unterstreichen die herb - romantische Szenerie.

Es gibt einen alternativen Rückweg, der sich allerdings nach einer Weile wieder mit dem Aufstiegsweg verbindet. In Opatija nehme ich mir noch etwas Zeit für die schöne Uferpromendade, bevor ich den Bus zurück nach Lovran nehme, von wo aus ich zu Fuß wieder nach Medveja zurückkehren muß, da die dortige Haltestelle nicht oft bedient wird. Ein letztes Abendessen im Strandrestaurant gegenüber dem Campingplatz, dann wieder eine unruhige Nacht, da im dem Campingareal angeschlossenen Hotel eine Tanznacht mit Live - Band stattfindet.

Frühmorgens nehme ich wieder den Fußweg nach Lovran, der Bus, den ich dort besteige, bringt mich direkt in die Hafenstadt Rijeka, wo ich zu Fuß den Busbahnhof wechseln muß. Kein Problem, ich frage mich durch und kann bei Ankunft gleich in den bereitstehenden Bus nach Karlovac einsteigen. Die Fahrt durch diesen bergigen und stark bewaldeten Teil des nordkroatischen Binnenlandes fasziniert mich. Man könnte glatt vergessen, daß man sich in einem Mittelmeerland befindet. Vielmehr erinnern mich Landschaft und Dörfer an die tschechische Sumava (Böhmerwald). Die Straße führt unterhalb des Rinsnjak - Gebirges vorbei. Besonders schön wird es beim kleinen Städtchen Skrad, welches oberhalb eines faszinierenden, waldüberzogenen Schluchtensystems liegt. Die nicht allzu lange dauernde Wanderung durch die Vrazji prolaz (Teufelsklamm) hätte ich noch liebend gerne mitgenommen, aber das Risiko ist mir zu groß, dann meinen Bus zurück nach Deutschland zu verpassen. Wie die Aussicht verspricht, dürfte es sich bei der Vrazji prolaz nicht um die einzige Schlucht in der Gegend handeln. Ich nehme mir jedenfalls vor, wenn irgendwie möglich, eines Tages diese Gegend des Landes, einschließlich natürlich des Risnjak - Nationalparks, in mehrtägigen Wanderexkursionen genauer zu erkunden.

Karlovac ist eine Stadt, wie man sie in den Ländern des ehemals sozialistischen Ostens häufig findet: um zum historischen Ortskern zu gelangen, muß man zuerst den typischen Ring aus eintönigen Plattenbauten und antiquierten Industrieanlagen durchbrechen. An der Gepäckannahme im Busbahnhof ist leider niemand anzutreffen, weshalb ich gezwungen bin, meine kleine Stadtexkursion mitsamt Marschgepäck anzugehen.

Die Einfahrt in die Stadt vorbei an durch von Granateinschlägen zersiebte Fassaden der Plattenbausiedlungen bringen die schrecklichen Erinnerungen an den Bürgerkrieg wieder zurück. Auch in der Altstadt scheint kaum ein Haus von derlei Narben verschont geblieben zu sein, am Trg Jelacica, dem Hauptplatz der Stadt, stehen von einer ehemaligen Kirche nur noch klägliche Mauerreste, offensichtlich die Folgen eines Volltreffers. Trotz der überall noch sichtbaren Relikte der einstigen Schlacht um Karlovac darf man sich diese Stadt aber keinesfalls als einen Trümmerhaufen vorstellen. Ich begebe mich zu der über den Fluß Kupa führenden Brücke, hinter der die Altstadt endet. Ein kroatischer Bekannter soll mir nachträglich berichten, daß an dieser Brücke die vorderste Frontlinie verlief, hinterher glaube ich mich sogar noch an entsprechende Fernsehbilder erinnern zu können. In Karlovac und vor allem in den östlich der Stadt gelegenen Dörfern stellten einst die Serben einen großen Bevölkerungsanteil, die Stadt befindet sich jedoch auf kroatischem Territorium. Das Unheil war somit bei Ausbruch des Bürgerkrieges vorprogrammiert. Das gesamte Gebiet westlich der Stadt blieb während des Krieges lange Zeit unter der Besatzung durch die serbischen Aufständler, die sich insbesondere aus den dortigen Dörfern rekrutierten.

Die wenigen mir verbleibenden Stunden in Karlovac zeigen mir eine durchaus sehenswerte Altstadt mit schönen, gelegentlich etwas maroden Häusern im barocken K.u.K. - Stil, und ich fühle mich sehr an meine Aufenthalte in der Tschechischen Republik erinnert. Wie Budjevice (Budweis), Domaslice (Taus) oder Trutnow (Trautenau) versprüht auch Karlovac (Karlsstadt) diesen typischen, herb - schönen Charme, der den Besucher gerne verweilen läßt und der sich völlig vom mediterranen Ambiente der Adriastädte unterscheidet. Es ist Sonntag, in den Gassen ist es ruhig, wenig Leute, wenig Verkehr. Die Altstadtcafes sind jedoch gut besucht, hauptsächlich von jungen Leuten.

Zurück am Busbahnhof bestelle ich ein Mittagessen, das so üppig ausfällt, daß ich mir momentan schwer vorstellen kann, vor unserer Ankunft in Deutschland noch einmal Hunger zu kriegen. Kaum ist der letzte Bissen unten und die Rechnung beglichen, da kurvt auch schon Josa´s Bus um die Ecke. Zwischen Zagreb und der slowenischen Grenze führt die Straße an Samobor vorbei. Ich denke an meine Freunde aus dem Velebit. Ihr Lokalpatriotismus scheint nicht übertrieben gewesen zu sein, das Städtchen liegt inmitten einer anmutigen Mittelgebirgslandschaft und auch mein Reisehandbuch weiß zu berichten, daß Samobor dem Besucher mit einer romantischen Altstadt aufwartet und mit interessanten Wandermöglichkeiten zu Mittelgebirgsgipfeln und alten Burgen in der Umgebung lockt. Ein weiteres Indiz dafür, daß noch so vieles in Kroatien für mich unentdeckt geblieben ist!