Freitag, 25. Januar 2008

Über Berg und Tal durchs Piemont - Teil 1





























































Unterwegs auf den stillen Pfaden der Grande Traversata delle Alpi (GTA)

Bei den Piemontesischen Alpen handelt es sich um ein Gebiet, welches den gesamten südlichen Alpenbogen vom Lago Maggiore bis hinunter ans Mittelmeer umfasst, und sich ausschließlich auf italienischem Staatsgebiet erstreckt. Die geographische und politische Grenze bilden jeweils die Hauptkämme ihrer Untergruppen. Ich beginne bei deren Aufzählung im Nordosten und folge dem Bogen über West hinab nach Süden: die Walliser Alpen, die Grajischen Alpen, die Cottischen Alpen und die Seealpen. Dem Beispiel der französischen Grande Traversée des Alpes folgend, welche vom Genfer See bis nach Nizza durch den französischen Teil des Westalpenbogens zieht (inzwischen GR 5), wurde auch in Italien Ende der 70er damit begonnen, eine GTA, die durch die piemontesische Alpenwelt führen sollte, zu installieren. Dabei wurden zwei essenzielle Bedingungen erfasst: die ökologische Verträglichkeit und die ökonomische Stärkung der von starker Abwanderung bedrohten Bergdörfer, ohne dabei außenstehende Großinvestoren auf den Plan zu rufen. Es wurden hierbei nicht etwa neue Wege angelegt, sondern alte Pfade und Mualttieri (Mauleselpfade) freigeschlagen und saniert. Hiermit wurden ehemalige, in Vergessenheit geratene Säumerwege und Hirtenpfade zu neuem Leben erweckt, wie etwa die historischen Verbindungswege der Walser in den (piemontesischen) Walliser Alpen. Dabei wurden jahrhundertealte Bergsiedlungen, die überwiegend in den oberen Talabschlüssen ein weltvergessenes Dasein fristeten, und welche von ihren Bewohner oft schon ganz oder teilweise aufgegeben wurden, mittels dieser traditionellen Verbindungen wieder miteinander verknüpft. Es wurden keine zusätzlichen Bergunterkünfte gebaut, sondern ganz bewusst wurden in diesen Dörfern Übernachtungs- und Verpflegungsunterkünfte eingerichtet, sogenannte Posti Tappa, die dem Wanderer einerseits eine schlichte, aber gemütliche Unterkunft und Verpflegungsstätte bieten, zum anderen den Einheimischen vor Ort eine gute Nebenverdienstquelle bieten sollten. Die Charakteristik der GTA ist aufgrund dieser Ausrichtung – grob gesagt – eine Berg- und Talwanderung im ständigen Wechsel, was wiederum eine Besonderheit dieses Fernwanderweges ausmacht. Mir persönlich ging es schon sehr oft, wenn ich auf Höhenwegen inmitten großartiger alpiner Kulisse, aber fernab von Tälern und Almen unterwegs war, dass ich das Gefühl hatte, wichtige Aspekte, die meiner Ansicht nach zum Erlebnis Berge einfach dazugehören, auf diese Art fast gänzlich zu verpassen. Im Übrigen ist mir selbst bei langjährigen, eingefleischten Alpinisten schon häufig aufgefallen, dass viele von ihnen über erschreckend wenig Kenntnis von Geschichte und Kultur der Berggebiete verfügen, selbst wenn sie dort sogar Stammgäste sind. Das Leben in den Bergdörfern, die Arbeit auf den Almen, die religiösen und kulturellen Einrichtungen, wie Handwerksbetriebe, Bauernhöfe, Kirchen, Kapellen, Klöster usw. bleiben tief unter einem und werden von den von weit oben herabblickenden allzu oft nur als eine idyllische Spielzeugkulisse wahrgenommen. Auch die Durchschreitung der verschiedenen alpinen Stockwerke, sowohl hinsichtlich der Vegetationsstufen, als auch bezüglich der wirtschaftlichen Nutzungsstufen, erlebt man bei auf vielen Höhenweg häufig nur zweimal: einmal im Aufstieg und irgendwann mal wieder, am Ende der Tour, im Abstieg. Auf der GTA gestaltet sich dieses Erlebnis praktisch täglich von Neuem, prägt sich dabei ein, lässt Gedanken und Beobachtungen zu, und hat sogar einen didaktischen Charakter. Wer auf der GTA unterwegs ist, und italienisch kann, dem mag es sogar gelingen, durch intensive Gespräche mit den Einheimischen noch viel tiefer in deren Lebenssituation und die wirtschaftlich-ökologischen Zusammenhänge der erwanderten Gegenden hineinzudringen und sich nicht nur aufs Gelesene verlassen zu müssen.

Um sich aber ein Grundverständnis für dieses Region zu verschaffen, und vor allen Dingen, um die Tour nicht in einer Misere scheitern zu lassen, ist es unabdingbar, das Buch von Prof. Werner Bätzing "Grande Traversata delle Alpi – Teil 1: der Norden" (Rotpunktverlag, Zürich) mitzuführen, bzw. zur Reisevorbereitung vorab schon die Hinweise zu lesen. Die dort angegebenen Gebietskarten des Instituto Geografico Centrale (IGC) sollte man sich ebenfalls besorgen, wenngleich diese auch nur dem groben Überblick dienlich sind. Folgende beiden Internetseiten sind ebenfalls sehr hilfreich: www.wanderweb.ch/gta (dort finden sich auch die Aktualisierungen zum Buch), sowie die Seiten von Jörg Klingenfuß www.gtaweb.de . Für Interessenten des Südteils gibt es selbstverständlich ein zweites Buch, nämlich Teil 2: der Süden.

Der provisorische Startpunkt in Molini di Calasca im Anzasca-Tal kann als solcher inzwischen abgehakt werden. In der neuen IGC-Karte Nr. 11 (Domodossola e Val Formazza) gilt die Bezeichnung GTA ab dem Griespass (Grenze Schweiz/Italien), bzw. es wurde bereits eine Fortsetzung bis zum Lago Maggiore zusammengeschustert, die allerdings von Werner Bätzing wenig Lob erntet. Der Start ab Griespass (ital.: passo corno gris) hätte mich doch schon gereizt, da er sicherlich ein Feuerwerk von landschaftlichen Großartigkeiten bietet, denn man wandert hier in ständiger Nachbarschaft zum mächtigen Monte-Rosa-Massiv. Nach einem schneearmen Winter und einem furztrockenen April sah es fast danach aus, zu Pfingsten eventuell schon recht problemlos in solchen Höhen unterwegs sein zu können. Und dann kam dann doch noch im Mai satt Neuschnee, weshalb ich mich kurzfristig entschloss, nun doch in Molini di Calasca zu beginnen. Ich habe im Titel übrigens bewusst den Zusatz "Teil 1" angefügt, in der Hoffnung, dass mein GTA-Trekking in naher oder fernerer Zukunft eine oder mehrere Fortsetzungen finden wird.

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Mit 265 Metern Seehöhe liegt Domodossola für eine Bergstadt doch recht tief. Ab Piedimulera (231 m) verlässt der Bus das Val d´Ossola und windet sich über zahlreiche Kurven aufwärts. Waldüberzogene, steile Bergflanken und eine tiefeingeschnittene Schlucht erinnern sehr an das Landschaftsbild des Tessin, vergleichbar etwa mit den Steileinschnitten des Leventina- , des Versasca- oder des Maggiatals. Die Bergstraße endet in Macugnaga auf etwa 1300 Metern, bekannte Wintersportstation und Ausgangsort zur südseitigen Besteigung des Massivs der Monte Rosa. Nach etwa einem Drittel der Gesamtstrecke verlasse ich in Molini, auf für Alpenverhältnisse immer noch bescheidenen 480 Metern gelegen, den Bus. Bleierne Wolken hängen träge am Himmel, das Wetter scheint alles andere als erquicklich. Etwas unterhalb der Straße, jenseits einer alten Steinbrücke, welche sich über die tosenden Fluten des Torrente Anza spannt, eines Zuflusses des Fiume Toce (Ossola-Tal), steht die schöne Kapelle Sta. Maria della Gurva. Ein Mann weist mir vom Balkon aus die Richtung. Ein schlecht unterhaltener, aber markierter Weg endet jedoch bald im Gestrüpp, weshalb ich nun die Straßenbrücke zur Orientierung nehme, die gleichfalls auf den breiten und anfangs sogar asphaltierten Aufstiegsweg führt. Der nun durch die Schlucht unter mir schäumende Bergbach heißt Rio Segnara. Das Sträßchen weicht bald schon einem reinen Wanderpfad, welcher sich durch Mischwald emporschlängelt, vorbei an einer Gruppe halbverfallener Alpgebäuden (La Piana, 757 m). Der Regen hat unmittelbar nach meinem Aufbruch eingesetzt und soll mich nun bis zu meinem Tagesziel, der Alpe del Lago, ununterbrochen begleiten. Ich passiere zwei weitere Almen, zuerst die Pozzetto (1136 m), dann die Camino (1438 m). Letztere soll während der Alpzeit noch bewirtschaftet sein. Da das Gelände um die Alm baumlos ist, habe ich hier einen eindrucksvollen Blick auf von tobenden Sturzbächen durchzogene Bergflanken. Auch bis hinunter zu den winzig gewordenen Häusern von Molini kann ich sehen. Zum Finale, nun endgültig oberhalb der Baumgrenze angelangt, umrunde ich einen wilden Felstobel und sehe schließlich mein Tagesziel unter mir, die malerisch in einen Bergkessel gebettete Alpe del Lago (1545 m). Ein Bergbach bildet in der flachen Feuchtwiese ein träges Mäander, ein Schild weist darauf hin, dass in der Wiese um diese Jahreszeit Frösche laichen. Der ehemalige Ziegenstall wurde als Unterkunft zwischenzeitlich von einer schlichten, aber schönen und praktischen Berghütte ersetzt, welche sich inmitten der aufgelassenen, ehemaligen Alphütten befindet. Der Bergbach rauscht beinahe direkt neben der Hüttentür vorbei, für mich ein wahrhaft göttlicher Ort! Die neue, in der Saison immer noch betriebene Alpe, befindet sich etwas weiter oben. Am Ende des etwa vierstündigen, leider etwas feuchten, aber dennoch wunderschönen Eingehtages freue ich mich herzlich über diese nette Unterkunft. Und während bei mir in trockenen Klamotten, mit einem duftenden Nudelgericht und dem dampfenden Kaffeewasser auf dem Gasherd, das Wohlbehagen wieder ansteigt, regnet es draußen unaufhörlich weiter. Schön, dem Regen von drinnen her zuzuschauen! Die Hütte ist übrigens ausgestattet, wie ein guter Winterraum, einschließlich Quellwasser aus dem vor der Tür plätschernden Brunnen, sowie Decken und dünne, aber praktische Matratzen, die man über dem Bettrost ausrollt. Die Zeiten, wo man im Sommer speziell nur für diese Etappe einen Schlafsack mitschleppen musste, sind somit passé. Über Nacht schifft es anhaltend weiter, vorübergehend gesellt sich gar noch ein mittleres Donnerwetter hinzu.

Den ganzen Morgen über regnet es. Das Wetter beruhigt sich erst am Mittag ein wenig, und gegen 14.15 h wage ich den Ausbruch. Ich verlasse das wunderschöne Bergrund, in dem mein Hüttchen steht und steige hinauf in einen weiteren, völlig einsamen und schon felsiger durchsetzten Bergkessel, durch dessen Flanken etwa ein halbes Dutzend regengeschwängerte Bachströme herabbrausen. In der Mitte des Kessels blinkt türkisgrün ein kleines Seelein. Es geht weiter bergauf, stets durch vorwiegend mit blühenden Alpenrosen verbuschtes Gelände, bis ich auf dem First eines Grates stehe. Von hier aus könnte ich bereits den ersten Gipfel, den Pizzo Camino (2148 m) besteigen, doch ist dieser im Dunst der Regenwolken verschluckt und zudem will ich schauen, dass ich unter diesen garstigen Umständen einigermaßen zügig zu meinem nächsten Etappenziel komme. Während der Blick zurück mir nochmals die schöne Alpe del Lago mit seinem auffälligen Mäander im flachen Wiesengrund zeigt, erspähe ich auf der anderen Seite einen Ausschnitt des zivilisatorischen Val d´Ossola. Die Berge, die dort jenseits aufragen, stehen übrigens im Nationalpark Val Grande, dem größten Wildnisgebiet der Alpen. Im Val Grande existieren weder Siedlungen, noch wird dort irgendwelche wirtschaftliche Nutzung betrieben. Der überwiegende Teil der Nationalparksfläche ist vollkommen verbuschtes und verwaldetes Ödland, welches für einen normalen Wanderer praktisch unzugänglich und undurchdringlich bleibt. Diese Berglandschaft soll durch nur ein paar wenige markierte Wanderwege erschlossen sein, sämtliche weitere Aktivitäten sind dort untersagt.

Ich komme zum Rifugio Pian Lago (1743 m), mit oben genannter Aussicht im Hang neben der gleichnamigen Alpe gelegen. Das Rifugio ist kleiner, als die Unterkunft an der Alpe Lago, hat aber ebenfalls Koch- und Nächtigungsgelegenheiten. Ich bin am hin- und herschwanken. Soll ich hier bleiben, oder soll ich´s wagen, weiter bis nach Campello Monti zu gehen? Leichte Schauer und trockene Phasen haben sich unterwegs bislang abgewechselt. Ich gehe weiter, vorbei an einem schönen Bergsee aufwärts zur schmalen Scharte des Colle d´Usciolo (2037 m). Dort oben sind die Wetterkapriolen alles andere als belustigend, weshalb ich sogar auf den Gipfel der in nur 15 Minuten erreichbaren Cima Ravinella (2117 m) verzichte. Gesehen hätte ich von dort oben heute sowieso nichts, der Gipfelgang hätte also nur meine persönliche Gipfelstatistik aufgewertet. Im oberen Teil der jenseitigen Abstiegsflanke treffe ich auf eine Schafherde. Schafe sind normalerweise äußerst scheue Tiere, die bei jeder Annäherung flüchten. Hier scheint mich der Leithammel mit dem Schafhirten zu verwechseln, und so kommt die ganze Herde zuerst einmal auf mich zu. Irgendwann scheinen sie´s zu merken, und allesamt rennen, wie auf Kommando, blökend von dannen. Bald erreiche ich die Hütten der Alpe Cunetta di Sopra, kurz darauf folgt die Cunetta di Sotto. Wenn auch die Fernblicke sich bislang wetterbedingt in Grenzen halten, so ist die Ansicht der mich unmittelbar umgebenden Bergwelt um so atemberaubender. Diese urwaldähnliche, sattgrüne Vegetation, schäumende Wildbäche und tosende Wasserfälle, tief eingegrabene, felsflankierte Schluchten, eine Welt wie das Himalaya-Vorgebirge mitten in der Monsunzeit! Der Dramatik letzte Steigerung folgt, als ich das Bergdorf Campello Monti (1305 m) von oben herab erspähe. Ich bin begeistert! Mit Steinziegeln bedachte Märchenhäuschen kleben an einem supersteilen Hang, und mitten drin ragt der Kirchturm wie eine Nadelspitze in den nebelgeschwängerten Himmel! Bald schreite ich eine mit alten Steinen gepflasterte, regennasse Dorfgasse hinab, vorbei an einem Brunnen, wo aus Löwenköpfen das Wasser hervorsprudelt. Zwischen den vielen Steinhäuschen im Rustikostil befinden sich auch einige mehrstöckige mit unregelmäßig deckender Farbe besudelte Mehrstockhäuser, hinter den schmiedeisernen Balkonballustraden dann die riesigen Fenstertüren, typisch italienisch! Doch die Fensterläden der Häuser sind allesamt verrammelt. Unmittelbar erwacht in mir die Erinnerung an die erste von mir allein durchgeführte Trekkingtour auf Korsika, die mich damals durch eine Reihe abgelegener Bergdörfer im Innern der Insel geführt hatte. Bei Gewitter war ich damals in ein Dorf geflüchtet, in dem ich mir dann ebenso verlassen vorkam, wie jetzt. Und tatsächlich, nach längerem Umschauen scheint es wirklich so, als sei ich heute die einzige lebende Seele hier in Campello Monti. Doch noch vor Kurzem müssen hier Menschen zugegen gewesen sein, die die Dinge zurückgelassen haben, als seien sie nur eben mal schnell weggegangen, um gleich wieder zurückzukehren. In der Boccia-Bahn liegen noch die Kugeln, ein Kinderdreirad steht wie nur mal kurz abgestellt neben einer Hauswand, die Stühle des einzigen Restaurants gruppieren sich noch um die mit klatschnassen Tischdecken abgedeckten Tische.

Das ersehnte Posto Tappa ist ebenfalls verschlossen, das Hinweisschild zu der nahen Alm, welches im Buch abgebildet ist, fehlt, denn logischerweise sind alle Almen ringsum noch nicht bewirtschaftet. Ich schaue noch einmal genauer bei Werner Bätzing nach, und tatsächlich, dieses Dorf ist seit 1980, als der letzte ganzjährig dort lebende Bauer verschied, nur noch während der Sommermonate bewohnt. Ich vermute, dass an schönen Wochenenden immer wieder mal schon ein paar Leute hier oben sind, aber heute ist definitiv niemand da. Ich führe zwar mein Zelt mit, dieses hat jedoch den entscheidenden Nachteil, dass es sich während des Regens nicht zum Aufbauen eignet, da zuerst das Unterzelt aufgestellt werden muss, ehe man das wasserdichte Überzelt darüberziehen kann. Ich halte Ausschau nach einem Unterschlupf. Ein altes Gebäude ohne Fenster, das innen komplett neu renoviert wird, wäre eine Möglichkeit. Unterhalb des Posto Tappa (übrigens das ehemalige Schulgebäude) befindet sich ein kleines, offenes Holzhäuschen, in dem Schilder über die Geschichte der Walser angebracht sind. Das Dach des Häuschens ist dicht, hier richte ich meinen Unterschlupf ein. Zuerst raus aus den nassen Klamotten, was Trockenes an und hineingekuschelt in den Schlafsack. Zwei elementare Bedingungen sind vorerst erfüllt: ich bin im Trockenen und ich habe warm. Zu Essen habe ich leider nicht mehr allzu viel, vor allem kein Brot, aber Wurst, und ein wenig Käse. Den Kocher habe ich zuhause gelassen, im Gedanken, dass ich die wenigen voraussichtlichen Biwaknächte auch mit kalter Nahrung überstehen werde. Also, den Kaffee eben auch noch mit kaltem Wasser angerührt! Wie genügsam der Mensch doch ab und zu sein kann . . .

Es regnet die ganze Nacht hindurch, und auch noch am nächsten Morgen. Inzwischen ist es Mittag geworden, ich liege immer noch im Schlafsack und starre hinaus in den Regen. Wie lange soll ich noch warten? Auf keinen Fall möchte ich unter diesem Holzdach noch eine zweite Nacht verbringen, schon allein nicht wegen der Nahrungssituation. 14.30 h, ich mach´ mich auf die (nassen) Socken! Und es macht zunächst auch richtig Spaß! Wiederum rings um mich herum tosende Wasser, ich steige immer höher, der Regen ändert seine Konsistenz zu Schneeregen und wird schließlich ganz zu Schnee. So ist nun auch meine Umgebung bald komplett weißgetüncht, die Konturen des Pfades sind dennoch mit einem geübten Auge unter der noch nicht allzu dicken Neuschneedecke zu erkennen. Ich komme hinauf in die Bocchetta di Rimella (1924 m). Jetzt wird es ernst, denn hinter der Bocchetta empfängt mich ein heftiger Wind, und da ich schon völlig durchnässt bin, kann mich dieser sehr schnell auskühlen. Dazu noch bläst es mir heftige Schneeverwehungen ins Gesicht. Ich muss nun schauen, dass ich in Bewegung bleibe, und jetzt auf keinen Fall den Weg verlieren! Im Schneegestöber erkenne ich noch auf der Passhöhe ein Kreuz und einen großen Steintisch. Werner Bäzing hat in seinem Buch die Töturaste (pose dei morti) erwähnt. Früher, als es in Campello Monti noch keinen Friedhof gab, wurden die Toten hier über die Bocchetta bis hinab nach Rimella getragen. Für die Einwohner von Rimella heißt der Pass übrigens Bocchetta di Campello. Jedenfalls scheint es mir, als sei dieses Gebilde dort oben noch einer der einstigen Aufbahrungstische, die den Trägern als Pausenplatz dienten. Zu einer genaueren Besehung ist die momentane Situation aber nun wirklich nicht geeignet, denn ich muss schauen, dass ich jetzt schleunigst nach Rimella hinunter komme. Bei einer Alm, die vom Weg nicht frequentiert wird, die man aber von diesem aus sehen kann, befindet sich das Rifugio Borgomanero (1801 m). Ich will nachschauen, ob dieses Rifugio vielleicht einen offenen Winterraum hat. Wenn ich dort dann noch ein Gaskocher vorfinden würde, dann wäre ich gerettet! Ich hätte einen schützenden Raum, könnte kochen, zwischenübernachten, und mit erneuten Kräften morgen früh meinen Abstieg fortsetzen. Ein Winterraum ist existent, doch komplett mit allem möglichen Krust vollgestellt. Ein Sanitätskasten und ein Notruf sind aber vorhanden (Vollständigkeit und Funktionsfähigkeit werden von mir allerdings nicht überprüft). Nun denn, so muss ich eben schauen, dass ich nun doch nach Rimella hinunter komme. Es läuft dann auch recht gut, bald schon geht der Schnee wieder in Regen über und die Landschaft um mich herum wird wieder grün. Unter mir klebt ein Dorf am Hang, ähnlich pittoresk, wie Campello Monti. Das ist nicht etwa schon Rimella, sondern das noch etwas höher gelegene St. Gottardo (1329 m). Dort soll es eine neue Unterkunft geben, das Rifugio dei Walser. In Rimella soll es, neben dem Posto Tappa noch eine ganzjährig geöffnete Übernachtungsmöglichkeit geben, ich will jetzt aber auf Nummer sicher gehen und keine sich mir bietende Möglichkeit auslassen, weshalb ich zuerst den kleinen Abstecher hinüber nach St. Gottardo einschlage. Ich läute am Rifugio, doch niemand öffnet, es ist auch keine Menschenseele in den Gassen zu sehen. Ich kehre zurück zur weiter oben gelegenen Alm, um von dort aus weiter nach Rimella abzusteigen. Ein älterer Mann ist in der Alm zugegen. Bruno lädt mich sofort in seine Hütte ein, bietet mir Grappa und Käse an. Ich trinke ein Glas Limo und er beginnt zu telefonieren "Mateo muss da sein, sein Auto steht unten auf dem Parkplatz!" Doch Mateo meldet sich nicht. "Wir werden zusammen runter gehen, ich muss nur noch schnell die Ziegen versorgen!" Ich kann zwar kein italienisch, doch dank meiner Spanischkenntnisse klappt es dennoch recht gut mir der Verständigung. Ich befinde mich hier übrigens mitten in einem der vielen in den Alpen existierenden, alten Siedlungsgebieten der Walser. Dieses alemannische Volk, das sich einst, vom Oberwallis ausgehend, sternförmig in viele Hochtäler der Alpen ausbreitete, hat hier, in der Umgebung der Gemeinden Campello Monti und Rimella, einst eine Exklave im Piemont geschaffen. Dabei sind fast nur die Orte in den oberen Talabschlüssen Walsergründungen, die weiter unten situierten Dörfer sind traditionell piemontesisch, also italienisch. Dies hängt mit den Siedlungs- und Bewirtschaftungsgewohnheiten der Walser zusammen. In den heutigen Walserdörfern des Piemont sprechen nur noch wenige Alte das Walserdytsch. Bruno, den ich mal auf Ende 50 schätze, gehört schon nicht mehr zu jener Generation. Wohl aber beherrscht er einige alte Wörter. Und die verstehe ich witzigerweise als Badener, und somit ebenfalls zum Stamme der Alemannen Gehöriger gut, wohingegen Personen aus anderen Provinzen Deutschlands vermutlich Schwierigkeiten damit haben würden.

Endlich öffnet Mateo seine Pforten! Er sei nur eben schnell weg gewesen. Mateo ist vielleicht Ende 30, stammt aus Mailand und spricht sehr gut englisch. Das Rifugio dei Walser hat er geschmackvoll hergerichtet, man sieht, dass da eine Heidenarbeit drinsteckt. Der rustikale Stil des alten Bauernhauses blieb dabei vollständig erhalten. Viel Holz findet man auch im Inneren anderer Residenzen im Piemont. Die einstigen Bewohner hatten dort ein schweres, entbehrungsreiches Leben. Heutzutage fühlt man sich einfach nur wohl in diesen gemütlichen Stuben. Eine heiße Dusche taut mich wieder auf, der Magen knurrt und ich nehme Platz am bereits für mich vorbereiteten Tisch. In den Posti Tappa entlang der GTA gibt es für gewöhnlich keine Speisekarte. Zwei oder drei Varianten werden einem normalerweise zur Auswahl vorgeschlagen. Grundsätzlich hat das landestypische Abendessen drei Gänge: zuerst kommt die Antipasta, etwa eine Minestrone, Spaghetti, Tortellini oder andere typisch italienische Teigwaren. Dann folgt das für gewöhnlich fleischhaltige Hauptgericht, im Piemont häufig vom Wild wie etwa Kaninchen oder Wildschwein, dazu Salat und/oder Kartoffeln. Zum Schluss hat man dann die Wahl zwischen Käse, Obst oder einer Dulce (Süßigkeit wie etwa Kuchen). Getrunken wird üblicherweise Wein, dazu gibt es stets einen Krug voll Tafelwasser. Das für Südländer so typische Weißbrot nebenbei darf selbstverständlich auch nie fehlen. Ja, und als Finale gönnt sich ein echter Piemonteser entweder einen kräftigen Espresso, oder einen verdauungsfördernden Grappa. Buon appettito!

Filippo, der Kellner des Hauses, lässt es sich nicht nehmen, mir das Essen mit pomadegeglättetem Haar und einer bis fast zum Boden reichenden Schwalbe zu servieren. Doch keine Angst, man braucht keine goldene Kreditkarte, um die Rechnung zu begleichen. Im Durchschnitt kann man für eine Halbpension in den Posti Tappa oder ähnlichen Einrichtungen entlang der GTA mit etwa 30 Euro kalkulieren. Nach den Entbehrungen und Härten der vergangenen zwei Tage mag man sich leicht vorstellen, wie behaglich und zufrieden ich mich jetzt fühle! Was ich jetzt noch nicht weiß: wetter- und situationsbedingt soll mir dieser so gegensätzliche Wechsel auf dem Rest meiner Reise erhalten bleiben: eine Bergtour zwischen kargem Biwak und hochgenüsslichem Gourmet!

Anderntags sieht das Wetter schon freundlicher aus. Für die folgenden Stunden, die mich durch mehrere Weiler und Dörfer führen sollen, hätte es sogar ein weniger gutes Wetter getan, doch darüber lässt sich eben nicht verhandeln! Zuerst gehe ich hinunter nach Rimella, wo ich im dortigen Posto Tappa die Möglichkeit beim Schopf packe, noch ein paar Lebensmittel nachzukaufen. Ein paar Brötchen und ein großes Stück Käse aus der Region, sowie die für Bergtouren fast unverzichtbare Schokolade. Der Weg führt durch mehrere kleinere Waldtobel hindurch, dann passiere ich die beiden gottverlassenen Weiler Roncaccio inferiore und Roncaccio superiore. Der Weiler La Res steht direkt in dem Wiesensattel, welcher den Übergang ins nächste Tal ermöglicht. Alle drei Siedlungen sind übrigens bereits von Rimella aus sichtbar. Ein ebenfalls anwesender italienischer Wanderer bewahrt mich gerade noch davor, den verkehrten Weiterweg einzuschlagen. Anstatt den im Hang verbleibenden Pfad ist der nach rechts absteigende zu nehmen, um an den Ortsrand des Minidorfs Belvedere zu gelangen. Danach dann rechts durch die Wiese entlang des Natursteinmäuerchens, kurz darauf weist ein Schild in den Wald hinunter. Hier sollte man nicht zu weit nach unten gehen, sondern sich nach kurzem Abstieg gleich auf den kleinen Pfad nach rechts begeben, dann taucht das Zwischenziel, die Kapelle St. Antonio, von selbst auf. Von dieser aus gehe ich nun hinab zur Talstraße der Valle Baranca. Das niedliche Bergdörfchen Sta. Maria di Fobello liegt dort im obersten Talabschluß. Hinter dem Dorf hat der Teer schnell wieder ein Ende und bald schon zieht ein schöner Pfad zunächst auf der orografisch linken Talseite wieder bergwärts. Das Gewölk am Himmel sieht zwischenzeitlich ganz grau aus, ich hab´s geahnt! Ich gehe an ein paar Alpen vorbei, dann begegne ich einem englisch sprechenden Einheimischen, der gerade von einer Wanderung zur Passhöhe Colle d´Egua (2239 m) zurückkehrt. Um das Wetter solle ich mir keine Sorgen machen, das würde heute auf jeden Fall halten! Erleichtert nehme ich diese frohe Botschaft zur Kenntnis, in diesem Falle setze ich meine Wanderung unbekümmert fort. Die Wolken am Himmel verlieren nun ihre Bedrohlichkeit und dienen ab sofort als schmückende Dekoration. Auf der Alpe Baranca (1566 m) soll übrigens auch eine Unterkunfts- und Einkehrmöglichkeit bestehen. Der Älpler ist sogar schon vor Ort, doch ich gehe weiter, denn ich will heute noch den Ort Carcoforo im Egua-Tal, jenseits der vor mir sich auftürmenden Bergkette, erreichen. Überhalb einer Geländestufe versteckt sich ein wunderschönes, flaches Wiesenplateau mit einem kristallklaren Bergsee, als Umrahmung dient die malerische Kulisse einer frisch angeschneiten Bergkette, auf der saftiggrünen Weide grasen Pferde. Idylle perfekt, und eigentlich ein prädestinierter Platz für eine Zeltnacht. Es bleibt aber noch genügend Zeit, den wettermäßig guten Tag auszunutzen, und ich bleibe dabei, bis Carcoforo will ich heute kommen. Oberhalb des Wiesengrundes befindet sich die schöne Alpe Sella (1824 m), weiter drüben, am Rande eines Schluchteinganges, erhebt sich auffällig eine seltsam anmutende Ruine. Es sind die Reste eines größeren Gebäudes, es scheint fast so, als sei dies eine riesige Villa gewesen, aber derart abgelegen und noch dazu in diesen Höhen?

Im schneelagigen Bereich meines Aufstieges kann ich diesmal von den Fußspuren meines Vorgängers profitieren, jedenfalls bis hinauf zur Passhöhe, runterwärts muss ich mich wieder selbst zurechtfinden, was mir aber nicht allzu schwer fällt. Die mittägliche Wärme hat schon diverse Schneerutsche an den steilen Hängen ausgelöst, ein erneuter rollt geradewegs auf mich zu. Ich kann ihm entrinnen. Ein solcher Schneerutsch würde zwar nicht zu einer Verschüttung führen, man sollte sich dennoch vor ihnen in Acht nehmen. Unter mir breitet sich schon bald wieder eine grüne, wasserdurchströmte Almenlandschaft aus. Die beiden kühnen Zacken im Bergkamm linkerhand beeindrucken mich während des Abstiegs besonders. Es sind die Gipfel des Il Cimone (2453 m) und der Cima Pianone (2446 m).Ich nehme den kleinen Abstecher hinauf zum Rifugio Buffalora (1635 m). Mal sehen, wie dort der Winterraum ausgestattet ist. Doch die Hütte ist komplett abgeschlossen, also geht es weiter hinab nach Carcoforo. Um acht Uhr betrete ich den wunderschönen Bergort, da schlagen just die Kirchturmglocken. Sie lassen eine wohlklingende Melodie erschallen, eine idyllische Kuriosität, die mir auch noch in anderen Orten auf der GTA zu Ohren kommen soll. Das Posto Tappa befindet sich im Hotel "Alpenrose", und das hat Dienstags Ruhetag. Schöne Bescherung, ausgerechnet heute ist Dienstag! Also raus aus dem Ort, auf einer Wiese im Talabschluß finde ich ein nettes Plätzchen für mein Zelt. Gut, dass ich noch Brot und Käse in Rimella eingekauft habe. Nachts ertönt von draußen ständig ein erbostes Bellen, vermutlich ein Marder. Ich habe mein Zelt wohl mitten in seinem Revier aufgestellt. So was hatten wir schon mal vor Jahren auf einem Biwakplatz im Laufe der Tour du Mont Blanc erlebt, jener populären Trekkingtour rings um das bekannte Massiv, also kein Grund zur Beunruhigung, auch wenn´s recht unheimlich nach wildem Tier klingt.

Saukalt ist es heute morgen, die gestern noch platschnassen Socken sind gefroren und lassen sich biegen wie ein Stück Pappkarton. Gleichfalls die nassen (Goretex-) Schuhe sind böckelhart gefroren, und ich habe Schwierigkeiten, meine Füße reinzuzwängen. Mein Zelt steht noch im Schatten, während der weiter oben liegende Teil des Talabschlusses ist bereits von der Sonne durchflutet ist. Bis die ersehnten Sonnenstrahlen auch meinen Biwakplatz erreichen, bin ich schon abmarschbereit. Um 8 Uhr starte ich in einen vielversprechenden Tag unter einem strahlend blauen Himmel. Eine Schulklasse ist auch schon unterwegs, die biegt aber an der Wegegabelung in Richtung Rifugio Masseto (2082 m) ab, welches in grober Nordrichtung im Hang gut sichtbar ist. Auf meinem Weg bleibt´s, wie gewohnt, einsam. Und wie gewohnt, erfordern die letzten zwei- bis dreihundert Höhenmeter bis zur Passhöhe wiederum einen Gang durch geschlossene Schneedecke. Es handelt sich dabei stets um den ab Beginn des Monats gefallenen Schnee, und niemals um Altschneefelder aus dem vergangenen (niederschlagsarmen) Winter. 2351 Meter sind im Colle del Termo erreicht, und es bietet sich von hier aus endlich eine Gipfelmöglichkeit. Da ich bereits beschlossen habe, die Etappe in Rima (1411 m) zu beschließen, steht mir nun genügend Zeit für diese kleine Exkursion zur Verfügung, und endlich haut es auch mal mit dem Wetter hin. Die kreuzgeschmückte Cima del Tiglio (2546 m) präsentiert mir dann zur Belohnung ein sowohl umfassendes wie auch atemberaubendes Panorama. Das gesamte Bergrund des riesigen Kessels um Carcoforo tut sich vor meinen staunenden Augen auf, Pizzo della Moriana (2631 m) und Pizzo Tignaga (2652 m) sind dort die dominierenden Gestalten, doch was ist denn das da vorne in Nordwest? Eine gletscherbehangene Bergkette, die Durchschnittshöhen weit über allem, was sonst noch hier herumsteht? Ohne Zweifel, es ist die Südostflanke des Monte-Rosa-Massivs, der Teil zwischen Vincent-Pyramide bis zur Signalkuppe (Punta Gnifetti), auf deren Gipfel das höchste Haus der Alpen, die Capanna Regina Margherita thront. Der höchste Gipfel des Massivs und zugleich zweithöchste Erhebung der Alpen, die Dufour-Spitze, sowie deren markanter Nachbar, das Nordend, sind allerdings von meiner Position aus nicht zu sehen. Bereits aus dem Colle del Termo heraus nimmt der Blick zur anderen Seite hinüber sofort eine sehr auffällige und ebenfalls sehr eindrucksvolle Berggestalt wahr: der Monte Tagliaferro hat mit 2964 Metern Höhe schon Zugspitzenniveau und seine symmetrische Nordwand hält mich während des gesamten Abstieges hinab ins Sermenza-Tal in ihrem Bann. Überhaupt sind die Berge in nächster Umgebung jetzt merklich höher geworden, und die Distanz zu den ganz Hohen, den Drei- und Viertausendern des Walliser Grenzkammes, insbesondere des Monte-Rosa-Massivs, hat sich ebenfalls verkürzt. Die seit über zwei Wochen wiederholt ab Höhen zwischen 1500 und 200 Metern aufgetretenen Neuschneefälle haben übrigens für die Dauer meiner gesamte Bergreise ein besonders malerisches Bild gezaubert: sämtliche Gipfel sind ab 2000 Metern schneeweiß überzuckert, was in einem faszinierenden Kontrast zum satten Grün und den gelegentlich zu weiß schäumenden Gischtausbrüchen angeschwollenen Wasserläufen weiter unten steht. So hat denn eben alles Nachteilige, wie jetzt das nicht so gute Wetter, wiederum auch seine guten Seiten.

Die durch den Wald verlaufenden Serpentinen hinunter nach Rima erscheinen mir wie Endlosschlaufen. Sie scheinen kaum an Höhe zu verlieren und sind extrem langläufig angelegt. Auf diese Weise entsprechen sie dann aber auch wieder einem typischen Säumerpfad. Unterwegs begegne ich einem Fuchs. Es gelingt mir, mich dem Tier unbemerkt bis auf wenige Meter zu nähern. Als er mich dann wahrnimmt, erschrickt der arme Kerl dann derart, dass er mit känguruhartigen Luftsprüngen das Weite sucht.

Was bin ich dann erleichtert, als ich schlussendlich im schönen Dörfchen Rima eintreffe und das Restaurant "Grillo Brillo" geöffnet hat! Die Dörfer auf der GTA sind, wie bereits erwähnt, meist sehr abgelegen und vom Tourismus kaum oder gar nicht berührt. So findet man in den diesen Orten für gewöhnlich nur eine Übernachtungsmöglichkeit mit oft auch einer begrenzten Anzahl an Betten, wobei zur Vor- oder Nachsaison auch noch geschlossen sein kann. Auch die Lebensmittelbesorgung muss geplant sein, denn man kann nicht in jedem Dorf einkaufen. Generell empfiehlt sich die Mitnahme eines Handys, um die Reservierungen für die nächste Nächtigung zu tätigen, bzw. auszuweichen, falls dort geschlossen sein sollte. Die jeweiligen Telefonnummern finden sich übrigens im Handbuch von Werner Bätzing. Ich habe die Mitnahme eines Handys versäumt und muss es jetzt eben ausbaden. Andererseits habe ich meine Biwakausrüstung dabei, was mich dann doch wieder in gewisser Weise autark macht. Die Dame im "Grillo Brillo" ist für den Schlüssel des örtlichen Posto Tappa zuständig. Nach einer höchstwillkommenen Brotzeit zeigt sie mir den Weg, es sei sogar schon ein Gast anwesend. Norman, ein während der Sommermonate am Lago Maggiore residierender Amerikaner, ist kein GTA-Wanderer. Ich finde in ihm aber einen angenehmen und interessanten Zimmergenossen, der sich als wahrer Enthusiast bezüglich der westitalienischen Bergregionen entpuppt. Er hat vor etwa zwei Jahren seinen Job als Ingenieur an den Nagel gehängt und will sich nun einer Leidenschaft widmen, die auch mir nicht ganz fremd ist: er ist Schriftsteller und schreibt über seine Erlebnisse als Reisender. Zur "Cena" (ital.: Abendessen) ins Grillo Brillo begeben wir uns gemeinsam und es wird ein unterhaltsamer Dinner-Plausch.

Das Dorf Rima besticht, nebst seiner herrlichen Lage im obersten Sermenza-Tal, durch seine prächtigen Walserhäuser, jene typischen Kompositionen aus Holz und Stein, die man in ähnlichen Erscheinungen auch in den anderen Gegenden der Alpen vorfindet, wo sich die Walser einst niederließen, ja sogar bis hinauf in den tschechischen Böhmerwald! Rima zählt zu den wenigen Orten, die ich auf meiner GTA-Route besuche, wo ein neu aufkeimender Tourismus augenscheinlich zu beobachten ist. Am Ortseingang wird ein Vier-Sterne-Hotel im sich dem Ortsbild anpassenden Stil gebaut. Die Autos der potenziellen Besucher sollen dezent in einem Parkhaus unter die Erde verschoben werden. Norman kennt Rima schon von früheren Besuchen her und er bestätigt meine Observationen. Es sei seit seinem letzten Aufenthalt hier einiges renoviert worden. Norman, der mit Auto unterwegs ist, führt übrigens stets eine kleine Elektroheizung mit, um kalten Nachtquartieren vorzubeugen. In diesem Falle dient diese heute dazu, meine Schuhe endlich (vorübergehend) trocken zu bekommen.

Im Gegensatz zum Abendessen findet die Colocazione, also das italienische Frühstück, bei mir wenig Beifall. Im Grillo Brillo ist das die angenehme Ausnahme, da wir dort zum üblichen Weißbrot mit Butter und Marmelade auch Müsli bekommen, und hernach dann tatsächlich satt sind. Erfreulich ist aber dennoch stets der "Café Latte", da man dabei immer eine Riesenportion Kaffee mit ebenso reichlich Milch vorgesetzt bekommt.

Der Weg hinauf in den Colle Mud (2324 m) soll mich direkt unter die fantastische Nordwand des Tagliaferro führen. Leider bleibt dabei die Hälfte deren wahrer Ausmaße von einer drinhängenden Wolkenschicht verschluckt. Während der Bergpfad sich durch den südausgerichteten Wiesenhang schlängelt, breiten sich in der Mulde zwischen Wiesenhang und Felswand noch ausgedehnte Lawinenkegel und Altschneefelder aus. Bei der AlpeValmontasca (1819 m) beobachte ich ein Steinbockpaar. Ich erreiche die Passhöhe problemlos, das Wetter verschlechtert sich allerdings zusehends. Die Neuschneemengen auf der anderen Passseite sind ergiebiger, als im Ostanstieg, die Konturen des Pfades sind aber mit einem geübten Blick dennoch gut zu erkennen. Nach einem kurzen Abstieg auf die Westseite stehe ich vor dem Rifugio Ferioli (2264 m), in dessen Nähe sich ebenfalls ein Steinbock herumtreibt. Bei gutem Wetter soll man ab der Passhöhe mit kontinuierlicher Aussicht auf die Monte-Rosa-Ostwand ins Tal herabsteigen. Heute zeigen sich zwar die vergletscherten Flanken, aber die wirklichen Dimensionen dieses gigantischen Massivs bleiben bedauerlicherweise von einem zähen Wolkenband verschluckt. Im kleinen, aber gemütlichen und gut ausgestatteten Winterraum der Hütte mache ich zunächst eine ausgiebige Rast. Norman hat mir übrigens jede Menge Proviant mit auf den Weg gegeben, von dem ich nun zehre. Draußen setzt nun leichter Schneeregen ein. Zum hier bleiben ist es mir noch zu früh, ich bin schließlich gerade mal zweieinhalb Stunden seit Rima gegangen. Somit raffe ich mich auf zum Abstieg ins Val Sesia. Dieses Tal ist für GTA-Verhältnisse eigentlich untypisch, da es touristisch komplett erschlossen ist. Das liegt mit Sicherheit an der dramatischen Nähe zur Monte Rosa, und an den vielen durch Seilbahnen erschlossenen "skibaren" Hängen, was sowohl den Winter- als auch den Sommertourismus boomen lässt. Das erste Dorf, welches ich nach meinem Abstieg erreiche, heißt Pedemonte (1246 m) und erscheint mit seinen schönen Walserhäusern wirklich sehenswert. Ich folge nun der Straße hinab in den Hauptort Alagna Valsesia (1154 m). Jetzt muss ich ein gutes Stück der großen Straße durch´s Haupttal folgen, da ich die Abzweigung zum verkehrsfreien Uferweg entlang des Sesia verpasst habe. Im schmucken Walserörtchen Riva Valdobbia (1112 m) tätige ich noch schnell ein paar Einkäufe, dann verlasse ich das Sesia-Tal, indem ich dem kaum befahrenen Asphaltsträßchen hinauf ins Vogna-Tal folge. Zuerst komme ich zur Kapelle Madonna delle Pese, dann folgen ein paar idyllische Weiler, die mich mit ihrer wunderschönen Walserarchitektur begeistern. Durch die abgrundtiefe Schlucht neben der Straße tost wild der Torrente Vogna. Im leichten Regen erreiche ich mein Tagesziel Sant´ Antonio di Val Vogna (1381 m).Ich bin sogleich verliebt in diesen heimeligen Ort. Ein kleines Kirchlein, ein halbes Dutzend Walserhäuser, das war´s. In Sant´ Antonio endet auch das Asphaltsträßlein, der Weg dahinter führt in das Reich der Alphütten und der Steinböcke, bis hinauf in den 2495 Meter hohen Passo del Macagno. Das Posto Tappa ist in einem ortstypischen Haus mit rustikalem Ambiente untergebracht und befindet sich gleich gegenüber dem Kirchlein, dessen süßer Glockenklang von Zeit zu Zeit erklingt. Ich sei der erste GTA-Wanderer der Saison, gibt mir der Besitzer zu verstehen. Und vorläufig sicher der Einzige, denke ich, während ich etwas beunruhigt die sich zunehmends verstärkende Regenwand durch´s Fenster der gemütlichen Wirtshausstube beobachte.

Es regnet auch noch am nächsten Morgen. Und auch noch am Mittag. Ich verlasse das Posto Tappa mit der Absicht, das Val Vogna herauszuwandern und dem weiter nördlich aus dem Sesia-Tal abzweigenden Valle d´Otro einen Besuch abzustatten. In jenem Tal sollen sich die eindrucksvollsten bauwerklichen Zeugnisse der Walser-Ära in der gesamten Region verbergen. Von meinem Fenster aus ist ein schöner Wasserfall auf der gegenüberliegenden Schluchtseite zu sehen. Laut Karte kann ich, wenn ich das Vogna-Tal noch ein kleines Stück aufwärts gehe, über die dort als "Ponte di San Bernardo" benannte Brücke das gegenüberliegende Ufer erreichen, und so zum Wasserfall gelangen. Ich finde die Brücke tatsächlich, doch der Weg auf der anderen Seite ist gerade mal ein wenig mehr als eine Pfadspur, die überdies noch Trittsicherheit abverlangt. Der Pfad endet endgültig am Wasserfall, das Überqueren zur anderen Seite erscheint mir in der momentanen Situation zu gefährlich. Nach 2 Stunden bin ich wieder zurück im Posto Tappa, platschnass, da meine in die Jahre gekommene Regenjacke leider nicht mehr viel taugt. Den Regenponcho habe ich zuhause gelassen, da ich mit Ponchos im Gebirge oft schlechte Erfahrungen gemacht habe, so etwa in Gelände, wo leichtes Klettern erforderlich ist, oder bei starkem Wind. Nur dieses Mal, auf meiner Piemont-Tour, wäre er genau das richtige Kleidungsstück gewesen und ich hätte ihn praktisch jeden Tag brauchen können.

So nass, wie ich jetzt bin, pfeife ich auf das Valle d´Otro und mache mir langsam Gedanken, wie es morgen denn überhaupt weitergehen soll. Nachmittags gegen Drei wird der Regen vorübergehend sogar zu Schnee. Diese großen Niederschlagsmengen, und jetzt noch das Absinken der Schneefallgrenze auf knapp 1400 Meter! Werner Bätzing weist in seinem Buch ausdrücklich darauf hin, dass die folgende Etappe, die über drei verhältnismäßig hohe Pässe (Passo del Macagno 2495 m, Colle Lazoney 2395 m, Colle della Mologna grande 2364 m) führt, nur bei bestem Wetter mit guter Sicht gegangen werden soll. Davon sind wir heute noch weit entfernt und mein Posto-Tappa-Wirt prognostiziert für morgen keine wesentliche Besserung. Er hat die gleichen Gedankengänge, wie ich. So schließt auch er eine temporäre Schneebrettgefahr nicht mehr aus. Auf etwa 2000 Meter liegt ja schließlich auch noch der Altschnee der letzten Niederschlagsperiode. Oben auf den Pässen werden gut 50 cm an Neuschneemenge hinzugekommen sein, und sicher auch windverfrachtet. Zudem scheint der Weg wiederholt durch steile Hänge zu verlaufen. Kurz und gut, ich kann diese Etappe morgen nicht verantworten. Was tun? Zurückkehren in die Heimat und darauf spekulieren, dass das Wetter auf der Alpennordseite vielleicht besser ist? Als ich die Landkarten studiere, erscheint es mir zunächst aufgrund der Länge des Val Sesia äußerst umständlich, von hier aus wegzukommen und irgendwoanders wieder neu einzusteigen. Der Wirt vom Posto Tappa hat zwar für den morgigen Samstag keine merkliche Wetterbesserung vorausgesagt, diese könnte wohl aber am Sonntag eintreffen. Das wäre ein Argument, um auf der GTA weiterzumachen. Doch wie komme ich von hier weg? Und wie lange werde ich wohl brauchen, um woanders wieder einzusteigen? Morgen früh um Sieben würde unten in Riva Valdobbia ein Bus vorbeikommen. Mein Plan steht schließlich fest und findet auch die Zustimmung des Wirtes: ich will nun probieren, das Val Cervo, in welches ich normalerweise wandernd über die drei Pässe gelangt wäre, nun mit dem Bus zu erreichen.

Nach dem Frühstück um 6 muss ich ganz schön Fersengeld geben, um den 7-Uhr-Bus unten in Riva zu kriegen. Der Zustand des Wetters gibt mir recht in meiner Handlung. Die Fahrt führt nun das gesamte Val Sesia hinunter, der Bus durchfährt unterwegs wunderschöne Ortschaften, das Flussbett der Sesia gewinnt zusehends an Breite. Dafür werden die Berge niedriger, schrumpfen gegen Schluss hin zu grünen, waldüberzogenen Hügeln, dann ist endgültig das Flachland der Poebene erreicht. Die Fahrt geht weiter bis nach Vercelli, einer Stadt, die schon weit in der Tiefebene drin liegt. Die Berge sind jetzt ziemlich in die Ferne gerückt, die von dicken Wolken geschwängerten Gipfel tragen das Schneeweiß der neuesten Niederschläge. In der Poebene wird, trotz asiatischer Billigkonkurrenz, immer noch großflächig Reis angebaut und die kontrastierende Aussicht über die ausgedehnten, giftgrünen und wassergefluteten Felder (ganz offensichtlich auch ein Habitat für zahlreiche Wasservögel) hinweg auf die den Horizont begrenzenden Bergketten des Alpensüdrands erscheint mir als Nordälpler durchaus kurios.

In Vercelli muss ich das erste Mal umsteigen, dann geht´s weiter nach Biella (384 m), ins Zentrum der italienischen Textilproduktion. Das adrette Städtchen bildet sozusagen wieder eine Eingangspforte zu den Alpen. Da heute Feiertag ist, geht der Transport etwas schleppend vor sich, ich muss Wartezeiten sowohl in Vercelli als auch in Biella in Kauf nehmen. Doch schließlich und endlich befinde ich mich unmittelbar hinter dem Stadtrand von Biella bereits wieder auf kurvig ansteigender Strecke, wunderschöne Bergdörfer ziehen am Busfenster vorbei, ich bin endlich wieder im Gebirge. Das wunderschöne Tal trägt den Namen Valle Cervo, und wenn ich das entsprechend vom Spanischen herleite, dürfte das wohl "Rabental" bedeuten. Nomen est omen, denn leider ziehen nun tatsächlich immer mehr sich verdichtende, bedrohlich rabenschwarze Wolken auf. Endstation für mich und auch für den Bus ist der hinterletzte Talort Piedicavallo (1037 m). Hier wäre ich auch angekommen, wenn ich den sicherlich großartigen Gang über die drei Pässe von S. Antonio aus hätte machen können. Der Zeitbedarf hierfür wäre in etwa der gleiche gewesen, wie der für meine doch etwas umständlichen Busreise. Der Nachmittag ist bereits fortgeschritten, das Wetter wieder tendentiell schlecht, aber dennoch will ich heute noch eine kleine Etappe marschieren.

Zuallererst drehe ich eine kleine Runde durch den wunderschönen Ort, ehe ich diesen jenseits der alten Brücke über den Torrente Cervo hinweg verlasse. Leichtes Regenwetter begleitet mich, doch ich fühle mich großartig, genieße die frische Luft und die Ausblicke zwischen den Bäumen des Waldes hindurch, hinüber zu den Dörfern Piedicavallo und Montesinaro. Im dichter werdenden Nebel tauchen plötzlich drei Maultiere vor mir auf, das Geläut ihrer Glöckchen war aber lange vorher schon zu vernehmen. Ich steige weiter an bis auf 1480 Meter, wo sich das gleichfalls nebelumwabbelte Rifugio La Sella befindet. Das schöne Hüttlein steht im Sattel Selle di Rosazza und ist heute sogar gut frequentiert, eigentlich ein Ausnahmezustand auf der GTA. Ich setze meinen Weg fort, und vergesse dabei glatt, nach der Hauptsehenswürdigkeit hier oben Ausschau zu halten, der kleinen Kapelle Madonna della Neve. Die nassen Steinplatten der bestens erhaltenen Mulattiera sind bei Nässe durchaus mit Vorsicht zu genießen. Ich treffe in Rosazza ein. Diesen Ort habe ich vor etwa zwei Stunden mit dem Bus durchfahren. Ich könnte hier schon Quartier nehmen, doch mir steht der Sinn nach einem anderen Ziel. Etwas unterhalb von Rosazza folge ich dem Teersträßchen bergauf. Hinterher soll ich in meinem Buch nachlesen, dass das Teersträßchen gemieden werden kann und zum ehemaligen Kloster San Giovanni d´Andorno auch ein schöner Maultierpfad empor führen soll. Zu guter Letzt stehe ich in der frühen Abenddämmerung vor den Toren eines beeindruckenden Wallfahrtskleinods. Ich trete durch´s offenstehende Tor hindurch in den großflächigen, klostertypischen Innenhof. Nach drei Seiten hin ist dieser von Gebäuden umschlossen: den ehemaligen Mönchszellen, die heute Pilgern und Touristen als Unterkunft dienen, und dem kleinen, schmucken Kirchlein. Die offene Seite des Klosterhofes steht direkt über dem Abgrund des Tales, dort genießt man wunderschöne Ausblicke über das Val Cervo und seinen in den Hängen verteilten Bergdörfern.

Die Innenräume des ehemaligen Klosters sind frisch renoviert und für die Gäste mit neuen Duschen, blitzeblanken Waschräumen und Toiletten ausgestattet. Die Mehrbettzimmer sind mit schlichten Stockbetten ausgestattet. Obwohl hier keine Mönche mehr hausen, wiederspiegelt die Anlage doch voll und ganz die Aura einer typischen, zeitgenössischen katholischen Abtei. San Giovanni d´Andorno dient auch als Etappenziel für GTA-Wanderer und bietet daher preislich und qualitativ die üblichen Posto-Tappa-Konditionen. Wer gewillt ist, für sein Abendessen etwas mehr auszugeben – man kann die Rechnung übrigens auch mit Karte begleichen – kann sich hier wahrlich verwöhnen lassen. So, wie die Teilnehmer eines Thai-Chi-Seminars am großen Nachbartisch, denen nach und nach ein wahrer Reigen an Köstlichkeiten aufgetragen wird.

Die Etappe zwischen den beiden Wallfahrtsorten S. Giovanni und Oropa beträgt normalerweise 3 ½ Stunden, weshalb ich plane, nach der Besichtigung Oropas weiter zu gehen, um das Rifugio Coda (2280 m) als Tagesziel anzupeilen, wo der Winterraum geöffnet sein dürfte. Der Karte keines Blickes mehr würdigend, den Kompass in der Hose stecken lassend, so folge ich anderntags dem so neu und vertrauenserweckend aussehenden Schild "Oropa". Ganz stolz bin ich noch, dass ich den schlecht markierten und praktisch nicht vorhandenen "Pfad" durch die steilen Bergwiesen hinauf in den Sattel finde. Dann steh´ ich droben und die dort anwesenden Schafe scheinen mich mit ihrem Blöken geradezu auszulachen. So langsam dämmert´s mir: ich sehe unter mir gegenüber den gestern überschrittenen Sattel mit dem Rifugio Sella und der Madonna delle Neve, ein wenig tiefer den malerischen Weiler Desate, und am Ausgang des ansonsten einsamen Nebentales des Torrente Pragnetta befindet sich Rosazza. Schöne Aussicht, doch leider bin ich hier total falsch! Anstatt in der Colle della Colma stehe ich nun in der Sella di Bele. Das kommt davon, wenn man blindlings nur den Markierungen folgt, anstatt Richtung und Umgebung mit der Karte abzugleichen. Dem nicht genug, ich begehe unverzüglich den zweiten Fehler, und dieser ist weitaus fataler: anstatt zum Ausgangspunkt zurückzukehren, will ich den in der Karte eingezeichneten Pfad über die Alpe Pera nehmen, der in seiner Fortsetzung auf den richtigen Weg nach Oropa trifft, scheinbar ohne dabei viel Höhenmeter zu verlieren. Das alles ist Quatsch, dieser Pfad existiert überhaupt nicht, auch wenn Pfadspuren tatsächlich bis zu besagter Alpe führen. Doch anstatt jetzt endlich einsichtig zu werden, begehe ich den idiotischen Dilettantenfehler, mich über wegloses Terrain weiter in die gewünschte Richtung durchzuschlagen. Die verbuschte Landschaft sorgt dabei für heftige Erschwernisse, zudem sehe ich von meinem Ausgangspunkt aus nicht, wie viele Quertäler und Rinnen zu durchqueren sind, und es sind deren viel mehr, als mir lieb ist! Zudem verliere ich ständig an Höhe. Ganz schwierig wird es, wo der Wald anfängt, denn hier ist das Gelände besonders dicht zugewachsen. Doch dann, schließlich und endlich, sehe ich unter mir das Passsträßlein, meine ich jedenfalls. Auch San Giovanni d´Andorno ist zu sehen, die Höhenmeter, die ich "gespart" habe, sind geradezu lachhaft, besonders, wenn man die Strapazen mit einbezieht, die ich mir mit dieser Umgehung eingebrockt habe. Steil und ungemütlich steige ich auf den ungeteerten Fahrweg ab. Ich sehe linker Hand einen Steinbruch und ein paar abgewrackte Gebäude. Ich denke mir noch nicht viel dabei – so lange, bis ich vor einem mit Stacheldraht gesicherten Tor stehe, und ich im abgesperrten Gelände drinnen! Heiliger Strohsack, ich bin in einen noch intakten Steinbruch geraten! Glücklicherweise ist heute Sonntag, denn unter der Woche wird hier gesprengt. Ich muss nach der ersten noch eine weitere Absperrung umklettern. Beide sind so gesichert, dass ein Umklettern nur sehr schwer und nicht ganz ungefährlich ist, die Stacheldrähte sind weit in die steilen Hänge hineingezogen, ein Indiz dafür, wie gefährlich es hier für ungebetene Eindringlinge sein kann. Gut, ich bin vielleicht nicht in die unmittelbare Gefahrenzone geraten, aber selbst wenn ich als Unbefugter nur hier erwischt worden wäre, dann hätte es sicher ein Riesentheater gegeben. Hinter den beiden Absperrungen stößt der Schotterweg endlich auf die geteerte Straße, die S. Giovanni mit Oropa über die Galeria Rosazza verbindet. Ich frage mich, warum man hier überhaupt eine Straße rübergezogen hat, zumal diese, wie ich erfahren konnte, wiederholt von Erdrutschen teilverschüttet wurde, die letzte Mure ging erst kürzlich ab. Nach ein paar aufwärts leitende Serpentinen zweigt kurz unterhalb des Restaurants vor der Galerie der markierte Wanderpfad zum Sattel Colle della Colma (1625 m) ab. Hätte ich mich bei meiner Querung weiter oben gehalten, anstatt in den völlig verwachsenen Wald einzusteigen, dann wäre mein Plan aufgegangen und ich wäre entweder auf den Pfad gestoßen oder direkt in den Pass gelangt. Doch wie sagt man so schön: nach der Schlacht gibt es viele Generäle. 5 Stunden bin ich schon unterwegs, noch dazu unter erschwerten Konditionen, weshalb mein Entschluss klar ist, heute in Oropa zu übernachten. Somit kann ich mir jetzt ruhig Zeit lassen und den Rest des Tages genießen, da der Abstieg nach Oropa nun völlig problemlos und kurz sein wird. Der Sattel ist wahrlich ein herrlicher Flecken auf Gottes Erden, beide Wallfahrtsorte liegen zu meinen Füßen, wobei S. Giovanni im Vergleich zum prunkvollen Oropa winzig erscheint. Oropa ist einer der größten Pilgerorte im gesamten Alpenraum, unter mir breitet sich eine riesige Klosteranlage im Barockstil aus. Dominierend in diesem weitläufigen Gelände ist die riesige blaue Kuppel der Wallfahrtskirche. In diesen Gemäuern befindet sich die schwarze Madonna, der diese Wallfahrt gewidmet ist. Von dort unten dringen klerikale Gesänge bis zu mir herauf. Was für eine Atmosphäre! Ich beschließe, die beiden Bergkuppen, welche den Sattel flankieren, zu besteigen. Zuerst die Cima Tressone (1724 m), und anschließend den Monte Becco (1730 m). Beide Berge unterstreichen das Panorama auf die beiden Heiligtümer, die sie umragenden Gipfel, die malerischen Bergdörfer in den Talhängen und den Fernblick hinab in die nahe Poebene. Auf dem Monte Becco werde ich von einer Herde Bergziegen begrüßt, deren Hörner so groß wie die von Steinböcken sind. Wieder zurück im Sattel, in dem sich übrigens auch ein kleiner Schrein mit einer schwarzen Madonna befindet, schlendere ich gemütlich nach Oropa hinab. Mein Blick fällt dabei auf die riesige Narbe, welche der letzte Murenabgang in die Bergflanke gerissen hat. Baufahrzeuge stehen noch dort, wo der Erdrutsch über die Straße abging. Es sieht danach aus, als sei alles wieder repariert. Bis zum nächsten Mal, denn das abgeholzte, steile Gelände, in welches die Serpentinen der Straße hineingefräst wurden, scheint mir für derartige Vorfälle prädestiniert. Das letzte Stück des Abstiegs bringe ich dann auf der Straße zu. Ich sehe unter mir zwei mit riesigen Rucksäcken beladene Wanderer. Markus und Yvonne sind die ersten GTA-Wanderer außer meiner selbst, denen ich seit Beginn der Tour begegne.

Gemeinsam marschieren wir in Oropa (1180 m) ein. Es ist sicher ein eindrucksvoller Ort, auch wenn es sich hier gleichzeitig auch um ein nicht zu leugnendes Exempel für die Kommerzialisierung des Glaubens und dem Eifer des Unternehmensgeistes der katholischen Kirche handelt. Es haben sich innerhalb der Anlage auch viele Bettler installiert, ich bin überzeugt, dass an einem Wochenende oder einem Feiertag die Almosen derart großzügig vergeben werden, dass diese sich hier eine goldene Nase verdienen. Es ist nun zum frühen Abend hin schon wesentlich ruhiger geworden, hatte ich doch heute Mittag vom Sattel aus sieben Reisebusse auf dem Busparkplatz gezählt, von der Blecharmada an Privat - Pkws ganz zu schweigen! Um zur Anmeldung zu gelangen, müssen wir die gesamte Anlage durchschreiten. Auf dem Gelände existieren nicht weniger als zehn Restaurants, zahlreiche Devotionalienläden, Bars. Der junge Mann an der Rezeption spricht Englisch mit markantem italienischen Akzent. Hier läuft alles über EDV. Der Schlaumeier will uns zuerst die teueren Zimmer andrehen, und erst, als wir ablehnen, rückt er mit den günstigen Angeboten heraus, und tut dabei so, als ob alles hoffnungslos überfüllt sei. Heute ist Sonntag, und es verbleiben kaum noch Übernachtungsgäste im Kloster, so dass wir unseren Aufenthalt hier in aller Ruhe zelebrieren können, denn schön ist es hier allemal! Vom abends leider geschlossenen Haupttempel ausgehend, gelangt man über mehrere große Freitreppen immer tiefer, zum Schluss steht man inmitten eines enormen Innenhofs. Hinter dem Ausgangstor am Südende der Anlage blickt man direkt hinaus in die Poebene, auf allen anderen Seiten ragen ansonsten Berge auf und so greift auch die lateinische Inschrift über dem säulengestützten Portal der Hauptkirche: "Oropa regina montis".

Wir teilen uns zu dritt ein wunderschön nostalgisches Zimmer mit hoher Decke, uralten Möbeln und quietschenden Himmelbetten, unterm Fenstersims rauscht der Bach vorbei. Das Restaurant "Croce Rossa" (oder war es das "Blanca"?) können die GTA-Wanderer (Oropa ist Etappenunterkunft am Weg) zwischen feinen Herrschaften in Abendgarderobe (wir im miefenden Wanderoutfit mit Sandalen, bzw. Bergstiefeln) und von einem befrackten Kellner bedient, zum Posto – Tappa - üblichen Tarif köstlich dinieren. Es wird ein netter Abend, und ich habe endlich mal die Gelegenheit, mit zwei Gleichgesinnten unsere Erlebnisse austauschen. Doch bereits morgen schon werden sich unsere Wege wieder trennen. Markus und Yvonne sind nicht etwa so wie ich, an einem Stück unterwegs. Sie sind per Wohnmobil angereist und picken sich bestimmte Teiletappen heraus, um nach zwei oder drei Tagen mit öffentlichen Verkehrsmitteln wieder zum Fahrzeug zurückzukehren. Dem schlechten Wetter konnten aber auch sie nicht entkommen und einmal waren wir sogar sehr dicht beieinander. An dem Tag, als ich in Campello Monti bei Sauwetter unter dem Dach der kleinen Holzhütte ein elendes Dasein fristete, saßen sie in Forno in ihrem Wohnmobil fest, nur wenige Kilometer und etwa 400 Höhenmeter tiefer im selben Tal.

Nach dem Frühstück begeben wir uns gemeinsam zur Besichtigung in die nun geöffnete Wallfahrtskirche. Das Monument ist auch von innen besehen wahrlich beeindruckend. Die schwarze Madonna befindet sich im Kellergeschoss, klein und unscheinbar im Verhältnis zum Prunk und Protz, der um sie herum gebaut wurde. Nach der Visite nehme ich Abschied von Yvonne und Markus. Sie haben beschlossen, eine Runde über den Monte Becco, in den Sattel und zurück nach Oropa zu drehen. Mich zieht es weiter gen Westen. Aufstieg zunächst auf einer Skipiste, erkennbar im Sommer am überbreiten Fahrweg und an den hohen Auffangzäunen in den Kurven. Für bequemere Zeitgenossen besteht in Oropa auch die Option, mit der Seilbahn bis zur Bergstation "Oropa Sport" auf 1813 m emporzuschweben. Ich bin´s ja zwischenzeitlich gewohnt, dass der Himmel über mir von grauen Wolken verhangen ist. Ich lasse nun sämtliche technische Einrichtungen hinter mir und ziehe unbeirrt am schönen Lago di Mucrone (1902 m) vorbei bis hinauf in den Sattel Bocchetta del Lago (2026 m). Dort stelle ich den Rucksack ab, denn der Monte Mucrone (2332 m) hat es mir aufgrund seiner adretten Erscheinung schon von Oropa aus betrachtet angetan. Auf seiner Schulter gammelt übrigens noch der Betonbau der ehemaligen Seilbahn Oropa Sport – Monte Mucrone-Bergschulter vor sich hin. Von dem halbverfallenen Gebäude aus dürfte es nicht mehr allzu weit sein bis zum Gipfel. Ich bin auch schon wieder ein gutes Stück weiter angestiegen, das Gipfelkreuz ist jetzt schon sehr nah gerückt, da grollt bedrohlich ein raunendes Donnern durch die Luft. Verdammter Mist, so nah am Gipfel, doch bei einem herannahenden Gewitter gibt es nur noch die Konsequenz, abzusteigen. Zu groß ist das Risiko, an einem derart exponierten Punkt, möglicherweise noch direkt neben einem riesigen, gußeisernen Kreuz, vom Blitz erschlagen zu werden.

Ich bin wieder im Sattel, kehre jetzt aber nicht etwa nach Oropa zurück, sondern schaue, dass ich das Rifugio Coda (2280 m) erreiche, wo ich mir einen kuscheligen Winterraum erhoffe. Der Weg führt durch interessantes alpines Gelände mit zum Teil abschüssigen Platten, dabei stets im Hang verlaufend. Der Ausblick zum Monte Mucrone macht mich narrisch, denn gerade von hier aus macht der Gipfel eine besonders gute Figur. Wettermäßig scheint mir auf dieser Tour wohl gar nichts erspart zu bleiben, denn jetzt fängt es auch noch an zu hageln. Die große Enttäuschung kommt aber noch, als ich frierend vor dem verschlossenen Winterraum der Coda-Hütte stehe. Vor lauter Frust verzichte ich nun sogar auf den praktisch geschenkten Hüttengipfel Punta di Sella (2315 m), von dem aus einem bei guten Verhältnissen herrliche Aussichten bis zum Montblanc beschert sein sollen. Schroff felsig im Hintergrund erhebt sich der Monte Mars (2600 m).

Das nächste Etappenziel hieße Maletto (1336 m), doch laut Werner Bätzing soll das dortige Posto Tapa im Mai noch geschlossen haben, weshalb ich die Alternative Trovinasse (1374 m) ansteuere, wo sich die neue Unterkunft "Agritourismo Belvedere" befinden soll. In der Fortsetzung des Weges bessert sich das Wetter, die Wegführung bleibt weiterhin interessant. Zunächst geht sie auf einem Grat entlang, später zieht sie in die steile Bergflanke des Monte Bechit (2320 m) hinein. Auch von hier aus besehen macht der Monte Mucrone eine schöne Partie. Das in der Karte noch eingetragene Bivacco la Lace del Vitton (2097 m) ist einer nigelnagelneuen Berghütte gewichen, die wunderschön aus unverputztem Naturstein gemauert ist. Sie ist noch geschlossen. Auf 2121 m stehe ich im Colle della Lace. Abwärts wird´s wieder mal knifflig mit den Wegzeichen. Ein saftig grünes, einsames Tal, vorbei geht´s an mehreren Alpgebäuden, schließlich links- also südwestlich haltend führt ein Pfad durch Latschenbewuchs hindurch nach Trovinasse. Im dortigen Agriturismo treffe ich nur dummerweise keine Menschenseele an. Also Zeltbiwak wäre an sich nicht weiter schlimm, aber ich habe praktisch keine Lebensmittel mehr, aber Hunger, wie ein Bär. Eine letzte Tüte mit Linsensuppe, aber keinen Kocher. Kurzerhand fülle ich die Tüte mit kaltem Wasser und schütte mir das ganze Zeugs in den Rachen. Zunächst schmeckt´s gar nicht so schlecht, das sind die Linsen, die obenauf schwimmen. Doch dann kommt unten die pure Würzmischung – grauenhaft! Immerhin ist es mir auf diese Weise gelungen, den Hunger halbwegs zu stillen. Nachts schifft es erneut, die Temperaturen in den Morgenstunden sind allerdings mild, in der Nähe bimmeln Kuhglocken. Ich strecke die Nase aus dem Zelt. Dort hinten, von wildem Gewölk umgarnt, eisige Berge – sollte es das Gran-Paradiso-Massiv sein? Ein langer Abstieg über den schönen Weiler Maletto folgt. Die Mulattieri befinden sich oft in einem sehr guten Zustand, aber es gibt auch viele Abschnitte, auf denen sie arg verwachsen sind.

Das Aostatal wird von der Dora Baltea durchflossen, dem wohl bedeutendsten Zufluss des Po. In den letzten Höhenmetern meines Abstiegs marschiere ich durch Terrassen aus Weinreben. Dies und auch die sonstige Botanik machen es schon ersichtlich, ich habe den tiefsten Punkt meiner gesamten Tour erreicht. Als ich ins preisgekrönte Weindorf Carema (379 m) reinmarschiere, hat das Auffinden des nächstgelegenen Lebensmittelladens allererste Priorität, anschließend haue ich mir auf der nächstbesten Sitzgelegenheit den Wanst voll. Jetzt muss ich einige sehr lästige Kilometer entlang der vielbefahrenen Straße zurücklegen, da mir die Wartezeit auf den nächsten Bus zu lange erschien. Das untere Aosta-Tal ist dann alles andere, als ein Hort der Ruhe und Beschaulichkeit. Autobahn, Industrie und ein urbanisierter Talgrund lassen das Gefühl von Idylle gar nicht erst aufkommen, auch wenn einige sehenswerte, alte Dorfkerne den Autotouristen zum einen oder anderen Foto- und Sightseeingstop einladen. Die Dora Baltea ist hier schon ein breiter Strom, ich quere sie auf einer Straßenbrücke, die mich hinüber nach Quinchinetto bringt, dem Ort meines Wiederaufstiegs. Quinchinettos alter Dorfkern kann sich durchaus sehen lassen, die Ortschaft hat schon einen guten Schuss mediterranes Flair. In Quinchinetto befinde ich mich übrigens auf gerade mal 295 Metern Seehöhe, absoluter Tiefpunkt auf meiner gesamten Trekkingtour. Jetzt heißt es, wieder an Höhe zu gewinnen, und dieser Aufstieg wird es dementsprechend in sich haben! Das Wetter ist mir auch heute nicht hold, es ist diesig, feucht und warm, mit Gewittertendenzen. Den ersten Regenschauer bringe ich unter der Krone einer riesigen Kastanie zu, die mich noch halbwegs trocken hält. Der am Aufstiegsweg gelegene Quarzsteinbruch lohnt eine kleine Besichtigung. Hier soll auch heute noch Quarz abgebaut werden. Bis ich das Almengebiet erreiche, stecke ich komplett im Nebel. Dem zweiten Schauer versuche ich unter meinem hastig am Hang aufgebauten Zelt zu entweichen. Sämtliche Klamotten, einschließlich Wanderstiefel noch am Leib, liege ich in der Schräglage und warte auf Wetterbesserung. Die scheint dann nach einer Weile auch prompt gegeben, worauf ich flugs das Zelt wieder abbaue und mich abermals auf die Socken mache. Mein Ziel ist das um diese Zeit für Selbstversorger offenstehende Rifugio Chiaramonte. Wenn ich´s erreiche, dann bin ich gerettet und habe obendrein noch eine zünftige, rustikale Unterkunft, vermutlich ganz für mich. Mir ist diesbezüglich aber kein Glück beschert. Auf 1750 Metern muss ich mich unter krachendem Donnerwetter in einen offenen Ziegenstall flüchten. Kaum habe ich mich halbwegs gemütlich in den Schlafsack gekuschelt, da muss ich auch schon feststellen, dass mein Stall leider nicht wasserdicht ist. Der einzige Platz, wo das Dach noch dicht zu sein scheint, ist der mitten in der Ziegenscheiße. Was soll´s einen nassen Schlafsack kann ich mir keinesfalls leisten, dann schon lieber nach Ziegenmist stinken! Es ist ein Jammer, ich befinde mich unmittelbar unter der in der Karte mit 1871 m angegebenen Passhöhe und von dieser aus wäre nicht mehr weit bis zum Chiaramonte, allerdings zieht der Weg direkt über die Grathöhe. Während des Gewitters auf einem ausgesetzten Grat dem Blitzschlag preisgegeben zu sein, dazu verspüre ich nun wirklich kein Verlangen. So bleibt es bei einer mehr schlecht als recht zugebrachten Nacht im Ziegenstadl.

Morgens um 7.30 Uhr ziehe ich alsdann unter bedenklich grauem Wolkenfirmament über den Pass hinüber zum Chiaramonte. Schön gepflegte Almwiesen werden dabei durchschritten, der aufmerksame GTA-Wanderer erkennt ja zwischenzeitlich den Unterschied zu den verbuschten Wildnisgebieten, die solche Wiesen überwuchern, wenn dort über längere Zeit keine Almwirtschaft mehr betrieben wird. Im Rifugio Chiaramonte (2014 m) halte ich eine längere Rast. Diese urgemütliche Berghütte hätte mir alles geboten, was ich für einen gemütlichen Aufenthalt benötigt hätte: Gas, Betten, Decken, Geschirr und Töpfe, und sogar alpine Literatur, u.a. eine Beschreibung der GTA auf italienisch, oder gar ein Buch auf deutsch "Jogging-Schule". Der Rest des Linseneintopfs ergibt noch eine gute Suppe, ein heißer Kaffee tut ebenfalls gut. Da ich es trockenen Fußes hierher geschafft habe, nährt sich in mir die Hoffnung auf Wetterbesserung. Der Standort des Rifugios bietet übrigens auch einen Blick bis hinab in die Poebene. Die Fatalität der derzeitigen Schlechtwetterphase lässt sich somit sehr gut beobachten: die Wolken des sogenannten Genuatiefs ziehen aus Süden über die Ebene hinweg heran, und während das Flachland von Niederschlägen verschont bleibt, regnet es sich am Alpensüdrand, also hier bei mir, ab. Um 10.30 Uhr setze ich meinen Weg fort, wobei ich zunächst die Punta Caralcurt (2357 m) umrunde, bis vor mir ein stufiger Gratrücken erscheint. Jede Stufe scheint ein Alpgebäude zu tragen. Über diese Gratstufen erfolgt nun ein entzückender Abstieg mit berauschenden Blicken über die unter mir liegende Valchiusella hinweg bis hinüber in die Tiefebene. Das idyllische Dorf Succinto (1154 m) liegt unter mir, wie auf einem Tisch. Auch das Tal der Chiusella besticht durch eine beeindruckende Bergumrahmung. Nach den steilen Almwiesen folgt ein schütteres Birkenwäldchen mit skandinavischem Gepräge, tosende Wasserfälle und malerische Ziegenweiler zieren den steilen Abstiegsweg. Ich erreiche das weltabgeschiedene Dörflein Fondo (1074 m). Die Wetterlage scheint mir inzwischen höchst unsicher. Nicht schon wieder Ziegenstall, denke ich und quartiere mich um 14.30 Uhr im hiesigen Posto Tappa ein. Eine weise Entscheidung, wie mir die kurz darauf losbrechenden Regengüsse bestätigen. Die Himmelsschleusen sollen sich ab jetzt nicht mehr schließen, es gibt nur noch Abwechslung zwischen mäßig und heftig. Der nächste Pass wäre dann die Bocchetta delle Oche (2415 m). Dort wird es jetzt sicher schneien. Es scheint sich das gleiche Debakel anzubahnen, wie drüben in S. Antonio. Bei Kaninchenbraten, Risotto und Zucchini spulen die Gedanken im Kopf herum. Der Herbergswirt hat es mir schon prophezeit, das Wetter wird nicht besser und mein Urlaub geht zur Neige. An und für sich hätte ich diese Trekkingtour gerne zu Füssen des 4000ers Gran Paradiso enden lassen wollen. Zumindest bis hin zur Grenze des gleichnamigen Nationalparks. In der folgenden Etappe hätte ich dieses Ziel erreicht. Die Überschreitung der Bocchetta delle Oche (2415 m) hätte mich anschließend in die umittelbar an der Nationalparksgrenze gelegene Ortschaft Piamprato (1551 m) gebracht. Doch an diesen Übergang ist bei den gegebenen Verhältnissen nicht zu denken. Die Bocchetta delle Oche ist von hier aus die einfachste Übergangsmöglichkeit und somit fällt die Entscheidung: ich muss zwei Tage vor dem geplanten Ablauf meiner Trekkingtour das Unternehmen vorzeitig abbrechen.

So latsche ich denn auch anderntags im abermals strömenden Regen das Teersträßlein nachTraversella hinab, vorbei an donnernden Wasserfällen, die nun durch die Niederschläge eindrucksvoll gesättigt sind. Tief unten in der Schlucht braust der Torrente Chiusella. Wasser, Wasser, von allen Seiten! In Traversella dauert´s ein wenig, bis der Bus kommt, doch wenigstens gibt es eine überdachte Bushaltestelle, unter der ich ein letztes Mal meine platschnassen Klamotten wechsle.

Auch die Rückfahrt verdient noch Erwähnung: Bereits in Milano zeichnet sich ab, dass ich wohl keinen Zuganschluss mehr von Schaffhausen nach Singen haben werde. Ich erreiche meinen Vater telefonisch aber erst in Zürich. Der hat anlässlich einer Feier schon etwas getrunken, weshalb ich ihn selbstverständlich nicht nötigen will, wegen mir seinen Führerschein auf´s Spiel zu setzen. Morgen ist ein normaler Arbeitstag und somit will ich auch keine weiteren Bekannten inkommodieren. In Zürich bietet sich noch ein Anschluss nach Stein am Rhein, doch dort angekommen, muss ich feststellen, dass der letzte Bus nach Singen vor 20 Minuten schon abgegangen ist. Da ich die Gegend am nahen Schienerberg gut kenne, könnte ich dort auch zelten und morgen früh den Bus nehmen, doch intuitiv mache ich mich einfach auf die Socken. Geschlagene dreieinhalb Stunden Nachtmarsch folgen nun. Begleitet werde ich von beunruhigendem Wetterleuchten, doch das Gewitter kommt glücklicherweise nicht bis zu mir. Auf diesem durchgehenden Teerhatscher hole ich mir zu guter Letzt noch Blasen an den Füssen, von denen ich bislang auf der gesamten Trekkingtour verschont geblieben war.

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

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Jochen hat gesagt…

Hi Gringo, Du hast unter "Januar 2008" übr eine Wanderung auf dem GTA geschrieben und dabei die Hütte "Alpe del Lago" erwähnt, in der Du übernachtet hast. Wann hast Du denn die Wanderung unternommen (sicher nicht im Januar)Hast Du dort in der Hütte einen Schlafsack benötigt? Für die Tour V1 - V8 - 1 - 2 - V11 würden man nach meinen Unterlagen ja sonst keinen warmen Schlafsack benötigen. Vielen Dank für Deine schnelle Info! (Samstag soll es solgehen...) Jochen

JuergenDaut hat gesagt…

Hallo Gringo -
sehr schön geschrieben! und informativ dazu (Neues ggüb. Bätzing und Neubronner). Kompliment.
Wir werden im JUli 09 zw. Macugnaga u. Molini unterwegs sein.
Ciao
Jürgen Daut

JuergenDaut hat gesagt…

Hallo Gringo -
es ist sehr lesenswert (gut geschrieben!!) und darüber hinaus informativ, Deine Reisebeschreibung zu lesen. Wir planen für Juli 2009 wieder ein paar GTA-Etappen, diesmal in der Region zw. Macugnaga u. Molini. Jürgen Daut